Über sich selbst zu schreiben dürfte zu den schwierigsten Aufgaben gehören, die man sich aufbürden kann. Man hat ein ganzes Leben damit verbracht, seine anfänglich großen Träume zu verwirklichen, die mit fortschreitender Erfahrung immer kleiner und realistischer wurden. Um das Ziel dieser Visionen zu erreichen, achtete man oft nicht so vorrangig auf die Gangart. Begebenheiten tauchen aus den Erinnerungen auf, die zu gestehen peinlich sind, aber durch Verschweigen nicht ungeschehen werden. Der Autor fühlt sich einerseits zur Wahrheit verpflichtet, die möglichst stringent vermittelt wird, andererseits sind Ereignisse selbst nach vielen Jahren nicht schlüssig verarbeitet, demnach nicht kommunizierbar. Fabulieren macht die Geschichten sicher lesenswerter, würde aber deren Glaubwürdigkeit einschränken. Um einen Mittelweg zu finden, wurden hier erzählerische Freiheit und strikte Aufreihung des konkret Erlebten durch unterschiedliche Erzählstile (Vergangenheit, bzw. Gegenwart) und andere Schriftarten der Texte gekennzeichnet. Das bedeutet, dass die freien Erzählungen in der Gegenwartsform mit modernen Schriftzeichen – Arial – und in blauer Farbe dargestellt werden, dagegen die tatsächlich stattgefundenen Erlebnisse in Vergangenheitsform und in älterer Schrift – Bookman Old Style – erscheinen.
Es ergibt sich die Frage, warum tue ich mir das an? Überhöhte Selbsteinschätzung ist auszuschließen, dafür war mein Leben, obwohl weit entfernt von einer normativen bürgerlichen Laufbahn, nicht ausreichend beispiellos. Die zu beschreibenden, hautnah erlebten Ereignisse fanden im Verlauf ungewöhnlich schnell aufeinander folgender gesellschaftlicher Veränderungen statt. Wenige Jahrzehnte, die von vielen, vor allem jungen Menschen, heute nur als graue Vorzeit wahrgenommen werden. Aus Begegnungen mit bemerkenswerten Persönlichkeiten, einer Reihe von Reisen in Afrika und über vierzig eindrucksvollen Jahren Tätigkeit bei Film und Fernsehen, entnehme ich die Berechtigung für das vorliegende Unterfangen. Angestrebt ist, mit dieser Arbeit Interessantes, Geschichtliches, sowie Heiteres in abwechslungsreichem Lesevergnügen zu bieten.
Da diese Aufzeichnungen ausführlich über Lebenszeiten in verschiedenen Kontinenten berichten, darf ich hier die Vorstellung meiner Person auslassen. Erinnerungen reichen allgemein nicht bis in die ersten Lebenstage, deshalb hier ein Bild des eigenen Taufkissens, dessen meisterliches Design mein gesamtes Leben mitbestimmte:
Dazu anzumerken wäre, dass dieses Elaborat weder Anspruch auf Vollständigkeit, noch auf literarische Reife erhebt.
Mit etwas mulmigen Gefühlen, doch mit Vorfreude erfüllt, bin ich allein vor sechs Tagen im fast neuen Landrover zur Durchquerung der Sahara über die Tanezrouft-Linie, der Route National Nr. 6 gestartet. Vor etwa sechzig Jahren kannte ich die Strecke „wie meine Hosentasche“. Diese Piste hatte ich fünfmal befahren, sowohl vom Norden nach Süden und umgekehrt. Die Orientierung war damals vermittels von Anhöhen, Sanddünen oder abgestellten „Bidons“ (Benzinfässern) problemlos. Eine genaue Standortbestimmung war ebenso präzise möglich, wie heute mit GPS. Aber Beträchtliches hat sich seit meiner letzten Fahrt durch die Sahara verändert, als es strenge Sicherheitsregeln gab. Niemand verwehrt mir als Einzelperson die Einfahrt, die Piste ist fast durchweg asphaltiert, allerdings ungepflegt und streckenweise von Sand verweht. Genau genommen eine langweilige Fahrt. An vielen Plätzen ist das Vordringen von Zivilisation mit all ihren Vor- und Nachteilen zu bemerken. So paradox es klingt, selbst in der Wüste schreitet die Zerstörung der Umwelt durch den Menschen voran. Dass es jetzt genügend Plätze zur Wasserentnahme gibt, ist ein Vorteil. Ich bin nicht gezwungen, meinen vorsorglich und aus Erfahrung mitgeführten Vorrat an Trinkwasser anzugreifen. Ohne Schwierigkeiten erreiche ich so die Grenze von Algerien zu Mali.
Erinnerungen werden lebendig. In den frühen sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts fuhren die Wagen unserer Expedition in die französische Grenzstation Bordj Perez ein. Die wenigen, dort in der Einsamkeit stationierten Grenzpolizisten empfingen uns überaus freundlich. So war es nicht verwunderlich, dass wir, erschöpft und durstig nach entbehrungsreicher Durchquerung des schwierigsten Teiles der Sahara, mit ihnen gemeinsam ihr Weinkontingent vergnügt bis zum letzten Tropfen leerten. Diese Station war auf einem Hügel am Rande der blühenden Oasenstadt gelegen. Dass sie demnächst diesen Posten an Algerien übergeben werden müssen, war den Franzosen bewusst. Trotzdem, oder eben deshalb war die Stimmung unter den Polizisten eher ausgelassen heiter.
Die Algerier haben nach der Übernahme diesen Ort zu Bordj Mokhtar umbenannt. Ich verlasse ihn bei Sonnenaufgang auf der Route National 6 und nehme die Piste, die in Richtung Tamanrasset führt. Nördlich der Straße liegt gleich nach Bordj Mokhtar ein etwa zwei Quadratkilometer großes, eingezäuntes rechteckiges Gebiet, das ehemals ein blühender Gemüsegarten der Region war. Seit Jahren wird er aber nicht mehr bewässert und versandet komplett. Nur die aus dem Treibsand herausragenden Spitzen der Steine, welche die Beete begrenzten, lassen auf vergangene Fruchtbarkeit schließen.
Gleich nach der Gartenmauer beginnt die schnurgerade Piste in Richtung Osten. Diese dürfte der Hauptroute folgen, auf der Kanga Moussa, der Herrscher Malis im 16. Jahrhundert mit riesigen Karawanen Gold und Handelswaren nach Lybien und Ägypten transportierte. Ich muss dem Landrover ordentlich Gas geben, damit sich der Wagen halbwegs ausgeglichen über die „dol ondulé„, die einem Wellblech ähnlichen regelmäßigen Querrinnen der Sandstraße bewegt. In die endlosen Weiten der „Hamada“, der Steinwüste, eintauchend, verschwindet die Piste flirrend am Horizont in der Unendlichkeit. Die Temperaturanzeige des Landrovers hält schon seit Stunden bei 41° Celsius Außentemperatur. Trotz eines gewissen Glücksgefühls sehne ich mich nach Ruhe und Einsamkeit. Aber noch ist es nicht so weit. Im Wagen selbst herrscht Höllenlärm, durch die Reifen aufgewirbelte Steine schlagen gegen Kotflügel und Spritzwände. Die schier endlose Landschaft wird manchmal von dunklen Erhebungen unterbrochen, dahinter ragen die von der Sonne beleuchteten, scharf abgegrenzten Höhenzüge der Sanddünen auf. Der Himmel ist mit einem leichten Schleier überzogen, der aber die Intensität der Sonnenstrahlen und die Lufttemperatur keineswegs mindert.
Nach einer mehrere Stunden dauernden Fahrt über die Autos mordende Wellblechpiste, sehe ich linker Hand ein angerostetes Schild mit nahezu unlesbar gewordenen Aufschriften in französischer und arabischer Sprache. Ich entziffere zwischen Einschusslöchern „Auberge du soleil et genie„, was übersetzt Herberge zur Sonne und Werkstatt bedeutet. Es weist auf ein etwa zwei Kilometer abseits der Hauptstrecke gelegenes, recht umfangreiches Bauwerk hin. Wegen des durch die harten Wellen der Piste bedingten hohen Tempos, bin ich wesentlich zeitiger als angenommen an meinem Ziel angelangt. Bis zum Sonnenuntergang bleiben ein paar Stunden. So beschließe ich, zu einem einige Kilometer weiter östlich gelegenen Aussichtspunkt zu fahren, den mir Einheimische in Bordj Mokhtar empfohlen hatten.
Seit dem frühen Morgen bin ich völlig allein auf der Piste unterwegs, nur ein einsamer Targi mit zwei Kamelen kommt mir jetzt von Osten her entgegen. Um ihm die von mir aufgewirbelte Sandfahne und Steinschlag zu ersparen, fahre ich von der Strecke ab in die flache Wüste, wo ein geringeres Tempo möglich ist. Wieder auf der Piste erreiche ich nach einigen Kilometern den Aussichtspunkt, der aber nichts außerordentlich Sehenswertes hergibt. Lustvoll lenke ich den Landrover in unnötig großer Kurve durch unberührten Sand, bleibende Spuren hinterlassend, zurück auf das Wellblech und fahre gegen Westen, mit dem Ziel die Auberge du soleil. Wenige Meter rechts von der Piste erscheint wieder der Kamelreiter, den ich rücksichtsvoll mit dem gleichen Ausweichmanöver in weitem Bogen überhole. Ich winke dem vermummten Targi grüßend aus dem offenen Fenster zu, dem scheint aber diese freundliche Geste nichts zu sagen, im Sattel kerzengerade aufgerichtet setzt er seine Reise fort.
Bei dem Schild führt eine schmale Zufahrt von der Piste weg zu einer kleinen Ansammlung von Gebäuden. Sie sind von einer Lehmmauer umgeben, die den Platz vor dem größten der Bauwerke von der Wüste trennt. Zwei Palmen und einige dornige Akazienbäume deuten auf das Vorkommen von Wasser. Das Haus ist ebenerdig, hat aber einen breiten quadratischen Turm mit Fenstern und rundherum Zinnen, einer Burg ähnlich. Links und rechts neben dem über drei Stufen zu erreichenden Eingang symmetrisch angeordnet zwei mit Klappjalousien versehene Fensteröffnungen. Am Dach des Turmes sehe ich eine Satellitenschüssel zum TV-Empfang, eine immens lange Antenne für Kurzwelle und einen Wasserbehälter. Einige Meter davon versetzt steht ein weiteres Gebäude mit Sonnenkollektoren auf dem Flachdach. Ein großes Tor, so breit, dass selbst die riesigen Sahara-LKWs einfahren können, führt offensichtlich in eine Garage oder Werkstatt. An der einen Mauer zwei Pumpen, jeweils eine für Benzin und Diesel.
Ich parke den Landrover vor dem Haupteingang und begebe mich in das Innere des Hauses. Nachdem ich mehrmals in die Hände geklatscht habe, erscheint aus der Dunkelheit ein Mann in gesetztem Alter und weiten schwarzen Saharahosen mit weißer Stickerei an den Seiten, Sandalen und einem schon der Wäsche bedürftigen Unterhemd. Oder ist es zwar gewaschen und nur vom lehmhaltigen Wasser gelb gefärbt? Er begrüßt mich in akzentfreiem Französisch und beantwortet meine Frage nach Unterkunft für einige Tage freundlich positiv.
Ich werde in den Gastraum zu einem Platz geführt, der gleich den vier weiteren Tischen und Stühlen im Raum, aus gepresstem Metall gefertigt ist. Möbel, wie man sie in allen ehemals französischen Kolonien in identer Form und Lackierung findet. An den Tischen, sowie an den dazu passenden metallenen Stühlen fehlt stellenweise schon die nicht mehr definierbare Farbe. Drei Ventilatoren mit jeweils vier großen Blättern hängen von der Decke des Raumes, bewegen sich aber nicht. Die Belüftung erfolgt durch sich gegenüber liegende, in über Mannshöhe angebrachten rechteckigen Öffnungen. Zwei im Osten, die anderen im Westen des Gebäudes. Diese nicht verglasten Fensteröffnungen werden mit Jalousien aus Holz verschlossen und von innen verriegelt. Die Tische und Stühle sind wärmer als die nur wenig bewegte Luft, die zart zu einem der Fenster herein und aus dem auf der anderen Seite wieder hinauszieht. Dieser kaum merkliche Luftzug bewirkt das Verdunsten des Köperschweißes auf der Haut des Reisenden und bringt ihm damit angenehme Kühlung und Erholung. Obwohl draußen die pralle Sonne scheint, herrscht im Gastraum grade ausreichend Licht, um das zum Ausfüllen vor mir liegende Anmeldeformular zu entziffern. Ich schreibe mit einem anfänglich streikenden Kugelschreiber meine Personalien in die dafür vorgesehenen Rubriken. Es ist kaum anzunehmen, dass hier, eine motorisierte Tagesreise von jeder Zivilisation entfernt, irgendjemand an diesen Informationen Interesse hat. Nach der langen rumpeligen und lauten Fahrt ist die hier herrschende absolute Stille recht erholsam. Ich spüre binnen Minuten, wie sich ein dicker psychischer Knoten in meiner Brust löst.
Die Frau des Wirtes, bei dem ich den Drink bestellt hatte, bringt mir einen Pernod 45. Mit Eis und Wasser verdünnt hat dieser die schimmernde Farbe und Transparenz von Perlmutt angenommen und duftet herrlich nach Anis und Erinnerungen. Den Pastis „51“, den ich mir eigentlich gewünscht hatte, den gibt es hier nicht. Die eindeutig arabisch stämmige Frau scheint aus dem Norden Algeriens zu stammen, denn ihre Hautfarbe ist hell, wie die eines Europäers. Da sie das Haar unbedeckt trägt, schließe ich daraus, dass sie Christin ist. Ihre Figur ist etwas rundlich, aber nicht so unförmig, wie man sie oft bei südländischen Frauen dieses Alters findet. Ihr schlichtes Kleid könnte ebenso arabisch, wie von Europa beeinflusst sein. Unter den schon leicht hängenden Lidern blitzen klare wissende Augen, die flink mein Äußeres abschätzen. Ihr recht selbstbewusstes Auftreten verrät mir, wer hier im Hause das Sagen hat. Sie mustert mich noch einmal kurz und verschwindet in Richtung des im Dämmerlicht liegenden Vorraums. Ich bleibe mit meinem Glas Pernod allein, zufrieden in die Stille hörend. Es gefällt mir hier.
Kurz darauf kommt der Wirt wieder in den Gastraum und nimmt das ausgefüllte Papier vom Tisch. Seine Frage, ob ich mein Zimmer sehen wolle, erinnert mich daran, den schon warm gewordenen Aperitif auszutrinken. Ich folge ihm durch den dunklen, angenehm kühlen Korridor und über eine aufwärts führende Stiege bis zu einer Türe aus Holz. Tageslicht dringt durch ein paar Ritzen. Gleich beim Eintreten fällt mir die nahezu genaue Ausrichtung des Zimmers mit der fensterlosen Wand nach Süden auf. Das bedeutet wenig direkte Sonneneinstrahlung, somit tagsüber erträgliche Temperaturen. Dieser Raum hat an zwei Seiten jeweils ein Fenster mit eingesetzten Fliegengittern. Unter dem gegen Osten Blickenden rostet still und beharrlich eine nicht funktionierende Klimaanlage vor sich hin. Das in Richtung Westen schauende dritte Fenster ist fest verschlossen. Der Blick hinaus zeigt mir einen Hof bis hin zur Begrenzungsmauer, angrenzend ein Stück Hamadawüste mit einer weit dahinter liegenden durchaus hohen, im Licht der untergehenden Sonne glühenden Sanddüne. Das keineswegs üppige Bett ist sauber mit weißen Laken bezogen. Die gekachelte Dusche in der Ecke zeigt Spuren rostigen Tropfwassers, die sich so eingeätzt haben, dass sie selbst aggressive chemische Bleichmittel nicht mehr entfernen könnten. Etwas rötlicher Wüstensand hat sich um den Ausfluss gesammelt. Saharasand stört mich nicht, denn hygienischer und keimfreier kann nicht einmal ein frisch desinfiziertes Operationsbesteck in einem mitteleuropäischen Krankenhaus sein. Leider ist keiner der von mir so geliebten Deckenventilatoren vorhanden. Neben einer funktionierenden Klimaanlage wäre er nicht angebracht. Mir steht ein Schreibtisch in der richtigen Höhe zur Verfügung, darauf eine gemütliche Stehlampe und zwei Stühle davor. Ich fühle mich äußerst luxuriös bedient und äußere dem Wirt meine Zufriedenheit. Dieser ist deutlich erleichtert darüber, dass ich die defekte Kühlanlage nicht moniert habe, und zieht sich wieder zurück. Beim Hinausgehen murmelt er etwas über die Freude, einen netten Gast beherbergen zu dürfen.
Kaum alleingelassen untersuche ich den aus Blech gefertigten Spind, fabriqué en france, und hinter einer kleinen Türe aus Metall verborgen die Toilette, wenn man diese in den Boden eingelassene Spezialschlüssel so nennen mag. Werden Mann oder Frau älter, steigern sich bei dieser Art WCs die Schwierigkeiten den Stoffwechsel anstandslos und schmerzlos durchzuführen. Ich beschließe diesem Problem später auf den Grund zu gehen, und mich vorerst dem Entladen des Autos und dem Transport des Gepäcks ins Schlafgemach zu widmen. Da es keineswegs geplant war, mein restliches Leben in Afrika und in rauer Wildnis zu verbringen, ist die Zahl der Gepäckstücke relativ gering. Nachdem die meisten Objekte ihren Platz gefunden haben, wird ausgiebig geduscht. Dann begebe ich mich hungrig und durstig in den Gastraum.
Ich strebe den gleichen Tisch an, der mir vorhin zugewiesen wurde und ersuche den Wirt um ein kühles Bier. Doch der hat für mich einen anderen Platz vorbereitet, an dem ich Mahlzeit und Getränk einnehmen soll. Minuten später wird mir der Grund für diese Umstellung klar. In diesen Breitengraden findet der Wechsel vom Tag zur Nacht vergleichsweise abrupt statt. Es wird schnell finster und allein der Tisch, an dem ich nunmehr sitze, wird von einer elektrischen Glühlampe ohne Schirm beleuchtet. Sanft die Luft bewegend beginnen die langsam sich drehenden Deckenventilatoren ihr kühlendes Werk..
Nach dem Abendessen schenke ich mir ein weiteres Glas des ausgezeichneten Rotweins aus algerischen Rieden ein und gedenke diesen anstrengenden Tag genüsslich und reinen Gewissens mit einem duftenden Zigarillo zu beenden. Animiert durch den wohlschmeckenden Rauch drängen sich mir Ideen für die geplante Arbeit, das Aufzeichnen von Erinnerungen aus meinem recht langen Leben auf. Das für die schmerzenden Gelenke und mein inneres Wohlbefinden äußerst zuträgliche trockene und heiße Klima beflügelt die Phantasie. Mitten in das glückliche Schwelgen ertönt aus dem Hof vor dem Fenster das laute unwirsche Gurgeln eines Kamels, das zum Hinlegen gezwungen wird. Durch die halb offene Eingangstüre kann ich hinaussehen. Im trüben Licht der Laterne vor dem Haus gleitet der reisende Targi, den ich auf der Piste überholt hatte, elegant aus dem Sattel. Unser Wirt kommt ihm entgegen und die zwei begrüßen sich wie alte Bekannte. Der Hausherr verharrt eingedenk seiner Körpergröße auf der untersten Stufe der Vortreppe und erreicht damit nur knapp die Augenhöhe des hochgewachsenen Targis. Sie unterhalten sich in Tamaschek, der Sprache der Tuareg. Trotz der böhmischen Anmutung dieser Bezeichnung ist das ein rein autochthones Idiom, das international in den von Tuareg bewohnten Gebieten: Algerien, Mali, Mauretanien, Burkina Faso, im Süden Lybiens und im Niger verbreitet ist. Nach diesem kurzen Gespräch verzieht sich der Targi mit seinen beiden Kamelen in die Dunkelheit des Hofes.
Der Wirt betritt wieder das Haus und fragt mich, ob ich weitere Wünsche habe. Es ist ausreichend Rotwein vorhanden, so bitte ich ihn zu mir an den Tisch und biete ihm davon an. Ein frisches Glas ist schnell geholt und nach der zweiten geleerten Flasche Mascara haben wir Vertrauen zueinander gefasst und uns gegenseitig schon recht gut kennengelernt
Monsieur Mouloudij, so nennt sich der Wirt, hat die dritte Bouteille geöffnet. Bei deren Konsum setzten wir unseren Dialog fort und tauschen einige Lebenserinnerungen aus. Beim ersten Anblick heute taxierte ich François, so sein Vorname, als „petit blanc“ ein, obwohl er seinem Namen nach Algerier sein müsste. Petit blanc bezeichnet man in den frankophonen Gebieten Afrikas den vergammelten Weißen, der sich hier, da in Europa meistens gescheitert, im Outfit und Lebensstil eines heruntergekommenen Afrikaners mit Mechaniker- oder Hilfsdiensten sein Auskommen schafft. Anfänglich versicherte er mir, dass er eben ein hellhäutiger Algerier sei und aus Oran stamme. Moslem ist er sicher nicht und sein Alter ist schwer zu schätzen, da sein Gesicht durch Sonne und Tabakgenuss gegerbt ist und viele Falten aufweist. Bei dem Gespräch stellt sich heraus, er ist ein „pied noir“, ein in Afrika geborener Franzose. Er war Soldat der französischen Armee und diente während des Algerienkrieges in einer motorisierten Kompanie. In der Wirrnis des Rückzugs der Franzosen desertierte er, denn er wollte seine Heimat nicht verlassen. Einige Zeit lebte er im Untergrund. Nachdem etwas Ruhe im Land eingekehrt war, zog er zu seiner algerischen Frau Fatima auf einen kleinen landwirtschaftlichen Betrieb im Departement Oran. Es gab einen Chansonnier namens Mouloudij, dessen Vater Berber und die Mutter Französin waren. Er wurde 1954 mit dem Lied „Le Deserteur“ berühmt und von Frankreich deshalb verfolgt. Nach diesem Sänger nahm er den Namen Mouloudij an.
Bald wurde ihm aber der Boden im Norden zu heiß. Man hatte ihm hinterbracht, dass er als ehemaliger französischere Soldat an die neuen algerischen Machthaber verraten worden sei, so dass er und Fatima bei Nacht und Nebel flüchteten. Sie durchquerten auf abenteuerlichen Wegen die Sahara und landeten unerkannt in Bordj Mokhtar, viele Kilometer entfernt von politischer Willkür und Rachegelüsten. Hier erfuhren die beiden, dass diese Station der SATT (Société Africaine des Transport Tropicaux), in der wir uns eben befinden, verwaist war und jemand gesucht wurde, der sie übernehmen und weiterführen könne. Sie ergriffen diese Chance und leben hier nunmehr seit Jahrzehnten und wurden zu angesehenen Einwohnern dieser Region. Bei einem Zeitvergleich stellt sich heraus, dass wir gleich alt sind, was dazu führt, dass wir uns von der Stunde an duzen. Es wäre möglich, dass wir uns schon früher einmal getroffen haben, und zwar im Norden Algeriens während des Aufstandes der FLN gegen Frankreich, der Nationalen Befreiungsfront. So erzähle ich ihm ein bisschen aus meinem Leben und dass ich hier sei, um in Ruhe an einem Buch zu arbeiten. Mag sein, dass er jetzt annimmt, einen zweiten Hemingway oder einen Schriftsteller gleichen Kalibers in seinem Haus zu haben. Ach was, soll so sein, er kann meine Ergüsse ohnehin nicht lesen. Die Anstrengungen der Reise und der Wein haben mich ermüdet. So klettere ich über die Stiegen hinauf in die Dachstube.
Kälte, die bis unter meine Bettdecke dringt, weckt mich. Dunkelheit rundum. Durch das offene Fenster sehe ich den sagenhaft klaren Sternenhimmel, aber es zieht die kühle Nachtluft der Sahara herein. Ich ziehe eine Jacke an, klappe den Fensterflügel zu und beschließe, bis Tagesanbruch weiter zu schlafen. Mit Sonnenaufgang steige ich aus dem Bett und bin mit dem Status quo durch und durch zufrieden. Da ergreift mich große Lust zu schreiben. Obwohl es mein Plan war, erst einmal die Gegend zu erkunden, packe ich den Laptop aus. Er fährt trotz der tagelangen, holperigen Transporte über die Wellblechpisten ohne Mucken hoch, ebenso das Schreibprogramm, und ich beginne dieses Kapitel in den Computer zu hacken.
Da die Geschichten, von denen ich erzählen will, mit meiner Person eng verwoben sind, erscheint es notwendig, die Leser über mich zu informieren. Man möge mir dabei das Fortlassen von Binnen-I, Sternchen und anderen feministischen Manifestationen verzeihen. Das generische Maskulinum ist dem Lesefluss der deutschen Sprache zuträglicher. Ich benütze traditionelle Methoden, um meine grundlegende Hochachtung und Verehrung des weiblichen Geschlechts zu dokumentieren. Zur Stabilisierung mühsam errungener Emanzipation waren solche Gleichstellungskennzeichen anfänglich sicher wichtig, die junge Generation unserer Kulturen hat die Gleichberechtigung längst verstanden und übernommen. Und in vielen Ländern, die einsichtslos patriarchalen Gesetze folgen, ist die Befreiung der Frauen nicht mehr aufzuhalten.
Die Sterne und meine Eltern haben mir unbändigen Gerechtigkeitssinn und Freiheitsliebe mitgegeben. Ständige Machtkämpfe mit der älteren dominanten Schwester erlaubten es mir nicht, diese Tugenden auszuleben. Meine hochanständigen und braven Erzeuger hatten keine Zeit, sich mit verschiedenen Problemen ihres Sohnes auseinanderzusetzen, oder verstanden sie ob ihrer eigenen selbst genossenen strengen Erziehung nicht. In ihrer elterlichen Sorge meinten sie sicher, dass geschulte Leute mit Autorität den geliebten Widerspenstigen zähmen könnten. Lehrer, Professoren und Präfekten wurden darüber informiert und die handelten dementsprechend autoritär. Prompt verfehlten sie damit das angestrebte Ziel. War ich deshalb missraten? Etwas mehr Empathie der diversen Lehrkörper hätte deutlich bessere Erfolge erzielt. Da war einmal ein Physiklehrer. Obwohl meine Leistungen in Mathematik immer bescheiden waren, zählte ich eine Zeit lang im Fach Physik zu den Besten der Klasse. Dieser Mann hatte es verstanden, Ehrgeiz und Freude am Lernen bei mir zu wecken.
Niemand kann behaupten, ich wäre ein unmöglicher Schüler gewesen. Genossen doch innerhalb kürzester Zeit etliche Gymnasien meine flüchtige Anwesenheit. Die Wechsel von einem Institut zum anderen fanden rasch hintereinander statt. Das war für meine schulische Weiterbildung keineswegs hilfreich. Da ich mit den seinerzeit üblichen Lehrmethoden nicht einverstanden war, bildete ich mich am Vormittag lieber in Lichtspieltheatern. Beispielsweise im Schäffer-Kino bei „Gentlemen with Guns“, oder konsumierte im Opernkino mehrmals die „Badende Venus“ mit Esther Williams, Red Skelton, Harry James und Xavier Cugat. Ein unrühmliches Ende fand mein Gastspiel bei den „Piaristen“. Nicht nur dass man mir fälschlicherweise das Verbreiten von Zeitschriften pornografischen Inhaltes anlastete, sprengte ich in der Zeichenstunde das Kanonenöfchen des Klassenzimmers in die Luft. Das enorme Ausmaß der Explosion war nicht beabsichtigt, es lag sicher an der Menge des dazu verwendeten Schwarzpulvers. Trotz anfänglich begeisterter Zustimmung der Klassenkameraden für das Vorhaben, verrieten sie mich, unter Druck gesetzt, unisono als Täter. Ich vermute, der erste und einzige Gymnasiast gewesen zu sein, der ein Nichtgenügend in „Betragen“ seines Zeugnisses vorfand.
Die darauffolgende Disziplinierungsmaßnahme war, mich in das Vollinternat der Schulbrüder in Strebersdorf bei Wien zu stecken. Ich war dort inmitten wohlgenährter Bauernsöhne aus der näheren und weiteren Umgebung der Anstalt. Kurz vor den Weihnachtsferien lud mich einer dieser freundlichen Buben ein, mit ihm in sein Elternhaus zu kommen. Nach dem Abendessen brachen wir auf. Es folgte ein Fußmarsch über etwa vier Stunden in finsterer Nacht durch die tief verschneite Landschaft. Wir kamen an toten Pferden vorbei, die vermutlich beim Ziehen der russischen Panjewagen zusammengebrochen waren. Die Kadaver waren an Ort und Stelle liegen gelassen, steif gefroren und ihre Bäuche waren aufgebläht.
Im warm geheizten Bauernhof gab es vorzügliches Essen und zwei Stunden Schlaf. Um Mitternacht wurde ich geweckt. Man schenkte mir für zu Hause ein Tannenbäumchen, das mich in der Länge um Wesentliches überragte. Vor dem Stall stand ein turmhoch mit Heu beladener, von zwei Pferden gezogener Leiterwagen bereit. Hoch oben auf der Ladung sollte mein Platz sein. Mittels angelegter Leiter kletterte ich hinauf und machte es mir in dem duftenden Heu mit einer Decke so gemütlich wie möglich. Es ist anzunehmen, dass sich tief unter mir im Heu vergraben Schmuggelwaren wie Speck, Würste und Honig befanden, die für den Schwarzmarkt in der Stadt bestimmt waren. Womöglich diente ich als Schutzschild bei Kontrollen oder räuberischen Handlungen durch Angehörige der sowjetischen Besatzungsmacht, da es bekannt war, dass sich die rauen Rotarmisten zu Kindern äußerst freundlich verhielten.
Das gleichmäßige Knirschen der Räder sowie das regelmäßige Klappern der Pferdehufe ließen mich trotz Eiseskälte bald einschlafen. Bei Tagesanbruch hielt der Bauer vor dem Parlament, wo ich in eine der ersten morgendlichen Straßenbahnen der Linie 49 stieg. Mich fror es erbärmlich, da ich bei der langen Fahrt auf dem Pferdewagen bei Minusgraden in die Hose genässt hatte. Zu Hause wurde ich von meinen Eltern, Vater war kurz vorher aus der Kriegsgefangenschaft heimgekommen, mit großer Liebe aufgenommen. Zur allgemeinen Enttäuschung hatten wir jetzt zwei Christbäume.
Nach den Feiertagen vergingen einige Wochen im Internat der katholischen Schulbrüder. Die Bauernbuben hatten von daheim Schmalz, Speck, Backwaren und alle die Köstlichkeiten, die liebende Mütter ihren Söhnen eben mitgeben. Selbst ich hatte ein paar von Weihnachten übrig gebliebene Kekse im Gepäck. Die siegreiche Sowjetunion hat die österreichische Bevölkerung in den ersten Monaten nach Kriegsende mit eiweißhaltigen, getrockneten Erbsen in großen Mengen versorgt. Hungrig saß ich im Speisesaal des Internats vor meinem Erbsengericht. Abwechslung war gegeben, denn da schwammen gelbe Hülsenfrüchte neben dunklen, fast schwarzen, in der breiartigen Speise. Voller Neugier, da ich schwarz schimmernde Erbsen nie vorher gesehen hatte, untersuchte ich nach einigen Happen eine davon genauer. Mein biologisches Verständnis sagte mir, dass Pflanzenprodukte niemals sechs Beinchen haben. Obwohl kein Vegetarier, zog ich daraus die Konsequenz und löffelte diese ernährungstechnisch sicher ausgewogene Mischkost, in ein leeres Einsiedeglas. Das versteckte ich in der Lade unter meinem Essplatz. Doch der strenge Präfekt beobachtete diesen Vorgang und zwang mich, das inzwischen kalt gewordene Gericht samt Käfern zu verspeisen. Bei nächster Gelegenheit lief ich davon und nach Hause.
Ein paar Jahre vorher. Es war in der dritten Klasse Volksschule, da betraten in der Zeit des Unterrichts drei Herren das Klassenzimmer. Zwei in hellbraunen Uniformen mit allen Attributen der NS-Partei, und einer in Zivil mit goldenem Parteiabzeichen im Knopfloch seiner Jacke. Obwohl ein intelligenter und aufgeweckter Schüler, ersparte mir meine ausgeprägte Aversion gegen Leibeserziehung, wie Turnen damals hieß, einige Jahre strengster Disziplin im Internat der NAPOLA (Nationalsozialistische politische Erziehungsanstalt), die Schule für den Parteikader. Die Volksschule hat bei mir einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Ich trug in dieser Zeit, wie alle Jungen, kurze Hosen. Die ermöglichten es dem Herrn Oberlehrer W. meine damals zarten Arschbäckchen direkt zu überprüfen, indem er mit der Hand von unten hineinfuhr. Ab diesem Erlebnis habe ich nie mehr kurze Hosen getragen. Selbst später, freiwillig dem Fanfarenzug vom Bann 501 des deutschen Jungvolks angehörend, trug ich entgegen der Norm lange Uniformhosen.
Ja, ich war ein „Pimpf“ mit all den dazugehörenden äußerlichen Zeichen. Ich trug zu schwarzen Hosen ein braunes Hemd, aber zusätzlich eine Koppel mit Schulterriemen und ein HJ-Fahrtenmesser. Attribute, die strenggenommen erst Hitlerjungen im Alter ab vierzehn Jahren zustanden. Dazu ein schwarzes Halstuch, das vorne am Hemdkragen durch einen aus hellbraunem Leder geflochtenen Ring zusammengehalten wurde. Vermutlich wegen meines jugendlichen Alters nahm niemand Anstoß daran. Ich lebte in einer eigenen kleinen Welt, was die Erwachsenen taten und sagten, war mir egal, solange sie mich nicht unsittlich berührten. Eines Tages bekam ich eine hellblaue Armbinde mit einem weißen „M“. Von da an war es amtlich, ich war „Melder“, freiwillig aber zu jung dafür, und hatte das Recht, bei Fliegeralarm auf der Straße herumzulaufen oder Dachböden zu besteigen. Die Aufgabenstellung war, bei Sichtung eines Brandes die Feuerwehr zu verständigen. Darüber hinaus wurde mir einen wesentlich zu großer chromglänzender Feuerwehrhelm verpasst, der mir das Aussehen etwa von Darth Vader gab.
Meine einzige tatsächlich verdiente und verliehene Auszeichnung war eine grünweiße Kordel, genannt Affenschaukel. Die wurde mir zuteil, weil ich nach der Bombardierung des Floridsdorfer Marktes den Fund eines Blindgängers oder einer Zeitbombe gemeldet hatte, die auf meinem Weg lag. Ich wurde damit zum Jungenschaftsführeranwärter. Das geschah aber Anfang 1945, da wurden bereits Buben unter vierzehn Jahren in Phantasieuniformen gesteckt, mit alten Karabinern und einer Handvoll Munition ausgestattet an die Front geschickt. Deshalb wurde diese Beförderung formlos überreicht. Doch das tat meinem Stolz keinen Abbruch.
Es war gegen Kriegsende, bei einem Besuch bei den Großeltern am Wiedner Gürtel, da gab es wieder einmal Fliegeralarm. Alle Hausbewohner begaben sich eiligst in den Keller. Der gegenüber liegende Südbahnhof war ein strategisch wichtiges Bombenziel, weshalb mir meine Mutter den Aufenthalt im Haus oben verbot. Außer einem Greis waren nur Frauen im Luftschutzraum versammelt, der, im Souterrain gelegen, bei einem direkten Bombentreffer nicht ernstlich Schutz geboten hätte. Ein enormer Knall löste eine Staublawine in unserem Keller aus, die frei an ihren Drähten hängenden Glühbirnen wackelten heftig und das Licht flackerte beängstigend. Einige der Damen quietschen hysterisch, so dass ich, mich meiner verdienstvollen Aufgabe als Melder erinnernd, aus dem Keller lief. Das mehrstöckige Gebäude nebenan, im Stil der Gründerzeit gebaut, war ein riesiger, rauchender Schutthaufen. Die Bombe hatte das Hotel Savoy wie mit einem Messer aus der Häuserzeile geschnitten. In unserem Haus hingegen war das Treppenhaus unbeschädigt, aber alle Fenster geborsten und einige Türen aus den Angeln gerissen. Nichts brannte, die Einrichtung war intakt, nur die Bücher im Regal hatten durch Bombensplitter Löcher abbekommen. Mit diesen doch verhältnismäßig positiven Mitteilungen kehrte ich in den Keller zu den Damen mit Greis zurück. Das beruhigte Verängstigten erstaunlich schnell.
Meine neun Jahre ältere Schwester Erika war eine Pferdenärrin, wie es viele pubertierende Mädchen einmal in ihrem Leben sind. Sie hatte eine wunderhübsche Freundin von blauem Geblüt, mit der sie die Pferde der SS-Reiterstandarte 18 im dritten Bezirk in der Barmherzigenstraße 17 und in einem anderen, privaten Stall in der Rasumovskygasse Reitpferde eines Gestüts betreute. Baronin Liesl W. war eine begnadete Springreiterin, die mich manchmal auf dem Gepäckträger ihres Fahrrades zum Reiten in die Freudenau mitnahm. Das anstatt des Schulbesuchs versteht sich! Nebenbei wollte ich unbedingt Kriegsheld werden. Die von mir verehrten Vorbilder waren die Heroen und Träger des Ritterkreuzes Nowotny, Udet, Galland, Rommel, Dietl und Co. Ärgerlich war, dass die Soldaten, welche ich konsequent provokant mit dem Hitlergruß beehrte, salopp mit der Hand am Mützenschirm zurückgrüßten. Ich hätte auch gerne salutiert, aber ein junger „Pimpf“, demnach eher der Partei zuzurechnen, durfte nur mit ausgestrecktem rechtem Arm die Ehrenbezeigung erweisen. Einmal, gegen Ende des Jahres 1944, geschah es, dass ein Soldat meinen Gruß auf gleiche Weise erwiderte. Von da an bereitete es mir ein besonderes Vergnügen, Chargen sowie einfache Landser ausgiebigst zu grüßen. Gelegenheiten dazu gab es genug, da das Wohnhaus meiner Eltern nur Schritte von der durch Militär voll belegten Stiftskaserne lag.
Dann kam der April 1945. Es gab durchgehenden Alarm, vom Flakturm aus schossen die 8,8cm Flugabwehrkanonen waagrecht Dauerfeuer in Richtung Westen. Die Fensterscheiben bogen sich durch den Druck, brachen aber wunderbarerweise nicht. Ich, mutiger Melder in voller Uniform stand auf der Straße vor dem Haustor. Von links, von der Stiftskaserne her, raste ein mit bewaffneten Soldaten überladener Kübelwagen vorbei in Richtung Westen. Mit einem Mal verstummten die Kanonenschüsse vom Flakturm, es wurde leise in der Lindengasse, nur von Weitem war Gefechtslärm zu hören. Kurz darauf kamen von rechts, aus dem Westen Wiens, die Soldaten zu Fuß zurück, benahmen sich aber äußerst merkwürdig. Sie sprangen von Haustor zu Haustor, verweilten dort etwas, um gleich wieder in der nächsten Nische zu verschwinden. Auffallend war, dass sie zwischenzeitlich die Uniformen gewechselt hatten. Diese waren nicht mehr olivgrün, sondern hatten eine dunkelgelb-braune Farbe.
Für den von der NS-Propaganda intensiv geschulten zukünftigen Helden einer stets siegreichen Wehrmacht war es undenkbar, was sich da augenscheinlich zugetragen hat. In der kompletten Adjustierung eines Jungnazis auf der Straße stehend, traf mich blitzartig die Erkenntnis, dass dies Angehörige der Roten Armee sind, obwohl sie aus dem Osten herkommend erwartet wurden. Mit einem Sprung war ich im Haus, schloss die verglaste Eingangstür und sperrte diese geistesgegenwärtig zu. Schon am Weg in den Luftschutzraum entledigte ich mich der Koppel und des HJ-Fahrtenmessers. Schweigend nahmen die im tiefen Keller wartenden Hausbewohner die Botschaft von der Eroberung unserer Gasse durch die Russen entgegen.
Zwei Tage nach der Befreiung holte ich meinen gleichaltrigen Freund zu einer Erkundungstour ab. Die Lindengasse war verstopft mit Panjewagen, den dazugehörenden Pferden und teilweise schwer alkoholisierten Sowjetsoldaten. Ein Duftgemisch aus Pferdemist, tagelang ungewaschenen Männern und Alkohol erfüllte die Gasse. Mehrmals täglich war es erforderlich, Wasser zu holen. Der Weg zum Hydranten führte durch dieses übelriechende Getümmel. Um meine besorgte Mutter kümmerte ich mich kaum, sie hatte ja ihre Tochter, auf die sie aufpasste. Um diese vor sexuellen Übergriffen durch die in gefährlicher Nähe der Haustüre stationierten Soldaten zu schützen, verfrachtete man sie auf den Dachboden, wo sie etliche Tage in einer von unten nicht einsehbaren Mauernische kampierte. Der einzige Zugang dazu war nur mit einer Leiter möglich, die sie zu sich hinaufzog und damit in Sicherheit war.
Ich selbst und mein Freund waren exakt in einem Alter zwischen herzigen Buben und pubertierenden Jungen, somit nur bedingt für unsere Aktionen zur Verantwortung zu ziehen. Was wir ausgiebig ausnützten. Die sonst eher belebte Mariahilfer Straße war verwaist, die Scheiben der meisten Geschäfte zerbrochen, die Türen standen offen. Ebenso beim „Tiller“, seit K.u.K.-Zeiten ein Herren- und Uniformschneider der oberen Klasse. Statt der herumliegenden Stoffballen oder Reitstiefel faszinierten mich ausschließlich die Orden in den Ausstellungstruhen. Vom einfachen Tapferkeits- und Parteiabzeichen angefangen, bis zum Ritterkreuz mit Eichenlaub und Schwertern und Brillanten lagen dort zum Greifen nahe die von mir erträumten glitzernden Beweise von Heldentum. Ich füllte ein kleines Köfferchen gestrichen voll mit diesen Herrlichkeiten. Mein Freund war urplötzlich verschwunden und ich schleppte die gewichtige Beute allein heimwärts, an eben den sowjetischen Frontkämpfern vorbei, die ihr Überleben mit aus der Stiftskaserne erbeuteten Alkoholika feierten und kein Interesse an mir oder dem Ordensschatz zeigten. Zu Hause hatte ich die Teile meiner Uniform unter das Bett gestopft, das recht schwere Köfferchen mit den Glorifizierungen in ein Regal gestellt. Doch leider wurden diese Schätze bald von besorgten Familienmitgliedern gefunden, und meinem von mir geliebten, angeheirateten Onkel Karl Fochler zur Entsorgung übergeben, der diesen Auftrag leider gewissenhaft und gründlich durchführte.
Die Frauen haben in dieser Zeit Unglaubliches durchgestanden und geleistet. Schon im Krieg, von ihren Männern gezwungenermaßen allein gelassen, haben sie selbständig gewirtschaftet. Die daraus gewonnenen Erfahrungen konnten sie in den folgenden Jahren erfolgreich anwenden. Selbst nach der Heimkehr ihrer geschwächten, erkrankten und invaliden Männer aus der Kriegsgefangenschaft trugen sie lange die Hauptlast und Verantwortung. Die Beschaffung von Lebensmitteln war darüber hinaus extrem mühsam. Es gab bis ein paar Jahre nach Kriegsende Lebensmittelkarten. Mit Abschnitten davon lief ich zum Bäcker an der Ecke Kirchen- und Siebensterngasse. Nicht immer mit Erfolg, denn sobald ich hinkam, standen schon Frauen und Kinder in langer Schlange davor an. Sie warteten seit Stunden auf das Öffnen des Geschäftes. Manche saßen in Decken gehüllt auf kleinen mitgebrachten Hockern. Am Ende der Menschenschlange gereiht, gab es nur wenig Chancen auf Marken Brot zu beziehen. Zusätzlich zu den kargen offiziellen Rationen musste Nahrhaftes beschafft werden. Die tapferen Frauen, so wie meine Mutter, rafften den vor Plünderungen geretteten Familienschmuck zusammen und tauschten ihn gegen Lebensmittel. Ohne Standesunterschiede kletterten die Damen über die aus dem Wasser ragenden Reste der Floridsdorfer Brücke nach Norden, wo damals noch Bauernhöfe standen. Beladen mit landwirtschaftlichen Produkten kehrten sie dann am selben Weg wieder heim zu ihren Familien.
Im Stockwerk unter der elterlichen Wohnung gab es eine Pension. Diese Unterkunft hatten politische Kommissare der Roten Armee, das waren speziell ausgebildete Führungsoffiziere und Angehörige des KGB, für sich akquiriert. Sie waren leicht an den knallgrünen Tellerkappen zu erkennen, was automatisch für das gesamte Haus einen gewissen Schutz gegen Plünderungen ergab. So wirklich sicher waren wir aber erst von dem Moment an, da einer der Herren Kommissare das Klavierspiel unserer Mutter hörte, die unberührt vom Weltgeschehen weiterhin Gesang unterrichtete. Eines Nachmittags läutete es an der Eingangstüre Sturm. Ich lief mit meiner Mutti hinaus, um nachzusehen, wer da kam. Mit ungutem Gefühl öffnete sie die Türe, bereit ihre Kinder und ihr Eigentum mit bloßen Händen gegen die gesamte Rote Armee zu verteidigen. Draußen stand ein Kommissar, mit der Kappe unter den Arm geklemmt, und fragte in gebrochenem Deutsch, ob er eintreten dürfe. Natürlich durfte er, es blieb ja nichts anderes übrig. Er erkundigte sich nach dem Klavier. Wir führten ihn ins Musikzimmer. Er sah den alten Bösendorfer-Flügel mit halbenglischer Mechanik, setzte sich daran und begann sofort meisterhaft zu spielen. Aber nicht nur das, er hob gleichfalls zu singen an. Mit einem prächtigen, geschulten Bariton schmetterte er mit voller Stimme Arien aus russischen Opern durch die offenen Fenster in die Welt hinaus. Die überaus laute und kraftvolle Interpretation eine Reihe von Opernarien der russischen Komponisten Tschaikowski, Mussorgski, Glinka, Borodin und Rachmaninow war für mein dem Belcanto verhaftetes Mütterchen qualvoll anzuhören. Fast täglich wiederholten sich diese nur wenig erwünschten Darbietungen.
Nach einigen Tagen zogen die Kampftruppen vor unseren Fenstern ab. Ihnen folgte der Tross, dessen Ziel hauptsächlich Vergewaltigungen, Plünderungen und vorwiegend das Konfiszieren von Uhren jeglicher Art war. Eines Morgens stürmte ein Soldat mit vorgehaltener Pistole unsere Wohnung. Wie Mütter so sind, drückte sie ihm tapfer die Waffe aus der Schusslinie, dieweilen er im Befehlston irgendwelche Anweisungen auf Russisch gab. Der singende Kommissar, dessen Politabteilung schon mit den Kampftruppen eingetroffen und in der Pension verblieben war, kam herauf gestürmt, schrie den Soldaten mit geschulter Stimme fürchterlich an, der daraufhin kleinlaut das Weite suchte. Wir hatten nach diesem nicht ungefährlichen Auftritt nie mehr Besuch von beutelüsternen Russen. Nur der Kommissar sang uns über einige Wochen die Ohren voll. Die Tage der russischen Besatzung waren gezählt, denn der siebente Bezirk wurde, wie andere in Wien, zur amerikanischen Zone erklärt.
In dieser Zeit wurde dank RAVAG (Radio-Verkehrs AG) mein intensives Interesse für Tontechnik geweckt. In einem Haus, in dem Belcanto und Kammermusik gepflegt wurden, durfte ich die Sendungen nicht hören, die meinem damaligen Kunstempfinden entsprachen und mich prägten. Doch es fand sich in einem Schrank ein altes Detektorradio, das mir heimlichen Hörgenuss ermöglichte. So wie ich nachts unter der Bettdecke mittels Taschenlampe sämtliche Bände Karl Mays verschlang, hörte ich Radio. Am Sonntagmorgen gab es „Was gibt es Neues hier in Wien“ von und mit Heinz Conrads und Gustav Zelibor. Das war leicht verdauliche und aktuelle Kost. Ich hatte vorsintflutliche Kopfhörer an einem mit Stoff ummanteltem Kabel, die mir das Aussehen eines Außerirdischen gaben, dem Antennen aus dem Kopf wuchsen. Auf einem Holzbrettchen war neben einer Schwingkreisspule der Kristall montiert. An diesem musste man erst mit der Spitze eines daneben angebrachten steifen Drahtes die am besten funktionierende Stelle finden. Dann drang die unvergessliche Stimme Heinz Conrads intim und störungsfrei an meine Ohren und sensible jugendliche Seele.
Da war mein Freund, Fritz M., mit strahlend blondem Haar, kaum größer als ich. Uns vereinte der Hang zu Handfeuerwaffen. Dies war keineswegs verborgener Mordlust zuzuschreiben, sondern der Unmöglichkeit, unsere kindlichen Träume von Heldentum in die Tat umsetzen zu können. Das dramatische Postulat der Reichspropaganda, es wäre das höchste Ziel des Mannes, mit der Waffe in der Hand fürs Vaterland zu sterben, hatte uns geprägt. Doch um selbst schießen zu dürfen, waren wir beide zu Zeiten des Krieges zu jung. Nur einmal am Heldenplatz, die Wehrmacht stellte ihre Ausrüstung vor, erhielten wir Gelegenheit, das ersehnte mattierte Metall der Karabiner, MPs und MGs zu berühren. Und jetzt lagen diese Herrlichkeiten vor uns ausgebreitet auf dem Tisch. Es waren nicht dafür vorgesehen, um mit ihnen zu schießen, sondern um Handel zu treiben. Nicht einen Schuss haben wir mit diesen Waffen abgegeben, ebenso wenig kamen wir jemals in Versuchung damit Raubüberfälle durchzuführen. Ausschließlich in unserer spielerischen Phantasie, schossen wir wild herum.
Eines Tages lernte ich einen gewissen Adolf W. kennen, wohnhaft im Nachbarbezirk in der Albertgasse,. Dieser W. hatte scheinbar unerschöpflichen Zugang zu gepflegten Pistolen, Gewehren und Maschinenpistolen verschiedener Herkunft. Deutsche Schmeisser-MP, die russischen PPD-40 mit den markanten runden Magazinen und Armee- und Polizeipistolen aus allen ehemals kriegsführenden Ländern. Die lagen frei herum und hingen in den Schränken seiner Wohnung. Dazu ausreichend die jeweils passende Munition. Eine Zeit lang ergab das eine ersprießliche Verbindung. Herr W. wusste, von wo er die Dinger bekam, ich wo man sie wieder gewinnbringend verkauft. Einerseits beim Berger am Praterstern, der dort zwei Lokale besaß. Das am rechten Eck der Praterstraße gelegene Gasthaus war dem Bürgertum gewidmet, die Gäste des am linken Eck gegenüber befindlichen Lokals waren der Unterwelt zuzurechnen. Andererseits gab es regen Absatz für die Waffen am Naschmarkt. Letzterer war in wenigen Minuten Fußmarsch von daheim zu erreichen. So wurde das Kaffee Kettenbrücke zum frequentierten Umschlagplatz. Ungeniert transportierte ich selbst größere Objekte versteckt unter meinem Mantel. Zwei- bis dreimal die Woche war ich um vier Uhr morgens dort und übergab die bestellten Waren an die Marktlieferanten, oder welchen Berufen immer diese Herren nachgingen.
Fritz, der Freund, wohnte bei seinen Eltern in der Margaretenstraße, wo in der Küche die Waffen zerlegt und auf Hochglanz geölt wurden. Wir schworen damals darauf, dass man bei unserem gefährlichen Lebenswandel höchstens ein Lebensalter von fünfunddreißig Jahre erreichen werden. Der etwas sorglose Umgang mit Munition brachte das Ende dieses nicht unbedingt legalen Handels. Wie schon weiter oben erwähnt, wurde ich nach der Explosion bei den Piaristen, verursacht durch das aus Patronen gewonnene Schießpulver, ins Internat und Gymnasium der Schulbrüder in Strebersdorf verbannt. Womit mein Zugang zu Waffen und Munition endgültig unterbunden war.
Es ist spät am Vormittag. Ich werfe einen Blick in den von Licht überfluteten Hof – der Targi mit seinen beiden Meharis ist verschwunden. Zufrieden mit mir und meiner heutigen Leistung freut es mich, dass die grauen Ganglien und das Erinnerungsvermögen leidlich funktionieren. Im Laufe des Eintippens tauchen wild wuchernd Bilder und Namen aus früheren Tagen auf, die verlangen gefiltert und sortiert zu werden. Ich befürchte Chaos. Das bremst die Lust am Schreiben. Jetzt ist die Zeit für eine ausgiebige Dusche gekommen. Die Sonne hat das in der Nacht kalt gewordene Wasser im Tank am Dach wieder erwärmt. Es bedeutet ein unvergleichliches Vergnügen, sich in den lauen bis heißen Wasserstrahlen genüsslich zu reinigen. Man mag darüber lächeln, aber ich ziehe warme Duschen kalten vor.
In der rückwärtigen Ecke des Gästeraums steht das für mich vorbereitete Frühstücksgeschirr unberührt auf dem Tisch. Fatima hat in der Küche mein Kommen gehört, schlurft herbei und fragt, ob ich denn jetzt ein „petit dejeuné“ zu mir nehmen wolle? Dankend lehne ich ab und erkläre ihr, dass ich nie frühstücke. Daraufhin räumt sie deutlich pikiert das Geschirr ab und entschwindet in Richtung Küche. Es scheint, dass diese Ablehnung, ihre mütterlichen Instinkte trotz meines fortgeschrittenen Alters beleidigt hat. Sekunden später erscheint sie nochmals und erkundigt sich, ob ich denn nicht zumindest einen Kaffee trinken wolle? Der nicht zu überhörende drohende Unterton in dieser Frage, erlaubt keine Ablehnung. Aus der Küche dringen Wortfetzen, Fatimas Stimmlage und Tonfall verraten Empörung. Minuten später kommt François grinsend mit einem Tablett, darauf eine Kaffeekanne und Tasse balancierend an meinen Tisch und wünscht mir einen guten Tag. Ob unser Kamelreiter wieder abgereist sei, frage ich. Auf irgendeine Weise war mir dieser Targi sympathisch, obwohl ich nur seine verhüllte Gestalt und den Schleier vor dem Gesicht gesehen habe. François hatte ihn heute zeitig am Morgen wegreiten sehen. Er ist aber sicher, dass der Targi bald wiederkommt, denn dort, in der Oase zu der er zweifelsfrei wollte, gibt es im Moment keine heiratsfähige oder zumindest begehrenswerte Targia. Dieser Mann scheint so eine Art Wüstencasanova zu sein, ähnlich dem Nomaden, den ich vor vielen Jahren im l’Aȉr kennen gelernt hatte.
Und so ist es. Am späteren Nachmittag ertönt vom Hof wieder das unwillige Gurgeln aus den Kehlen der beiden Meharis, die zum Niederknien gezwungen werden. Francois begibt sich hinaus, um den Targi nach dessen Erfahrungen in der Oase zu befragen. Aus der Kürze der Antwort ist zu schließen, dass der Ausflug unbefriedigend verlaufen ist. Doch der Wirt bringt eine Einladung zum Tee beim Targi mit. Gerne nehme ich an und überlege, wie eine Verständigung mit ihm möglich ist.
Zur angegebenen Zeit begebe ich mich in den Hof in Richtung Lagerstelle des Targi. Dort brennt ein kleines, durch zusammengetragene Steine begrenztes Lagerfeuer. Er erhebt sich höflich, streckt mir seine schlanke Hand zur Berührung entgegen und stellt sich vor: Akamouk. Ich nenne auch meinen Namen und blicke in ein Paar blaue Augen! Ich setze mich auf einen behauenen Stein, der offensichtlich vom Bau des jetzt von mir bewohnten Türmchens übriggeblieben ist. Akamouk hat seinen dunkelblauen Schleier abgenommen und trägt nur mehr eine Art Turban auf dem Kopf. Die Haut seines jungenhaften Gesichts ist hell, gleich einem Europäer. Sie zeigt auch nicht die geringste blaue Färbung, wie es frühere Experten für Touareg, wie Pére Foucold, Jean Rouge, Nachtigall und andere Forscher beschrieben haben. Noch zur Zeit meiner ersten Expedition bemerkte ich bei einigen Touareg und Bella Einfärbungen durch die blauen Textilien. Die Tagelmusts (Kopfverhüllungen) der modernen »hommes bleu«, der sogenannten blauen Männer, sind mit zeitgemäßen wasserfesten Chemikalien gefärbt und geben kaum Farbe ab. Akamouk hat einen kleinen, kobaltblau emaillierten Teekessel direkt ins Feuer gestellt. Dieses Kännchen gleicht denjenigen, welche die Tuareg schon vor hundert Jahren zum Teekochen benützt hatten, mit dem Unterschied, dass sie heute „made in China“ sind.
Er öffnet den Deckel und hängt ein Sträußchen frisches Pfefferminzkraut hinein. Wir schweigen beide, es herrscht diese unvergleichliche Stille, welche die Sahara so auszeichnet. In dieser besonderen Ruhe bedarf es keiner Sprache zur Kommunikation. Gedämpft und in tiefer Tonfrequenz brummt das Stromaggregat aus der Ferne, das François täglich in der Dämmerung anwirft. Der Tee beginnt blubbernd zuEr öffnet den Deckel und hängt ein Sträußchen frisches Pfefferminzkraut in das gut gezuckerte Wasser mit den grünen Teeblättern. Wir schweigen beide, es herrscht diese unvergleichliche Stille, welche die Sahara so auszeichnet. In dieser für den von Lärm geplagten Europäer außergewöhnlichen Ruhe, bedarf es keiner Sprache zur Kommunikation. Gedämpft und in tiefer Tonfrequenz brummend startet aus der Ferne das Stromaggregat, das François täglich in der Dämmerung zum Laufen bringt. Der Tee beginnt blubbernd zu kochen. Akamouk stellt ein abgegriffenes Tablett aus getriebenem Kupfer mit zwei Teegläsern auf den sandigen Boden. Er legt den geschwungenen Schnabel der Kanne an den Rand des Glases, und zieht beim Einschenken zielsicher bis in eine Höhe von etwa dreißig Zentimetern. Ohne dabei einen Tropfen zu verschütten schenkt er gleichmäßig die gelbe Köstlichkeit ein. Sauerstoff bindend bildet sich Schaum in den Trinkgläsern. Schweigend schlürfen wir den heißen, sehr süßen grünen Tee. kochen. Akamouk stellt ein abgegriffenes Tablett aus getriebenem Kupfer mit zwei Teegläsern auf den sandigen Boden. Aus etwa dreißig Zentimetern Höhe schenkt er gleichmäßig die gelbe Köstlichkeit ein, ohne dabei einen Tropfen zu verschütten. Sauerstoff bindend bildet sich Schaum in den Trinkgläsern. Schweigend schlürfen wir den heißen, sehr süßen grünen Tee.
Einem ungeschriebenen Gesetz gehorchend, werden drei Gläser der Gastfreundschaft getrunken: Ist das Dritte geleert, erst dann genießt der Besucher umfassenden Schutz und Schirm des Gastgebers: Die erste Portion bedeutet die höfliche Begrüßung, bei der zweiten wird der Fremde geprüft, die letzte besiegelt das unverbrüchliche Recht auf Beistand und Freundschaft. Während wir das erste Glas in kleinen Schlucken leeren, klaubt Akamouk sorgfältig ein paar Stücke des zertrümmerten Zuckerhuts von einem gegerbten Ziegenfell, gibt sie zu den Teeblättern in die Kanne und gießt frisches Wasser darüber. Wir warten schweigend das ebenso kunstvolle Nachfüllen des zweiten Glases ab. Obwohl stolzer Abkömmling der Tuareg, ist er doch so weit Afrikaner, dass er den Rumi, den Europäer mit großem Respekt behandelt. Jetzt wäre es an der Zeit, eine Unterhaltung zu beginnen. Dem Umgang mit Menschen aus anderen Kulturen seit Jahrzehnten entwöhnt, ist mir nicht klar, womit ich einen Dialog eröffnen kann, ohne meinen Gastgeber eventuell zu verletzen.
Er hat seine Tabuka, das zweischneidige Schwert der Tuareg neben sich liegen. Sie steckt in einer kunstvoll ausgeführten bunten Lederscheide mit Verzierungen aus Metall. Ich versuche es auf Französisch und sage ihm, wie schön diese Waffe ist, und dass ich zu Hause in Wien zwei ähnliche Exemplare habe. Die hatte ich vor langer Zeit im Niger, es war um das Jahr 1976, in einem Sammellager von aus Mali ausgewiesenen oder geflüchteten Tuareg gekauft. Es waren Frauen, die mir die Schwerter zum Kauf anboten. Ihre Not war extrem groß. Sie verlangten einen so niederen Preis, dass ich ihnen wesentlich mehr dafür zahlte. Ein ungewöhnlicher Akt, weil normalerweise muss man in Afrika den Kaufpreis herunterhandeln. Das wird erwartet, denn gefeilscht wird weniger um den Verdienst zu steigern, sondern wegen des sportlichen Vergnügens. Akamouk meint, er war damals ein Kind, aber er erinnert sich daran, dass große Karawanen von Touareg anderer Stämme in den Hoggar gekommen sind.
Er spricht ein grammatikalisch einwandfreies Französisch, allein das „R“ rollt statt am Gaumen vorne auf der Zunge. Auf meine Frage, wieso er die Sprache so bestens beherrsche, erzählt er, dass man ihn in die Schule nach Algier geschickt hätte. Sein Vater war Offizier bei der von den Franzosen gegründeten Garde Nomade und hatte erkannt, wie wichtig Bildung für einen Targi ist. Verwundert frage ich ihn, wieso es einem Wüstenbewohner möglich ist, seinem Sohn europäische Schulbildung zu bieten. Seine Antwort ist kurz und deutlich, mit einem feinen Lächeln zieht er seine Tabuka etwas näher zu sich heran. Welchen Vorteil vermag ihm hier in der Wüste, diese Erziehung bringen? Er meint, er sei bei den Clans der Sahara recht angesehen und reitet von einer Familie zur anderen. Manchmal würde er bei einer heiraten, um nach einiger Zeit wieder weiterzuziehen.
Es ist mir bewusst, dass Hochzeiten gar nicht wenig kosten, und bei einer Scheidung, welche fast stets von der Frau verlangt wird, das gesamte Vermögen und die aus der Verbindung hervorgegangenen Kinder bei der Mutter bleiben. Um sich das leisten zu können, muss er doch höchst wohlhabend sein? Ich erhalte keine Antwort darauf, nur das gleiche Lächeln wie vorher erscheint kurz auf seinem vom flackernden Lagerfeuer beleuchteten, edlen Gesicht. Da dämmert mir, er wird halt die alte Tradition der ehemals räuberischen Touareg fortführen und sich das, was er braucht, gnadenlos aneignen. Frau verlangt wird, das gesamte Vermögen und die aus der Verbindung hervorgegangenen Kinder bei der Mutter bleiben. Da muss er doch ganz schön reich sein, vermute ich? Ich erhalte keine Antwort darauf, nur das gleiche Lächeln wie vorher erscheint kurz auf seinem vom Lagerfeuer schwach beleuchteten, edlen Gesicht. Da dämmert mir, er wird halt die alte Tradition der ehemals räuberischen Touareg weiter fortführen und sich das, was er braucht, einfach aneignen.
Es ist schon spät und kühle Luft kündigt eine kalte Nacht an. Der Mond ist nicht zu sehen, aber eine atemraubend große Anzahl Sterne erhellt den Himmel. Teilweise stehen sie so dicht nebeneinander, dass sie richtige Flächen aus Licht bilden, wie ineinander verschmolzen. Ich bin müde, François hat das Aggregat längst ausgeschaltet und ich bin in Sorge, dass sich ohne Strom der Akkumulator meines Computers über das Ladegerät entladen würde. Ich bedanke mich herzlich für die Einladung und gehe mit einem freundschaftlichen „a demain“ zum jetzt im Dunkel liegenden Haus. Aus der Ferne kommt Motorenlärm und ich sehe einen hellen Lichtstrahl, der sich langsam nähert. Diese Piste wird nur selten befahren, aber manche Fahrzeuge biegen zur Auberge ab und kommen herein, um zu tanken. Doch dieser LKW donnert mit hohem Tempo vorbei. Dieses Geräusch bleibt in der sonst herrschenden Stille noch lange sachte verebbend zu hören. Die vorsorglich mitgenommene Taschenlampe wirft einen gebündelten bläulichen Lichtstrahl voraus, die Stiege zum Zimmer im Turm erreiche ich ohne Probleme. Mich ärgert die Unaufmerksamkeit, Akamouk diese Lampe nicht als Gastgeschenk überreicht zu haben. Es befinden sich sechs solcher Handleuchten in meinem Gepäck, die ich für diese Reise besorgt habe. Ich nehme mir vor, das morgen nachzuholen.
In meinem Zimmer angekommen, trenne ich das Ladegerät vom Netz und vom Computer. Nachdenklich lege ich mich auf das Bett. Vor langer Zeit gab es einen Akamouk, der oberster Chef aller Touareg war. Vom Hoggar aus regierte er die in der Sahara und im Sahel verstreut lebenden Stämme. Abweichend von den Methoden anderer Kolonialmächte hat Frankreich seine Kolonien administriert, weniger kolonialisiert. Gewalt wurde ausschließlich in nicht zu umgehenden Fällen angewendet. Das kam schon dadurch zum Ausdruck, dass die Franzosen die von ihnen annektierten Länder allgemein „la France d’outre-mer“, also Frankreich in Übersee benannten. Autochthone Häuptlinge, Stammesfürsten und Könige setzte die französische Kolonialverwaltung wie europäische angestellte Administratoren ein, die entsprechend bezahlt wurden. Ihnen stand der Titel Chef de Canton zu. Ihre Autorität wurde dadurch gewahrt, in manchen Teilen des Kolonialreichs sogar gesteigert, was eine gewisse Loyalität zur Kolonialmacht brachte. Sie kamen deshalb willig ihrer Aufgabe nach, in ihrem Gebiet für Frieden, Ruhe und Ordnung zu sorgen. Akamouk war so ein zum Chef ernannter Verwalter. Vom eigenen Volk weder geliebt noch beachtet, aber reichlich honoriert. Dies war ein Kolonialsystem, das zwar keinen Unterschied zur üblichen Ausbeutung Afrikas darstellte, doch weniger repressiv erschien.
Die Effizienz dieser Methode wurde in den Jahren, die der Selbständigkeit anderer Kolonien folgten, deutlich. In allen nicht frankophonen Ländern entflammten kurz nach dem Abschütteln kolonialer Gewalt brutale Stammeskämpfe, Revolutionen und Kriege, nur in den ehemaligen französischen Gebieten herrschte weiterhin viele Jahre soziale Ruhe. Selbst dort, wo durch willkürlich gezogene Grenzen ethnisch einheitliche Völker auseinandergerissen waren. Vielleicht erklärt das die Namensgebung unseres Targi, um damit dem damaligen Herrscher Akamouk zu gefallen.
Einige Umstände meiner Geschichte sind bisher unerwähnt geblieben. Aber das Wissen darüber könnte für das Verstehen der nachfolgenden Kapitel recht förderlich sein. Möge der unermüdliche Konsument dieser Ausführungen selbst entscheiden, ob er den nächsten Teil der Erzählung liest oder überblättert. .
Mein Vater zeugte seinen Sohn im beachtlichen Alter von sechsundfünfzig Jahren in Zusammenarbeit mit seiner wesentlich jüngeren Frau. Ohne mich vorher zu fragen, wurde ich am 20. Juni 1934 in diese Welt gesetzt. Das war einen Monat vor dem Juliputsch der Nationalsozialisten und der Ermordung des Bundeskanzlers Dollfuß. Ich wurde meiner neun Jahre älteren Schwester als Tatsache präsentiert, die sie anfänglich mit mädchenhafter Begeisterung annahm. Ein winziger Spielgefährte war ins Haus gekommen! Doch bald schlug diese kindliche Freude in eifersüchtige Abneigung um, denn der daran unschuldige Kronprinz entzog ihr den größten Teil an Aufmerksamkeit und Zuwendung von Eltern und Anverwandten. Erst in späteren Jahren, Schwesterchen war längst Kanzleileiterin bei verschiedenen Rechtsanwälten, entstand eine leicht reservierte, gegenseitige Zuneigung.
Verständlicherweise war mein Vater recht stolz auf sein Produkt und auf seine nicht anzuzweifelnde Virilität. Leider aber war ab der Zeit, in der ich zu sprechen anfing und zum Heranwachsen einer verständnisvollen väterlichen Hand dringend bedurft hätte, der Altersunterschied zwischen uns zu groß geworden. Der inzwischen über Sechzigjährige fand keine geistige Basis mit dem Kind zu kommunizieren. Darüber hinaus nervte ihn offenbar mein spielerisches Lärmen und so zog er sich in eine für mich nicht erreichbare, unbekannte Sphäre zurück. Obwohl er seinen Sohn liebte und ihm vertraute. Meinen Zugang zum Schach, das er oft und gerne mit Freunden spielte, entdeckte ich erst viele Jahre später. Dieser Abstand voneinander tut mir leid, denn er war ein stiller und sensibler Mann, von dem ich eine Menge hätte lernen können. Wie da waren: Disziplin, Konsequenz, Aufrichtigkeit, Mut und Genügsamkeit. Qualitäten, die ich mir im Heranwachsen sicher nicht angeeignet hatte. Diese positiven, latent vorhandenen genetischen Anlagen, die von den wunderbaren Großeltern beider Familien meiner Eltern stammten, habe ich erst später in Eigeninitiative ausgegraben. Mütterchen hingegen war eine dominante, runde und selbstbewusste Frau, mit großen künstlerischen Erfolgen als Sängerin und Gesangslehrerin. Solche Leistungen mussten erarbeitet werden, folglich fehlte ihr die notwendige Zeit für meine Erziehung. Andererseits haben sich bei mir schon früh ausgeprägter Gerechtigkeitssinn sowie ein enormes Freiheitsbedürfnis entwickelt. Qualitäten, welche mich gelegentlich in meinem beruflichen Weiterkommen behindert haben.
Begründet auf Generationen von Musiktreibenden, Schauspielern, Theaterdirektoren und Kunstkritikern in der näheren und weiteren Verwandtschaft, hatten sich viele ehemalige Berühmtheiten der Wiener Kunstszene bei Hausmusikabenden meiner Familie eingefunden. Franz Liszt, Franz Grillparzer, später Richard Heuberger, Alma Mahler, deren Vater Emil Jakob Schindler mit seinen Adepten, Daniel Froschauer und andere zur Elite gehörenden Künstler waren unter den Gästen. Eine ähnliche Gästeliste setzte sich bis in meine Jugendjahre fort. Die Dirigenten Wilhelm Furtwängler und Karl Böhm, der weitläufig zum Familienclan gehörte, sowie die damals jüngere Generation mit Kurt Wöss, oder dem Maler Kurt Moldovan und dem Historiker Alfred Schmeller. Sogar Mitglieder der Wiener Philharmoniker waren Mitwirkende bei Hauskonzerten im Salon der Lindengasse. Reliquien aus diesen vergangenen Zeiten verstauben still und verborgen in meiner Wohnung.
Nachdem ich mich aus Scham zu verbergenden Gründen weigerte, weiterhin bei Prof. Sokolovsky Stunden am Spinett zu nehmen, gelang es meinen Eltern in der Akademie für Musik und darstellende Kunst einen Studienplatz beim Klarinettisten der Philharmoniker Prof. Wlach mit Klavier als Nebenfach für mich zu belegen. Warum ausgerechnet Klarinette? Sicher war ursprünglich Mozart‘s Klarinettenkonzert die Grundlage meiner Begeisterung für dieses Instrument. Es ist ein Holzblasinstrument, bei dem jeder Ton in sich swingt. Egal ob es in der Volksmusik, Klassik oder im Jazz Verwendung findet. Große Vorbilder wie Benny Goodman, Woody Herman, Artie Shaw und Fatty George waren bestimmend, diese Entscheidung zu treffen. Der Sender der amerikanischen Besatzungsmacht, „Blue Danube Network“ lief bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit. Dem dadurch entstandenen Sog zu Swing und Jazz war nicht zu widerstehen.
In der gleichen Zeit besuchte ich im Kosmos Theater regelmäßig die mit Beispielen von Schallplatten (riesige V-Disks der US-Army mit 78rpm) aufgelockerten Vorträge des unvergesslichen, damals jugendlichen Günther (Howdy) Schifter. Als er dem Ruf an den Sender Rot-Weiß-Rot Folge leistete, übernahm ich seine Vortragsreihe im Theater in der Siebensterngasse. Die Leiter des USIS, des United States Information Service, waren die Herren Zanetti und Schweizer Helmuth „Helo“ Kolbe. Mein Wissen über Jazz reichte an das von Günther Schifter bei Weitem nicht heran, und darüber hinaus fehlten die Ressourcen zur Beschaffung passender Schallplatten. Um die Vorstellungen zu retten, holte ich mir die Erlaubnis vom USIS (United States Information Service), einmal in der Woche Jam Sessions im ehrwürdigen Theater am Siebensternplatz zu veranstalten. Helo Kolbe, der gerne und brillant Bass spielte, half mir, Musiker für diese Abende zu interessieren. Da waren die gleichen Solisten, wie ich sie vom Hot Club Vienna, der im Lokal „Watzal“ musizierte, her kannte. Um nur einige zu nennen, Hans Salomon, Karl (Charlie) Drewo, Heinz Hönig, Viktor Plasil, Robert Opratko, Attila (Shivi) Zoller, der Vibravonist Bill Grah, Heinz Rettenbacher, Hans Koller, Roland Kovac, Vera Auer, der Geiger Herbert Mytteis und andere. Groovy! Doch leider wollten nur wenige davon ohne Gage spielen. Hier nicht Erwähnte, deren Namen ich nach langer Zeit nicht mehr griffbereit habe, seien versichert, dass ich sie und ihre Musik bewunderte, ja zutiefst verehrte!
Aus dem Kosmostheater kommend stieg ich einmal in die Straßenbahn Nr. 49 ein, um mich in Richtung Innenstadt zu begeben. Wie vom Blitz getroffen erstarrte ich. Auf der Plattform stand, ein bisschen lässig in eine Ecke gelehnt, eine Göttin, nein, die Göttin! Sie dürfte eben von ihrer Arbeitsstätte gekommen sein, vom Sender Rot-Weiß-Rot in der Seidengasse. Da war sie, wie ein Phantom, die um wenige Jahre ältere und längst recht erfolgreiche Louise Martini. Unnahbar sah sie über den sie anstarrenden Jüngling hinweg, der sich exakt in diesem Moment sterblich in sie und ihre großen, bezaubernden Augen verliebte. Dann stieg sie aus und war weg. Jahre später trafen wir uns bei Filmarbeiten wieder und hielten Kontakt bis zu ihrem Ableben 2013.
Bedeutende Pläne für eine Ausbildung und gesicherte berufliche Zukunft interessierten mich nicht brennend. Doch war ich, wahrscheinlich wegen oben erwähnter Erbanlagen, von der sich damals neu formierenden Wiener Kulturszene fasziniert. Was sich dadurch manifestierte, dass ich alle Gschnasfeste der Kunstakademie, sowie regelmäßig den im „Strohkoffer“ sich zur Unterhaltung versammelnden Artclub besuchte.
Bei einer jener Veranstaltungen lernte ich einen nicht bedeutend hoch gewachsenen, ausnehmend schlauen Burschen kennen. Eben aus der DDR wieder nach Wien zurückgekommen war er auf Arbeitssuche. Zufällig traf ich ihn in der Burggasse. Er trug seinen geliebten, offen wehenden Trenchcoat. Aber in jenen Tagen war er beruflich noch nicht gefestigt und recht mittellos. Erst kurz nach unserer Begegnung wurde er Reporter beim „Express“. Ich lud ihn auf einen Mokka in das nahe gelegene kleine Kaffeehaus ein. Über drei Stufen hinauf erreichte man das notdürftig beleuchtete Lokal. Dessen Einrichtung aus mit rotem Samt bespannten Wandbänken und Marmortischchen davor, vermittelte eine Atmosphäre der Zeit zwischen den Weltkriegen. Ich war auf dem Weg dorthin, denn neben den Cafés Siller und Casa Piccola auf der Mariahilfer Straße, war dieses Etablissement eine weitere Anlaufstelle zum Erwerb amerikanischer Zigaretten. Die Ober dort mussten geheimen Zugang zu den PX-Läden der US-Armee gehabt haben. Pall Mall, Chesterfield, Players Virginia und Camel hatten zeitgemäß selbstverständlich keine Filter. Lungenschäden durch Rauchen waren auch noch nicht bekannt. Rauchverbote gab es in jener vergangenen Zeit nur an äußerst wenigen Orten. Ungeniert paffte jeder munter drauf los und ich beehrte meinen Vater ab und zu mit einer Packung „Amis“. Ich erinnere mich nicht ob Roman, so hieß mein Gegenüber, bei diesem Laster mitgetan hat. Ich glaube eher, dass er Nichtraucher war. Roman Schließer hat diese Episode über seinem jahrelang anhaltenden Erfolg als „Adabei“ bei der Kronenzeitung, sicher längst vergessen. Wir trafen uns später wiederholt, dabei erhielt er einige Male von mir Stoff für seine Kolumne.
Konsequent besuchte ich das Tanzkaffee im Volksgarten, wo Heinz Neubrand auf der Hammondorgel nicht ausschließlich zum Tanz, sondern genauso eingängigen Jazz spielte. Uns sollte Jahrzehnte später brüderliche Freundschaft verbinden.
Inzwischen ist es Mittag geworden, die Sonne wirft kaum Schatten und ich sitze, fast unbekleidet, an meinem Schreibtisch. Es ist kein rinnender Schweiß, aber die Haut fühlt sich feucht an, das bringt etwas Kühlung durch Verdunstung. Ich beschließe, François beim Mittagessen um einen Ventilator zu bitten, und damit seiner ausgeprägten Sparsamkeit einen Stoß zu versetzen. Energie aus der Photovoltaik holt er sich tagsüber nur für das Notwendigste. Ausschließlich der Kühlschrank, das Telefon und manchmal ein Fernsehgerät, das ich in den Wohnräumen der beiden vermute, werden damit versorgt. Erst bei Einbruch der Dunkelheit, so um sechs Uhr abends, wirft er täglich das Dieselaggregat an, um die Beleuchtung des Hauses und Teile des Areals, sowie den Betrieb der Deckenventilatoren sicherzustellen. Das sind die wenigen Stunden, die ich zum Laden der Computerakkus habe. Wohlweislich sind zwei davon in meinem Reisegepäck. Es ist mir ja recht, dass ich in dieser Herberge eingemietet bin, die in dem „Luxus“ kolonial – französischer Zeit hängen geblieben ist. Wenn aber die Hitze das Schreiben beeinträchtigt, wird Schutz dagegen erforderlich. Kurz entschlossen dusche ich lange und ausgiebig, und ziehe, ohne mich vorher abzutrocknen, Hose und Polo an.der Dunkelheit, so um sechs Uhr abends, wirft er täglich das Dieselaggregat an, um die Beleuchtung des Hauses und Teile des Areals, sowie den Betrieb der Deckenventilatoren sicherzustellen. Das sind die wenigen Stunden, die ich zum Laden der Computerakkus habe. Wohlweislich sind zwei davon in meinem Reisegepäck. Es ist mir ja recht, dass ich in dieser Herberge eingemietet bin, die in dem „Luxus“ kolonial – französischer Zeit hängen geblieben ist. Wenn aber die Hitze das Schreiben beeinträchtigt, wird Schutz dagegen erforderlich. Kurz entschlossen dusche ich lange und ausgiebig, und ziehe, ohne mich vorher abzutrocknen, Hose und Polo an.
Es klopft an der zum Gang offenen Türe meines Zimmers. Fatima steht freundlich lächelnd da, neben ihr ein alter Standventilator mit Blättern aus Messing, und meint, dass ich den sicher brauchen würde. Sie hätte Francois bereits angewiesen, mir mit einer Extraleitung Strom aus den Sonnenkollektoren zur Verfügung zu stellen. In einer Aufwallung von Dankbarkeit gebe ich ihr auf jede Wange einen Kuss, was sie in aller Selbstverständlichkeit geschehen lässt. Immer wieder überraschen mich die intuitiven Fähigkeiten der Frauen. Obwohl ich dieses Thema durch meine Lebenserfahrungen schon längst als „Wissen“ abgehakt haben sollte. Hier ist es besonders erstaunlich, weil eine aus einem anderen Kontinent stammende Berberin genauso agiert, wie ich es von Frauen aus mir vertrautem Kulturkreis kenne. Na, wenigstens bleibt mir eine Diskussion erspart, und ich gehe gut gelaunt mit Fatima und in Vorfreude auf einen Aperitif die Stiegen hinunter in den Gastraum. Verfügung zu stellen. In einer Aufwallung von Dankbarkeit gebe ich ihr auf jede Wange einen Kuss, was sie wie selbstverständlich geschehen lässt. Immer wieder überraschen mich die intuitiven Fähigkeiten der Frauen. Obwohl ich dieses Thema durch meine Lebenserfahrungen schon längst als „Wissen“ abgehakt haben sollte. Besonders erstaunlich ist, dass eine aus einer anderen Kultur stammende Berberin genauso agiert, wie ich es von Frauen aus mir vertrautem Kulturkreis erwarte. Na, wenigstens bleibt mir eine Diskussion erspart, und ich gehe gut gelaunt mit Fatima und in Vorfreude auf einen Aperitif die Stiegen hinunter in den Gastraum.
Beim Betreten des Raumes entdecke ich auf dem mir zugeteilten Tisch ein Schüsselchen mit gerösteten Erdnüssen und, von einem Baguette geschnitten und mit Paté bestrichene kleine Brotscheiben. Francois bringt in einem Glas gelbgrün schillernden Pernod, eine Karaffe mit Wasser und ein Schälchen mit Eiswürfeln. Vive la France! Mir geht es gut! Heute bekomme ich Spaghetti mit einer absolut italienisch anmutenden Tomatensauce und grünen Salat, nach dessen Herkunft ich mich lieber nicht erkundige. Ein Glas Rotwein und geriebener Grana Padano vervollkommnen mein Glück. Den Karamellpudding zur Nachspeise erlaube ich mir höflichst abzulehnen. Nach dieser willkommenen Abwechslung des Speisezettels ist es dringend Zeit für eine Siesta. Satt und müde erreiche ich mein Zimmer und, siehe da, der Standventilator läuft! Zu ihm führt ein provisorisches Stromkabel quer durch das „Appartement“, doch das stört nicht. Ich richte den Ventilator mit kleinster Stufe direkt in Richtung Bett, ziehe das Polo aus und lege mich in den zarten Luftstrom. Mein Glück ist vollkommen! So leicht kann es sein, einem Menschen Zufriedenheit zu geben. Ich überlege mir ernsthaft, das Buch nicht weiter zu schreiben, sondern einige Jahre hier meditativ in Stille zu verbringen.
Geweckt werde ich durch die Töne einer ungewöhnlich heftig geführten Unterhaltung im Untergeschoß. Harsche arabische Laute dringen zu mir herauf. Ich ziehe mein Polo wieder an und versuche, durch die Fensteröffnung auf den Platz vor dem Haus zu sehen. Zwei im gleichen Grau lackierte Toyota-Geländewagen parken vor dem Haupteingang, ein Uniformierter spaziert sichtlich interessiert um meinen Landrover herum. Ich schaue nach hinten hinaus. Im Hof diskutiert Akamouk heftig mit einem Polizisten. Wie ich ihren Gesten entnehme, scheinen sie nicht einer Meinung zu sein. Obwohl ich kein Wort verstehe, sagt mir ein Gefühl, der Targi steht unter Druck. Dann wird die Konversation im Haus immer lauter, sie nähert sich die Treppe herauf meinem Zimmer. Das gefällt mir gar nicht. Schnell verstecke ich mein wertvollstes Gut, den Laptop, unter ein paar Wäschestücken im Spind. en hinaus. Im Hof diskutiert Akamouk heftig mit einem Polizisten. Wie ich ihren Gesten entnehme, scheinen sie nicht einer Meinung zu sein. Obwohl ich kein Wort verstehe, sagt mir ein Gefühl, der Targi steht unter Druck. Dann wird die Konversation im Haus immer lauter, sie nähert sich die Treppe herauf meinem Zimmer. Das gefällt mir gar nicht. Schnell verstecke ich mein wertvollstes Gut, den Laptop, unter ein paar Wäschestücken im Spind.
Und wieder klopft es an der Tür. Ein Offizier der Polizei, ein Polizist und François treten ein, Fatima bleibt vor der Türe stehen. Ich verwerfe schnell meinen vorher gefassten Entschluss, bis zum Lebensende hierzubleiben. Der in allen Ländern dieser Erde gleiche bürokratisierte Staat hat mich eingeholt! Was mir äußerstes Missvergnügen bereitet. Nach einer höflichen, kurz gehaltenen Begrüßung verlangt der Polizeioffizier meinen Reisepass. Ich hole das Dokument aus dem Koffer und überreiche es mit einem freundlichen „Bitte sehr“. Der Uniformierte hält das von mir vor drei Tagen ausgefüllte Anmeldeformular in der Hand und vergleicht die Daten mit denen im Pass. Mit deren Übereinstimmung zufrieden klappt er den Ausweis wieder zu, gibt ihn aber nicht zurück. Ob ich Schusswaffen dabeihabe, ist die nächste Frage, wobei er mir prüfend in die Augen sieht. In Anbetracht möglicher Schwierigkeiten und weil mich sein anmaßendes Benehmen ärgert, verneine ich. Um Ablenkung bemüht, versuche ich zu scherzen und erwähne, meine zitternden Hände zur Bestätigung vorstreckend, dass man so nicht mehr sicher zielen könne. Das hätte ich besser unterlassen sollen. Diese Erfahrung zeigt wieder einmal, dass das Verständnis für Humor von Kultur zu Kultur unterschiedlich sein kann. Der Offizier meint, er wüsste, dass ich ein Jagdgewehr mitführen würde. Er gibt seinem Untergebenen eine kurze Anweisung und dieser durchsucht den Raum gründlich nach einem Schießgewehr. Peinlich, denn der Drilling liegt gut verpackt im Schrank. Da mir die Polizei in Algier eine schriftliche Erlaubnis für die Waffe gegeben hat, darf ich den Besitz des Ferlachers guten Gewissens zugeben. Die telegraphische Verbindung vom Norden des Landes in den Süden scheint zu funktionieren. So komme ich dem Polizisten zuvor und reiche ihm das Gewehr mit der Ausrede, ihn nicht korrekt verstanden zu haben. Er vergleicht sorgfältig die eingestanzte Nummer mit der in der Erlaubnis. Im Laufe der Untersuchung schaue ich hilfesuchend zu François, der nur die Schultern anhebt und dabei zur Zimmerdecke blickt. Ich bekomme meinen Pass ausgehändigt und die Gruppe verlässt das Zimmer mit einem schnellen „auf Wiedersehen“. Das entspricht genau dem, was ich mir überhaupt nicht wünsche.
Nach einigen Minuten braust die Meute in ihren Landcruisern, Staubwolken hinterlassend, wieder ab, in Richtung Tamanrasset. Ein kurzer Blick in den Hof, Akamouk ist noch da. Eine Kampfausrüstung für miNach einigen Minuten braust die Meute in ihren Landcruisern, Staubwolken hinterlassend, wieder ab, in Richtung Tamanrasset. Ein kurzer Blick in den Hof, Akamouk ist unversehrt da und schürt Feuer für einen Beruhigungstee. Ich hätte eine Kampfausrüstung für mindestens zehn Mann im Landrover sicher verstecken können, denn kein Polizist war auf die Idee gekommen, dort Waffen zu suchen. Jetzt räume ich den Schrank neu ein, glätte das Bett frisch und schlichte die Habseligkeiten wieder in den Koffer. Nach dieser Aufregung beruhige ich mich mit dem tröstlichen Gedanken, dass sich Afrika in einigen seiner typischen Eigenarten über die Jahrzehnte nicht geändert hat.ndestens zehn Mann hätte ich im Landrover sicher verstecken können, denn niemand war auf die Idee gekommen, dort zu suchen. Ich muss den Schrank neu einräumen, das Bett frisch machen und die Habseligkeiten wieder in den Koffer geben. Nach dieser Aufregung beruhige ich mich mit dem tröstlichen Gedanken, dass Afrika in einigen typischen Eigenarten eben doch noch immer das gleiche Afrika wie vor Jahrzehnten geblieben ist.
Dieser unvorhergesehene Zwischenfall hat unsere Nerven strapaziert. Das verleiht uns das Recht, Francois und mir, selbst am hohen Mittag je einen doppelstöckigen Whisky mit Eis und Soda zu trinken. Es scheint in der Tat so zu sein, dass Gewalt von außen die Betroffenen näher aneinanderbindet. Fatima hat sich einen kräftigen weißen Mascara geholt und setzt sich zu uns. Wir stoßen mit den Gläsern an, und François schlägt vor, dass wir uns fortab mit Vornamen anreden sollten. Fatima wünscht sich, Michelle gerufen zu werden, wie sie es von ihrem Mann seit Jahrzehnten gewohnt ist. Ich nehme das für eine besondere Auszeichnung. François ist dieser Überfall der Polizei peinlich. Mit abfälligen Bezeichnungen rechnet er den Polizeioffizier dem nördlichen Algerien zu. Dort sitzt die Regierung, die von den Bewohnern der südlichen Sahara nicht geliebt wird. Was wissen denn die da oben über das Leben hier. Die sollen für ihre Provinzen im Norden Gesetze machen. Die Menschen im Süden halten sich ohnehin kaum daran, weil auf dieser Seite der Sahara grundlegend andere Lebensumstände herrschen. Und die Touareg, die den Hauptanteil der Bevölkerung stellen, lassen sich ohnedies nur schwer reglementieren.ich. François ist dieser Überfall der Polizei peinlich. Mit abfälligen Bezeichnungen rechnet er den Polizeioffizier dem nördlichen Algerien zu. Dort sitzt die Regierung, die von den Bewohnern der südlichen Sahara nicht geliebt wird. Was wissen denn die da oben über das Leben hier. Die sollen für ihre Provinzen im Norden Gesetze machen. Die Menschen im Süden halten sich ohnehin kaum daran, weil es auf dieser Seite der Sahara ganz andere Lebensumstände gibt. Und die Touareg, die den Hauptanteil der Bevölkerung stellen, lassen sich nur schwer reglementieren.
Das lenkt meine Gedanken nach Österreich, wo man über Wien ähnliche Worte aus den selbstbewussten Bundesländern hört. Da liegen keine tausende Kilometer Wüste zwischen den Landeshauptstädten und der Hauptstadt. Kaum beginnen wir die Unterhaltung, erscheint Akamouk und wird zum Platznehmen an unserem Tisch eingeladen. Michelle bietet ihm Kaffee an, den er gerne annimmt. Da er Muslim ist, trinkt er keinen Alkohol. Auf meine Frage, wieso ich ihn nie beten gesehen habe, wie es sich dreimal täglich für einen Muselmann gehört, meint er ernst, dass er gewiss bete, aber so unterwürfige Verneigungen höchstens seinem Stammesfürsten schulde. Doch in der Moschee müsse er das tun? Er besucht keine, denn er verbringt sein gesamtes Leben in einem riesigen Tempel. Sein heiliger Raum ist die Wüste, und zu Boden wirft er sich nur, wenn ein Sandsturm tobt. Ich wende ein, dass viele Touareg ihre Gebetsteppiche ausbreiten und darauf ihre rituellen Verbeugungen ausführen. Die gehören sicher dem Volke der Bella an, sagt er, die werden von den Marabus, den heiligen Männern, geführt. Francois erklärt mir, die Bella leiten sich nicht von einem eigenen Volksstamm ab, sondern sind Nachkommen freigelassener schwarzafrikanischer Sklaven der Touareg. Sie ahmen zwar ihre ehemaligen Herren im Habitus nach, sind ihnen aber niemals gleichgestellt. Den Befehl eines Targi führen sie fast immer aus, obwohl gleichfalls hier der Respekt vor dem Herrenvolk stark schwindet. Michelle bringt den Kaffee für Akamouk, der sich höflich dafür bedankt. François und ich genehmigen uns jeder einen weiteren Whisky. Auf die Frage, was der Polizist von ihm wollte, antwortet der Targi, er hätte afrikanisch mit ihm gesprochen, dabei macht er mit seiner rechten Hand eine Bewegung, als würde er eine Zitrone auspressen. Die zum großen Teil aus dem Norden des Landes stammenden Administrations- und Exekutivbeamten der Regierung sind auf die Fähigkeiten der Tuareg angewiesen. Denn nur die haben das Wissen Spuren sinnvoll zu lesen und in den endlosen Weiten der Wüste punktgenau Wasserstellen zu finden, die nicht einmal von Satelliten erfasst werden. Und das sowohl bei Tageslicht, wie in der Nacht.
Schon lange ist die Auberge in nächtliche Dunkelheit getaucht. Unbemerkt ist es im Verlauf der Gespräche spät geworden. Ich bedanke mich in der Runde für den Abend, und steige wieder in mein Refugium hinauf. Es ist wohltuend, dass diese drei Menschen in der kurzen Zeit unserer Bekanntschaft Vertrauen zu mir gefasst haben. Zufrieden begebe ich mich ins Bett.
Vor mir steht der geöffnete Computer und macht keine Anstalten, mich zu inspirieren. Das Schreibprogramm zeigt eine blanke Seite, entleert wie der Kopf des Schreiberlings. Ich bemühe mich krampfhaft, einen Beginn für das nächste Kapitel zu finden, auf der Suche nach Anregungen blättere ich in Vor mir steht der geöffnete Computer und macht keine Anstalten, meine Kreativität heute zu wecken. Das Schreibprogramm zeigt eine blanke Seite, entleert wie der Kopf des Schreiberlings. Ich bemühe mich krampfhaft, einen Beginn für das nächste Kapitel zu finden, und blättere in bisher Geschriebenem. Schreib- und Fallfehler kommen dabei zum Vorschein. Ich bessere diese aus und ändere an verschiedenen Stellen die Syntax. Zurück zu der blanken Seite wird es zur Gewissheit: Das ist eine Blockade! Eine gründliche Dusche könnte helfen. Da sie keinen Erfolg bringt, wären ein Frühstück mit anschließender Bewegung im Freien sicher Möglichkeiten, meine Schreiblust zu fördern. Aus Vorsicht vor in der Nacht hinein gekrochenen Skorpionen die festen Stiefel kräftig ausgeklopft, gebeutelt und angezogen. Anstatt des geliebten Polos wähle ich ein Hemd mit Brusttaschen, und steige die Stiegen hinunter. Michelle empfängt mich mit einem freundlichen „Guten Morgen“ und verschwindet in der Küche. Kurz darauf kommt sie mit einer großen Tasse schwarzem Tee (!), einem halben Baguette und Käse wieder. Sie stellt dieses déjeuner auf den ungedeckten Tisch, ich meine in ihrem Lächeln Triumph auszumachen. Wortlos verlässt sie den Gastraum. Ich, der Frühstücke bisher vermieden habe, greife begeistert zu.
Nach dieser Stärkung erkunde ich das Areal des Anwesens erstmals innerhalb der Mauern genauer, begrüße den mit seinem Kamelsattel beschäftigten Akamouk und begebe mich durch das rückwärtige Tor in die unmittelbar dahinter beginnende Wüste. Von kleinen steinigen Erhebungen unterbrochen erstreckt sich die Hamada eben bis zum Horizont. Diese graubraune Wüstenlandschaft ist von der Nacht ausgekühlt, weil sie die aufgehende Morgensonne bisher nicht erreicht hat. Hinter dem dunklen Horizont tauchen die scharfkantigen, goldgelb beleuchteten Gipfel von Sanddünen auf. Darüber, die kommende Hitze des Tages erahnend, wölbt sich strahlendes Hellblau. Kühle Luft umweht mich, die vor allem die Ohren umschmeichelt.
Weil das Sonnenlicht morgens noch nicht seine volle Kraft entfaltet, ist der Himmel nicht durch aufgestiegene Staubpartikelchen verschleiert, sondern klar und intensiv blau. Brennt die Sonne erst auf den Sand, dehnen sich kleinste Staubkörnchen durch die Hitze aus und werden dadurch leichter als Luft. In kühlere Höhen getragen, schweben diese Teilchen in den anfänglich ungetrübten Himmel, und überziehen ihn wie Dunst mit einer grauen Schicht. Erst am Abend, sobald die Sonne untergegangen ist, fallen sie wieder zur Erde zurück.
Die Kälte der Nacht wirkt etwas nach, nur wenige der sonst allgegenwärtigen Fliegen summen herum, die totale Stille durchbrechend. Ich versuche, mich von rückwärts an eine auf den Hinterbeinen sitzende Wüstenspringmaus anzuschleichen, die aber hört die vorsichtig gesetzten Schritte und verschwindet blitzartig in ihrer Behausung. Es ist mein erster Spaziergang in der Wüste, seitdem ich hier eingetroffen bin. Um die Stille nicht zu stören, bleibe ich stehen und lasse minutenlang die Einsamkeit und Ruhe auf die Seele wirken. Ich marschiere auf einen flachen Hügel zu, der sich aber scheinbar im gleichen Tempo meiner Schritte immer weiter von mir entfernt, um endlich hinter dem Horizont gesamt zu verschwinden. Um die Orientierung nicht zu verlieren, werfe ich ab und zu einen Blick zurück in Richtung Auberge.
Durch die ansteigende Wärme geweckt, werden die Fliegen zahlreicher. Einige der anhänglichen Insekten sind besonders lästig und belagern auf der Suche nach Flüssigkeit Nase und Augen. Die Sonne erreicht schnell die Ebene und wird stechend. Es kann rasch überaus heiß werden, deshalb begebe ich mich auf den Rückweg. Den eigenen Fußspuren folgend, die im mittlerweile angewehten Sand zwischen den Steinen kaum mehr zu erkennen sind, überlege ich Inhalt und Form des nächsten Kapitels . Womöglich wegen meiner ausgeprägten Abneigung gegen ziellose Spaziergänge hatte ich seit jeher die Theorie abgelehnt, gleichmäßiges Gehen würde Geist und Kreativität beflügeln. Jetzt scheint es aber, dass endlich der Faden zur Fortsetzung meiner Schreibarbeit gefunden ist. Nach dieser Erfahrung glaube ich nunmehr fest an den Sinn des stundenlangen Dahinschreitens Beethovens, der Philosophen Kant und Nietzsche oder der Dichter Schiller und Rimbaud. Gestärkt in mein „Verlies“ zurückgekehrt sieht mich der Computer schon weniger bissig an, er scheint sogar aufmunternd zu lächeln.
Um dem kulturellen Anspruch dieser Schrift ebenfalls Platz zu geben, muss unausbleiblich die Geschichte des Strohkoffers folgen. Allerdings in aller Kürze dargestellt, so wie ich sie erlebt habe. Aus jener Zeit gibt es Umstände zu berichten, die Historikern dieses Etablissements bis jetzt verborgen geblieben sind. Es waren vor allem die bildenden Künstler, Autoren und Musiker, die nach den Kriegsjahren große Aufgaben zu bewältigen hatten. Schöpfungen der Kunstrichtungen, die über zehn Jahre lang als entartete Kunst verdammt und verboten waren, wurden zu frischem Leben in der Öffentlichkeit erweckt. Darüber hinaus wollte Neues geschaffen werden. Es war kaum ein Jahr nach dem Krieg vergangen, da entstanden in Wien gleichzeitig zwei Gruppierungen von Künstlern. Der Art Club im Künstlerhaus und die Künstlervereinigung in der Sezession. Die einen waren Verfechter der abstrakten Kunst, die anderen Protagonisten und Gründer des Wiener phantastischen Realismus, der zu dieser Zeit seinen Durchbruch erlebte. Konkurrenzverhalten unter beiden Vereinigungen ergab sich zwangsläufig. Nach jahrelangem friedlichem Nebeneinander kam es zum Streit zwischen den Lagern. Eine Trennung wurde unabwendbar. Über allem schwebte wie ein Allvater Albert Paris Gütersloh.
Alfred Schmeller, der Kunsthistoriker, fand für den Artclub ein neues Lokal im Kärntnerdurchgang, den Keller unter der American Bar, die Alfred Loos im Jahre 1908 entworfen hatte. Der Eigentümer dieser Lokalitäten war Max R. Lersch. Aus Billigkeitsgründen wurden die kahlen Wände der Stiege und des Kellergewölbes mit Strohmatten ausgelegt, nach welchen das Lokal seinen Namen „Strohkoffer“ erhielt. Das waren Matten aus zusammengebundenem Stroh, wie man sie zu dieser Zeit auf Baustellen zum Abdecken brauchte. Es gab einige Zugänge zu diesem Keller. Der Haupteingang, von der Straße her gesehen, rechts von der Kärntnerbar gelegen. Durch einen mit Holz getäfelten, schmalen und dunklen Gang wurde der Besucher über eine enge gewundene Holzstiege zum eigentlichen Vereinslokal hinunter geführt. Durch die Loos-Bar selbst konnte man unterirdisch in das Kellerlokal gelangen. An den Toiletten vorbei kam man auf eine Plattform, von wo gerne Tasso, der Schäferhund des Max Lersch, das Treiben beobachtete.
Im Lokal gab es zwei Nischen mit Tischen, gepolsterte Bänke und ein paar Stühle. Mitten im Raum stand ein Bösendorfer-Flügel. Der Keller war ausreichend groß, da er nicht nur die Fläche unter der Loos-Bar, sondern weiter hinaus großteils die des gesamten Hauses darüber einnahm. Tagsüber hatte der Strohkoffer die Aufgabe eines Ausstellungslokals. An den Wänden und an Schnüren von der Decke hängend waren Bilder der jungen, aufstrebenden Künstlerschar zu besichtigen. Die dort ausgestellten Gemälde und Skulpturen waren von nächtlichem Tabakrauch gebeizt. Ein Geruch, der sich in den Strohmatten an den Wänden festsetzte. Die von den abendlichen Besuchern kaum beachteten Exponate repräsentieren heute einen Wert von einigen Millionen Euro.
Die Gastronomie erschöpfte sich in Brötchen und heißen Würstchen mit Senf. Erhitzt wurden diese in der unterirdischen Küche, die ursprünglich für das darüber liegende Lokal erdacht war. Deshalb gab es einen Speisenaufzug nach oben. Der dritte Zugang führte eben durch diesen Küchenraum in den Nachbarkeller, der wiederum in einem anderen Wohnhaus seinen Ausgang zur Seilergasse hatte. Das war ein Relikt aus dem Zweiten Weltkrieg, da wurden aus Gründen des Luftschutzes zwischen benachbarten Kellern Durchgänge gebrochen. Diese geheime, durch eine Stahltüre gesicherte Öffnung, spielt später einmal eine wichtige Rolle. Tagsüber wurde der Strohkoffer für Ausstellungen der Bilder und Skulpturen junger Künstler benützt. Nahtlos, etwa ab achtzehn Uhr, wandelte er sich zu einem vergnüglichen, öffentlich zugänglichen Vereinslokal.
In diese Zeit des Aufbruchs platzte ich Youngster in die fröhlich-animierte Gesellschaft von Studenten und Professoren der Kunstakademien. Zugegeben, die bildende Kunst war mir ursprünglich egal. Aber an Musik gab es im Keller Wunderbares zu erleben. Zwanglos ergaben sich hinreißende Jamsessions mit Friedrich Gulda, Hans Kann, Uzzi Förster, Joe Zawinul und zahlreichen anderen Musikern. Unvergesslich bleiben Gulda und Zawinul vierhändig improvisierend! Auf mitunter freundschaftlicher Basis verkehrte ich dort nahezu täglich mit manch nachmaliger Berühmtheit. Da waren, um nur diejenigen zu nennen, mit denen ich näheren Kontakt hatte: Alfred Schmeller, Kurt Moldowan, Friedensreich Hundertwasser, Helmuth Leherb, Rudolf Hausner, H. C. Artmann, Konrad Bayer, der ewig Pfeife rauchende Heinz Leinfellner mit Schülern, Helmut „Quasi“ Qualtinger, Kurt „Sowerl“ Sowinetz, die damals frisch zur Schönheitskönigin gekürte Erni Mangold und nicht zuletzt dem anfangs vollkommen dunkelhaarigen Wolfgang Hutter. Und einige andere, später in Vergessenheit geratene Künstler. Manchmal konnte man den alten Ferdinand Kitt zu einem Plausch treffen und Stammgast war der ewig alkoholisierte Schriftsteller L. E. Pötzelberger, liebevoll betreut von seiner Frau Peggy. Sie war angehalten, ihm täglich morgens ein Glas voll Rum zum Bett bringen, das er regelmäßig vor dem Aufstehen trank. Kurt Kobalek, der Arbeiterdichter und Besitzer einer Kohlenhandlung, der lange mit Qualtinger zusammenarbeitete und ihm Texte lieferte.
Nicht zu vergessen die Schauspielerriege um Johanna „Hannerl“ Matz und ihrem späteren Ehemann Karl Hackenberg, sowie der liebenswerte Regisseur Erich Neuberg, der sich spektakulär das Leben nahm. Man sagte, er hätte sich auf der Bühne des Theaters in der Josefstadt erhängt. Unter den berühmten Besuchern dieses Kultlokals war einmal der „dritte Mann“ Orson Welles, der sich im Suff wegen seines ungebührlichen Verhaltens von einem Gast eine Ohrfeige einhandelte, wie man mir erzählte. Es würde leichter fallen nur diejenigen aufzuzählen, die den Strohkoffer selten oder gar nicht frequentierten. Das sind die Glücklichen, die keine Beeinträchtigung ihrer Leberfunktionen zu befürchten hatten. Denn zur Freude des Lokalbesitzers Max „Mackie“ Lersch, floss reichlich Alkohol durch die Kehlen der arrivierten und potenziellen Berühmtheiten. Meist aus „Dopplern“ eingeschenkt, wie man die Flaschen mit einem Füllvolumen von zwei Litern nannte, servierte Kurt Baumgartl den Besuchern grünen Veltliner. Flaschenbier wurde ebenfalls gerne genommen. Es waren seine Gäste, denn er hatte sie fest im Griff, stundete oft mittellosen Künstlern die Bezahlung, in verschiedenen Fällen vergaß er später die Schuld einzufordern. Kurt war ein menschliches Faktotum, gezeichnet von einer violetten Hautverfärbung, welche die gesamte rechte Gesichtshälfte überzog. Was aber seiner stillen Autorität keinen Abbruch tat.
Apropos Alkohol, irgendeinmal fuhr ich Freund H. C. Artmann nach Hause, der sturzbetrunken hinten auf der Ladefläche des Kombis die Fahrt verschlief. Aufgrund irgendwelcher Umstände trafen wir uns nach diesem nächtlichen Transport nie mehr wieder. Ich habe lange Zeit das von ihm im Auto vergessene Buch „The Dean Of Scotland“ wie einen Schatz zum Andenken behalten und gehütet. Etwa sieben Jahre nach Kriegsende gab es bei den Künstlern kleine Unsicherheiten über die endgültige weltanschauliche Linie, in die sie ihre Bemühungen richten wollten. Ob sie sich mehr dem französischen Existenzialismus nach Jean-Paul Sartre näher verbunden fühlten, oder sich eher Eigenem, Wienerischem widmen sollten. Auf Grund einer Einladung war einmal Jean Cocteou, ein Vertreter des Existenzialismus, Gast im Strohkoffer. Diese Periode der Unsicherheit drückte sich selbst in der unterschiedlichen Kleidung aus. Manche der jungen Protagonisten trugen beständig Sakko und Krawatte, andere waren schon recht legèr in ihrem Outfit. Alle hatten aber eines gemeinsam, den trendigen, der britischen Armee entlehnten Dufflecoat in Kamelhaarfarbe. Ein unpraktisches Kleidungsstück. Die zwei aufgesetzten Taschen waren geräumig, aber unverschlossen, dadurch gingen deren Inhalte leicht verloren. Und durch den Spalt vorne, den ausschließlich drei Knebelverschlüssen offenhielten, zog es empfindlich kalt unter den Mantel.
Unter den Stammbesuchern des Strohkoffers hatte sich ein toller Zusammenhalt gebildet, der mich einmal vor einer unausweichlich scheinenden Tracht Prügel bewahrte. Der Journalist und Schriftsteller Helmuth B. und ich gingen eines Abends auf der Kärntnerstraße in Richtung Kärntnerdurchgang, da pöbelten uns von der anderen Straßenseite ein paar aus Niederösterreich stammende Burschen an. Zu zweit uns stark fühlend, blieben wir diesen Buben keine Antwort schuldig. Doch dann überquerten sie die Straße und Helmuth B. war von mir unbemerkt verschwunden. Sicher hat er sich in die nahe gelegene Adebar geflüchtet. Ich stand jetzt einer gehörigen Übermacht allein gegenüber. Vermutlich hat ein Passant meine missliche Situation erkannt, und die Nachricht davon in die „Unterwelt“ getragen. Auf einmal quoll, einer Eruption gleich, aus dem Strohkoffer eine geschlossene Meute von etwa einem Dutzend Künstlern unterschiedlicher Strömungen. Die Gruppe lief auf uns zu und rettete mich durch ihr massives Erscheinen zumindest vor einem gebrochenen Nasenbein.
Dann gab es in Wien die Unterwelt, die sich mit Stoß spielen und anderen verbotenen Tätigkeit ihr täglich Brot verdienten. Die war es, welche Mackie Lersch und seine Lokale beschützte. Dafür bekamen diese Herren im dunklen Anzug, mit weißem Hemd und Krawatte in der Loos-Bar Kognak oder Whisky kostenlos, kamen aber nie zu den Verrückten in den Strohkoffer hinunter. In der eleganten Bar waren die Könige der „Galerie“, wie sie ihren Berufsstand selbst nannten, der G’schwinde, der Toch Heinzi, der Krisch Gustl und andere öfters präsent. Mackie Lersch hatte nicht ausschließlich Freude mit diesen Bekannten. Einige Male musste er sich gegen körperliche Angriffe wehren, wenn einer der Herren mehr Alkohol zu sich genommen hatte, als es seinem seelischen Gleichgewicht guttat. Obwohl Max keineswegs eine Boxerstatur besaß, obsiegte er bei solchen Auseinandersetzungen doch regelmäßig. Das trug ihm Respekt und Achtung ein.
Doch es gab daneben Außenseiter, die nicht zur Galerie der Gentlemen gehörten. Die waren aber eher in den Außenbezirken zu Hause. Einmal war nach einer Kontroverse mit so einem, für Max Lersch wochenlanger Aufenthalt im Spital angesagt. Das kam so. Wir zwei waren spät morgens im Goesser-Keller, um die Nacht mit einer Gulaschsuppe und Bier abzurunden. Dabei löste ein aggressiver Nachtschwärmer eine Tragödie aus. Im gegenseitigen Vertrauen beließ Krisch Gustl, er war anderweitig in wichtigen Geschäften unterwegs, seine attraktive Freundin für eine Weile in der Obhut von Mackie Lersch. Zu dritt saßen wir an einem Tisch, zwischen unseren Beinen lag friedlich der Schäferhund Tasso. Da näherte sich uns ein verwahrlost wirkender Mann kleinerer Statur. Dieser aufdringliche Mensch unmissverständliche bemüht, dabei unsere Anwesenheit missachtend, das Mädchen abzuschleppen. Solch frechen Einbruch in sein Revier konnte sich der Herr der Kärntnerbar nicht bieten lassen, außerdem war er für den Schutz der jungen Dame verantwortlich. Barsch versuchte er den ungebetenen Gast zu verscheuchen. Ein Wort gab das andere, die Aufforderung nach draußen zu kommen, schlug der siegesgewohnte Mackie nicht aus.
Ich verblieb mit Vierbeiner und Mädchen im Keller. Doch ein ungutes Gefühl drängte mich, ihm die Stufen hinauf hinterherzugehen. Tasso folgte mir, freudig mit dem Schwanz wedelnd, zum Hintereingang des Goesserkeller. Ich kam genau rechtzeitig oben an, denn da war Max inmitten der äußeren Kärntner Straße, dort wo tagsüber die Straßenbahn fährt, und wurde von drei Männern attackiert. Mein tief nach vorne gebeugter Freund vermochte sich der Übermacht nicht zu erwehren. Der schmächtigste von ihnen schlug mit der Faust auf seinen Rücken ein, bis ich sah, dass der ein Messer mit langer Klinge in der Hand hielt! Ohne zu überlegen, rannte ich los, leicht behindert durch den verspielt hüpfenden Hund. In vollem Tempo kam ich näher gerannt, da ließ der kleine Mann von seinem Opfer ab, duckte sich, und zielte mit der Waffe auf mich. Ich wäre ihm direkt in das Messer gelaufen, abbremsen war nicht mehr möglich, so sprang ich hoch in die Luft, um dem Vortrieb eine andere Richtung zu geben. Dieser Sprung nach Martial Arts rettete mich vor einem Stich in den Bauch. Aber wahrscheinlich ebenso Mackies Leben, denn die Burschen rannten davon und verschwanden in die Bösendorfer Straße.
Tasso stürzte sich schwanzwedelnd auf Max, um ihn zu begrüßen und um in ihm einen zwar Blut überströmten, aber freundlichen Spielgefährten zu finden. Mackie vorsichtig stützend führte ich ihn zurück vor den Hintereingang des „Goesser“. Dort gab es ebenerdig zusätzlich einen kleinen Ausschank für die Laufkundschaft. Die beschützte junge Frau war ebenfalls schon heraufgekommen und brachte einen Stuhl mit auf die Straße. Da saß nun Max heftig blutend vor dem Lokal und wünschte sich einen Kognak. Während das Mädchen Rettung und Polizei verständigte, bestellte ich bei der Bedienung hinter der Schank ein Glas Brandy. Mackie trank es in einem Zug aus und verlangte nach einem Zweiten. Der tiefe Schnitt, der von der Stirne, am Auge vorbei bis zur Wange reichte, blutete unaufhörlich, wodurch sich das geleerte Schnapsglas wieder mit Menschenblut füllte. Es entbehrte nicht einer gewissen Komik, mit welcher Miene der Mann hinter dem Tresen das mit Mackies Blut gefüllte Glas zum Nachgießen entgegennahm.
Rettung und Polizei kamen fast gleichzeitig. Zwei Polizisten liefen sofort in die Richtung, die ich ihnen angab. Mackie wurde verbunden umgehend ins allgemeine Krankenhaus im alten Haus in der Spitalgasse gebracht. Die Stiche im Rücken waren so tief, dass für ihn Lebensgefahr bestand. Es folgten Operationen, die über einige Stunden dauerten. Ein längerer Aufenthalt im Spital war unvermeidlich und der verspielte Wachhund Tasso blieb zur Pflege bei mir. Am nächsten Tag dokumentierte sich der ungeschriebene Ehrenkodex der „Galerie“. Zwei der Messerstecher konnten in derselben Nacht verhaftet und auf das Polizeikommissariat am Deutschmeisterplatz gebracht werden. Ich hatte meine Identität der Polizei bekannt gegeben, und wurde zur Zeugenaussage einbestellt. Dort angekommen, war Krisch Gustl schon da. Offenbar hatte ihm seine ebenso hierher vorgeladene Freundin, die etwas verspätet eintraf, den Termin im Kommissariat verraten. Wir saßen in einem Vorraum, durch den Beamte die zwei Delinquenten hintereinander an uns vorbei in den Verhandlungsraum führten. Gustl, groß gewachsen und von kräftiger Statur, sprang unerwartet behände auf und streckte den ersten Kerl mit einem Fausthieb nieder. Totalschaden. Ich wollte nicht hintanstehen und desgleichen mit dem zweiten Kleineren, dem Messerstecher, anstellen. Doch bevor es dazu kam, war schon ein Polizist dazwischen gesprungen. Gustl wurde auf der Stelle verhaftet, aber nach einigen Stunden wieder frei gelassen.
Vierzehn Tage lag Mackie im Spital. Dann kam er zurück ins Leben, besser gesagt, ins Nachtleben. Die Narbe des langen Cuts, den Max sich bei diesem Gefecht neben dem linken Auge eingehandelt hatte, war gerötet und hob sich deutlich von der sie umschließenden Haut ab. Obwohl die Entzündung mit der Zeit zurückging, blieb die Narbe bis zu seinem Lebensende sichtbar. Er trug sie mit Stolz wie ein Student, der bei einer Mensur einen Schmiss davongetragen hat. Max war zehn Jahre älter, und ich mindestens so stolz ihn zum Freund zu haben, wie er auf seinen neu erworbenen „Cut“.
Ja, es war eine Freundschaft unter Männern, bedingungslos und verlässlich. Beide waren wir nie ernsthaft erwachsen geworden, daraus ergab sich eine gewisse Seelenverwandtschaft. Darüber hinaus war er erfahrener, stärker, draufgängerischer, hatte ungleich größeren Erfolg bei den Damen, trank mehr und würfelte besser. Aus diesen Qualitäten lernte ich und genoss den Vorzug, falls einmal ein Mädchen überzählig war, davon zu partizipieren. Nie hob er den Altersunterschied zwischen uns hervor und behandelte mich stets gleichberechtigt. Wenn das nicht genügend Gründe sind, uns Freunde zu nennen?
Seine verstorbenen Eltern waren Betreiber der Loos-Bar und von zwei anderen Lokale. Den Erzählungen Mackies zufolge fuhren sie lange nach Einführung des Automobils traditionell vierspännig vor. Er hatte von seiner Mutter die American Bar und die ein paar Stockwerke darüber liegende elterliche Wohnung geerbt. Aber leider hat er das ökonomische Geschick der Eltern nicht mitbekommen. Sagen wir, wie es war, er versoff die täglichen Einnahmen und spendete davon großzügig netten Damen Drinks in anderen Bars und Nachtclubs. Zum großen Missvergnügen von Maria, einer gescheiten und im Nachtleben bewanderten Frau, die er mit dem Lokal von seiner Mutter übernommen hatte, und welche die Loos-Bar weiterhin verantwortungsvoll führte.
M. R. Lersch in jungen Jahren. Die Dame links ist wohl seine Mutter.
Ein lauter Knall reißt mich aus tiefem Schlaf. Ich glaube geträumt zu haben, und ziehe die Bettdecke bis zu den Ohren hinauf. Da wiederholt sich der Krach bei meinem Fenster. Ich bemühe mich aus der horizontalen Lage und gehe in die Richtung, aus der das Geräusch zu kommen scheint. Den Lärm verursacht eine der hölzernen Klappjalousien, die gegen die Hauswand donnert. Ich befestige sie mit dem dafür vorgesehen Haken. Obwohl es schon spät am Morgen ist, habe ich den Eindruck von Dämmerung. Die aufgehende Sonne wirkt verschleiert. Der sonst um diese Zeit klare Himmel ist grau und gelb verhangen. Ein Habub, ein Sandsturm rast auf uns zu. Ich schaue in den Hof hinunter und sehe weder Meharis noch Akamouk. Irgendetwas beeinträchtigt meine Stimmung, ich will nicht einmal schreiben. Ein ungewohntes Gefühl der Einsamkeit und der Wunsch nach Gesellschaft befallen mich. Während der Morgentoilette heult ein neuerlicher Windstoß um das Gebäude, reißt die Jalousie wieder los und wirbelt Sand herein. Ich ziehe die Widerspenstige gegen heftigen Widerstand heran und verriegele sie von innen.
Unten im Gastraum sitzen Michelle und Francois bei ihrem „Petit dejeuner“. Ich nehme bei ihnen Platz, und die Frau des Hauses stellt eine Teetasse und Frühstücksgeschirr vor mich hin. Auf meine Frage, wieso sie wüsste, dass ich Tee am Morgen trinke, meinte sie, Rumis, die selten zum Frühstück kommen, ziehen eben Tee dem Kaffee vor. Solche Logik ist mir zwar nicht recht zugänglich, doch weil hier zutreffend, akzeptiere ich sie höflich. Draußen heult der Wind zunehmend lauter und zerrt an den Hauswänden. François mahnt mich, nochmals hinauf zu steigen, und alles nach Möglichkeit abzudichten. Der aus dem Nordwesten kommende Sturm würde Sand aus den Dünen des großen Erg mitbringen. Oben angekommen, liegt auf dem sonst blanken Deckel des Laptops bereits eine Schicht feinster Saharasand. Ich schließe alle Fenster und sehe dabei eine undurchsichtige, rötlich gelbe Wolke, die wie eine Wand von der Erde bis hoch in den Himmel reichend, auf das Haus zukommen.
Im Gastraum warten Tee, Baguette, Butter und Käse. In dem Moment, als ich mich nach Akamouk erkundigen will, öffnet sich die Eingangstüre und er kommt mit wild wehender Kleidung und fest um den Kopf gewickelten Tagelmust herein. Unter merklichem Kraftaufwand zieht der Targi gegen den Sturm das Tor zu. Er hat mit Erlaubnis von François seine Kamele in die Werkstatt gebracht, wo der Geländewagen der Auberge steht. Mein Landrover bleibt im Freien, er ist relativ neu und die Dichtungen der Türen und Fenster sowie zum Motorraum sind so intakt, dass kaum Sand ins Innere des Wagens eindringen wird. Auf einen Wink von François setzt sich Akamouk zu uns an den Tisch. Draußen tobt der immer heftiger werdende Sturm. An irgendeiner Stelle des Gebäudes schlägt ein loser Laden in stets kürzeren Abständen wild gegen die Mauer. Die Schläge dröhnen im gesamten Haus und die dadurch hervorgerufenen Erschütterungen sind so heftig, dass sie selbst durch den Fußboden zu spüren sind. Dass Schweigen herrscht, solange ich mein „petit dejeuner“ einnehme, ist angenehm. Nach einer Weile unterbreche ich die Stille mit der Frage, ob diese Sandstürme öfter vorkämen und jahreszeitlich bedingt seien. In manchen Jahren im Juni und Juli selten, aber im August kommen sie vermehrt, meint Michelle. Sie hat darin Erfahrung, weil die Reinigung des Hauses nach den durch die Stürme hereingewehten Sand, bleibt ihr überlassen. Es wurde inzwischen ungewöhnlich finster. Trotzdem bleiben wir ohne künstliche Beleuchtung, was die Gaststube direkt gemütlich macht, derweil draußen der Sturm tobt. Doch kein Habub dauert über zwei Stunden.
Unvermittelt fragt mich Akamouk, dieser Wüstensohn, wozu ich ein Buch schreibe. Ich bin perplex, schaue ihn erstaunt an und finde im Moment darauf keine Antwort. Ist mir denn selbst klar, warum? Der Targi will mit der Frage sicher nicht provozieren, ich glaube an sein ehrliches Interesse. Er hält mich ja für einen ganz besonderen Rumi, weil ich ihm zweimal auf der Piste in weitem Bogen ausgewichen bin. So etwas macht kein Einheimischer, geschweige denn ein reisender Europäer. Alle drei sehen mich erwartungsvoll an.
Wie soll man den gespannt wartenden Zuhörern erklären, dass eine Portion Eitelkeit nicht unwesentlich an dem Entschluss beteiligt war? Ein der ehrlichen Frage ausweichender, allgemein philosophischer Vortrag über Sinn und Zweck von Büchern wäre hier sicher falsch am Platz. Somit verschweige ich die von mir selbst angemaßte Berufung zum Schriftstellern und sage bescheiden, dass es mir Freude macht, zu schreiben. Eine solche Erklärung beinhaltet durchaus so viel Wahrheit, wie ich glaube, diesen freundlichen Menschen schuldig zu sein. Sie akzeptieren diese Darstellung. Bis mich die offenbar an Materiellem interessierte Michelle mit der Frage nach einer Gewinn bringenden Verwertbarkeit der Arbeit in weitere Verlegenheit bringt. Ich antworte spontan mit „Insch’allah„, womit ich obendrein mein umfassendes Wissen über afrikanische Mentalität beweise. Solcher Aussage kann nicht widersprochen werden und ich bin froh, damit weiterhin derlei unangenehme Fragen zu vermeiden. Anschließend plaudern wir einige Zeit über Belangloses.
Inzwischen hat der Sandsturm ebenso schnell nachgelassen, wie er begonnen hat. Die unvergleichliche Stille ist wieder da und ich gehe in den Hof, um zu sehen, ob der Sturm irgendwelche Schäden verursacht hat. In den der Windrichtung abgekehrten Ecken der Mauern und Gebäude liegt Flugsand höher, der Himmel erstrahlt wieder intensiv blau, und die Sonne erscheint ebenso zu stechen, wie am Vortag. Ich inspiziere den Landrover und verstehe nicht, wieso sich im Wagen, trotz intakter Dichtungen, mehr Sand angesammelt hat, als an der Außenseite. In mein Refugium zurückgekehrt, fällt Licht durch die Ritzen der geschlossenen Jalousien in scharf abgegrenzten Strahlen. In diesem Sonnenlicht tanzen glänzende Staubpartikelchen. Nach dem Öffnen der Fenster erinnert das in volles Tageslicht getauchte Zimmer an einen mit rötlich-gelbem Staubzucker gepuderten Faschingskrapfen, nur gleichmäßiger verteilt. Ich wische vorsichtig Tisch und Computer frei vom Sand und beschließe, die bis Mittag verbleibende Zeit zu nützen, um weiterzuschreiben.
Doch die Frage Akamouks lässt mich nicht los. Ein Nebeneffekt des Schreibens ist es, einen Teil von einem selbst zu erkennen, wie in einer Autotherapie. Darüber hinaus fragten voneinander unabhängig ein paar Personen, warum ich meine Erinnerungen nicht aufschreibe. Es gäbe ja einiges daraus zu berichten. Die Gleichzeitigkeit dieser Anfragen wirkte wie ein Fingerzeig. Entscheidend war, dass ich längst selbst daran gedacht hatte, in meinem Gedächtnis nachzuforschen und die Vergangenheit zu ordnen. Eine gewisse Dringlichkeit ist ebenfalls angeraten, denn wer kann abschätzen, wie viel Zeit mir dieses Leben in Zukunft für das Verfassen eines derartigen Dokuments lässt? So begann ich daran zu arbeiten, und sandte die ersten Kapitel an Guido, einen brüderlichen Freund, der wegen enormer Schmerzen, deren Ursache kein Arzt zu finden wusste, seine Wohnung nicht mehr verlässt. Ich hoffte, ihn mit diesen Geschichten von seiner Krankheit Ablenkung zu bieten. Seine Reaktionen auf meine Berichte zeigten mir, dass ihm das Lesen Freude bereitete und sein Leiden für kurze Zeit vergessen ließ. Darin einen Auftrag sehend, schreibe ich hier in Afrika weiter und sende ihm die Elaborate.
Meine Lebensbahn verlief zum Teil eindeutig abenteuerlicher und wahrscheinlich abwechslungsreicher, als hätte ich eine Lebensform eines sesshaften Staatsbürgers mit geregelter Arbeitszeit und sicherem Einkommen gewählt. Vor allem die ersten Jahre fielen in eine für Österreich geschichtlich entscheidende Periode. Das gesamte Staatsgebiet besetzten die alliierten Mächte des Weltkrieges. Ein Großteil der Bevölkerung hatte Probleme mit der Selbsteinschätzung, ob sie besiegt oder befreit worden seien. Auch international war man sich darüber nicht einig. Das Land wurde zwischen Ost und West aufgeteilt. Einerseits unterstützten die westlichen Siegerstaaten Österreich beim Wiederaufbau mit Care und Marshallplan, andererseits wurde es von den Russen ausgeblutet. Die nach dem Krieg gebrauchsfähig gebliebenen Industrieanlagen wurden abgebaut und in die Sowjetunion gebracht. Das Gleiche geschah mit allem, was zu transportieren war.
Künste und Wissenschaften erholten sich langsam von den politischen Zwängen der Kriegszeit. Herbert Tichy nahm seine Reisen, Lotte und Hans Hass ihre meeresbiologischen Expeditionen wieder auf, und Peter Fuchs war im Auftrag des Phonogrammarchivs in Afrika unterwegs. Hugo Bernatzik brachte vor seinem Tod zwei Bücher heraus. Kriegsbedingt fehlten den akademischen Institutionen geeignetes Personal und Geld für intensive Feldforschung. Ich hatte mir erlaubt, dieses Vakuum zu nützen.
Es könnte gut sein, dass man sich bei der Zuweisung des Geburtsortes und der Eltern um einige Breitengrade geirrt hatte. Meine Sehnsucht nach dem Süden, der Sonne und mediterraner Lebensphilosophie war und ist unbezwingbar. Sollten die mir vererbten Gene der italienischen Großmutter daran Schuld getragen haben? Dieser Hang zum angenehm temperierten Süden wurde für den Großteil meines Lebens bestimmend. Schon als kleiner, minderjähriger Bub büchste ich einmal aus und wurde erst in Arnoldstein, an der Grenze zur Heimat meiner aus Riva di Garda gebürtigen Oma, in Ermangelung eines Reisepasses wieder eingefangen.
Drei Hausnummern von der elterlichen Wohnung entfernt, in der Lindengasse Nummer zehn, dem ehemaligen Palais Herzmansky, wohnte im obersten Stockwerk ohne Aufzug ein recht mürrischer, älterer Herr, Karl Wewerka. Der hatte einen Sohn, den Hans, und der war verheiratet. Herr Wewerka Senior, verwitwet, verfügte über einen Haarkranz, der am Hinterkopf die Glatze von einem Ohr zum anderen begrenzte. Sein graues, durch Pockennarben gezeichnetes Gesicht wurde meist gegen Blendlicht nach oben von einem grünen Schirm abgeschlossen. Denn im Souterrain desselben Hauses lag sein Lebensmittelpunkt, seine Arbeitsstätte, sein kleines Unternehmen. Dort saßen ganztägig in absoluter Stille, bei elektrischer Beleuchtung eine Anzahl voll konzentrierter Herren, welche alle die gleichen Blendschirme auf der Stirne trugen, und schrieben unaufhörlich Noten. Musiknoten. Ohne Rücksicht auf Wetter, Jahres- und Tageszeiten. Es war ein Büro, in dem bis dato mit der Hand Partituren kopiert, oder einzelne Stimmen daraus extrahiert wurden, damit jeder Musiker eines Orchesters seine eigenen, dem jeweiligen Instrument zugeordneten Noten bekam. Hans Wewerka junior wollte höher hinaus und gründete mit seinem Vater einen Musikverlag, den Atempo-Verlag. Daneben hatte er in der Neubaugasse ein Büro, in dem eine Zeitschrift für Jazzmusiker, das „Podium“, entstand. Es war als österreichische Konkurrenz für die amerikanischen Jazzmagazine „Down Beat“ und „Metronome“ gewollt. Hans Wewerka kannte mich von meinen Verbindungen zur Wiener Jazzszene und bot mir eine Stelle für Botendienste an. Da ich ein bisschen Verdienst benötigte, nahm ich gerne an.
Im Flur des Palais Herzmansky stand ein Jugendtraum geparkt: Mein Arbeitswerkzeug, ein mit unaussprechlich froschgrüner Farbe lackierter Motorroller der Firma Lohner, ein LK 98 S! Seit dem Ende des Krieges wurden in Italien Vespa und Lambretta erzeugt, doch das war der erste in Österreich gebaute Motorroller! Gestartet wurde er mittels Handzugseil, wie bei Motorsägen oder Außenbordmotoren üblich. So ähnlich klang der kleine Zweitakter, sobald er lief. Der Roller tat zuverlässig seine Pflicht, nur bei steileren Straßen bergauf war die Leistung eher begrenzt. Zu zweit recht mühsam. Von da an brauchte ich das Fahrrad nicht mehr. Meine Familie hatte mir Geld für ein solches gespendet. Beim Dusika in der Zollergasse kaufte ich mir ein gebrauchtes Rennrad der Marke RIH mit Dreigangschaltung, mit dem ich nicht nur in Wien herumflitzte.
Die Komponisten der damaligen Zeit, Friedrich Cerha, Ernst Krenek, Robert Stolz, Erwin Halletz und Johannes Fehring, hatten alle irgendeinmal die Dienste des Karl Wewerka in Anspruch genommen. Wie oft musste ich von einem dieser Herren eilig Noten abholen, denn sie komponierten manchmal während schon die Orchesterproben für die Aufführungen ihrer Werke liefen. Da waren die Notenkopisten gefordert schnell, und vor allem ohne Fehler zu arbeiten. Es herrschte Zeitdruck. Trotz der Nervosität war in dem lang gestreckten Arbeitsraum ausschließlich das Kratzen der Schreibfedern zu vernehmen. Die oben erwähnten Komponisten, oder deren Gattinnen, waren durchweg freundlich, boten mir zu trinken und Kekse an, wenn ich auf ein paar Takte zur Vollendung der Komposition wartete. Selbst Einzi Stolz hat mich warmherzig bewirtet. Manchmal durfte ich mir den Roller am Abend privat ausborgen. Dann knatterte ich angeberisch die Kärntnerstraße hinunter zum Strohkoffer und parkte ihn direkt davor.
Der Besitzer der beiden Lokalitäten American Bar und Strohkoffer, Max „Mackie“ Lersch, brauchte Geld für sein kostspieliges Hobby, andere Nachtlokale und die dort arbeitenden Damen zu konsultieren. Von Maria, der Herrscherin über die Finanzen der American Bar, gab es für ihn wenig zu holen, und der Strohkoffer war ebenfalls nicht mehr so ertragreich. Eines Tages reaktivierte er das auf Straßenebene rechts vom Eingang zum Strohkoffer gelegene Nebenlokal, zu dem der Speisenaufzug aus der Küche im Keller gehörte. Seit dem Dahinscheiden der Mutter Lersch scheint diese Bar nicht mehr in Betrieb gewesen zu sein. Der ausnehmend gemütliche Raum war mit aus Zeiten vor dem Krieg stammenden, aber bequemen Sitzgelegenheiten an einigen Tischchen, einem aktiven Kamin und funktionierender Bartheke mit sechs Hockern davor eingerichtet. Dazu passend waren die Wände mit rosa Mustern aus dem Biedermeier tapeziert. Beleuchtet wurde das Ganze von einem Lüster mit glitzernden Glasprismen in Tropfenform und an den Wänden von im gleichen Stil gestalteten dreiarmigen Appliken. Und ja, da stand in einer Nische ein Klavier, das nie gestimmt wurde. In diese, geschätzt aus den frühen dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts stammende Bar mit der Anmutung eines Boudoirs, führte eine Türe, deren verglaste Paneele innen mit Spitzenvorhängen verdeckt waren. Außerdem gab es den vorher erwähnten, mit Handseilzug betriebenen Speisenaufzug. Der beförderte vormals warme Speisen aus der darunter liegenden Küche ins Lokal hinauf. Mackie bat mich, diese Bar gegen das zu erwartende Trinkgeld, wie ein Volontär, zu übernehmen. Da mein Chef Hans Wewerka im Begriff war sein Arbeits- und Lebenszentrum nach München zu verlegen, überlegte ich nicht lange und wurde zum Barmann.
Lersch gelang es, eine in Wien lebende Berliner Dragqueen namens Marcel André für die Bar zu interessieren. Am späteren Abend erschien dieser und interpretierte schlüpfrige Lieder. Damit war eine zweite Schwulenbar für Wien geboren! Max besorgte zum Einstand ein paar angebrochene Flaschen aus der American Bar, die Maria nur widerwillig ausließ. Weil der Getränkegroßhandel nicht mehr auf Pump lieferte, füllten wir billigen Branntwein in Gebinde mit den Labeln Courvoisier und Hennessy. Cognac war damals das Modegetränk. Wir stellten sie neben die fast leeren Whiskyflaschen, Reste aus der Loosbar, wie man die American Bar nach ihrem Erbauer, dem Architekten Alfred Loos gemeinhin nannte. So wirklich wohl fühlte ich mich nicht bei diesen unkorrekten Machenschaften, aber da es niemanden auffiel und Max, der Chef, dazu meinte, das würde man in allen Nachtlokalen ebenso machen, glaubte ich ihm, und damit es sollte mir recht sein.
So für das zu erwartende Geschäft gerüstet, wartete ich auf meinen ersten Kunden. Der kam bald, bestellte aber ein Vierterl Grünen Veltliner. Damit hatten wir nicht gerechnet. Mit einem Glas in der Hand lief ich hinüber in die Seilergasse zum „Göttweiger“, ließ es für 3,50 Schilling mit Wein anfüllen und kassierte anschließend vom Gast dafür 12,00. Eine Gewinnspanne, mit der ich leben konnte. Nach zwei verkauften Vierteln war mit diesem Startkapital zu wirtschaften. Ich kaufte vom Erlös einen „Doppler“, und der Abend war gerettet. Die späteren Gäste ließen mehr springen. Sobald die Musik begann, tranken sie begeistert den Brandy und hielten ihn für Cognac. Ich würfelte mit ihnen um Getränke und hob damit erfolgreich den Umsatz. Das Geheimnis dabei war, sollte der Wirt des Öfteren verlieren, mit Escalero-Poker ist er immer Gewinner. Denn bei einer Marge von dreihundert Prozent, fallen kleine Verluste nicht ins Gewicht. Mit fortschreitender Routine gewann ich immer öfter und durfte dabei unter den Herren vom anderen Ufer faszinierende Bekanntschaften machen. Selbst wenn, durch meine vergangene braune Erziehung und Propaganda geprägte Ansätze zur Homophobie existiert hätten, bei diesem Job wurden sie lebenslang ausgeräumt.
Obwohl die Gäste einen offenen und freundschaftlichen Umgang mit mir pflegten, war es bemerkenswert, dass keiner der Herren versuchte, mich knackigen Jüngling abzuschleppen. Den größten Eindruck hinterließ bei mir ein später Gast, Fred Adlmüller, der Modezar von Wien. Er kam stets zu fortgeschrittener Stunde, sobald er keine anderen Kunden mehr vorzufinden hoffte. Meist erschien er ohne Entourage zu Geschäftsschluss, wann ich dabei war, die Tagesabrechnung zu machen und den Rest Bargeld zählte, den Max nicht eingesackt hatte. Mackie holte sich täglich regelmäßig vor der Sperrstunde die bis dahin erwirtschaftete Losung und verschwand damit in Nachtlokale wie Vindobona, Moulin Rouge, Bonboniere, Marietta- und Edenbar, oder sonst in ein einschlägiges Lokal. Nachdem der Laden zugesperrt war, setzte ich mich zu Adlmüller an den Kamin. Bei einem gemütlichen Drink führten wir oft feine philosophische Gespräche. Mir blieb dieser gebildete und einfühlsame Mann eindrücklich in Erinnerung, weil er meine Gedanken zu verschiedenen Themen akzeptierte. Das hob verständlicherweise etwas mein Selbstwertgefühl.
Die Trinkgelder in der Bar flossen reichlich, so um die siebzig Schilling pro Tag. Das war für jemanden, der im Hotel Mama lebte, ein üppiges Taschengeld. Das Lokal war ein beschauliches Plätzchen, in dem sich Gleichgesinnte in netter Atmosphäre austauschten. Äußerst frequentiert waren die Tage mit Unterhaltungsprogramm. Eines späten Abends, eben interpretierte der in schicken Fummel gekleidete Marcel André sein Paradelied „Iphigenie, ich sehe ja dein Knie“, da geschah es. Das Lokal war gut besucht, gegen Mitternacht öffnete sich die Eingangstüre einen Spalt, ein mit einem Dufflecoat bekleideter Unterarm erschien. Der Zeigefinger der Hand lag am Abzug einer Pistole größeren Kalibers. Ein Schuss, und an der gegenüber liegenden Wand, neben einer der kristallbehangenen Appliken staubte es. Nicht getroffen! Der Arm verschwand, die Türe schloss sich automatisch. In der darauffolgenden Stille betrachteten ein paar Gäste interessiert das Loch in der Wand, kurz darauf setzte Marcel wieder mit dem Vortrag seines Liedes fort. Ich wunderte mich, was Mackie mit dieser Aktion erreichen wollte, denn nur er konnte der Schütze gewesen sein.
Generell verliefen die Nächte in der Männerbar, beschützt von der „Galerie“, fast durchweg normal und unaufgeregt. An Samstagabenden verzeichneten alle drei Lokale Gewinn bringenden Besuch. In der Kärntnerbar waren bei gedämpfter Unterhaltung sämtliche Tische und Barhocker belegt, der Strohkoffer platzte aus den Nähten. Uzi Förster performte da unten sein „Udrilitten“ und andere Spezialitäten. Die darüber liegende Schwulenbar war ebenfalls überfüllt. Ein ausgeglichener Abend mit erfreulichem Umsatz kündigte sich an. Mit Pokerwürfeln unterhielt ich ein paar Gäste, womit die Einnahmen des Tages vermehrt wurden. In äußerster Konzentration versuchte ich eben ein Full House zu würfeln, da öffnete sich wie von Geisterhand geführt, der Schieber des Speisenaufzugs. Mit kräftigen Strahl wurde der gesamte Inhalt einer frisch gefüllten Syphonflasche aus etwa zwei Meter Entfernung in Richtung Bartheke entleert. Im Aufzug saß zusammengekauert Uzi Förster und grinste. Das konnte ich mir nicht bieten lassen. Schnell schnappte ich mir eine ebensolche unter Druck stehende Flasche und spritzte deren Inhalt auf den im Aufzug eingeschlossenen Uzi. Diejenigen, die ihn wieder in den Strohkoffer hinunter ziehen hätten sollen, zögerten aber. Bedingt durch die Enge, in der er saß, war ihm ausweichen nicht möglich und er bekam den gesamten Inhalt der Flasche ab. Das tat unserer Freundschaft jedenfalls keinen Abbruch. Gäste, die sich in der „Schusslinie“ aufhielten, blieben von der ausgiebigen Dusche nicht verschont. Erstaunlich war, dass nach diesen beiden Vorfällen keineswegs weniger Besucher in dem Lokal verkehrten.
Nachdem ich mir einen Teil des Verdienstes zusammengespart hatte, wurde im Herbst des Jahres 1953 wieder einmal Fernweh übermächtig. Ich verließ meinen Bartenderjob und machte mich in einen grauen Lodenmantel gehüllt und mit wenigen Habseligkeiten im Rucksack auf den Weg Richtung Süden. Per Autostopp ging es durch Italien bis ans Mittelmeer. Faszinierend fand ich die gelben Scheinwerfer der Autos in Frankreich. Rasch und ohne Probleme erreichte ich Nizza. Ein freundlicher Franzose, der mich bis ins Zentrum der Stadt mitnahm, gab mir auf die Frage nach einer Übernachtungsmöglichkeit eine Adresse und einen Namen. Ich fand das beschriebene Gebäude, wo mir eine nette Dame einen Schlüssel gab, der zu einem Haus am Strand gehörte. Dort stand eine Holzbaracke, die in dieser Jahreszeit unbenützte Kantine des Badestrandes. In der Mitte waren Tische und Stühle, an den Wänden entlang breite Sitzbänke aus Holz, die sich ausgezeichnet zum Übernachten eigneten. Es war hier sehr ruhig, die Promenade des Anglais lag weit weg und vom nahen Meer hörte ich das beruhigende rhythmische Rauschen der Wellen. Es war so gemütlich, dass ich beschloss, zwei Tage in „meinem“ Haus am Strand von Nizza zu verbringen. Ich brachte den Schlüssel zurück und bedankte mich für das kostenlose Asyl, dann ging es weiter bis Marseille.
Nach einer Nacht in der „Auberge de jeunesse“, der Jugendherberge, konnte ich die Überfahrt auf der Fähre in Richtung Algier buchen. Auf Sparsamkeit bedacht erstand ich ausschließlich die nächtliche Fahrt im Unterdeck, ohne Kabine oder sonstiger Annehmlichkeiten. Schon beim Einlass wies man mich die Stiege hinunter, in das dunkle Schiffsinnere. Dort war das gesamte Deck mit Arbeitern und Großfamilien aus Algerien belegt, die sich lautstark unterhielten. Der ungewohnte und vehemente Geruch nach Erbrochenem und die gedrängte Nähe der Menschen waren mir fremd und nicht angenehm.
So begab ich mich in der Abenddämmerung, das Schiff lief eben aus dem Hafen, hinauf aufs Vorschiff an die frische Meeresluft. Das Betreten dieses Schiffsteiles war Passagieren nicht erlaubt. Aber weil mich niemand zurückhielt, suchte ich eine Sitzgelegenheit an Deck. Auf einer Rolle armdicker Schiffstaue sitzend realisierte ich, beglückt über den Bug nach Süden schauend, dass ich Europa verlasse. An diesem Herbstabend war die See recht ungemütlich. Je weiter wir ins offene Meer kamen, umso höher wurden die Wellenberge. Wir waren geschätzt eine halbe Stunde unterwegs, da geschah es. Das Schiff stieg eine riesige, steile Welle hinauf, bis nur mehr der Himmel zu sehen war, und senkte sich auf der anderen Seite rasend schnell wieder hinunter. Diese Bewegung vermittelte das Gefühl, auf einer abwärts flitzenden Berg-und-Tal-Bahn zu sitzen. Die rasante Talfahrt nahm kein Ende, das Gesetz der Schwerkraft war aufgehoben. Es hob mich von meinem Sitzplatz und ich suchte im Inneren der Taurolle mit den Füßen Halt. Wie sich ein Reiter beim Rodeo an sein Pferd klammert, krallte ich mich an das gewundene Schiffsseil. Der Bug des Schiffes tauchte unter eine haushohe Welle, ich wurde fest auf meine maritime Sitzgelegenheit gedrückt, und verschwand in einer Wand kaltem Meerwassers. Nach mir endlos erscheinender Unterwasserfahrt erschien der Bug der Fähre wieder an der Oberfläche. Erst einmal holte ich tief Luft, um dann schuldbewusst zur Kommandobrücke hinauf zu schauen. Dort amüsierten sich die Herren Offiziere über irgendetwas köstlich.
Den folgenden Tauchgang nicht abwartend schwankte ich tropfnass zurück zur Geborgenheit ins trockene Innere des Schiffes. Auf der Suche nach einem Unterschlupf verblieb auf meiner Spur ein Bächlein Seewasser. In einem der Gänge traf ich einen Matrosen, der mir für tausend Franc seine Koje zur Übernachtung anbot, denn er hätte Nachtdienst und brauchte sie nicht. Dankbar nahm ich das Angebot an. Waren es mir wohlgesinnte Geister, oder die Offiziere von der Kommandobrücke, die den Matrosen geschickt hatten? Egal, jetzt wurde meine total durchnässte Kleidung ausgewrungen und in dem engen Raum zum Trocknen ausgebreitet. Erschöpft schlief ich bei den heftigen Schlingerbewegungen des Schiffes bis zum Morgengrauen durch.
In den frühen Morgenstunden ist es still geworden, die Fähre glitt ruhig dahin, das Brummen der Schiffsmotoren war kaum zu hören. Ich zog mein fast trockenes Gewand wieder an und stieg auf das von Sonnenlicht durchflutete Deck. Angenehm warme Luft empfing mich und trocknete Schuhe und Kleidung durch und durch. Bei wolkenlosem Himmel liefen wir in den Hafen von Algier ein. Der Anblick dieser strahlend weißen Hafenstadt, die sich vom Meer über einen Hügel hinaufzog, blieb unvergesslich. Sie vermittelte den Eindruck eines spiegelverkehrten Pendants zu Marseille, denn beide Städte werden von Wahrzeichen überragt. Algier von der Kirche Notre Dame d‘Afrique und Marseille von der Basilika Notre Dame de la Garde. Ja, das war es, ich fühlte mich glücklich, in Afrika zu sein, frei und ausgeschlafen, für Abenteuer und Entdeckungen bereit.
Die Formalitäten am Grenzposten waren minimal, Algerien war zu der Zeit ein Teil Frankreichs. Wieder an Land schlenderte ich den Hafen entlang, an zahlreichen kleinen orientalisch-pfefferig riechenden Läden vorbei und stürzte mich in das Gewühl der Stadt. Die exotische Mischung aus gleichermaßen Orient und Europa war faszinierend und verheißungsvoll. Nicht weit von der Anlegestelle, in der Rue Sadi Carnot fand ich eine Jugendherberge. Die Mère-Aub, wie die Herbergsmutter auf Französisch genannt wird, wurde dieser Bezeichnung wahrlich gerecht. Sie empfing mich freundlich, und da damals meine Kenntnisse in Französisch recht rudimentär waren, radebrechten wir in englischer Sprache. Sie zeigte mir ein schmuckloses Zimmer, eingerichtet mit vier Stockbetten und ein paar abschließbaren Schränken. Vor allem war es angenehm, in diesem kühl anmutenden Raum allein wohnen zu dürfen. Auf meine Anfrage gab sie mir die Adresse des Museums Bardo. Ich hoffte, dort Ausführliches über nordafrikanische Musik zu erfahren.
Zuerst aber zog es mich in Richtung Kasbah, dem ältesten Stadtteil Algiers. Endlich war ich mitten im Orient! Händler, Handwerker, Kinder und mehr oder weniger verschleierte Frauen bildeten eine malerische Einheit aus prächtigen Farben, unverständlichen Sprachfetzen und die Nase reizenden Gerüchen. Dazu kam aus unzähligen quäkenden Radiogeräten ein Klangteppich von entsetzlich lauter, erheblich verzerrter arabischer Musik. Jeder Händler trachtete durch womöglich noch mehr Lautstärke, dabei Klang- und Tonqualität missachtend, auf sich und sein Geschäft aufmerksam zu machen. Alle meine Sinne waren wach und ließen mich merken, wie weit weg von zu Hause ich war. In diese exotische Atmosphäre tauchte ich genüsslich ein.
Der Rückweg führte mich durch verwinkelte enge Gassen zu der Hauptstraße, von der ich vorhin gekommen war. Es dämmerte schon, als ich einen Platz erreichte. An dessen Mitte befand sich ein kleiner runder Pavillon, die Bar Unic. Ich beschloss, mir dort einen Drink zu genehmigen. Links und rechts vom Eingang standen zwei Tische mit jeweils vier Stühlen. Da es draußen schon kühl wurde, betrat ich das bis auf die Bedienung leere Lokal und bestellte mir an der Bar das billigste Getränk, einen Pastis“51″. Zu meiner Freude standen auf der Theke neben den groß dimensionierten Aschenbechern Schüsselchen mit Erdnüssen und Teller mit ovalen Brotstücken. Der Mann hinter der Bar stellte ein Glas mit dem gelbgrün fluoreszierenden Pastis, eine Karaffe Wasser mit Eiswürfeln vor mich hin, und schob freundlich Nüsse und Brot in Reichweite. Die Brötchen waren vom Baguette geschnitten und dünn mit einer Wurstpaste bestrichen. Das tat meinem hungrigen Magen wohl und ich leerte zügig Glas, Erdnusstöpfchen und Brotteller. Bei Einbruch der Dunkelheit erreichte ich die Jugendherberge. In der Küche saßen ein paar Jugendliche und sangen französische Lieder zur Gitarre. Um zehn Uhr abends war in der Herberge Nachtruhe angesagt, worauf die Mère-Aub autoritär achtete.
Nach dem obligaten Frühstück machte ich mich auf den Weg ins Museé Bardo. Ich kannte Bilder von maurischen Bauten, aber das hier übertraf an Arabesken und Prunk alles bisher Gesehene. Ich fragte beim Eintritt nach der Abteilung für Musik und wurde in ein Nebengebäude geführt, das zu meiner Enttäuschung jedem orientalischen Charme entbehrte. Ich klopfte an der mir vom Portier angegeben Türe. Auf ein von innen gerufenes „entré“ betrat ich einen kahlen Büroraum, hinter dem einzigen Schreibtisch saß ein in einen weißen arabischen Kaftan gehüllter Algerier mit Brille. Wir stellten uns einander vor, ich konnte mir seinen, den Kehlkopf brechenden Namen nach dem Titel Professeur nicht merken. Es fand sich eine Sprache, die wir beide gleichermaßen nicht perfekt beherrschten: Englisch. Ich war darin etwas besser, was aber seinen Eifer nicht dämpfte, mir mit großem Sachverstand und Enthusiasmus alles Mögliche zu zeigen und zu erklären. Es war zum bleibenden Erfassen um etliches zu viel Wissensvermittlung auf einmal in kurzer Zeit. Trotzdem blieben einige, später zu verwertende Informationen hängen, wie die unterschiedlichen Formen von Instrumenten, Spielorte und dass es Aufnahmen dieser Musik gab, die mich in diesem Moment zugegebenermaßen nur am Rande, oder gar nicht interessierten.
Über diese faszinierende Führung durch die Musikabteilung war es Mittag geworden. Mit einigen schriftlichen und gedruckten Unterlagen versehen, eilte ich auf der bekannten Straße wieder in Richtung Jugendherberge. Dieser zu querende Platz muss ein zentraler Punkt in Algier sein, denn völlig unbeabsichtigt führte der Weg zur Herberge umweglos wieder an der Bar Unic vorbei, oder besser gesagt, hinein. Der nette Barmann stellte mir einen Pastis vor die Nase und schob mir von links und rechts die Teller mit den frischen Sandwiches näher. Er scheint erkannt zu haben, dass ich hier mein Mittagessen einzunehmen gedachte. In dem Moment, als ich die Bar verlassen wollte, betraten zwei Männer in piekfeinen, mit messerscharfen Bügelfalten versehenen Uniformen das Lokal. Einer trug das „képi blanc“ der Fremdenlegion, der andere war sicher ein Unteroffizier, denn er hatte ein schwarzes Képi, an der Oberseite rot bespannt. Beide waren Fremdenlegionäre. Sie legten ihre Kappen auf den Hocker neben sich und nahmen gegenüber von mir an der einem Hufeisen gleichenden Bar Platz. Heimatliche Klänge drangen zu mir herüber! Nein, nicht deutsch, österreichisch! Es wurde ein nachhaltig bemerkenswerter Nachmittag.
Die beiden Legionäre waren auf Urlaub aus dem Zentrum der Légion étrangère in Sidi-bel-Abbès nach Algier gekommen. Ihre Gesichter waren von Sonne und Hitze gegerbt und zeigten die Spuren der Herausforderungen des strengen Drills, der in der Legion herrscht, deutlich an. Sie sprachen mit dem Barkeeper fehlerfrei Französisch, der mich als Deutscher mit den beiden Soldaten bekannt machte. Es stellte sich heraus, dass sie Ihren Urlaub im kühleren Norden des Landes verbrachten, denn ohne Sondererlaubnis durften sie nicht nach Europa. Sie könnten ja dort womöglich desertieren. Dazu kommt, dass eventuell existierende, internationale Haftbefehle hier in Algerien wirkungslos geblieben wären, denn sie standen unter dem Schutz der Legion. Sie waren Soldaten Frankreichs. Nach meiner Klarstellung, dass ich Wiener, somit Österreicher bin, kam auch schon der erste Pastis zu mir gewandert. Es blieb nicht bei dem Einem. Der Unteroffizier war ehemaliger Frauenarzt in Graz gewesen, der sich vermutlich mit verbotenen Abtreibungen sein Einkommen verbessert hatte und auswandern musste. Über den Anderen mit dem Tiroler Akzent erfuhr ich nichts Genaues. Beide schwiegen sich darüber aus und ich machte mir meine eigenen Gedanken dazu. Der Doktor erzählte von einem Aufstand der Berber in einer Stadt im Süden, den er mit seiner Abteilung niederschlagen sollte. Vor dem Rathaus am Hauptplatz demonstrierten Rebellen, zu denen sich immer mehr Leute aus der Umgebung gesellten. Nicht ohne Selbstgefälligkeit berichtete er, dass er die Dächer der Häuser an den vier Ecken des Platzes mit Maschinengewehren besetzte und die gesamte Ansammlung niederschießen ließ. So einfach war das, eine Revolution zu verhindern. Mitunter hatte ich mit dem romantischen Gedanken gespielt, selbst Legionär zu werden. Nach dieser Geschichte verwarf ich dieses Vorhaben endgültig.
Die nicht mehr zu rekonstruierende Anzahl genossener Gläser Pastis drängte mich zu einem menschlichen Bedürfnis. Mein Kopf war zwar völlig klar geblieben, doch der Barhocker, auf dem ich saß, ist im Laufe der feucht geführten Unterhaltung um gefühlte drei Meter gewachsen. Entsprechend schwierig gestaltete sich der Abstieg. Von launig aufmunternden Worten der Militärs begleitet, erreichte ich endlich sicheren Boden.
Sollte oben beschriebener Herr Doktor heute noch am Leben sein und diese Zeilen zufällig lesen, ersuche ich ihn, meine Indiskretion gütigst zu verzeihen. Bei der Gelegenheit möchte ich mich nachträglich für die unzähligen Pastis bedanken, weil ich alkoholbedingt solche Höflichkeit sicher unterlassen hatte. Auf irgendeine Weise gelang es mir, die Unterlagen des Museums fest unter dem Arm geklemmt, heil in die Jugendherberge zu kommen. Meinen Entschluss, am nächsten Tag abzureisen, setzte ich morgens in gedämpfter Stimmung und trotz des anscheinend herrschenden Nebels frierend und mit aufgesetzter Sonnenbrille in die Tat um.
Gurgelnde Töne des Unmuts der Kamele im Hof treiben mich aus dem Bett. Akamouk hat seine Meharis hinlegen lassen, um sie zu beladen. Eben legt er dem Reittier die prachtvollen und mit Quasten verzierten Decken über. Ich schlupfe schnell in meine Hose und laufe hinunter. In diesem Moment hebt der Targi den Sattel auf den Kamelrücken. Diesen ziert ein wohlgeformter Dreizack, der ebenso Schmuck, wie Griff zum Anhalten ist. Ich frage Akamouk nach seinem Reiseziel. Er möchte in den Azawad im Norden Malis, wo Touareg verzweifelt um ihre Freiheit kämpfen. Er will sehen, was die Tuareg-Krieger der MNLA, (Mouvement national de libération de l’Azawad), der nationalen Bewegung für die Befreiung des Azawad, erreicht haben, und warum so viele von ihnen nach Niger flüchten. Ebenfalls bei uns hier kommen gelegentlich kleine Karawanen mit ganzen Familien von Tuareg und hoch beladenen Lastkamelen vorbei und ziehen neben der Piste gegen Osten. Offenbar wollen sie nach Tamanrasset oder in das Gebirge vom L’Aïr, vielleicht in das Gebiet von Agadés. Anfänglich waren Al Kaida und Islamisten Verbündete der Tuareg. Von diesen ausgebootet, war der Traum vom selbständigen Tuaregstaat wieder in weite Ferne gerückt. Für einen allein reisenden Targi könnte es gefährlich werden. Ich äußere meine Bedenken und erhalte prompt die selbstbewusste Antwort, ihm würde sicher nichts geschehen, er sei ein Imuhagh, ein Adeliger! Ob das die Kämpfer der Al Kaida respektieren, die ihn mit ihren weitreichenden Schusswaffen leicht aus dreihundert Metern Entfernung gezielt aus dem Sattel schießen könnten? Fürchtet man sich vor etwas, tritt es unweigerlich ein, wirft er mir an den Kopf. Gut, selbst ich praktiziere dieses Theorem seit Jahrzehnten erfolgreich gegen alle mögliche Krankheiten, aber damit gefährlich aggressive Menschen abzuwehren, ist mir bisher nicht gelungen. Er blickt mich voll Mitleid direkt an und erklärt schonungslos, warum das nicht funktioniert: weil ich eben ein Rumi bin. Danke, das genügt. In Europa wäre das ein Grund, ihn wegen Rassismus zu verklagen.
Bei jedem Stück, das er mit Schnüren an den Kamelen befestigt, protestieren sie gurgelnd. Ich frage mich, ob ihnen das ewige Gurgeln nicht mit der Zeit zu blöd wird? Auf beiden Seiten des Lastkamels hängen die aus Ziegenhaut zusammengenähten, wasserdichten Gerbas. Da sie erst vor Kurzem mit frischem Wasser gefüllt wurden, fallen Tropfen in den Sand, kleine Krater bildend. Neben den Wasservorräten baumeln Bündel trockener Zweige, zum Feuer machen gedacht. Ohne Tee geht nichts in der Wüste. François erscheint in der Türe des Hauses mit zwei in Stoff eingepackten und verschnürten Paketen. Er übergibt sie Akamouk. Der scheint zu wissen, was mit ihnen geschehen soll. Die Sorgfalt, wie sie gepackt sind, lässt die Hand Michelles erahnen. Der Inhalt waren sicher Konserven als Reiseproviant. Unter gewohntem Gebrüll des Kamels werden auch sie am Sattel befestigt. François teilt mir mit, dass das Frühstück vorbereitet ist. Ich gehe hinein, begrüße Michelle, die den Tee bringt, und mache mich daran, das Gebotene zu genießen. Draußen werden die Unmutsäußerungen der Meharis heftiger. François kommt wieder in den Gastraum und überbringt mir einen Gruß von Akamouk. Ich beeile mich, in den Hof zu kommen, aber die Kamele waren zu schnell, so dass sie bei meinem Eintreffen im Hof schon außer Rufweite sind. Er reitet genau gegen Westen die Piste entlang. Nach einigen Kilometern wird er von dieser Richtung abweichen und quer durch die Wüste ziehen. Innerlich wünsche ich ihm viel Glück und hoffe, dass er gesund wiederkommt. François sitzt im Gastraum, gedankenversunken den Kopf mit den Händen stützend. Es ist mir zu mühsam ihn über den Grund seiner Nachdenklichkeit zu befragen. Außerdem brauche ich Ruhe und Konzentration, um die nächste Episode meiner Erinnerungen in den Computer eintippen.
Die bis hierher an meiner Seite gebliebenen tapferen Leserinnen und Leser ersuche ich um Verständnis, dass es in diesen Erzählungen keine ausführlichen Beschreibungen der Städte und Landschaften gibt. Sechs Jahrzehnte sind inzwischen vergangen, und der Status quo würde keinesfalls mit dem von mir damals Gesehenem und Gespeichertem übereinstimmen. Geschichtliches bitte ich bei den großen Kennern Afrikas und Schriftstellern, wie Gustav Nachtigal, Pére de Foucold und Heinrich Barth nachzuschlagen. Für diejenigen, die heute eine Reise planen, gibt es das Internet, Baedeker, oder andere moderne Reiseberichte. Ich bitte daher um Verständnis, wenn ich bei den Schilderungen der Eindrücke bleibe, welche mich besonders berührt und die Jahrzehnte in meinem Gedächtnis überdauert haben:
Casablanca! Allein der Name ist schon Programm. Ich erreichte die Stadt kurz vor Sonnenuntergang, goldgelbes, warmes Licht warf lange Schatten der gar nicht durchwegs weißen Häuser auf die belebten Straßen. Das nur seltene Auftreten von tatsächlich weiß gestrichenen Gebäuden war enttäuschend, konnte mir aber die Stimmung nicht verderben. Ich war einfach glücklich, mich in dieser geschichtsträchtigen und von geheimnisvollem Nimbus umfangenen Stadt aufzuhalten. Ich sollte hier länger als geplant bleiben, denn es dauerte einige Wochen, bis ich Marokko endgültig in Richtung Europa verließ. Eine Jugendherberge in klassischem Sinne gab es, war aber ausgebucht. Ich fand ein anderes, leistbares Quartier in Hafennähe. Das zu finden erforderte ein paar Stunden und es wurde darüber Nacht. Angenehm für mich erwies sich der Umstand, dass keine Anzahlung zu leisten war, nur den Pass musste ich bei der freundlichen Vermieterin abgeben. Müde und zufrieden bezog ich mein bescheidenes Zimmer. Dusche und Toilette waren vorhanden.
Am nächsten Vormittag suchte ich an der mir angegebenen Adresse die österreichische Dienststelle auf. Da sollte ich einen Bekannten meiner Eltern antreffen. Eine recht gutes Deutsch sprechende Sekretärin führte mich in einen Raum, dessen Wände mit Plakaten der Österreichwerbung beklebt waren. Es war der Warteraum des Honorarkonsulats. Ich rechnete mit der Unterstützung dieses Herrn bei Institutionen, wo ich Grundlegendes über marokkanische Musik erfahren würde, sowie bei der Beschaffung eines amtlichen Darlehens zur Heimreise. Meine Geldmittel dafür reichten nicht mehr aus. Streng genommen war ich längst blank. Auf einem Tischchen lagen deutschsprachige Zeitungen. Mich interessierte hauptsächlich ein Artikel, der über eine Reihe von Erdstößen berichtete, die es vor einigen Tagen in der Umgebung von Agadir gegeben hatte. Die sollen Zerstörungen größeren Ausmaßes angerichtet hatte. Wahrscheinlich war das schon eine tektonische Ankündigung für das verheerende Erdbeben, welches sechs Jahre später zehntausende Tote gefordert hatte. Nach kurzer Wartezeit teilte mir die Dame mit, der betreffende Herr sei auf Dienstreise, er würde aber in einigen Tagen wieder im Büro anzutreffen sein.
Da ich für die Zwischenzeit, bis der Angestellte des Konsulats zurück sein würde, nichts Besseres vorhatte, plante ich, nach Agadir zu fahren. Vielleicht kann man dort nützlich sein. Ich holte mein Gepäck aus dem Zimmer, das ich für eine Woche angemietet hatte, und zog gleich los, südwärts. Hier lief das Autostoppen gar nicht mehr so leicht, wie bisher im Norden. Auf diesen etwa zweihundert Kilometern asphaltierter Straße waren wenige Autos unterwegs, und die anhielten, fuhren nur von einer Ortschaft zur anderen. So musste ich recht oft die Fahrzeuge wechseln. Die letzte und längste Strecke verbrachte ich im finsteren Laderaum eines Kastenwagens Marke Citroën H, der am Fließband der Fabrik in seine eckige Form aus Wellblech zusammengeschraubt worden war. In Agadir angekommen, freute ich mich, wieder frische Luft zu atmen. Es war schon Nacht, aber dem Breitengrad entsprechend angenehm warm. So übernachtete ich unter freiem Himmel, eingewickelt in meinen braven grauen Lodenmantel. Ober mir wölbte sich ein unvorstellbarer Sternenhimmel. Das war die erste Erfahrung mit einem südlichen Nachthimmel, und ich wunderte mich, dass so viele Sterne da oben überhaupt Platz haben. Einige darunter blinkten rötlich, andere bläulich, manche verschmolzen zu kleinen leuchtenden Flächen. Ein faszinierender Eindruck im Vergleich zu den sichtbaren Sternen über meiner österreichischen Heimatstadt Wien.
Vor Sonnenaufgang weckte mich die feuchtkalte schnuppernde Schnauze eines Hundes im Gesicht. Ein streunender Mischling aus arabischem Windhund, einem Slugi, und irgendeiner anderen Rasse hielt meinen schlafenden Körper sicher für fressbares Aas. Erst schreckten wir uns beide voreinander. Auf eine Bewegung von mir sprang er einen Meter nach rückwärts und beäugte mich knurrend. Als ich aufstand, rannte er, den Schwanz zwischen die Hinterbeine geklemmt, davon. Die gemauerte Sitzbank, auf der ich die Nacht verbracht hatte, stand nicht weit vom Meeresstrand. Gleich dahinter führte ein asphaltiertes Stück Straße vom Meer weg in die nahe gelegene Stadt. Dort angekommen, konnte mir niemand Auskunft über ein Erdbeben geben, das sich hier kürzlich ereignet haben soll. Gerne hätte ich hier meine mir immanente humane Seite und Hilfsbereitschaft bewiesen. Entweder war die Zeitung im Konsulat uralt, oder ich hatte mich verlesen. Später sagte man mir, es hat wirklich eines gegeben, vermutlich lag es nur an meinen mangelnden Kenntnissen der französischen Sprache.
Die Landkarte zeigte zwei Wege zurück nach „Casa“. Die direkte Straße lief an der Küste entlang, die andere landeinwärts. Die war zwar etwa doppelt so lang, führte aber über Marrakesch. Diese sagenumwobene Stadt übte einen enormen Reiz auf mich aus, dem ich nicht widerstehen konnte. Außerdem kostete die Fahrt dorthin ja nichts. So wählte ich die längere Route. Die schmale Straße führte erst durch besiedelte Gebiete mit einigen Bäumen dazwischen in die Berge hinauf, in die Ausläufer des Atlasgebirges, über den Antiatlas. Je höher und östlicher man kam, umso mehr wurde die Erde rostrot, die Bäume schrumpften zu Büschen, bis auch die verschwunden waren. Erst kurz vor Marrakesch, wo die Landstraße wieder in die Ebene führte, kamen grün bewachsene Gärten mit Palmen und Obstplantagen bis an die Straße heran.
Mit wechselndem Glück war Marrakesch in den letzten tausend Jahren mehrmals die Hauptstadt von Marokko. Stolz zeigte sie das mit ihren uralten imposanten Stadtmauern und märchenhaften maurischen Gebäuden aus mehreren Jahrhunderten. Unnachahmliche Farbenpracht und eine der rigorosesten Bettlerkulturen beherrschten das Stadtbild. Richtiges Betteln gehört hier zum täglichen Leben, denn es ist ein angesehener Beruf, der sich seine Legitimation aus dem Koran holt. Diesen Broterwerb könnte man fast als Kunst bezeichnen. Seit Generationen hatte die Bettlergilde erkannt, körperliche Deformationen, die schon bei Kindern absichtlich herbeigeführt wurden, oder das Abtrennen von Gliedmaßen, führen zu höheren Einnahmen. An solch ungewöhnlichen Praktiken sind diesmal nicht die zahlreichen ausländischen Touristen schuld, die Marrakesch überfluten. Der Islam gebietet Almosengeben als Pflicht.
Nicht nur am großen Marktplatz hatte ich das Gefühl, mitten in einem Varieté zu weilen, mit Schlangenbeschwörern, Musik- und Tanzgruppen, Wasserträgern mit blank geputzten Messingschalen in farbenfrohen Gewändern und die unvermeidlichen Bettler. Alles wie in Farben von Technicolor getaucht, was im Moment den staunenden Reisenden in hohem Maße beeindruckte, aber schnell ermüdete. Ich ließ es bleiben, mich mit den zahlreichen Showbands am Platz näher zu beschäftigen. Gerne hätte ich an einem Tisch vor einem der Kaffeehäuser ein Bier getrunken und das Geschehen aus der Perspektive der in großen Gruppen flanierenden Touristen betrachtet. Doch ein Griff zu meiner Barschaft in die Hosentasche brachte ein überzeugendes Argument gegen ein solches Vorhaben. Einen Moment spielte ich mit dem Gedanken, mich unauffällig unter die Bettler zu mischen. Aber, wie oben erwähnt, war hier betteln eine über Generationen tradierte Kunst, die ich nie vorher geübt hatte, außerdem hätte das Bettlersyndikat solch einen Fremdkörper sicher gewaltsam entfernt. Die gleich beim Markt gelegene Jugendherberge wirkte nicht ungeheuer einladend, weshalb ich nur eine Nacht blieb. Abends, auf meinem Lager liegend, war Zeit darüber nachzudenken, warum ich Städte mit großen Ansammlungen von Einheimischen, mit oder ohne Touristen, stets tunlichst rasch durchwanderte. Ich absolvierte dort nur meine Pflichtübungen und verschwand jedes Mal wieder so schnell als möglich in die einsamere, stille Landschaft, in der ich mich wohlfühlte. Bevor mir ein befriedigender Schluss dazu einfiel, überfiel mich erholsamer Schlaf.
Per Autostopp auf der Route National No. 9 nach Casablanca ging es an Äckern oder Gärten mit Gemüse und Obst, und an zahlreichen Schaf- und Ziegenherden vorbei, wie in südlichen Gegenden Europas. Übergangslos führte ein vierspuriger Boulevard in das Zentrum der Stadt und weiter bis zum Hafen. Nahe davon war mein Quartier gelegen, das wieder nur wenige Straßen vom Konsulat entfernt war. Dieses suchte ich umgehend am folgenden Tag auf. Der Herr, ich will ihn „N“ nennen, ist schon in seinem Büro und die nette Dame vom Empfang meldete mich gleich bei ihm an. Nach Wochen mühsamer Kommunikation, ohne eine der Fremdsprachen vollständig zu beherrschen, war es angenehm, sich wieder in Deutsch verständigen zu dürfen. Darüber hinaus gab es mir ein Gefühl der Geborgenheit. Der Herr N ließ auf sich warten. Auf jeden Fall dauerte es bis zu seinem Erscheinen länger, als es seiner untergeordneten Position im Konsulat angemessen gewesen wäre. Mein Heimatgefühl wurde von den vielen Fremdenverkehrsplakaten rundum unterstützt, und war deshalb ungebrochen. Doch dann erschien Herr N, adrett in dunklem Anzug, aus einem Nebenbüro, denn er war nicht der Chef selbst. Groß und erkennbar gut genährt kam er auf mich zu. Höflich nannte ich meinen Namen und bestellte, wie aufgetragen, die Grüße meiner Eltern. Gut erzogen wartete ich, bis er mir seine Hand reichen würde – doch umsonst. Ja, ja, er wüsste, worum es geht, aber leider, leider kann er mir nicht mit Geld für die Rückreise nach Wien helfen. Das Konsulat hätte kein Budget für solche Fälle, das muss man in Rabat bei der Botschaft anfordern, doch das dauere … und so fort. Das Heimatgefühl hat sich daraufhin wie fünfundneunzigprozentiger Alkohol ohne Rückstände verflüchtigt, und mein Selbstgefühl verbot es mir, weiterhin zu insistieren. Was ich schon anfangs vorgehabt hatte, jetzt war der richtige Moment gekommen, um sich kleinlaut nach etwaiger Arbeit im Lande zu erkundigen. Die wäre notwendig, da ich Geld für Lebensmittel und die Unterkunft verdienen müsste. Er würde sehen, was sich machen lässt. Auf seine Frage gab ich ihm meine Adresse. Man würde mich dort verständigen, sobald eine kostenlose Möglichkeit für eine Heimfahrt gefunden wäre. Was immer das sein kann, ich musste mich damit abfinden. Mit einigem Zorn in der Bauchgegend gegen österreichische Konsulate im Allgemeinen und Honorarkonsuln im Speziellen, eilte ich in meine Bleibe.
Abgebrannt bis auf den letzten Dinar stellte sich die Aufgabe, diese Situation zu bewältigen. Aber auf wie lange? Und wie zahle ich das Quartier? Die Chefin des Etablissements gab sich mit der Erklärung zufrieden, dass ich auf Geld vom Konsulat warte und bis zu dessen Eintreffen gerne eine bezahlte Beschäftigung hätte. Aber ebenso hier gab es keine befriedigende Auskunft. Doch am nächsten Tag kam ein Bote von Herrn N. mit der Mitteilung, es gäbe Arbeit für mich. Ich soll beim United Seamen’s Service nachfragen, denn manchmal nehmen sie dort Personal für Aushilfsarbeiten auf. Zehn Minuten waren es zu Fuß bis zum Hafen, dem Boulevard folgend. Das USS war in einem flachen, schneeweißen und sauberen Gebäude untergebracht, mit einem freundlichen Amerikaner im Vorraum. Er hörte sich mein Anliegen an und führte mich in ein Büro. Kein Problem, das Konsulat hätte schon angerufen. Ob ich denn putzen und reinigen würde? Yes Sir – und ich hatte den am schlechtesten bezahlten Job meines Lebens. Vordringlich wäre es, das Pissoir und überhaupt die Toiletten zu pflegen. Anscheinend hat Herr N. die Bitten meiner Eltern, sich um mich zu kümmern, etwas falsch verstanden und er meinte Erziehungsmaßnahmen setzen und mir die Gefahren des Lebens im Ausland beibringen zu müssen.
Zu meinem Glück lag im Moment kein größeres Schiff im Hafen, dessen Besatzung die Annehmlichkeiten, und Toiletten des Seamen’s Service beanspruchte. Ich war somit vierzehn Tage lang der Einzige, der diese Räumlichkeiten frequentierte. Der Geruch des mit Zitronenaroma angereicherten Scheuermittels, welches ich zum Reinigen der wegen des Nichtbenützens immer sauberen Nassräume erhielt, hat sich unauslöschlich in mein Gedächtnis eingebrannt. Die meiste Zeit verbrachte ich damit, den Großteil des verdienten Geldes in die Jukebox zu stecken und „Life could be a dream“ von den Crewcuts abzuspielen. Diese „45er“ war nach den zwei Wochen sicher nicht mehr brauchbar! Eines Tages, ich hatte mich an das Essen und die bequeme Arbeit gewöhnt, kam Herr N persönlich mit der Nachricht, es gäbe die Möglichkeit auf einem Frachtschiff nach Marseille mitzufahren. Er hat dem Kapitän von meiner Situation erzählt und ich könnte, wenn ich wollte, mitfahren. Da ein Matrose ausgefallen war, müsste ich aber auf dem Schiff mitarbeiten. Warum nicht, obwohl ich begründete Bedenken gegen Vermittlungen von dieser Seite hegte. So packte ich meine Sachen, holte den für die Miete als Pfand eingesetzten Pass, sagte im United Seamen‘s Service Good by und suchte das angegebene Schiff im Hafen. Die Hafenbehörde erklärte mir, an welchem Peer der Frachter eben beladen wurde.
Das Motorschiff Yvette war knappe fünfzig Meter lang, der Aufbau mit der Brücke befand sich achtern, der Rostfraß am Rumpf hatte vertrauenswürdige Dimensionen noch nicht überschritten und die Wasserlinie war beruhigend weit über dem Meeresspiegel. Was sollte mich daran hindern, die Rampe hinauf an diesem Kahn zu erklimmen und in den geplanten drei Tagen europäisches Festland zu erreichen. Leider verstand der erste Mann an Bord, den ich für einen Matrosen hielt, mein Anliegen nicht und zeigte nur stumm in Richtung der Kommandobrücke. Der Anweisung folgend kletterte ich in den zweiten Stock zur Brücke hinauf. Durch eine Schiebetüre ging es in einen breiten Raum, in dem ein großes Ruderrad vor einem gewaltigen Kompass stand. Ein Offizier, es war der Kapitän in einer nicht mehr so ganz sauberen, wahrscheinlich weiß sein sollender Uniform, empfing mich. Seine Englischkenntnisse entsprachen den meinen, was der Kommunikation zwischen uns entgegenkam. Noch bevor ich Tasche und Lodenmantel sicher verstauen durfte, wurde mir gleich Arbeit aufgetragen. Aha, der Herr N. hat entsprechend seiner eigenartigen Auffassung von Hilfestellung vermittelt. Die Nahtstellen der Deckplanken des gesamten Schiffsdecks waren mit einer, schwarzem Teer ähnlichen Masse ausgegossen. Doch diese hatte die Eigenschaft, bei intensiver Einwirkung afrikanischer Sonne zähflüssig zu werden und sich dabei auszudehnen. Es war Hochmittag, der Teer trat aus den Fugen aus und blieb beim Begehen an den Schuhen kleben. Das würde an Deck und im Inneren des Schiffes schwarze klebrige Flecken hinterlassen. Folglich musste er mittels eines geeigneten Instrumentes in die Spalten zurückgedrängt werden. Vertrauensvoll übertrug die Schiffsleitung dem neu Angekommenen diese wichtige Aufgabe. Man drückte mir eine Art breiten stumpfen Meißel sowie einen Hammer in die Hände. Auf der schattenlosen Kommandobrücke wurde mir ein abgegrenztes Areal von etwa zehn bis zwölf Quadratmetern zur Bearbeitung zugewiesen. Da ich unbedingt meine Arbeitsfähigkeit und -bereitschaft zu beweisen trachtete, und darüber hinaus unter Beobachtung von der Innenseite durch die Fenster der Brücke stand, legte ich mit enormem Elan auf den Knien rutschend los. Doch es war mühsamer, als angenommen. Trotzdem bewältigte ich einen großen Teil der mir gestellten Aufgabe in vom Zorn getriebenem Tempo. Es ist zu verstehen, dass meine Vergleiche, die ich mit Galeerensträflingen zog, nicht unberechtigt waren. Heilfroh war ich, zu sehen, dass das Deck bis zum Vorschiff vollständig mit Ladegut zugestellt war, selbst zwischen den Ladeluken und der Reling steckten Kisten und Fässer. Was mich der Sorge enthob, dazu gezwungen zu werden, das gesamte Schiff mit Meißel und Hammer zu bearbeiten.
Abends gab es eine Mahlzeit, was bedeutete, dass ich von der Schiffsleitung als Mitglied der Besatzung angenommen worden bin. Mir wurde die Kajüte des Kochs zugewiesen, der in die seines Freundes zog. Aus diesem Umstand keine Schlüsse ziehend, fiel ich todmüde in die Enge der Koje, nicht ohne vorher die runde Luke weit zu öffnen. Die Mannschaftskabinen lagen im Heck, knapp oberhalb der Wasserlinie und hatten deshalb Tageslicht. Meine Handflächen schmerzten und ich schlief mit weit von mir gestreckten Händen erschöpft ein. Deren überbeanspruchte Innenseiten kühlte ein leichter Lufthauch, der durch die geöffnete Luke zog. Aus größerer Distanz drang das Anwerfen der Schiffsmotoren zwar in mein Bewusstsein, doch übermannte mich gleich wieder tiefer Schlaf.
Geweckt wurde ich durch den schrillen Ton einer fernen Trillerpfeife und das näherkommende Schlagen von Kajütentüren. Die zu meiner Koje führende wurde aufgerissen, aber der scharfe Ton Pfeife blieb im Ansatz stecken. Der Maat schloss behutsam wieder die Türe und ließ mich über die folgende Wache weiterschlafen. Das war zutiefst menschenfreundlich, er hat sicher die blutverschmierten, weit von mir gestreckten Hände gesehen. Die Blasen, die ich mir durch die für mich ungewohnte Arbeit geholt hatte, waren während des Schlafes geplatzt. Doch einmal wach, wurde ich neugierig und kroch aus der Koje. Die Verletzungen der Hände weniger dramatisch, als sie aussahen. Trotz der Blessuren waren mir waschen und anziehen möglich. Ich beeilte mich, auf Deck zu kommen, denn der Frachter befand sich in voller Fahrt. Oben angekommen, zweifelte ich an meinem Orientierungsvermögen, weil die Morgensonne stand backbords über der nahen Küste Afrikas, demnach links der Fahrtrichtung. Ginge die Fahrt nach Norden, sollte das doch genau umgekehrt sein! Das war aber nicht der Fall, wir schipperten Richtung Süden. An der Richtigkeit meiner Entscheidung zweifelnd, dieses Schiff für die Heimfahrt bestiegen zu haben, befragte ich einen müßig an der Reling stehenden Matrosen. Der verstand weder englisch noch deutsch, er wies nur mit ausgestrecktem Arm zur Kommandobrücke hinauf. Diese Weisung kannte ich doch schon. Ein Wunder, dass die Kommunikation auf der gesamten Fahrt ausschließlich mit wenigen, international gültigen Handzeichen klappte. Das Schiff war nämlich von einer Reederei gechartert, die auf den Färöer-Inseln beheimatet war. Ein bisschen kam ich mir auf dieser Fahrt wie ein Taubstummer vor, der darüber hinaus die Taubstummensprache nicht beherrscht. Wie viele jugendliche Wiener beherrschen schon Färö? Aus Bruchstücken von Worten und Zeichen kombinierte ich, dass wir sehr wohl nach Europa führen, aber vorher etwas Ladegut in Dakar, Senegal, aufnehmen müssten. Ein kleiner Umweg von knapp dreieinhalb tausend Seemeilen.
Ich wurde dem freundlichen Koch, der mir seine Kabine überlassen hatte, zur Unterstützung in der Kombüse zugeteilt. Nein, er war binär veranlagt, denn ich hatte schon vorher in seiner Koje rundum an den Wänden klebende Pin-ups von Alberto Vargas bemerkt. Die Arbeit erschöpfte sich im Hin- und Hertragen von Geschirr zwischen der Küche und dem Speiseraum, je nach Richtung mit vollen oder leeren Tellern. Meiner Integration in die Besatzung war das keineswegs ungeheuer dienlich. Doch dann kam der Moment, in dem ich beweisen durfte, mehr Qualitäten zu besitzen. Es gab eine Sturmwarnung, wenigstens glaubte ich, diese Ankündigung als solche verstanden zu haben. Die zwischen Reling und Ladeluken lose gelagerten Fässer mussten gesichert werden. Schwere, aus Tauen angefertigte Netze wurden herbeigeschafft und sollten in die dafür vorgesehenen Haken sowohl an den Rändern der Luken, als auch außen an der Reling eingehängt werden. Zwei Matrosen befestigten das Geflecht an der Ladeluke. Mehr zufällig als absichtlich fand ich mich auf der schmalen Brüstung stehend wieder, ausschließlich das über die Fässer zu spannende Netz als Halt vor einem Absturz. Weit musste ich mich rückwärts nach außen lehnen, um mit meinem Gewicht die Abdeckung zu spannen. Tief unter mir tobte der aufgewühlte Atlantik. Nachdem das klobige Netz befestigt war, waren die Handflächen zwar wieder in Mitleidenschaft gezogen, aber dafür klopften mir Mitglieder der Crew anerkennend auf die Schultern.
Was diese sprachlose Aufnahme in den Kreis der Matrosen für Vorteile hatte, sollte ich im Hafen von Dakar erfahren. Dort angekommen durften wir das Schiff verlassen. Meiner unstillbaren Neugier folgend, war es mir ein Bedürfnis, bei dem Landgang die Stadt erkunden. Da ich an Bord sonst nichts zu tun hatte, verließ ich vor den weiterhin arbeitenden Matrosen und ohne Begleitung das Hafengebiet, und war bald von Halbwüchsigen umringt. Die verlangten äußerst aggressiv ein „Cadeau“, ein Geschenk. Erst nahm ich das nicht sonderlich ernst, doch als sie mir in die Brusttaschen meines Hemdes griffen, musste ich mich wehren. Das ergab eine brenzliche Situation, die schwarzen Buben waren weit in der Überzahl. Urplötzlich verschwanden sie in der Dunkelheit. Ich hatte ihr Kommen nicht bemerkt, hinter mir standen fast vollzählig die blonden Matrosen der Yvette, jeder mit irgendetwas Langem in der Hand und grinsten. Erst viele Jahre später war es mir möglich, Dakar kennenzulernen.
Ohne beachtenswerte weitere Geschehnisse fuhren wir endlich in Richtung Norden. Bei einer Besatzungsstärke von nur fünfzehn Mann gab es keine Rangunterschiede, jeder musste die Arbeit verrichten, die im Moment anfiel. So ergab es sich, dass ich eines Abends Dienst am Ruder versah. Es herrschte Dunkelheit auf der Kommandobrücke, nur die Instrumente und der Kompass waren beleuchtet. Wir erreichten die Höhe der Straße von Gibraltar. Der erste Offizier kam zu mir und gab in liebenswertem Färöisch-Englisch einen Kurswechsel an. Ich war auf dem Boot in letzter Zeit gewohnt, Anweisungen auf Grund der paar Brocken, die ich verstand und den die Worte begleitenden Gesten zu interpretieren. Und weil dies meistens richtig war, hatte ich auch diesmal keine Bedenken, meiner Intuition zu folgen. Die Interpretation der aktuellen Anordnung besagte, das Schiff solle langsam auf 310 Grad Nordost drehen. Demnach bewegte ich das Ruder höchst bedächtig nach Steuerbord, so wie ich die Anweisung verstanden hatte.
Wir fuhren auf das vor uns liegende, hell erleuchtete Gibraltar zu. Es war recht aufregend und romantisch zu erleben, wie auf dem Wasser tief unter mir die Positionslichter winziger Boote rings um den Frachter tanzten. Es waren Fischerboote, in denen Menschen uns zuwinkten, südländisch wild gestikulierten und etwas riefen, was hoch oben auf der Brücke nicht zu verstehen war. Das Schiff befand sich in voller Fahrt, da die Türe zum Navigationsraum geöffnet, der diensthabende Offizier eilte zum großen Kompass vor mir, auf dem sich die Nadel in exakt diesem Moment auf 310° NO einpendelte. Das Schiff wurde gestoppt, und der Schiffsoffizier fuhr im Kommandoraum hinter mir mit dem Zirkel aufgeregt über seine Seekarte. Er vermittelte den Eindruck schlechten Gewissens. Auf seine neuerliche Anweisung hin, drehte ich das Ruder hart Steuerbord, so dass wir uns vorsichtig Richtung Osten tasteten. Erst nachdem das letzte Fischerboot hinter uns lag, wurden die Maschinen wieder hochgefahren. Dieser brave Seefahrer verhinderte jedenfalls, dass ich berühmt wurde. Das MS Yvette wäre der erste Frachter gewesen, der in der Stadt Gibraltar direkt auf der Buena Vista Road angedockt hätte. Da mich keine Schuld traf, durfte ich in dieser Nacht weiter das Ruder bedienen. Lange vor Sonnenaufgang wurde ich abgelöst.
Die Einfahrt in den Hafen von Marseille übernahm später der Kapitän höchstpersönlich mit seinen geschulten Mannen. Er hatte sich vorher in eine blitzsaubere frische Uniform geworfen. Fehlerlos legten wir am französischen Festland an. Erst nach eindringlichen Erklärungen, wie ich denn durch halb Europa ohne finanzielle Mittel bis Wien kommen sollte, gab mir der Kapitän ein paar tausend Franc. Die waren ehrlich verdient, schließlich hatte ich brav gearbeitet. Der Herr N aus Casablanca hatte mit seinen versuchten Erziehungsmethoden kein Glück.
Ich beschloss, Marseille zu besuchen. Es ist eine liebenswerte Stadt mit südeuropäischem Charme und bunten Märkten. Da ich Hunger und ausreichend Geld hatte, bestellte ich mir in einem Bistró am Fuße des Hügels von Notre Dame du Mont einen Riesentopf Bouillabaisse. Das ist die berühmte französische Fischsuppe, die damals noch eine billige Nationalspeise war, heute aber eher in die Kategorie Luxus fällt. Ich wollte heimwärts, nach Wien. Gestärkt und zufrieden lief ich durch die Stadt zur Landstraße, die in Richtung Paris führte.
Zu nachtschlafender Zeit klopft es an der Türe meines Turmgemachs. Erschreckt fahre ich hoch. François ruft von draußen, dass wir losfahren müssten. Ich schalte das Licht an, denn nicht einmal der Mond leuchtet in das Zimmer. Die Erinnerung wird wach, dass mich der Wirt am Abend eingeladen hat, mit ihm auf die Jagd nach Gazellen zu fahren. Der frühe Morgen ist in der Sahara ziemlich kalt. Rasch ziehe ich Pullover und Windjacke an und beeile mich hinunter in den Hof zum Toyota. Der Motor des Wagens läuft schon. Ich steige auf der Seite des Beifahrers ein, und wir starten in die Nacht. Auf der rückwärtigen Sitzbank liegen zwei mit Stricken gesicherte Jagdgewehre. Wir fahren einige Kilometer auf der Piste gegen Osten und biegen bei einer kleinen Wegmarkierung nach rechts, in südlicher Richtung von der Hauptpiste ab. Im Scheinwerferlicht ist ein schmaler Weg mehr zu erahnen, als zu sehen, dem wir etwa eine Stunde in gemäßigterem Tempo folgen. Im aufkommenden Dämmerlicht des Morgens erscheinen links und rechts von der Piste langsam genauere Konturen von Steinen und Bodenerhebungen, und Farben lassen sich erkennen. Die ausgefahrenen Spuren der Strecke werden schon auf größere Entfernung sichtbar.
Abrupt und ohne ersichtlichen Grund hält François den Wagen an und stellt den Motor ab. Wir steigen aus und wenden uns gegen Osten. Die Luft ist empfindlich kalt, die absolute Stille der Wüste wird zwischen dem lauten Knacken des auskühlenden Autos greifbar. Ein kurzes, eindrucksvolles Schauspiel bietet sich uns, der tägliche Sonnenaufgang in der Sahara. Ober und hinter uns herrscht am Himmel nächtliche Dunkelheit, von Schwarz zu dunklem Blau übergehend, mit einigen verblassenden Sternen dazwischen. Am Horizont beginnt es hellblau zu werden, das leicht ins Grün verschwimmende Licht gegen den oberen Rand zu, kündigt den neuen Tag an. Über den zerklüfteten Felsen erscheint ein stetig größer werdender Teil des riesigen, goldfarbenen Sonnenballs. Ich glaube nachempfinden zu können, was Richard Strauß beim Komponieren der Alpensymphonie, sowie der symphonischen Dichtung Zarathustra gesehen, empfunden und in Musik umgesetzt hat. Ich öffne die Jacke und spüre die ersten Sonnenstrahlen durch den Pullover auf meiner Brust. Da erinnere ich mich an die aus Goethes Faust zitierende samtig-warme Stimme des Schauspielers Stefan Fleming:
„Die Sonne tönt nach alter Weise
In Bruderspären Wettgesang,
Und ihre vorgeschriebne Reise
Vollendet sie mit Donnergang“
Vor allem in der Wüste, wo sie auf ihrer Bahn vom Leben versprechenden Aufgang nach kurzer Zeit zur tödlichen Bedrohung wird, vermeint man das Dröhnen der Sonne zu hören. Ich fühle mich bei heftigen Emotionen ertappt, doch ein Blick hinüber zu meinem Freund sagt mir, dass ihn ähnliche Empfindungen ergriffen haben.
Zur Weiterfahrt biete ich François an, das Steuer des Autos zu übernehmen. Er kennt die Plätze, wo sich Wild aufhält, und hat vom Beifahrersitz den besseren Überblick. Obwohl es mich reizt, selbst zu jagen, lasse ich ihm den Vortritt. Das Fenster auf meiner Seite ist geöffnet und ich genieße den frischen Fahrtwind. Wir nähern uns einem, von felsigen Hügeln umgebenem breiten Tal, dessen zarter Grasbewuchs den Eindruck des nicht Realen verstärkt. Und mitten in dieser friedlichen Oase äsen weit auseinandergezogen einige Rudel von insgesamt geschätzten zwanzig bis dreißig Dünengazellen. Eine prächtiger als die andere. Um auf Schussentfernung an die scheuen Tiere heranzukommen, brauchen wir die Sonne im Rücken. Francois greift sich ein Jagdgewehr vom Rücksitz. Meine Jagdkenntnisse, die ich mir im Busch vor Jahrzehnten aneignete, kommen mir jetzt zugute. In großem Bogen umfahre ich die Herde zügig und halte in geeigneter Distanz von den Tieren so, dass François eine günstige Position zum Schießen hat.
Verehrte Jünger des europäischen Waidwerks, die ihr möglicherweise diesen Blog lest, überspringt die nächsten Zeilen, um Ärger von euch fernzuhalten. In Afrika gelten für die Jagd andere Gesetze, als in den heimischen Wäldern. François und ich haben vorher nicht darüber gesprochen, doch wissen wir beide aus langjähriger Erfahrung, dass man auf keinen Fall aussteigen darf. Die Gazellen würden beim Abstellen des Motors oder der geringsten Bewegung einer Wagentüre flüchten und auf lange Zeit nicht mehr zurückkommen. Ein Auto außerhalb der für sie Gefahr bedeutenden Distanz, egal ob es steht oder fährt, beunruhigt sie überhaupt nicht. Die Tiere äugen kurz zu uns herüber, da wir regungslos sitzen bleiben, fahren sie mit der Futteraufnahme fort. François kurbelt äußerst behutsam die Scheibe auf seiner Seite ein Stück hinunter. Trotz der angewandten Vorsicht heben alle Gazellen sofort ihre Köpfe und stellen die Lauscher in unsere Richtung. Beide wagen wir es kaum zu atmen. Bedächtig lädt er durch und schießt. Ein großer Bock wird in die Höhe gewirbelt und fällt zu Boden, wo er regungslos liegen bleibt. Die Herde schaut erstaunt kurz zu uns herüber, um dann seelenruhig weiter zu äsen. Das war ein sauberer Schuss, direkt ins Herz. François fragt mich aus Höflichkeit, ob ich Lust hätte, ebenfalls eine Gazelle zu schießen. Ich lehne dankend ab. Natürlich wurde ich im Laufe der Expeditionen ein erfolgreicher Jäger, doch ausschließlich zur Beschaffung von Nahrung, niemals für Trophäen. Das Anfahren des Toyota lässt die Herde flüchten. Wir fahren zu dem erlegten Wild. Ich hatte Recht, es war ein Blattschuss par excelence. Wir heben das gewiss vierzig Kilo schwere Tier in den Laderaum, wonach der glückliche Jäger eine Flasche Rotwein aus der Tasche zieht und wir uns jeder ein paar kräftige Schlucke daraus genehmigen..
Am frühen Nachmittag erreichen wir das Anwesen und fahren direkt in die Garage. François bindet der Gazelle die Hinterbeine zusammen, schwitzend heben wir den Bock aus dem Auto und hängen ihn an einem Haken Kopf nach unten an der Garagenmauer auf. Michelle empfängt uns mit einem späten Mittagessen. Anschließend holt der Hausherr eine Reihe von Gefäßen aus Kunststoff, sowie zwei scharfe Messer zum Aufbrechen der Jagdbeute aus der Küche, und trägt sie in die Garage. Ich lasse ihn bei dieser Arbeit allein, denn es ist Zeit für eine Siesta. Es war ein langer Vormittag, außerdem plagt mich das Gewissen, heute noch nichts geschrieben zu haben. Deshalb war die Ruhepause kurz. Erfüllt von den Erlebnissen des Tages, öffne ich den Laptop und schreibe die Fortsetzung meiner Erinnerungen an die allererste Afrikareise und der glücklichen Ankunft in Europa:
Ich hatte Glück. Bei der Ausfahrt von Marseille hielt eine Panhard Dyna-Limousine. Dieses Auto hatte einen luftgekühlten 2-Zylinder Boxermotor, der die Vorderräder antrieb. Der französische Volkswagen. Nicht mehr ungewohnt war das gelb eingefärbte Licht der Scheinwerfer der Entgegenkommenden. Das war in Frankreich für alle Kraftfahrzeuge vorgeschrieben, folgerichtig ebenso in Algerien. Man konnte sich die Zeit als Beifahrer damit vertreiben, indem man die ausländischen Fahrzeuge zählte, die an den normalen weißen Lichtern erkenntlich waren. Während der langen nächtlichen Fahrt nach Norden erfuhr ich, der Mann am Steuer war Dr. Jaques Nehlil, ein nicht nur in Frankreich bekannter Neuropsychiater. Er kam direkt aus Algerien, wo er Studien mit Kindern getätigt hatte. Er wollte heim nach Paris und ich durfte am Ende der Fahrt mit ihm bis in die Stadt fahren. Docteur Nehlil setzte mich frühmorgens am Place de la Concorde ab. Aus dieser Begegnung sollte später ein über Jahre andauernder, fast freundschaftlicher Kontakt entstehen.
Die Lampen der Straßenbeleuchtung waren noch nicht ausgeschaltet, und wetteiferten mit dem herandämmernden Tageslicht. Vereinzelt kurvten Autos im Kreisverkehr um den Obelisken. Ich bewegte mich an der unteren Einmündung der morgendlich verwaisten Champs Elysees, als ich von einer im Dunkel liegenden Parkbank her ein freundlich klingendes „Eh – Bon jour“ hörte. Ein einsamer Clochard mit grauen Haaren und ebensolchem Bart zwinkerte mich unter buschigen Augenbrauen an. Er sprach einen schauderhaften Dialekt, nämlich Argot. Das schloss von vorne herein eine intensivere Unterhaltung aus, verstand ich doch damals selbst richtiges Französisch nur marginal. Mit unmissverständlichem Handzeichen bedeutete er mir, mich zu ihm zu setzen. Meinen grauen Lodenmantel eng herumgewickelt nahm ich auf der Bank Platz. Vermutlich hatte der Mann sofort mitbekommen, dass ich ihn nicht verstand, denn er war äußerst schweigsam. Er bot mir aus einem Papier ein erheblich schmuddeliges Stück Baguette an, das mit etwas Undefinierbarem belegt war. Ich lehnte dieses Angebot freundlich aber explizit ab. So wirklich geheuer war mir diese Begegnung nicht, doch dann schenkte er aus einer fast vollen Flasche Rotwein in einen Becher und reichte mir diesen. Hatte ich vorher schon das Brot abgelehnt, beleidigen wollte ich ihn nicht mit einer neuerlichen Abfuhr. So wanderte der Becher zwischen uns hin und her. Alkohol desinfiziert, dachte ich mir, und gar so unappetitlich sah der Mann selbst auch wieder nicht aus. Ich hatte abermals Glück gehabt. Denn viele Jahre später erfuhr ich anlässlich einer Dokumentation am Montmartre, dass ein Clochard, der etwas auf sich hält, den Rotwein mit einem Esslöffel zu sich nimmt. Aber dieser war ja nicht dort, sondern im Zentrum der Stadt.
So saßen wir schweigend und am Wein nippend beim Kreisverkehr der Concorde und erlebten miteinander das Erwachen der Großstadt. Inzwischen war es hell geworden, eine Menge Autos hatten die Straße in Besitz genommen. Es wurde laut und ungemütlich. Somit verabschiedete ich mich von dem edlen Spender des Weines mit einem Händedruck. Er hatte erstaunlich zarte und warme Hände.
Wien war zwei Tage später erreicht. Es dauerte kurze Zeit, bis ich mich wieder akklimatisiert hatte, war aber weit entfernt davon, meine Pläne für Afrika aufzugeben. Die diplomatischen Aktivitäten wegen des Staatsvertrags für Österreich mit den Alliierten, im Besonderen die mit der widerspenstigen Sowjetunion, waren im Laufen. Die Ergebnisse der Verhandlungen schwankten zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt. Da ergab es sich glücklich, dass den wodkageeichten russischen Politikern österreichische Diplomaten gegenüber saßen, die ebenfalls recht trinkfest waren. Gemischt mit dem in Wien traditionellen, feinen chassidischen Humor, war der Alkohol hilfreicher Mediator bei den Gesprächen. Den positiven Erfolg ausschließlich auf die Wirkung des Weines herunter zu brechen, wäre eindeutig falsch, denn Österreich hatte damals überragende Diplomaten.
Selbstverständlich besuchte ich wieder den Strohkoffer und fand dort alles beim Alten. Maler, Bildhauer, Musiker, Dichter, Schauspieler und Alkoholiker waren nach wie vor die mir bekannten Besucher. Obwohl, es war eine leichte Verdünnung zu bemerken. Der engste Kreis des Artclubs war in das Dom Café in der Singerstraße umgezogen. Darüber hinaus hat sich mittlerweile in der Adebar so etwas wie eine Konkurrenz zum Strohkoffer gebildet. Auch das traditionsreiche Café Hawelka war ein Treffpunkt, der das Kellerlokal Gäste kostete. Eines Abends freundete ich mich mit einem jungen Mann an, der im Strohkoffer meistens mit umgebundener Krawatte erschien. In seiner Sprache unterschied sich Konrad Bayer von der durch wienerischen Dialekt geprägten Umgebung mit gewähltem Deutsch. Er hatte eine zauberhafte Freundin und wir saßen einige Male zu dritt in seiner Wohnung und plauderten. Leider haben wir uns bald danach, bedingt durch meine längere Abwesenheit von Wien, aus den Augen verloren. Der Selbstmord Konrads hat mich tief berührt. Nachdem er so eine finale Handlung setzte, blieben nie mehr zu beantwortende Fragen über meine mögliche Mitschuld nicht aus. Wären Gespräche mit ihm von Nutzen gewesen, hätte ich mich nach der Reise um ihn bemüht?
Seit der Rückkehr aus Nordafrika überschlugen sich bis zur nächsten Afrikafahrt die Ereignisse. Frech begab ich mich mit den von mir angefertigten rudimentären Aufzeichnungen ins Unterrichtsministerium, um eine Unterstützung für die folgenden geplanten Arbeiten zu erbitten. Heinrich Drimmel war damals Unterrichtsminister. Entgegen den Erwartungen und ohne überbordende Bürokratie erhielt ich für eine weitere Forschungsfahrt die staatliche Subvention von fünftausend Schilling. Das war für das Vorhaben, wie ich es mir vorstellte, nicht unbedingt ausreichend, aber ein beachtlicher Grundstock.
Mit nicht geringem Stolz über diesen Erfolg teilte ich diese Neuigkeit dem besten Freund, Mackie Lersch brühwarm mit. Es war winterlich in Wien, wir saßen in der Loosbar an der Theke, vor jedem stand ein Glas Rotwein. Ich eröffnete ihm meinen Plan, im April wieder nach Afrika zu fahren. Spontan kam von ihm der Vorschlag, wenn ich ein bisschen warten könnte, er würde seine Lokale verkaufen und es wäre dann möglich, die Expedition gemeinsam zu unternehmen. Max „Mackie“ Lersch, zu dem ich bewundernd aufblickte und zu dem mich über lange Zeit tiefe Freundschaft verband, war zehn Jahre älter und um ebendiese Lebenszeit reifer als ich. Meine Freude war groß, dieser Mann wollte sein Leben hier aufgeben und sich mir anschließen! Auf Grund jener Entscheidung vergingen viele arbeitsame Monate, bis alle Vorbereitungen für eine Expedition erledigt waren. Darüber, ob diese enthusiastische Zusage zur Zusammenarbeit meiner eigenen weiteren Lebensgestaltung zuträglich war, habe ich nicht nachgedacht. Für ihn hingegen, nachdem er sein Erbe vertan hatte, bedeutete jener Augenblick auf jeden Fall eine Perspektive für seine Zukunft und eine Wende in seinem Leben zum richtigen Zeitpunkt.
Zwischenkapitel: Gelegenheitsarbeiten
In der Zeit bis zur Abfahrt der Expedition, die sich immer wieder verschob, war ich genötigt neben den anstehenden Vorbereitungen etwas Geld zu verdienen. Dadurch ergaben sich einige recht kurzweilige Episoden. Ich suchte nach einer Beschäftigung, die genügend Zeit für die Durchführung einer größeren Expedition ließ, die aber jederzeit zu kündigen war. So bewarb ich mich bei der Compagnie Internationale des Wagons-Lits, der europäischen Schlafwagen- und Speisewagengesellschaft, um den Posten eines Buffetkellners. So ein Job schien mir recht romantisch und vom Ertrag zufriedenstellend zu sein. Im eitlen Bewusstsein, einmal eine Bar geleitet zu haben, legte ich den zuständigen Herren meine Erfahrungen dar und wurde prompt engagiert.
IIn diesen frühen Jahren waren die Folgen des Krieges noch nicht vollends überwunden. Weil es an geeigneten modernen Eisenbahnwagons mangelte, hatte man nach einer praktikablen Lösung für die Verpflegung der Fahrgäste der Fern- und Nahzüge gesucht. Kurzerhand haben die ÖBB für Wagon-Lits in jedem Schnell- und Triebwagenzug jeweils ein WC zu einem Arbeitsraum für mobile Buffets umgebaut. In diesem engen Umfeld gab es außer dem Waschbecken weiterhin etwas Platz für ein Wandschränkchen und eine elektrische Kochplatte. Auf der Plattform vor der ehemaligen Toilette stand eine mit nicht rostendem Blech ausgelegte, grau angestrichene Kiste, die mit einem Vorhangschloss zu versperren war. Mit von großen Blöcken abgeschlagenen Eisstücken gefüllt, wurden darin Handelswaren wie Bier, Stifterln Wein, Limonaden und Mineralwasser gekühlt. Vor jedem Dienstantritt bekam ich einen aus festem Draht gefertigten Tragekorb ausgehändigt. Auf der Westbahnstrecke gab es eine Abmachung mit der Wiener Gastronomie, dass man erst in Niederösterreich mit der Verkaufstätigkeit beginnen durfte. Ab Amstetten lief ich durch den gesamten Zug, Getränke, Kekse und Schokoladen anpreisend. Im „Blauen Blitz“, dem Großraumtriebwagen, war das leicht, aber in den langen Zügen mühsam, da diese nur Abteile mit Schiebetüren hatten, die von mir zu öffnen und zu schließen waren.
Da waren Tage, an denen ich gewinnbringend arbeitete, aber es gab ebenso einige, die meinen gesamten Verdienst vernichteten. Es war in einem Zug nach Salzburg, das Geschäft mit den Goodies lief, bis der zweite Durchgang mit den heißen Würstchen darankam. Um mit dem Verkauf dieser gleich an den ersten anzuschließen, hatte ich vor dem Rundgang in schlauer Absicht alle vierzig Paare Frankfurter in einem großen Topf mit Wasser auf die ausgezeichnet funktionierende Kochplatte gestellt. Ich kam von meiner Tour durch den überaus langen Schnellzug in das umgebaute WC zurück und fand die Würstchen im Topf heiß vor. Und zwar derart, dass sie durchgängig aufgeplatzt waren und wie fleischfarbige Palmblätter auseinanderfielen. Durch das ausgiebige Kochen waren sie geschmacklos, äußerst unansehnlich und damit unverkäuflich zerkocht. Lebensmitteln wegwerfen geht nicht, so vergingen Jahre, bis ich wieder Frankfurter Würstchen zu essen vermochte. Der finanzielle Gewinn dieses Arbeisttages war hiermit nicht nur vernichtet, ich hatte Schulden bei Wagon-Lits abzuarbeiten.
An einem anderen Tag, es war im „Blauen Blitz“, einem Triebwagenzug, da gab es einen nicht herunter gelassenen Übergang zwischen zwei Triebwagen. Im Vertrauen auf die Unfehlbarkeit der ÖBB-Mitarbeiter habe ich das fehlende Trittbrett übersehen. Um Haaresbreite hätte es mir bei diesem Fehltritt ein Bein abgetrennt. Ich hatte das Glück, ein Kabel zu erwischen, an dem ich mich festklammern und wieder hochziehen konnte. Aber leider waren der mit Waren gefüllte Tragekorb und eine bis in den Schritt aufgerissene Hose zu beklagen und zum Neupreis zu bezahlen.
Und da war der eifrige Biertrinker, der sich über die gesamte Strecke der Reise von Wien nach Linz auf der gut durchlüfteten Plattform aufhielt. Bei sommerlichen Temperaturen war es sinnvoll, das Fenster neben der „Küche“ offen zu halten. Doch diesem ungebetenen Gast zog es wohl zu stark und sobald ich auf Verkaufstour war, schloss er es. Ein Spielchen, das sich bis Linz mehrmals wiederholte. Ihn von der Palttform zu vertreiben wäre mir schwergefallen, denn er konsumierte in dieser kurzen Zeit eine derart beachtliche Menge Bier, die ich sonst auf einer kompletten Tour verkaufte. Im guten Glauben, dass die von mir knapp vorher geöffnete Fensterscheibe offen sei, gedachte ich eine nicht einsatzpflichtige Limonadenflasche mit großem Schwung aus dem Zug zu werfen. Die Kosten der durch diese Aktion gebrochenen Glasscheibe zog man mir zusätzlich ab.
Und einmal war es wie verhext, die Kühlkiste und die Getränke wurden zu spät zum Wagon gebracht, die Würstchen bis knapp vor Abfahrt des Schnellzugs nach Salzburg nicht geliefert und die Sandwiches kamen überhaupt nicht. Der Zug fuhr ab und ich machte mich daran, die wild durcheinander geworfenen Lebensmittel und Flaschen zu ordnen und zu verstauen. Gut, dass es die hintere Plattform des letzten Wagons war und keine Fahrgäste durchgingen. Bis Amstetten hatte ich alles soweit in Ordnung gebracht. Ab hier war mir das Verkaufen bis Salzburg erlaubt. Doch der Verkaufskorb, war nicht mitgekommen. Zu den Zugbegleitern gehörte außer den Schaffnern der Zugführer. In der Verzweiflung suchte ich ihn auf. Er hatte Verständnis für meine Lage und versprach, mir zu helfen. Zu dieser Zeit gab es weder Telefon, noch Funk für eine Kommunikation zwischen den fahrenden Zügen und den Fahrdienstleitern der Bahnhöfe. Aber er wusste Rat. Er schrieb einen Zettel mit meinem Wunsch nach einem „Tragerl“, legte ihn in ein altes Lederetui und ließ das Fenster seines Dienstabteils herunter. Es war ein Expresszug, der alle unwichtigen Stationen ohne Halt durchfuhr. Regelmäßig standen am Bahnsteig die Stationsvorsteher mit ihren roten Kappen und beobachteten den vorbeifahrenden Zug. Beim nächsten Bahnhof warf er im Durchfahren meine Nachricht aus dem Fenster. Zwischen unserem und dem Perron lagen vier Geleise. Ich sah, wie der Vorstand hektisch auf die Schienen hinuntersprang und in größter Eile, mehrmals stolpernd zu dem im Fahrtwind flatternden Etui rannte. Der Zugführer vermutete sicher, dies sei ein Notsignal, das bei den Bundesbahnen in dringenden Fällen wie bei etwaigem Ausfall der Bremsen, Bränden oder bei einem Herzinfarkt angewendet wird. Jedenfalls, mit dem nächsten Zug aus Wien kam der Tragekorb, so dass ich wenigstens die Rückfahrt betreuen konnte.
Es war eine von allen Buffetkellnern geübte freundliche Geste, das von zu Hause mitgebrachte Essen des Lokführers zu wärmen und bei einem Aufenthalt nach vorne zur Lok zu bringen. Ich fand es nicht schicklich, das Blechgeschirr an den Fahrgästen vorbei am Perron demonstrativ zum Lokomotivführer zu tragen, und wählte dazu die dem Bahnhof abgewandte Seite des Zuges. Dort fehlte zwar die zum bequemen Einstieg den Trittbrettern angepasste Höhe des Bahnsteigs, aber das störte nicht. Ich brachte das Essen zur Lokomotive und machte mich umgehend auf den Rückweg zum letzten Wagon. Die Relation der Geschwindigkeit meiner Schritte auf den Schottersteinen zu dem stehenden Zug veränderte sich zunehmend, so schnell gehe ich doch gar nicht? Der dankbare Lokführer ist ohne mich losgefahren! Ein Aufspringen war unmöglich, denn die untersten Trittbretter der fahrenden Waggons waren unerreichbar. Mein Arbeitsplatz verschwand in der Ferne, und ich kündigte bald darauf.
Unter den Gesangsschülern meiner Eltern war neben Willy Kralik, der später beim Österreichischen Rundfunk Moderator wurde, ein junger sympathischer Bursche, Walter Böcksteiner. Dem Trend der Zeit folgend trug er Bluejeans, die Hosenbeine ober den Sneakers breit umgeschlagen. Er faszinierte mit einem sauberen Bariton, und durch hohe Musikalität. Mir gefiel in erster Linie, dass er neben der klassischen Stimmbildung ausgezeichnet Jazz sang. Sein großes Vorbild war niemand geringerer als der amerikanische Sänger Mel Tormé. Ich erinnerte mich an die Jamsessions im Kosmostheater, und da kam mir die Idee, ihn einmal auf die Bühne zu stellen. Folglich veranstaltete ich im Rondell in der Riemergasse im Mai 1954 eine mitternächtliche Jam-Session. Ich entwarf ein schlichtes Plakat, das durch seine schräg gestellte Schrift auffiel. Außerdem glaubte ich, mehr Aufmerksamkeit zu gewinnen, indem ich meinen Nachnahmen anglifiziere und ganz einfach umdrehte. Mit Hilfe einiger Freunde aus dem Strohkoffer plakatierten wir wild in der Stadt. Mit überragendem Ergebnis.
Das Rondell war mehr als ausverkauft, Uzi Förster, Alex Späth, Helo Kolbe, Gerhard Hönig und weitere Musiker der Wiener Jazzelite jamten ihrem außerordentlichen Können gerecht werdend. Walter Böcksteiner sang, wie ich ihn niemals vorher gehört hatte. Der Abend war ein voller Erfolg, in jeder Richtung. Der Zuschauerraum des Rondell war überfüllt, sodass für das Publikum sogar zusätzliche Sitzgelegenheiten aus anderen Räumen herangeschafft wurden. Die technische Einrichtung entsprach der Zeit, Walter sang in ein billiges Ansagemikrofon, was aber seinem Erfolg keinen Abbruch tat.
Gerhard Hönig tr, Alex Späth b, Uzi Förster ts
Walter Böcksteiner v. (Im Hintergrund ich)
Frühmorgens endete nach etlichen Zugaben das Konzert unter kräftigen Applaus der Fans. Während die Künstler ihre Instrumente einpackten, ging ich, hochgestimmt durch die wunderbare Musik und dem Anblick des übervollen Saales in den Kassenraum zu Fritz Feichtinger, um abzurechnen. Er war der Pächter des vom Besitzer Adolf Wollmarker gemieteten Lokals. Von den Einnahmen, abzüglich der Saalmiete, sollten die Musiker ihren Teil erhalten und nachher wäre ebenso für mich etwas abgefallen. Doch ich hatte, im Sinn des Sprichwortes, die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Feichtinger legte mir zur Abrechnung einen Eintrittskartenblock vor, in dem einwandfrei nur die Hälfte der Karten verkauft waren. Das stand in gewaltiger Diskrepanz zur beobachteten Überbelegung des Veranstaltungsraumes. Da sind selbstverständlich keine Gagen für die Musiker drin und sicher gar nichts für mich, meinte er bedauernd. Vermutlich hatte er von zwei Blöcken Eintrittskarten ausgegeben, wobei der eine offiziell zur Abrechnung mit dem Finanzamt, der andere für seinen Privatverdienst vorgesehen war. Sprach- und hilflos stand ich derart unverfrorener Frechheit gegenüber. In dieser Verzweiflung flüchtete ich die Treppen hinauf in die Riemergasse und lenkte meine Schritte heimwärts. Auf der Mariahilfer Straße kam mir im Morgengrauen Uzi nachgelaufen und wollte mich lynchen. Wofür ich gar kein Verständnis aufbrachte. Musiker um ihre wohlverdiente Gage zu bringen wäre ein arges Vergehen, das geahndet werden muss. Wir waren lange miteinander befreundet, so war es mir möglich, ihm die Lage zu erklären, und ich stellte eine Abrechnung für den nächsten Tag in Aussicht. Da die Typen Wollmarker und Feichtinger in der Stadt für ihre Schlitzohrigkeit bekannt waren, kam ich ohne Bestrafung davon. Weniger auf Grund meiner Überredungskunst, eher der Anmerkung, dass ich ein Freund des von ihnen respektierten Max Lersch sei, war es zu verdanken, dass ich am nächsten Tag ein paar Hunderter erhielt. Die brachte ich sofort Uzi, sodass er sich und die Musiker damit bezahlen konnte. Obwohl unschuldig, war dadurch trotzdem meine sonst gute Reputation in der Wiener Jazzszene etwas angeschlagen. Daraus für die folgenden Jahrzehnte eine Lehre ziehend, plante ich keine Veranstaltungen mehr. Um einiges wichtiger waren die Vorbereitungen für die Expedition. Aber zumindest war dieses Konzert eine Fortsetzung der Tradition des Jazz im Rondell. Es war ein Samen für das bekannte Jazzlokal Porgy und Bess, das allerdings erst einige Jahre später dort einzog.
Ende des Strohkoffers und Vorarbeiten für die Afrikaexpedition.
Max Lersch in meine Ambitionen zum Feldforscher einzubinden, stellte sich als höchst positiv für das Unternehmen heraus. Er war auf irgendeine Weise ein Genie. Mit überragender Intelligenz ausgestattet erfasste er innerhalb kurzer Zeit die ihm bis dahin völlig fremde Materie. In erster Linie waren sein sicheres Auftreten, seine Eloquenz und die ihm eigene Kontaktfreudigkeit für das Vorhaben hilfreich.
Mackie war ein mutiger Mann in den besten Jahren, der kaum vor jemanden Angst kannte. Jeden Randalierer rang er nieder, und war er noch so kräftig oder gar bewaffnet. Allein das für ihn zuständige Finanzamt für den ersten und dreiundzwanzigsten Wiener Gemeindebezirk fürchtete er, denn das repräsentierte eine nicht anzugreifende höhere Macht. Einmal bat er mich um Hilfe, ihn und sein Hab und Gut vor den Schergen dieses Amtes, den Gerichtsvollziehern, zu schützen. Am frühen Morgen des Tages, an dem die Beamten des Exekutionsgerichtes angesagt waren, nachdem die letzten Gäste die American Bar und den Strohkoffer verlassen hatten, blieben Max und ich allein zurück. Wir verbarrikadierten alle offiziellen Zugänge von innen und verließen durch den schon vorher erwähnten Geheimgang, der vom Kellerlokal durch den Nachbarkeller in die Freiheit führte, diese Trutzburg. Da es für Mackie geboten war, am nämlichen Vormittag keinesfalls innerhalb der Ringstraße zu erscheinen, blieb er zu Hause, um sich von den Strapazen der letzten Nacht zu erholen. Als treuer Freund bezog ich, der bislang keinem Finanzamt bekannt war, zeitgerecht meinen Beobachtungsposten im Kärntnerdurchgang.
Und tatsächlich, die ersten Sonnenstrahlen beleuchteten die Dächer der umliegenden Gebäude, versuchte eine Gruppe ernst blickender Herren in die Lokalitäten einzudringen. Da die Beamten vermutlich aus vorangegengenen Exekutionen um die Unbeugsamkeit des M. R. Lersch wussten, hatten sie einen uniformierten Polizisten mitgebracht. Der Aufsperrdienst tat seine Pflicht. Aber vergebens. Die von uns am Morgen angebrachten Barrieren hielten jedem Druck von außen stand. Gültiges Gesetz sah vor, dass vom Exekutor zwar aufgeschlossen, zum Betreten des Objekts aber keinerlei Gewalt angewendet oder dadurch Schaden entstehen darf. Sichtlich enttäuscht über die Erfolglosigkeit ihres Bemühens, hielten die Versammelten ein kurzes Palaver ab und verschwanden anschließend in verschiedene Richtungen. Der Herr Revierinspektor zog ebenfalls merklich erleichtert ab. Bei den winterlichen Kontrollgängen durch die kalten nächtlichen Straßen durfte er sich jederzeit bei einem „Kaffee“ in der Loosbar aufwärmen. Es wäre ihm bestimmt nicht angenehm gewesen, seine Dankbarkeit für diese Wohltaten durch eine derartige Amtshandlung beweisen zu müssen.
Nachdem ich mich versichert hatte, dass die Luft endgültig rein war, suchte ich die in der Spiegelgasse nahe gelegene Bonbonniere auf, die damals als Tagesbar schon vormittags Gäste zum Aperitif bewirtete. Es war ein mit dunkelrotem Samt und Plüsch ausgestattetes Lokal, das für sich in Anspruch nahm, die älteste Bar Wiens zu sein. Die Herrscherin über dieses traditionsreiche Etablissement war Gaby, deren resolute Mütterlichkeit Mackie bedingungslos respektierte. Mittlerweile hatte er in dem Lokal sein „Büro“ aufgeschlagen, wo er telefonierte, mit Geschäftsleuten plauderte und geschäftliche Beziehungen aufbaute. Von dort rief ich ihn zur Entwarnung zu Hause an. Lersch nützte von dieser Theke aus erfolgreich seine Verbindungen in der Wiener Lokalszene, um American Bar, Strohkoffer etc. zu verkaufen.
Nachdem kein Job für mich mehr in Lersch’s Lokalen zu erwarten war, musste eine neue Einnahmequelle her. Ich kaufte mir auf Raten ein Motorrad der Marke „Ardie“, mit zweihundert Kubikzentimetern Motorvolumen und Baujahr 1939. Rechts vom Benzintank befand sich die Kulissenschaltung. Das bedeutete, dass man bei jedem Gangwechsel mit der rechten Hand die Lenkstange loslassen musste. Mit zwei hochgezogenen Auspuffrohren vermittelte die Maschine einen echt sportlichen und geländegängigen Eindruck.
Ardie RZ 200-1939
Aufgrund meiner Mobilität erhielt ich bei dem traditionsreichen Bewachungsunternehmen Helwacht mühelos einen Job als Nachtwächter. Mit einer Stechuhr bewaffnet ratterte ich nachts von einem Bewachungsobjekt zum anderen. Tagsüber aber mussten die Akquisitionen für die Expedition durchgezogen werden. So fuhren wir zwei von einer Institution zur nächsten. Hoch am Soziussitz hinter mir Mackie Lersch im grauen Flanellanzug mit blütenweißem Hemd und dezenter Krawatte. In der Hoffnung auf Unterstützung für unser gemeinsames Vorhaben besuchten wir wissenschaftliche Institute und kommerzielle Firmen in Wien und Umgebung. Um meinem biologischen Schlafbedürfnis zu entsprechen, legte ich die Kontrollzeiten der Nachtdienste dahingehend, dass dazwischen ein paar Stunden Schlaf möglich waren.
Dies blieb nicht ohne Folgen, denn die Einbrecher verließen sich auf meine Pünktlichkeit. Ein weiterer Umstand begünstigte die Geschäfte dieser Berufsgruppe. Das Motorrad verlor eines Tages einen seiner zwei Schalldämpfer, was den Schalldruck auf sportlichen Pegel erhöhte. So lautstark war der Nachtdienst nicht auszuüben. Da ein Rohr zum Betrieb der Maschine sicher genügen würde, verstopfte ich den übrig gebliebenen Stumpf des invaliden Auspuffs mit einer Handvoll alter Tücher. Mit Draht festgebunden hielten die Fetzen im Rohr fest, die Ardie war mit einem funktionierenden Auspuffrohr leiser denn je zuvor. Fast geräuschlos fuhr ich an die zu bewachenden Objekte heran, doch dann begannen die Fetzen im falschen Moment zu brennen und Ohren betäubender Krach zerriss die Stille der Nacht. Die glühenden Tücher stoben aus dem halben Auspuff, blieben am Draht der Sicherung hängen und funkensprühend, wie den Feuerschweif einer Rakete hinterherziehend, näherte ich mich auf diesem knallenden Kometen dem jeweils zu inspizierenden Gebäude. Zum Glück war in dieser Zeit die Wiener Polizei zu solch nächtlicher Stunde auf den Straßen nicht allzu präsent. Was mir ungeheuer entgegenkam, da ich einen Führerschein erst Jahre später erhalten sollte. Nach einigen Monaten reibungsloser Zusammenarbeit löste ich das Arbeitsverhältnis mit Helwacht, einerseits wegen chronischer Übermüdung, andererseits um einer erniedrigenden Kündigung durch den Arbeitgeber vorzubeugen.
Es war an der Zeit, einen für Afrika tauglichen Geländewagen zu suchen. Eine wichtige Anschaffung, da wir entgegen meinem ursprünglichen Plan jetzt zu zweit, wenn nicht gar zu dritt unterwegs sein werden. Beim Autohaus Metzger an der Triester Straße fand ich das geeignete, nach Bedarf mit Allrad zu betreibende Gefährt. Die in Wien stationierte britische Armee stieß ihre alten Fahrzeuge billigst ab. Metzger erwarb davon ein Kontingent und zerlegte die Autos zur Gewinnung von Ersatzteilen. Ein beachtenswert gut erhaltener Wagen entkam der Zerstückelung. Es war Liebe auf den ersten Blick und der Preis lag im Rahmen des Budgets. Ein rechts gesteuerter, zwei Tonnen wiegender Humber 4×4 Heavy Utility mit einem Aufbau aus Holz. Er verfügte über einen Motor mit sechs Zylindern, der 85 PS lieferte. Die Lackierung war sandfarben, was mich zu Recht vermuten ließ, dass dieses Auto im Afrikafeldzug gedient hatte. Der Innenausstattung nach zu schließen, als Kommandowagen. Wie vorhin schon erwähnt, war ich nicht im Besitz eines Führerscheines. Deshalb bat ich meinen Freund Johannes Eidlitz, den unehelichen Sohn der berühmten Schauspielerin Alma Seidler, das Expeditionsfahrzeug polizeilich auf seinen Namen anmelden zu lassen. Auf Mackie Lersch anzumelden war nicht möglich, weil dieser von der Finanz verfolgt wurde. Da ein Automobil einen Namen haben muss, tauften wir ihn „Père Ubu“, nach der Hauptfigur in dem skurrilen Theaterstück gleichen Titels von Alfred Jarry, der einen riesigen, durch Wind betriebenen Wagen bauen ließ.
Wir bemühten uns um Anerkennung als Feldforscher. Dabei lernten wir Walter Hirschberg kennen, damals Dozent am Institut für Afrikanistik der Universität Wien, der uns äußerst liebevoll unter seine akademischen Fittiche nahm. Seiner Einladung folgend, wurden wir Gasthörer in einer Reihe von Vorlesungen bei ihm und dem Völkerkundler Prof. Hans G. Mukarovsky. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse waren uns in den nächsten Jahren bei der Arbeit in Afrika recht nützlich. Hirschberg hat uns dem Phonogrammarchiv der Akademie der Wissenschaften näher gebracht. Letztlich war es die Kernkompetenz unseres Unternehmens, Tonaufnahmen in Afrika zu erarbeiten und diese in Österreich für deren wissenschaftliche Auswertungen zur Verfügung zu stellen. Der Linguist Professor Mukarovsky war an Sprachaufnahmen für sein Institut interessiert. Er gab uns Fragebögen zur akustischen Erstellung von Diktionären afrikanischer Sprachen mit. Obwohl Hirschberg am Institut für Völkerkunde lehrte und über Afrika in höchstem Maße genau Bescheid wusste, war er nie vor Ort gewesen. Wir erhielten von der Universität, vom Museum für Völkerkunde und von der Akademie der Wissenschaften jede gewünschte Unterstützung in Form von Beglaubigungsschreiben, aber keine Sachwerte, geschweige denn finanzielle Hilfe.
Als Mackie noch Eigentümer dieser Lokale war, gab es ebenso Gäste, die keine bildenden Künstler waren. Aus diesem Personenkreis fanden wir potentielle Teilnehmer für das Unternehmen Afrika. Da war einmal Walter Eder, er trat gleich nach Kriegsende eine Zeit lang bei den Stephansspielern, einem Wiener Theaterensemble, als Schauspieler und Pantomime auf. Er hatte Afrika vor mir bereist, ritt auf einem Pferd von Niamey – der Hauptstadt von Niger – durch den Busch des Sahel durch das Wildreservat von Arli bis Ouagadougou, dem Regierungssitz von Obervolta, später Burkina Faso. Das sind weit über eintausend Kilometer allein zu Pferd, quer durch die Steppe. Dort verdingte er sich zeitweise als Jagdführer. Dank seiner stattlichen Größe von einem Meter neunzig und um zehn Jahre älter als Mackie Lersch, strahlte er Ruhe und Besonnenheit aus, außerdem sprach er leidlich Französisch und Englisch. Das war ein brauchbarer Mann! Bedächtig hörte er sich unser Programm an und sagte ohne Umschweife zu. Er war es, der den Fokus des ersten gemeinsamen Unternehmens auf Westafrika richtete, wo er sich auskannte. Dann gesellte sich, mehr durch Zufall, ein Belgier namens Jean-Pierre Veyhs zu uns, von dem wir nicht so recht wussten, womit er beruflich beschäftigt war. Wir erfuhren von ihm nur, dass er mit einigen Wiener Bekannten heimlich in der alten Donau mit der Harpune fischte. Dort suchte er einen sagenumwobenen Wels von zwei Metern Länge zu erlegen, den man angeblich in diesem stillgelegten Flussarm gesichtet hatte. Seine deutschen Sprachkenntnisse waren weitgehend artikelfrei, französisch hingegen verstand er perfekt. Wobei es unklar war, ob Franzosen ihn verstehen könnten, denn er stammte aus Brüssel. Mit fünfzig Lebensjahren war er unser Ältester. Sein graues gekräuseltes Haar, die hellblauen Augen und der französische Akzent ließen ihn der Damenwelt überaus attraktiv erscheinen. Forderungen aus Alimenten verfolgten ihn überall hin. Aber was soll’s, er brachte etwas Bargeld in das Unternehmen ein, das konnte uns nur recht sein. Hans Kopezky, ein gelernter Fotograf, sprach Mackie in der Bonbonniere wegen Afrika an und meldete sich als einziger echter Professionist und Mitstreiter an.
So war in der Zwischenzeit das Unternehmen auf fünf Personen angewachsen und wir benötigten ein zweites Fahrzeug. Erfolgsgewohnt kontaktierten wir die Vertretungen von Mercedes, Steyr-Puch, MAN, Saurer und Volkswagen. Die meisten Firmen sagten sofort oder mit etwas Verzögerung ab, Steyr vertröstete uns von Woche zu Woche. Die Nerven waren gespannt, denn unser geplanter Abfahrtstermin rückte immer näher. Wegen der sommerlichen Hitze in der Sahara und der zu erwartenden Regenzeit weiter südlich, war dieser Termin unbedingt einzuhalten. Wir hatten nahezu alles beisammen, was für diese Expedition gebraucht wurde. Grundvoraussetzung für unsere Arbeit waren die technischen Geräte. Mein Ziel war es, qualitativ hochwertige Tonaufnahmen herzustellen. Dafür stellte uns Telefunken ein tragbares „Magnetophon Kl 25“ zur Verfügung, das aber von einer Stromversorgung mit 220 Volt Wechselstrom mit einer Frequenz von 5o Hertz abhängig war. Für die an Technik interessierten Leser sei hier ein Link angegeben:
Dazu gab es ein dynamisches Mikrofon vom Typ D12, das mir die österreichische Firma AKG lieh. Eine Wiener Elektrofirma baute für uns einen etwa 20 kg schweren Einankerumformer, der aus den 12 Volt Gleichstrom der Autobatterie 220V Wechselstrom erzeugte.
Zur Ausrüstung gehörten neben großzügig Lebensmittelkonserven von Inzersdorfer und darüber hinaus für mehrere Monate ausreichend gezuckerte Kondensmilch. Einige Kisten Rossbacher Magenbitter, Ovomaltine und diverse nahrungsergänzende Mittel besserten die Verpflegung auf. Kochgeschirre, Zelte, jeweils ein Jagd- und ein Schrotgewehr und zwei Pistolen, sämtliche inclusive dazu passender Munition, und eine Schreibmaschine waren im Gepäck. Drüber hinaus gab es khakifarbene, nach Maß angefertigte, einheitliche Overalls für alle fünf Teilnehmer der Expedition. Besonders wichtig für uns war der Inhalt einer Reiseapotheke mit genügend Familienpackungen Resochin gegen die in Afrika grassierende Malaria, dazu schmerzstillende Mittel und Seren zur Behandlung aller nur möglichen Schlangenbisse. Dann war da ein dicker Ordner mit Befürwortungsschreiben von etlichen wissenschaftlichen Institutionen, denen wir Forschungserfolge und Originalgegenstände aus Afrika versprochen hatten. Diese unterstützenden Dokumente waren relativ leicht zu beschaffen, weil sie nichts kosteten, der jeweilige Verfasser aber bei relevanten Ergebnissen der Expedition Schulterklopfen und Anerkennung für seine Weitsicht einheimsen würde. Diese amtlichen Schreiben waren vor allem bei der Beschaffung der Visa und bei Zollformalitäten hilfreich, vorwiegend für die Aus- und Einfuhr der Waffen.
Das Besorgen solch umfangreicher Ausrüstung wurde durch die allgemeine Aufbruchsstimmung rund um den Beginn des Wirtschaftswunders begünstigt. Da die Studenten diverser Fakultäten zu dieser Zeit vorrangig auf ihre materielle Zukunft bedacht waren und sie deshalb nichts in die Fremde zog, hatten unsere anfänglich recht autodidakten Bemühungen Erfolg. Es gab einige Ausnahmen, die sich bald nach den Kriegsjahren aktiv in der Feldforschung betätigten, wie Hugo Bernatzik, Herbert Tichy, Max Reisch, Lotte und Hans Hass und Ludwig Zöhrer.
Im Bewusstsein, österreichische Patrioten zu sein, klopften wir bei Steyr-Puch um deren Unterstützung an. Da es von dort bis drei Wochen vor dem geplanten Abfahrtstermin keine Zusage gab, schwärmten wir aus, um von irgendeiner Autovertretung ein geeignetes zweites Fahrzeug zu erhalten. Wir boten dagegen internationale Werbung für die Marke. Stundenlange Gespräche mit den jeweils verantwortlichen Herren, denen wir mittels unserer amtlichen Unterlagen die große Bedeutung dieses Unternehmens für die Wissenschaft darlegten, brachten keinen Erfolg. Selbst der Stolz und die allgemeine Freude über den kürzlich unterzeichneten Staatsvertrag wirkte dabei keineswegs unterstützend. Die Wohnung meiner Eltern war mit Expeditionsmaterial, Kisten und Geräten zugepflastert und kaum mehr begehbar. Es wurde Spätherbst. Die Zuversicht, jemals nach Afrika zu kommen, wurde mit jedem erfolglosen Tag weniger.
Schon am Heimweg nach Besuchen bei zahlreichen Autovertretungen, müde und enttäuscht von den Absagen, betraten Walter und ich eher zufällig und ohne mit einem Erfolg zu rechnen, das Ausstellungslokal der DDR-Autofirma IFA an vornehmer Adresse, am Schubertring Nr 2. Wir stellten uns dem elegant gekleideten Herrn hinter seinem Schreibtisch vor und breiteten sorgfältig die gesamten Unterlagen vor ihm aus, damit die lauteren Absichten der Afrikareisenden beweisend. Dabei wurde routinemäßig der ambitionierte Text des Anliegens abgespult. Der gelangweilt wirkende Mann zeigte an den mühsam erworbenen Befürwortungsschreiben fast beleidigendes Desinteresse. Unvermittelt erhob er sich wortlos zu seiner vollen Größe, welche die von Walter übertraf. Enttäuscht klaubten wir die in durchsichtigen Plastikhüllen steckenden Unterlagen zusammen. Schon wollten wir das Lokal verlassen, als er uns bedeutete, ihm zu folgen. Wir betraten einen Hof, in dem etliche gebrauchte Autos der Marke IFA-F9 und Trabant zum Verkauf ausgestellt standen. Welchen davon wir haben wollen? Da war ein zweifarbiger, beige – braun lackierter Kombi, der uns gefiele. OK, sprach der Herr, er wird ihn morgen anmelden und gegen Abend wäre der Wagen abholbereit.
So problemlos war das und dauerte kaum eine Viertelstunde. Verschreckt und ungläubig bedankten wir uns kurz und verließen schweigend eilig das Geschäft. Er könnte es sich ja womöglich überlegen. Jeder von uns war auf dem Weg zur Kärntnerstraße in seine eigenen Gedanken und Bedenken versunken, keiner wagte es, diese laut werden zu lassen. Das Auto hatte einen Zweitaktmotor mit nur 28 PS, drei Zylinder und Vorderradantrieb. Höchstgeschwindigkeit 90 km/h und war überdies politisch aus dem Osten! Ob das funktionieren wird? Geglaubt haben wir unser Glück erst, als Walter Eder am nächsten Tag mit dem blitzsauber gewaschenen Wagen mit Wiener Kennzeichen knatternd bei der Bonbonniere in der Spiegelgasse vorfuhr. Dank Gabys Großzügigkeit leisteten wir bei einigen Whiskys so etwas Ähnliches wie einen Rütlischwur. Walter hat bei der Übernahme des Autos einen Vertrag unterschrieben, der dem VEB Sachsenring in Afrika herzustellendes Werbematerial versprach. Wir werden ihm, dem Vertreter der ostdeutschen Fahrzeugfabrik viele, viele Fotos, einen 8mm-Film, Fahrtenberichte und das Auto zurückbringen, selbst wenn wir es tragen müssten. Solch blindes Vertrauen darf nicht enttäuscht werden!
Mit neugewonnenem, frischem Mut machten wir uns an die abschließenden Arbeiten. Da jede Expedition einen Leiter braucht, erwählten wir dazu einstimmig den charismatischsten unter uns, Max (Makie) Lersch. Die Autos erhielten eine saubere Beschriftung, „Österreichische Westafrikaexpedition 1955-56“ prangte an den Autotüren des Humber und des IFA. Nicht ohne Stolz fuhren wir mit unseren Gefährten durch Wien, sammelten ausstehendes Expeditionsmaterial für die große Reise ein, und ließen uns im Tropeninstitut gegen alle möglichen zu erwartenden Krankheiten impfen.
Ein allerletzter Heurigenabend wurde mir fast zum Verhängnis. Spät abends fuhren wir im Konvoi, einige Autos vollgepackt mit fröhlichen Menschen, die Nußdorfer Straße stadteinwärts. Ich, am Steuer des Père Ubu mit Mackie links von mir am Beifahrersitz, bildeten die Vorhut. Da winkte uns ein ernst blickender Polizist an den Straßenrand. Bekannterweise hatte ich damals keinen Führerschein, dementsprechend groß war mein Schreck. Das Ausmaß von Alkoholisierung wurde zu jener Zeit durch geschulte Polizeibeamte nach Atemluft, Körperhaltung und Gleichgewicht des Autofahrers geschätzt, was mir die geringste Sorge bedeutete, denn die geltende Obergrenze von 1,5 Promille hatte ich sicher nicht erreicht. Ich hielt den Wagen in respektvoller Entfernung von der Polizei an, Mackie und ich sprangen gleichzeitig aus dem Humber und schritten höflich dem Inspektor entgegen. Der nette Polizist wandte sich direkt an den links aus dem Auto ausgestiegenen Lersch und verlangte von ihm, dem vermeintlichen Fahrer, Führer- und Zulassungsschein. Mackie war im Krieg bei den Panzergrenadieren gewesen, was ihm automatisch einen Führerschein für Kraftfahrzeuge bis 3,5 Tonnen Gesamtgewicht einbrachte. Er verfügte aber über keinerlei Fahrpraxis. Dass wir ein Auto aus britischer Erzeugung fuhren und deshalb rechts gelenkt war, wurde vom Auge des Gesetzes zu meinem Glück nicht in Betracht gezogen.
Einige Tage später, es war der 20. Dezember 1955, feierten wir bei und mit Freunden mittels ausreichend Sekt und Champagner Abschied. Tränenreich verabschiedeten sich unsere Angehörigen, Frauen oder Freundinnen von ihren Helden. Die Etikette des Wiener Nachtlebens gebot uns das Abschiednehmen in der Bonbonniere von Gaby, und im Rondell von Feichtinger. Dadurch wurde es Mitternacht, ehe Max, Jean-Pierre und ich im schwer überladenen Humber zu dem großen Abenteuer aufbrachen. Walter und Hans, die den IFA belegten, sollten einen Tag später nachkommen, sie hatten noch Amtswege zu erledigen. Als Treffpunkt haben wir Marseille festgelegt, von wo die Überfahrt nach Algier stattfinden wird.
Die aufgehende Sonne schickt rotgoldene Strahlen durch die Fenster meines Zimmers in der Auberge de Soleil. Vor sechs Wochen und einigen Tagen hatte ich voll Vorfreude und Zuversicht Wien verlassen. Doch heute erwache ich mit Hoffnungslosigkeit und Zweifel, ungewöhnlich für mein sonst recht positiv eingestelltes Gemüt. Ich zögere, aus dem Bett zu steigen. Gedanken an die erdrückende Anzahl der weiterhin zu beschreibenden Jahrzehnte dieses Lebens bedrängen mich und türmen sich wie unüberwindliche Gebirge vor mir auf. Ungeordnetes Geschehen, Abenteuer und Erfahrungen von vielen Jahren tauchen aus vernebelter Vergangenheit auf, werden deutlicher und drängen sich vor und verlangen von mir als wichtigste Ereignisse wahrgenommen zu werden. Wie in einem klebrigen Spinnennetz verfange ich mich in dem Berg der Erinnerungen. Das Chaos der Eindrücke aus zahlreichen bereisten Ländern, Namen, Expeditionen, Filmproduktionen, verlassenen Geliebten und Neuanfängen, sowie von glückhaften Anerkennungen, schmerzlichen Misserfolgen und Enttäuschungen, versuche ich mit Gewalt im Kopf zu ordnen. Die dadurch entstehende Verwirrung führt zu totaler Lähmung. Das giftige Ungetüm des Scheiterns in greifbarer Nähe fühlend, bin ich bereit aufzugeben.
Der stets konkreter werdende Entschluss, dieses Experiment zur schriftlichen Vergangenheitsbewältigung endgültig abzubrechen, steht jetzt fest. Gründlich überlegt, bilde ich mir ein. Um diese Entscheidung den liebenswerten Wirtsleuten mitzuteilen, steige ich nach kurzer Morgentoilette hinunter in den Gastraum. Michelle hat, es war die gewohnte Zeit, mein Kommen erahnt und das Frühstück vorbereitet. François ordnet Gläser in den hohen Geschirrschrank ein und wünscht mir über die Schulter hinweg freundlich einen guten Morgen. Die übliche Antwort darauf scheint nicht der erwarteten gewohnten Norm auszufallen, denn er dreht sich um und sieht mich erstaunt an. Seine Frage nach meinem Befinden wische ich mit einer Handbewegung weg. Er schließt die Schranktüren sorgfältig und kommt auf den Tisch zu, an dem ich das Frühstück erwarte. Die Hemmungen, ihn von der bevorstehenden Abreise zu informieren, werden immer stärker. Vermutlich haben sich in der Zeit des Aufenthaltes unauffällig eine Art Freundschaft und Vertrauen zwischen uns aufgebaut. Der Mann ist kaum zwei Jahre älter, hat gewiss weniger von der Welt gesehen, aber die aus seinem Leben gewonnenen Erfahrungen sicher besser verarbeitet.
Trotzdem teile ich ihm meine unumstößliche Entscheidung mit, den Ort hier verlassen und unverrichteter Dinge heimzukehren. Spontan meint er, dass diese Idee Scheiße sei. Ja, genau so sagt er es. Doch in französischer Sprache klingt das anders, denn „merde“ lässt da wesentlich mehr Deutungen zu, als übelriechende Exkremente. Seine Reaktion ist verständlich, weil es ist mir zur Gewohnheit geworden, den Wirtsleuten regelmäßig über die Themen zu berichten, die ich im Moment bearbeite. Dennoch bleibe ich bei meiner Absicht. Kopfschüttelnd steht er auf und schlurft in die Küche. Nach einigen Minuten bringt er den Frühstückstee und setzt sich zu mir an den Tisch. Ich esse und trinke schweigend. Er sitzt locker im Stuhl zurückgelehnt und sagt ebenso nichts. Über längere Zeit. Seine Frage, ob ich immer so schnell aufgäbe, unterbricht die Stille. Bingo! Peinlich berührt antworte ich nicht sofort. Also nein, aber eher oft. Gründe für solch vorzeitige Kapitulationen gibt es ausreichend. Zum Beispiel Situationen falsch einzuschätzen, Richtiges zu spät zu erkennen, oder in Entwicklung befindliche visionäre Vorhaben vor deren endgültiger Reife aus Ungeduld abzubrechen. Ebenso verführt mangelndes Selbstvertrauen dazu, gut gemeinte Ratschläge zu befolgen, die zum Verlassen des eigenen Weges verleiten und damit die selbst gesteckten Ziele zu verfehlen. Das sind Umstände, die in der Vergangenheit oft anhaltende Selbstvorwürfe, sowie finanziellen Schaden brachten. Andererseits, beruhige ich mein Gewissen, gab es genauso objektiv zum Scheitern verurteilte Unternehmungen, die von mir gerettet wurden..
Nicht abweichend von dem festen Vorsatz, das Schreiben abzubrechen und heimzufahren, berichte ich von einigen Erfahrungen mit Niederlagen. Er ist ein angenehmer Zuhörer. Eine Erzählpause im Lauf meiner Klagen nützend, erzählt er von seinen eigenen Fehlschlägen und Triumphen. Wie von Engelshand geleitet erscheint Michelle mit einer Flasche gekühltem algerischen Chardonnay und zwei Gläsern, die sie lächelnd vor uns auf den Tisch stellt. Indem sie einschenkt, fragt sie, ob ich zu Mittag bei einem Stück Gazellenbraten dabei wäre. Eine derartige Einladung kann man unmöglich ablehnen!!
Meine Hoffnung auf Themenwechsel nach dieser Unterbrechung erfüllt sich nicht. Er lässt nicht locker. François verlangt eine Erklärung, woraus dieser plötzliche Sinneswandel entstanden ist. Ich will ihm nicht die ganze Wahrheit mitteilen und erzähle irgendeinen Schwachsinn. Die Gläser werden frisch gefüllt, und wir wünschen einander Gesundheit. Während er mit theatralischer Gebärde sein Weinglas auf den Tisch zurückstellt, meint er apodiktisch, ich dürfe keinesfalls zu schreiben aufhören. Hinterhältig fügt er hinzu, diese Rückblicke seien er beste Weg zur Selbsterkenntnis und jetzt zu kneifen kann bedeuten, dass sich mir nie mehr eine solche Chance böte. Wieder zwei Treffer. Je länger wir so offen miteinander reden, desto schwächer wird mein Widerstand. Mittlerweile sehen wir davon ab, ausschließlich über uns zu sprechen. Der Targi Akamouk wird zum Thema. Er fehlt hier und wir stellen fest, dass dieser wüstenerfahrene Mann für unser Verständnis des Lebens in der Sahara eine bedeutende Hilfe ist.
Michelle deckt am Nebentisch für das Mittagessen, aus der Küche strömen betörende Gerüche in den Gästeraum. Ob die Herren bereit wären? Aber sicher, denn gebratene Gazelle ist ein willkommener Grund für die Unterbrechung. Diese hochintelligente Nordafrikanerin scheint meinen Entschluss doch zu bleiben am Stimmungswechsel erkannt zu haben und prophezeit eine weitere Mahlzeit aus der von der Jagd heimgebrachten Gazelle für die folgenden Tage. Die Sonne steht im Zenit und brennt auf das Dach des Hauses. In der Gaststube wird es ordentlich heiß. François wirft deshalb die Deckenventilatoren an, die mit ihren langen Flügeln grade ausreichend Luft bewegen, um die schweißnasse Haut durch Verdunstung zu kühlen. Es ist mir bewusst, dass er das ausschließlich für mein Wohlbefinden macht. Ok, ich bleibe ja hier! Es wundert mich, woher Michelle die Mangos gezaubert hat, die sie zur Nachspeise kredenzt. Nach diesem fulminanten Essen ziehen sich alle zu wohlverdienter Siesta zurück. Ich finde keine Ruhe, denn meine Gedanken sind schon beim nächsten Kapitel der „Zeitgeister“:
Père Ubu („Übü“ gesprochen) Humber 4×4 Heavy Utility
Die erste Etappe der Expedition nach Westafrika führte uns auf der Bundesstraße 1 (in Österreich gab es zu dieser Zeit keine Autobahnen) von Wien in Richtung Westen). Die Reiseroute war über Salzburg – München – Straßburg bis Marseille geplant. Das waren mehr als zweitausend Straßenkilometer. Von dort wollten wir die Fähre nach Algier nehmen, so wie ich es bei meiner ersten Afrikareise ausgekundschaftet und durchgezogen hatte. Die Plätze und das fixe Datum für die Überfahrt waren vorsorglich in Wien gebucht worden. Der bewegte Abschied von den Herren Wollmarker und Feichtinger, Besitzer und Pächter des „Rondell“, brachte uns Reiseproviant von sechs Flaschen Kognak ein. Des Ernstes der zukünftigen Aufgaben voll bewusst, kletterten wir frohgemut in das Expeditionsfahrzeug, dem Humber, genannt Père Ubu, und fuhren der Expedition voran in die Nacht hinein. In Amstetten war der Benzintank fast leer und es wurde das erste Mal getankt. Wir schrieben von dort an unseren Kassenwart Walter eine Postkarte mit der erfreulichen Botschaft, dass der Humber nur 19,5 Liter Benzin auf hundert Kilometer braucht. Für seine sechs Zylinder unter der Motorhaube sowie der deutlichen Überladung, kein so schlechtes Ergebnis.
Kurz vor Salzburg war die Strecke unpassierbar, denn ein Lastwagen hatte sich auf der schneeglatten Straße quergestellt. Eingedenk unseres Termins in Marseille verlangte ich Père Ubu die erste Probe seiner Geländefähigkeit ab. Trotz entsetzter Proteste der anwesenden Gendarmeriebeamten verließen wir die Straße und umfuhren die Unfallstelle über den holperigen, tief verschneiten angrenzenden Acker. Es war ein Vergnügen, allradgetrieben durch den meterhohen Schnee zu pflügen. Wir waren glücklich mit dem britischen Vierradradantrieb. Ohne Schwierigkeiten passierten wir frech die Zollstationen am Walserberg nach Deutschland.
Wie wegen seiner sandfarbenen Lackierung zutreffend angenommen, war unser Humber ein tropentaugliches Geländefahrzeug, von der britischen Armee aus dem letzten Afrikafeldzug nach Europa gerettet. Darum hatte er weder eine wirksame Heizung, noch eine geeignete Belüftung der Windschutzscheiben von innen. Durch unseren Atem liefen die Scheiben dauernd an und vereisten. Um die Straße vor uns zu erkennen, waren wir über eine Strecke von etwa zwanzig Kilometern gezwungen, mit hochgeklappten Frontscheiben zu fahren. Die Gesichtsfarbe der drei Insassen schwankte zwischen dunkelrot und violett. Die erste der liebevoll gespendeten Flaschen Cognac half uns, diese eisige Zumutung zu überstehen. Wir Städter zogen im Winter eher warm geheizte Innenräume diesen kalten Außentemperaturen vor..
Nach längerer Nachtfahrt hatten wir eine Stunde Aufenthalt in München. Ein schnelles Frühstück, und wir verließen um neun Uhr die Stadt, nicht bevor Jean-Pierre Brüssel dreimal telefonisch zu erreichen suchte. Kurz vor Leipheim überholte uns mehrmals ein Mercedes 170 D und blieb dann wieder hinter uns. Es hat den Anschein, dass er mit uns reden will. Der Fahrer dieses Fahrzeugs brachte es fertig, den Expeditionswagen auf einem Parkplatz der Autobahn zum Halten zu bringen. Ein heftig gestikulierendes Männchen mit Pelzmütze, die dem Aussehen nach aus Sibirien stammte, versuchte uns davon zu überzeugen, dass so ein Unternehmen erst durch seine Teilnahme an Wert gewinnen würde. Vermutlich hat er bei dem Aufenthalt in München die nicht zu übersehende Beschriftung unseres Wagens gelesen. Das Repertoire des Herrn Nikolaus Muttar (Moutarde) Helmhausen war reichhaltig. Die drei Expeditionsteilnehmer bekamen neben einer mit großer Geste überreichten Flasche Tokajer eine richtige Kabarettvorstellung zu sehen, in der er die Vorzüge seiner Person darstellte. Das Rezept, wie man aus einem zehn Karat schweren Diamanten einen mit fünfzehn macht, war ihm leider nicht zu entreißen. Bewegt nahmen wir Abschied. Die anschließenden Lachkrämpfe verursachten etwas Unordnung im Wagen, sodass wir bei der Raststation Leipheim einen Stopp einlegten.
Père Ubu parkte im Lichte der Tanksäulen. Ein anderes Auto mit Wiener Kennzeichen hielt zum Tanken gleich daneben. Unvermittelt verschwand unser Jean-Pierre in die Dunkelheit. Er machte die wichtige Erfahrung, dass Toiletten günstige Verstecke vor urplötzlich und unvermutet in Deutschland auftauchenden Gläubigern bilden. In Ulm verzehrten wir heiße Suppe und kauften dazu Brot, indes versuchte Jean-Pierre wieder mit seiner Frau in Brüssel zu telefonieren. Auf der Weiterfahrt erzählte Mackie, dass Feichtinger von ihm verlangt habe, mich in Wien zurückzulassen, damit ich weiter Jazzkonzerte im Rondell organisiere. Nicht verwunderlich, denn dieser Mann hatte durch meine Veranstaltung recht anständig Geld verdient, aber offenbar vergessen, dass er mich beim Erlös durch die Eintrittskarten heftig betrogen hatte.
Vor Rottenmann bekam Père Ubu Verdauungsstörungen, sein Darm, sprich Benzinleitung, wurde mittels Luftdruck von der Verstopfung befreit. Spät am Abend passierten wir bei Kehl die Grenze in Richtung Frankreich. Erst nach dem Vorlegen der Mappe mit den Unterstützungsschreiben gab es keine Schwierigkeiten beim Zoll. Selbst die mitgeführten Jagdwaffen gingen anstandslos durch. Trotz gebotener Sparsamkeit beschlossen wir in Straßburg, Hotelbetten statt der Autopolsterung unsere durchfrorenen Knochen anzuvertrauen. Jean-Pierre versuchte wiederholt, mit Brüssel zu telefonieren. Er schlief mit Max im Ehebett, ich ungestört am Boden zu ihren Füßen auf meiner Luftmatratze.
Hustend und niesend erhoben wir uns am nächsten Morgen. Jean-Pierre startete vom Hoteltelefon mehrere Versuche, seine Gattin zu erreichen. Wir vermieden tunlichst, diese offensichtlich nicht so gut funktionierende Ehe zu kommentieren. Kurz vor Colmar genossen wir unser erstes gemeinsames Campingessen auf der heruntergeklappten Autorückwand. Gulasch- und Reisfleischkonserven aus Inzersdorf wurden ohne Rücksichtnahme auf etwaige Geschmacksirritationen vermischt und mit Appetit verspeist. In Besançon genehmigten wir uns den ersten Drink auf französischem Boden, dieweil Jean-Pierre, der arme Kerl, nochmals seine Frau zu erreichen suchte. Stunden später in Dijon, warteten wir vor dem Postamt erneut geduldig, bis der Belgier weitere erfolglose Anstrengungen, mit Brüssel zu kommunizieren getätigt hatte. In dem ihm eigenen unnachahmlichen Kauderwelsch aus belgischem Französisch und wienerischem Deutsch, vermeinte er „im Pischerle“ zu spüren, dass dies der letzte Versuch gewesen sei, die Scheidung zu vermeiden. Mitfühlend nahmen wir jeder einen kräftigen Schluck aus der nächsten Cognacflasche und fuhren bei stürmischen Regen bis etwa zweihundert Kilometer vor Marseille. Das Unwetter war so heftig, dass wir beschlossen, dessen Besserung im schützenden Auto abzuwarten und schliefen bis Tagesanbruch.
In zügiger Fahrt erreichten wir endlich diese faszinierende Hafenstadt. Wir begaben uns auf Hotelsuche. Direkt am Hafen, im „Terminus des Portes“ fanden wir ein Zimmer im mindestens fünften Stock, zwangsläufig ohne Aufzug. Da für die Überführung nach Algerien aus Gewichtsgründen das Auto vollkommen leer zu sein hatte, hob sich der Vorteil des geringen Mietpreises mit dem zweimaligen Transport des gesamten Equipments die Treppen hinauf und am nächsten Tag hinunter wieder auf. Max und Jean-Pierre mussten dringend zum Zollamt, sowie zu diversen anderen Behörden und zur Schiffsagentur. Sie sahen sich durch ihr grundlegendes Beherrschen der französischen Sprache dazu legitimiert, damit das sportliche Treppensteigen dem Benjamin der Gruppe überlassend. Im Laufe meiner Arbeit, den Wagen zu entladen und mehrmals mit schwerem Gepäck die Stiegen zu erklimmen, wurde mir die Erkenntnis zuteil, dass ein Bildungserwerb, in diesem Falle das Erlernen von Fremdsprachen, Muskelkater in den Beinen vermeiden hilft.
Beim Besuch im Zollbüro lernten die beiden einen Monsieur Maissu kennen und, da es just Mittagszeit war, luden sie ihn zu einem Dienstessen ein. Mit Erfolg. Hinterher lief alles reibungslos, bis auf die Einfuhr der Waffen. Herr Maissu, seines Zeichens Zollinspektor, beseitigte souverän diese Hürde mit einer Unterschrift auf einem Formular. Dem Père Ubu wurde der Benzintank fast völlig entleert, er brachte jetzt nur mehr 2.400 Kilo auf die Waage, 100 kg unter dem für die Überfuhr erlaubten Höchstgewicht. So wurde er am Hafen abgegeben. Das Problem der extra zu transportierenden umfangreichen Expeditionsgüter wurde gelöst, indem es als Diplomatengepäck deklariert wurde. Nach diesem turbulenten Tag schliefen wir tief den Schlaf der Gerechten. Sollte man sich wegen 700 kg unbezahltem Übergepäcks, wie Ungerechte fühlen?
Man schrieb den vierundzwanzigsten Dezember, der Tag begann zeitig morgens mit Packen. Wieder ergaben die Gewehre am Zoll, diesmal bei der Ausfuhr, Schwierigkeiten. Doch der allgegenwärtige Monsieur Maissu wischte dieses Problem mit einer Handbewegung vom Tisch. Das Gepäck wurde in der vierten Klasse der „Ville de Alger“ untergebracht. Nach längeren Verhandlungen sah sich der verwunderte Mackie dazu gezwungen, statt einen, zwei dunkelhäutige Gepäckträger zu bezahlen. Ich hielt mich aus dem Streit weitgehend heraus und versuchte, einen möglichst unbeteiligten Eindruck zu vermitteln, waren doch meine Kenntnisse der französischen Sprache nur marginal. Es war eine eindrucksvolle Erfahrung, bei dieser Gelegenheit die mir bis dahin fremde, legendäre arabische Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft kennenzulernen. Denn direkt aufgedrängt hatten sich die freundlichen Burschen, um die umfangreiche Ausrüstung für mich schleppen zu dürfen! Wir tranken mit Monsieur Maissu einen ausführlichen Aperitif im Café du Port, bevor die Fähre bei bedecktem Himmel pünktlich um 12 Uhr Mittag vom Peer ablegte. Ein Steward schlug vor, uns für FFr (französische Franc) 2.000,– in die Touristenklasse zu schmuggeln. Nur zu gerne verließen wir das lichtlose, übelriechende Unterdeck über die Durchreiche des Buffets. Sie war der einzig mögliche Fluchtweg, denn Passagieren der vierten Klasse war es verboten, das unterste Deck auf normalem Weg zu verlassen. Es herrschte am Schiff zwischen den jeweiligen Decks strenge Apartheid. Schwitzend aber dankbar schleppten wir Teile des umfangreichen Hab und Guts in eine komfortable Kabine mit Bullauge und vier Betten. Allerdings fielen wir beim anschließenden Mittagsessen durch unsere auf die vierte Klasse abgestimmte Kleidung auf. Dem Herrn Expeditionsleiter wurde bei der Hauptspeise des fünfgängigen Menüs schlecht, da ihn der Gedanke überfiel, die Summe vom FFr 2.000,– könnte womöglich nicht für alle gemeinsam zu bezahlen sein. Die später stattfindende Verrechnung mit dem Stewart bestätigte seinen Verdacht. 6.000,00 FFr wechselten zum Matrosen. Wie erklärt man diese Ausgabe Walter Eder, unserem strengen Kassenwart?
Nach einem kurzen Spaziergang am Deck, die Luft hatte im Verhältnis zu Mitteleuropa recht angenehme mediterrane Temperaturen aufzuweisen, wurde bis zur Dämmerung geschlafen. Gestärkt erschienen drei sauber geduschte und gekleidete Expeditionsteilnehmer zum Dinner im Speisesaal. Wir waren uns der Verantwortung unserem Heimatland gegenüber bewusst und fühlten uns als einzige Österreicher hier am Schiff dazu verpflichtet, korrekt aufzutreten. Dem gerecht werdend leerten sich die diskret aufgestellten Weinflaschen mit der Geschwindigkeit, die den an den Flaschenhälsen angeschriebenen zollfreien Preisen entsprach. Jean-Pierre, in düsterer Stimmung über die ihm sicher erscheinende Trennung von seiner Gattin, organisierte und bezahlte einen Rundgang durch sämtliche Destillen und Bars des Schiffes. Er allein besaß Privatvermögen. Wir nannten ihn ab da zärtlich und zeitsparend ausschließlich „Schani“.
Von der Schiffsleitung gab es eine Einladung zu einem Kinobesuch im Speisesaal. Zu dieser Filmvorführung erschien Mackie eine viertel Stunde zu spät. Es konnte nach der Vorstellung nicht gänzlich geklärt werden, ob sein schwankender Gang im Korridor dem Seegang, oder inzwischen eingenommenem Hochprozentigem zugeschrieben werden sollte. Auf seltsame Weise war wieder eine von den Kognakflaschen verschwunden, die man uns in Wien geschenkt hatte. Es war der Heilige Abend und ich verschwand in den am Deck vertäuten Père Ubu. Das Mittelmeer um das Schiff herum in der Dunkelheit erahnend, hörte ich über Kurzwelle deutschsprachige Weihnachtslieder. Bald fand man mich dort, und der Weihnachtsabend wurde in gemeinsamem Einverständnis mit der übriggebliebenen Flasche Cognac bis in die Morgenstunden würdig beendet. Zu diesem letzten Schluck haben wir zwei aus San Francisco zurückgekehrte Algerier eingeladen. Sie waren sieben Jahre von zu Hause abwesend und voll Vertrauen, am Morgen von ihren Bräuten vom Schiff abgeholt zu werden. Ihre Erwartungen waren euphorisch, unsere eher skeptisch.
Es folgten ein paar Stunden tiefen Schlafs auf wahrscheinlich ruhiger See. Am Morgen weckte uns die Stille, die nach dem Abstellen der Schiffsmaschinen eintrat. Mit leicht brummenden Schädeln sahen wir durch das Bullauge ein in helles Sonnenlicht getauchtes weißes Algier. Ich empfand so etwas wie Glück darüber, diese Stadt wiedersehen und afrikanischen Boden nochmals betreten zu dürfen. Sie hat mir bei meinem letzten Aufenthalt so viel Ungewöhnliches geboten, ich wünschte mir, es wird diesmal so ähnlich sein. Das Ausladen und die Zollabfertigung wurden reibungslos erledigt, nur die Gewehre mussten wir abgegeben. Mit einer provisorischen Waffenerlaubnis der Präfektur könnten sie hier wieder abgeholt werden. Mackie hat die afrikanischen Verhältnisse schnell durchschaut und zahlte dem Gepäckträger statt der verlangten FF 2.000,– die Hälfte, wofür er unfreundliche Blicke erntete. Im frisch beladenen Humber fuhren wir durch die Rue Sadi Carnot zur Auberge de jeunesse, in der ich vor etwa einem Jahr einquartiert war. Die Mère de l’auberge, die Herbergsmutter, begrüßte mich und meine Freunde herzlich. Die grau melierten Haare unseres jugendlichen Jean-Pierre erstaunten sie unverhohlen. Im Alter von fünfzig Jahren darf man die schon haben, aber in keine Jugendherberge einziehen. Doch zwei Umstände ließen sie diese Tatsache übersehen, sie mochte mich aus nicht erfindlichen Gründen von meinem letzten Aufenthalt, und wurde darüber hinaus vom umwerfenden männlichen Charme und den strahlend hellblauen Augen des Belgiers gefangen. Gemeinsam entluden wir den Wagen. Anschließend fielen die Mitglieder der Expedition auf die ihnen zugewiesenen Stockbetten und kurierten schlafend ihren Kater aus.
Am Nachmittag wurde Père Ubu gesäubert und kleinere Reparaturen vorgenommen. Wir luden einige der fröhlichen Herbergsbewohner in das Auto und starteten eine erste Erkundungsfahrt durch die Stadt. Algier hat sich seit meinem letzten Besuch nicht auffällig verändert. Geschäftigkeit der Einwohner, Straßenverkehr und Sauberkeit waren dieselben geblieben. Selbst die Präsenz von Polizei und Militär hat sich in der Zwischenzeit nicht merklich erhöht. Die Front de Libération Nationale, kurz FLN genannt, fand ihre Hauptunterstützung bei der zu etwa dreißig Prozent analphabetischen Landbevölkerung. Ben Bella, der Gründer der FLN und seine Mitstreiter waren im Exil in Kairo und Tunis und leiteten von dort, unterstützt von der kommunistischen Partei Frankreichs, die Aktionen in Algerien. Ihre Kämpfer nannte man Fellagha, was auf Arabisch übersetzt Räuber heißt. Der gebildetere Mittelstand in den großen Städten wie Algier, Constantine und anfänglich Oran war eher gegen die Trennung von Frankreich. Dort lebten im Einklang mit den Berberstämmigen die „Pied Noir“, so nannte man die in Algerien geborenen Franzosen. In der Hauptstadt Algier, außer in der Altstadt, herrschte durchwegs gespannte Ruhe.
Gegen neun Uhr abends waren wir wieder daheim. Um den Kamin der Herberge haben sich Jugendliche aus zehn verschiedenen Nationen zu einer harmonischen Weihnachtsfeier versammelt. Trotz des in der Jugendherberge normal herrschenden Alkoholverbotes gab es reichlich Rotwein, von dem selbst die Chefin des Hauses und ihr Gemahl nippten. War Weihnachten eine Ausnahmesituation oder wirkten wir etwa demoralisierend?
Tage ziemlicher Hektik folgten. Bei der Überprüfung meines Equipments entdeckte ich, dass das von der AKG zur Verfügung gestellte Mikrofon (D 12 Spezial) die rumpelige Fahrt mechanisch nicht ausgehalten hat. Das System mit der Membrane war abgebrochen und flog innerhalb des Gehäuses frei herum. Binnen kurzer Zeit war die gebrochene Aufhängung durch die Vertretung der Firma in der Stadt repariert, und ich bekam darüber hinaus ausreichend Ersatzteile mit. Man kann ja nie wissen. Gemeinsam waren wir auf der Präfektur, um Waffenscheine und um Schanis ausstehende Visa für die Reise in die geplanten Staaten einzureichen. Belgien hatte in Wien keine eigene Vertretung. Ich zeigte meinen Freunden die runde Bar Unic, wo wir zu Mittag speisten. Es war alles unverändert geblieben, lediglich die Bedienung hatte gewechselt. Nach dem Essen folgten Besuche bei einigen Konsulaten, das Österreichische war an diesem Tag geschlossen. In der Santé Maritime ließen wir uns gegen Gelbfieber impfen. Wir fuhren zum Institut Pasteur und wollten die von Wien aus bestellten Schlangenseren für Westafrika abholen. Es standen aber bis dato noch immer keine geeigneten zur Verfügung. Die Waffen wurden vom Zoll geholt und wir bekamen von Shell ein 200-Liter-Fass verbilligtes Benzin.
Als selbstbewusste Besitzer eines in Afrika erprobten Geländewagens wollten wir dessen Allradantrieb nützen und in den Dünen am Meer entlang spazieren fahren. So fuhren wir bei prächtigem Wetter nach Fort de l’Eau, einem Vorort von Algier, zum Strand. Die erste Hürde, einen Stacheldrahtverhau, nahm Ubu in souveräner Manier. Doch fünfzehn Meter weiter erhielt unser Vertrauen in britische Fahrzeugtechnik einen harten Stoß. Wie ein Maulwurf grub er sich in den feuchten Sand und wir vermochten, ohne uns auf die Zehenspitzen zu stellen, sein sonst nicht zu erreichendes Dach umfassend betrachten. Selbst graben mit der mitgebrachten Schaufel, brachte keinen wirklichen Fortschritt. In Reichweite wuchsen wild Kakteen aus dem Sand. Wir beschlossen, diese abzuschneiden und wie Sandbretter unter den Rädern zu verwenden. Zwei Einheimische näherten sich voller Neugier, doch da sprang Max grimmigen Blicks mit der für die Pflanzen gedachten Riesenmachete in der Hand aus dem Wagen. Eilends suchten die beiden das Weite. Es dauerte nur einigen Minuten, da versammelte sich gefühlt die gesamte Bevölkerung aus dem östlichen Algerien plaudernd und scherzend um den Grabungsort. Darunter zwei Polizisten, die gewissenhaft unsere Personalien aufnahmen. Nach Stunden anstrengender Buddelarbeit, Ubu zeigte schon die Tendenz, komplett im feuchten Meeresstrand zu verschwinden, holten wir einen Traktor. Der zog unseren Geländewagen mithilfe eines langen Drahtseiles wie eine Feder aus dem unwirtlichen Sand. Die Besitzer der Landmaschine, eine einheimische Farmerfamilie, luden uns hinterher zu einem Imbiss ein, den wir nach dieser Anstrengung dringend benötigten und kräftig zusprachen. Wieder in der Herberge angelangt, fielen wir erschöpft und todmüde in unsere Betten. Mein Vertrauen in den Humber war erschüttert. Doch hatte ich gelernt, feuchter Sand ist trotz Allradantrieb grundsätzlich zu vermeiden.
Am nächsten Tag fuhren wir zum Touringclub wegen genauerer Informationen für die Fahrt durch die Sahara. Im Institute Pasteur erhielten wir endlich die fehlenden Schlangenseren und gleich nach dem Abendessen holten wir den Wiener Fußballklub Rapid vom Bahnhof ab. Robert Dienst, der Mittelstürmer und Robert Körner, er war Linksaußen, lieferten wir im Hotel „Tourist“ ab, wobei Jean-Pierre und Mackie helfend als Dolmetscher fungierten.
Es war der 31. Dezember 1955, Silvester. Kurz vor Mittag brachten wir Trainer und Gepäck zum Stadion St. Eugénie. Rapid gewann gegen die Algerier mit 4 : 3 Toren. Zum Abendessen waren wir mit dem bekannten Stürmer Robert Dienst in der Auberge de jeunesse um lächerliche FFr 350,– pro Person. Wir hatten drei Flaschen Rotwein auf den Sieg von Rapid gewettet und spendierten darüber hinaus nochmals drei in der Herberge. Nachdem die geleert waren, schliefen alle Mitbewohner selig ein. Wir brachten Dienst in sein Hotel, worauf Mackie und ich nach alter Strohkoffertradition eine Stadtrundfahrt antraten, um den Jahreswechsel in reizvollerer Umgebung zu feiern. In einer Bar, in der wir das neue Jahr mit Champagner begrüßten, lud man uns unverhofft auf die Getränke ein. Das kam so: Max wollte unsere Konsumation bezahlen, doch seine Pistole in der Brusttasche hinderte ihn, die Brieftasche zu ziehen. Zu meinem Erstaunen und Entsetzen knallte er die Radom 9 mm vor sich auf die Bartheke und griff nochmals in das Sakko zum Geld. Schreckensbleich verhinderte das der Barmixer, indem er meinte, die konsumierten Getränke gingen selbstverständlich auf die Rechnung des Hauses! Nachdem Mackie in derselben Nacht die Herbergsmutter mit dieser Waffe in Angst und Schrecken versetzt hatte, er hatte nur vor, ihr das eben Erlebte anschaulich vorzuführen, bestiegen wir im angefangenen Jahr 1956 zufrieden unsere Stockbetten.
Madame Foubert war beim österreichischen Konsulat angestellt und europäischer Kultur höchst verbunden. Wir haben ihr im Auftrag der Fremdenverkehrswerbung in Wien Plakate und von uns Blumen mitgebracht, was zu einer Einladung in ihr Haus führte. Nach einem wegen der herrschenden kompromisslosen Etikette etwas anstrengendem Essen hörten wir eine Beethovensymphonie, eingespielt von den Wiener Philharmonikern unter dem Dirigat von Karl Böhm, zu dem meine Familie über etliche Ecken verwandtschaftliche Beziehungen pflegte. Wenn ich mich recht erinnere, war es die Fünfte mit dem Ta-ta-ta-taa. Dann stiegen wir mit unseren Gastgebern für eine Spazierfahrt in den Père Ubu. Es waren steile Wege im nahegelegenen Wald zu überwinden. Zurück kamen wir nur knapp an einem Unfall vorbei, dessen mögliches katastrophales Ausmaß aber nur ich, der den Wagen steuerte, erfasst hatte. Bergab waren die Bremsen total ausgefallen. Mit Hilfe von Hand- sowie Motorbremse doch glücklich am Haus der Fouberts angekommen, schüttete ich zwei Eimer kalten Wassers über die glühenden Bremsklötze, und sie funktionierten wieder. Nach Anhörung des vierten Brandenburgischen von Schallplatte verabschiedeten wir uns, nicht ohne eine Einladung zu einem weiteren Musikabend bei den Fouberts erhalten zu haben. Wir fuhren direkt zu unseren Freunden vom Sportklub Rapid und feierten mit den Fußballern ausgiebig und übermütig Abschied.
Bei meiner ersten Reise nach Nordafrika hatte ich zwei in der Herberge wohnende Mädchen kennengelernt, Saleka, die Sonja gerufen wurde, und Salima. Sie wohnten dort, weil die eine in der nahe gelegenen Universität einem Studium nachging, die andere ein paar Straßen weiter in einem Büro arbeitete. Die waren beide noch immer da. Sie luden uns zu ihren Eltern auf ein Essen ein, deren herzliche Gastfreundschaft wir dann über den gesamten langen Aufenthalt in Algier ausgiebig beanspruchten. Wir waren diesen ersten Abend bei der Familie Halali, das war allen Ernstes ihr Name, und wohnten in einem großen Haus, der „Villa Polo“ in Pointe Pescade am Rande von Algier. Sie nannten ein Weingut in Mascara ihr Eigen. Außer den beiden Eltern gab es die Töchter, die vorhin erwähnten Saleka, Rachida und die Jüngste, Salima. Alle drei waren ausnehmend reizvolle und bildschöne Geschöpfe. An Söhnen gab es Benamar, Larbi und Boualem. Ich hatte das Tonbandgerät und einige Tonbänder mit Jazz und Mitschnitten von Sendungen des Popsenders Ö3 mitgebracht, was die Stimmung gleich von Beginn an locker gestaltete. Vornehmlich das Band mit einer Stunde Sidney Bechet fand Anklang. Den Titel „Les Onions“ musste ich immer wieder abspielen, und das bei jedem Besuch. Selbst wenn das Erklingen der ersten Töne von diesem Band bei mir allergische Reaktionen auslöste, es war mein kleines persönliches Dankeschön für die bezaubernde Gastfreundschaft dieser algerischen Familie. Prompt verliebte ich mich so nebenbei in Rachida, die sich durch einen leichten Pigmentfehler, zart gelbliche Hautfärbung und blondes Haar von den anderen berberstämmigen Familienmitgliedern unterschied und dazu außergewöhnlich attraktiv und intelligent war. Leider blieb meine Liebe konstant unerwidert.
In diesem Hause lernte ich die beste Zubereitung für die Nationalspeise kennen, das Couscous – Royal. Da sich das Essen, wie bei arabischer Gastfreundschaft üblich, beträchtlich in die Länge zog, standen wir bei der Heimkehr um Mitternacht vor fest verschlossenen Türen. Die Herbergsmutter war rigoros in der Durchsetzung der Regel, um 22:00 Uhr das Eingangstor abzusperren. Mein Versuch, ein Fenster zwecks Einstiegs von außen zu öffnen, endete mit einem Absturz in einen zwei Meter tiefen ausbetonierten Graben, den ich mit leichter Gehirnerschütterung überlebte. Wir beschlossen, notgedrungen im Auto zu schlafen. Daraufhin kletterten wir und die drei mit uns ausgesperrten Töchter Halali wieder in den Père Ubu und fuhren in das Stadtzentrum, weil es dort sicherer war. Zu sechst übernachteten wir im ausreichend geräumigen Humber.
Nach elf Tagen Aufenthalt der Vorhut in Algier traf endlich die Besatzung des IFA F9, der zweite Teil der Expedition mit Walter Eder und Hans Kopezky, ein. Wir wohnten alle gemeinsam in der Jugendherberge, dieser wegen des Durchschnittsalters der Expeditionsteilnehmer den Sinn der ihr ursprünglich zugedachten Aufgabe nehmend. Nach einer schnell gekochten Instantsuppe von Inzersdorfer hörten wir von Hans die schaurige Mär von den riesigen Brotschnitten, die ihm mit jeweils zwei Ölsardinen belegt, unser Kassenwart auf der Fahrt hierher als Tagesverpflegung konzedierte. Uns schwante Schlimmes für die Zukunft. Walter brachte mir, neben Grüßen meiner Eltern, nochmals die Nachricht, dass ich mich unbedingt bei Feichtinger melden sollte, ob es mir nicht doch möglich wäre, im Rondell ein Jazzkonzert zu veranstalten. Er würde sich entsprechend erkenntlich erweisen.
Der zeitlich nicht auf so lange geplante Aufenthalt in der Stadt Algier setzte uns täglich mehr zu. Es gab zwar eine Menge administrativer Arbeit zu erledigen, aber unserer Hauptaufgabe, phonetische Dokumentationen in Westafrika zu erarbeiten, konnten wir hier nicht nachgehen. Deshalb wurde das Hauptaugenmerk auf Fotoreportagen verlegt. Wir waren glücklich über die nahrhaften Verbindungen zu den Fouberts und Halalis, denn das reduzierte die Aufenthaltskosten wesentlich. Bei einem weiteren Besuch im Touringclub lernten wir zwei eben in Algier angekommene Reisende im besten Mannesalter kennen. Sie kamen aus Köln und glaubten ernsthaft, in ihrem Volkswagencabriolet Afrika entdecken zu können. Ernst Beding und Hermann Bartscherer schlossen wir sofort in unsere Herzen, da sie die Expedition gleich auf eine Runde Bier einluden. Daraufhin liierten wir uns mit den Kölnern und sie zogen zu uns in die Herberge, damit den Altersdurchschnitt der Herbergsbewohner weiter hinaufsetzend. Sie waren waschechte Kölner, sprachen den gleichen liebenswerten Dialekt wie der unvergleichliche Willy Millowitsch und brachten ebenso dessen Humor mit.
Nachmittags traf die inzwischen zu einer Partie von sieben Personen angewachsene Gruppe auf Larbi Halali und alle fuhren miteinander auf einen vergnüglichen Abend zum Haus seiner Eltern. Dort servierte man uns wieder das berühmte Couscous. Zu dieser Speise gibt es zwei Gemüsesoßen, eine milde für Mitteleuropäer und eine derart scharfe, dass man sie nur wie ein Gewürz mit ersterer vermischt zu genießen vermochte. Die Farbe und Konsistenz waren zum Verwechseln ähnlich. Der Zufall wollte es, dass die Schüssel mit der pikanten, scheinbar aus reinem Capsaicin zubereiteten Soße vor den Plätzen der zwei Deutschen stand. Aufmerksam unserem Beispiel folgend, nahmen sie davon genau die gleiche Menge auf ihre Teller, wie wir von der milden Sauce. Nach den ersten Bissen und extremen Schweißausbrüchen erklärten wir den beiden besorgt, dass sie das unbedingt aufessen müssten, denn sonst würden sie die arabische Gastfreundschaft verletzen. Was äußerst unangenehme Folgen haben könnte! Diese Unterweisung akzeptierten sie bedenkenlos, letztendlich waren wir erfahrene Afrikaner! Unter den bewundernden Blicken der Halalis würgten die beiden die schmerzhafte Speise hinunter, bis sich Yamina, die Hausfrau, ihrer erbarmte und ihnen die milde Soße anbot. Nach einigen kühlenden Bieren fuhren die Deutschen, sie hatten inzwischen von uns den Spitznamen „die Teutonen“ erhalten, mit Walter und Hans in die Herberge, wir Anderen durften in dem gastfreundlichen Haus übernachten. Da die Heimschläfer zu spät kamen und vor verschlossenen Türen standen, versuchten sie durch ein Fenster einzusteigen. Nachdem es Ernst, er war von etwas korpulenter Statur, eben geschafft hatte, bis zur Hälfte einzudringen, wurde er von der resoluten Mère-aub, die zufällig dort auftauchte, wieder nach außen gestoßen. Mit dem ihnen eigenen typischen Kölner Humor wurde die Sache letztendlich friedlich geklärt.
Um sieben Uhr morgens des nächsten Tages suchte Walter und Hans in der Herberge ein Belgier auf, er war angeblich ein Tierfänger von Beruf, und hatte den Wunsch, sich der Expedition anzuschließen. 100.000,– FFr sollten wir für seine Mitnahme erhalten. Walter bekam bei Nennung dieser Summe verträumte Augen und kalkulierte innerlich gleich die Platzaufteilung in den Autos. Doch er vertröstete ihn mit einer Entscheidung auf einen anderen Tag, sobald wieder alle Expeditionsteilnehmer versammelt sein werden.
Im Laufe der Stunde, in der ich mich mit Max und Hans im Studio von Radio Algier zu einem Interview aufhielt, beschädigte vor dem Haus ein LKW unseren Père Ubu. Eine umständliche Aufnahme des Unfalls durch die Polizei folgte, bevor wir die Erlaubnis zum Wegfahren erhielten. Später drängte ich zu einem Besuch des Museums „Le Bardo“, weil ich mir dort weitere Anregungen für Musikaufnahmen erwartete. Mein Bekannter mit dem unaussprechlichen Namen war nicht mehr da. Ob er der „französischen Doktrin“ zum Opfer gefallen war? Wir erhielten eine Empfehlung an den arabischen Sender in Algier, zu einem Monsieur Saphir, wo ich endlich meine eigentliche Arbeit aufnehmen konnte. Da die mir zur Verfügung stehende Ausrüstung mit einem Mikrofon für Orchesteraufnahmen nicht ausreichend war, bekam ich die Erlaubnis einige Einspielungen von den Bändern des Senders zu kopieren. Hier im Studio war der Klang dieser Musik aus den entsprechenden Lautsprechern nicht mit dem der quäkenden Radios der Märkte zu vergleichen. Während sich zu jener Zeit die europäischen und amerikanischen Tonstudios mit nach Blechdosen klingenden Hallplatten zur Verschönerung ihrer Aufnahmen quälten, waren diese Musikstücke in einen unvergleichlich natürlichen Halleffekt gebettet. Sie klangen wie in einem gotischen Dom aufgenommen. Leider habe ich verabsäumt, nach der Herkunft solcher Effekte zu fragen.
Arabische Musik (Musique andalouse)
Mich wunderte, warum diese Sinfonien „andalusisch“ genannt wurden. Professeur Saphir war ein profunder Kenner der klassischen arabischen Musik und nahm sich Zeit für Erklärungen. Es würde den Platz hier sprengen, alle Informationen anzuführen. Von Interesse ist aber die Tatsache, dass diese Musikrichtung, die aus dem Spanien des 14. Jahrhunderts stammte, mit der Vertreibung der Mauren aus Europa nach Afrika gekommen ist. Aus diesem Erbe arabischer Kultur hat sich in Andalusien der Flamenco entwickelt.
Gesang aus Algerien (Musique andalouse)
Der Hebel der Lenkradschaltung des IFA brach infolge eines brutal durchgeführten Schaltvorganges, als ausnahmsweise Makie den Wagen steuerte. Ich fuhr mit Walter in die Stadt einen brauchbaren Ersatz zu besorgen und gleich einzubauen. Kurz nach der Reparatur brach beim Anfahren vor dem Rathaus mitten im Stadtzentrum die linke Hinterachse des Humber. Zufällig kam der VW-Käfer mit Hermann aus Köln, Max und Jean-Pierre vorbei. Hermann, der Gute, begann sofort fachmännisch die Achse auszubauen. Dabei erfuhren wir, dass beide in Deutschland ein Team Rallyefahrer bildeten. Wo sollten wir in Algerien eine Ersatzachse für dieses seltene englische Automodell bekommen? Bei einem einheimischen Gebrauchtwagenhändler fanden wir eine Achse, die dem Original entsprach, sie war erheblich angerostet, aber funktionsfähig. Wahrscheinlich stammte sie aus einem Ersatzteillager der britischen Armee, die vierzehn Jahre vorher in Nordafrika gegen die Truppen Rommels kämpfte. Hermann und ich bauten die neue Achse ein, während sich Larbi, der Sohn der Halalis, Mackie, Hans und Jean-Pierre für eine Fotoreportage in die Kasbah begaben. Die Einwohner in den romantisch engen Gässchen waren in der Zeit seit Beginn der Auflehnung recht unduldsam geworden und betrachteten jeden Europäer feindlich. Dank der Vermittlung von Larbi kam die Gruppe knapp mit dem Leben davon. Der Aufstand der FLN gegen die französische Kolonialherrschaft hatte sich damit gleichfalls für uns empfindlich bemerkbar gemacht.
In den Monaten seit meinem letzten Aufenthalt in Algerien hatte sich die allgemeine Stimmung im Land deutlich verändert. In der modernen Stadt Algier war nichts davon zu bemerken, dafür kamen speziell aus der Altstadt und von außerhalb regelmäßig beunruhigende Nachrichten. Weil das Unternehmen Kasbah keinen Erfolg brachte, wollten Max und Hans die Djurdjura, das tief verschneite Wintersportzentrum Algeriens, für eine Fotoreportage besuchen. Das Gebiet war nur hundert Kilometer von der Hauptstadt entfernt, in zweitausend Metern Höhe vormals mit Hotels und Skiliften touristisch aufgeschlossen, war es jetzt verlassen und gefährlich. Die direkte Verbindung von Algier nach Constantine führte durch dieses wildromantische Gebirge, in dem Fellaghas nahezu täglich Sabotageakte ausführten. Sie sprengten Strommaste, überfielen Transporte und töteten alles, was ihnen vor die Gewehre kam. In einem der aufgelassenen und nicht zerstörten Hotels hatte sich eine Abteilung französischer Gebirgsjäger festgesetzt, abgeschlossen von der Umwelt. Im letzten Ort vor dem Anstieg aus der Ebene war ein Bäcker, der sich weigerte, weiterhin dort hinauf zu liefern. Beladen mit fünfzig Kilogramm Brot wurden die zwei angemeldeten Fotoreporter von den Soldaten mit schussbereiten Maschinenpistolen im Anschlag freudig begrüßt. Die Ausbeute an Bildern war, außer einigen im Fahren aus dem Auto geschossenen Landschaftsaufnahmen, eher gering. Mackie und Hans beeilten sich nach einer Übernachtung im Schutz der Gebirgsjäger, so schnell als möglich Algier wieder zu erreichen. Unversehrt kamen sie in der Herberge an.
Unser Aufenthalt in dieser schönen Stadt verlängerte sich. Da für Walter und Hans in Wien die Zeit zu knapp geworden war, mussten jetzt für sie die ausstehenden Visa besorgt werden. Die Formalitäten zur Erlangung der Erlaubnis für die Durchquerung der Sahara beanspruchten Zeit und verlangten Nerven. Beitrittserklärungen zum Touringclub, Treibstoffverträge, Verpflichtung zu gegenseitiger Hilfeleistung, sowie Versicherungen, das alles kostete Gebühren, die vor Entgegennahme der Dokumente bezahlt werden mussten. Die Verpflichtung zur gegenseitigen Hilfe auf die beiden Reisenden aus Köln erweitert. Wir hatten die sympathischen Herren so ins Herz geschlossen, dass wir nichts dagegen hatten, wenn sie sich uns für die nächsten Abenteuer anschlossen.
Nach genau einem Monat Aufenthalt in Algier war es endlich so weit! Ich hatte eine Holzkiste aufgetrieben, in der man den zum Betrieb des Tonbandgerätes notwendigen, schweren Einankerumformer festschrauben konnte. Die Autos wurden am Vortag der geplanten Abfahrt nochmals überprüft und beladen. Auch die „Teutonen“ packten. Walter ließ es sich nicht nehmen, die Nacht im Auto zu verbringen, damit er über unser Equipment in den Fahrzeugen wache. Der Abschied von den Halalis driftete ins Sentimentale, sie waren uns gegenüber wirklich großzügig gewesen und ich freue mich, dieser Familie hiermit nach so vielen Jahren ein Denkmal zu setzen. Die Verabschiedung von den Herbergseltern artete in ein unkontrolliertes Fest aus, das bei den sonst so duldsamen und freundlichen Menschen Missstimmung hinterließ. Was soll‘s, es war ja der letzte Abend in Algier.
(Die Musikaufnahmen zu diesem Kapitel sind im Katalog des Phonogrammarchivs der Akademie der Wissenschaften zu finden)
Die Ahnung war immer vorhanden, doch es kam überraschend. Das Netz- und Ladegerät des Computers verweigert den ihm zugeordneten Dienst. Wegen der hohen Umgebungstemperaturen und den ständigen Schwankungen des hauseigenen Stromaggregates, gibt das Gerät zischend und qualmend seine Funktion auf. Das bereitet mir größere Sorgen, weil ein für meine Arbeit funktionierender Computer unumgänglich notwendig ist. Ein zweiter Akkumulator zur Reserve ist im Gepäck, aber an die Mitnahme eines Ersatzladegeräts habe ich nicht gedacht. Nach einer kurzen Abkühlphase, es war glühend heiß geworden, inspiziere ich dieses elektronische Zubehör genauer.
Um zu den Eingeweiden des Gerätes zu gelangen, sind Schrauben zu öffnen, die das Gehäuse zusammenhalten. Diese Spezialschrauben haben aber Nietenköpfe, verschmitzt vom chinesischen Fabrikanten mit Absicht so vorgesehen, damit sie mit keinem herkömmlichen Werkzeug aufzudrehen sind. Ich bitte François, mich bei dieser Operation zu unterstützen. Mittels einer Bohrmaschine gelingt es ihm, das Innere des Patienten freizulegen. Schwarzbraune, nach verbranntem Isoliermaterial stinkende Klümpchen zwischen bisher intakt erscheinenden elektronischen Bauteilen, bieten einen traurigen Anblick. François schüttelt den Kopf, bringt einen Freund von ihm ins Spiel, der ein Wundertechniker sei. Allerdings müsste man das Teil nach Tamanrasset bringen. Das sind über dreihundert Kilometer durch die Wüste. Wir beschließen, umgehend loszufahren, da es noch früh am Tag ist. Solange François seiner Michelle unser Vorhaben erklärt, tanke ich meinen Landrover und zwei Reservekanister voll. Er ist lange genug gestanden, und Bewegung tut ihm sicher gut. Mit Wasser gefüllte Kanister stehen fest gesichert hinten im Auto. Um auf der Fahrt kühles Trinkwasser zu haben, hängen wir mit Haken eine Ziegenhaut zusätzlich an eine Wagenseite. Nach einer kurzen Kontrolle wollen wir die Auberge durch das Haupttor verlassen. Doch Michelle winkt uns vom Haus mit einem Papier in der Hand und ich lenke den Rover bis knapp an die Stufen heran. Sie überreicht uns einen Einkaufszettel für Tamanrasset und wünscht uns eine problemlose Fahrt.
Auf einer Sandebene fahren wir der aufgehenden Sonne entgegen. Die Piste ist streckenweise sicher zweihundert Meter breit und unzählige Spuren führen alle in die gleiche Richtung, nach „Tam“. So eine Fahrt, einige hundert Kilometer von jeder Zivilisation entfernt, bewirkt bei mir regelmäßig tiefes Glücksgefühl. Es gibt auf unserer Erde nur mehr wenige Plätze, an denen man Freiheit spüren und genießen darf. Sie ist hier gleichsam greifbar, obwohl selbst dieser Ort des Friedens unsichtbar vielen Strahlungen und Umweltverschmutzungen der zivilisierten Welt ausgesetzt ist. Trotz Radiowellen und Funkverkehr aller Frequenzen, in der Atmosphäre schwebenden Abgasen und Abfallpartikel irgendwelcher Industrien aus anderen Kontinenten, die bei Abkühlung oder mit Regen auf die Erde fallen, dringt das Gefühl physischer Freiheit tief ins Innere. Vor der exzessiven industriellen Entwicklung ab der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts gab es hier außer ein paar zu vernachlässigenden Radiowellen, oder die unvermeidlich in der Natur allgegenwärtigen Neutrinos, kaum Belastungen der Umwelt.
Nach etwa hundert Kilometern glatter Fahrt in der endlos erscheinenden Ebene bleiben wir auf einer leichten Anhöhe stehen. Mitten in der Piste, einfach so, niemand schreibt uns vor, was wir nicht tun dürfen. Links und rechts des ausgefahrenen Wellblechs breitet sich die Hamada, eine mit scharfen Steinsplittern übersäte Ebene aus. Im Windschatten der Steine liegen wie Minidünen kleine Sandhäufchen, die sich durch ihre hellgelbe Farbe von der dunkleren Erde ringsum abheben. Wir setzen uns einige Schritte weiter auf einen Steinhaufen und verharren andächtig, die absolute Stille nach dem lauten Gerumpel im fahrenden Rover genießend. Gelegentlich an- und abschwellend bewegt sich zart kühle Luft. Lange sitzen wir schweigend und versuchen, nichts zu denken. Ich stehe auf und hole aus dem Wagen einen geöffneten Rotwein, laute Geräusche dabei vermeidend. Michelle hat uns ausreichend Proviant mitgegeben. Wir nehmen jeder einen langen Schluck. Ohne Verschluss steht die Flasche zwischen uns, der leichte Luftzug zaubert aus dem Flaschenhals eine überirdische Melodie, gleich einer Panflöte. Die Töne fügen sich in die uns umgebende Lautlosigkeit harmonisch ein, den Frieden bewahrend. An vielen Plätzen in jener Einsamkeit gibt es kleinere oder größere Hohlräume im Gestein, in denen sich gleich Aeolsharfen Wind fängt. Ich stelle mir vor, dass ein freier Targi wie Akamouk wochenlang durch die unendliche Stille zieht, allerorten Musik hört.
Gerne würde ich in diesem Meer der Ruhe, in dem meine Seele glücklich schwimmt, einige Zeit verweilen. Aber wir müssen weiter, die Sonne wird bald gefährlich stechen und wir sollten möglichst bei Tageslicht die Stadt erreichen. Sandflächen wechseln mit Strecken steinigen Untergrunds ab. Inmitten der unwirtlichen Wüste kreuzt unsere Piste eine andere, die schnurgerade in Nord-Südrichtung führt. Neben der Kreuzung steht von Beton eingefasst ein Brunnen mit einem richtigen Wasserhahn. Erstaunlich, welche Änderungen die Algerier seit meinem letzten Besuch in diesem Land vorgenommen haben. Wir halten Mittagspause bei der Wasserstelle, öffnen eine Dose Ölsardinen, was sentimentale Erinnerungen an die erste Expedition aufsteigen lässt, und verteilen den Inhalt redlich auf die zwei Hälften des von Michelle eigenhändig gebackenen Brotes. Nach dieser Stärkung fahren wir weiter in Richtung Tam, wie die Stadt im täglichen Umgang kurz genannt wird.
Tamanrasset steht der moderne Gebäudekomplex der Universität. Diese wurde 2009 eröffnet und gewann in den wenigen Jahren seither aus ihrem Einzugsgebiet 53.000 Studierende der Rechts- und Sozialwissenschaften. Dem zufolge ist die Stadt gewachsen. Trotz der späten Stunde finden wir die Werkstatt des Bekannten von Francois. In einem langgestreckten Raum, kaum vom Rest des Tageslichts erhellt, stehen ein paar Tische, die anscheinend ohne Ordnung mit nicht genau zu definierenden Gerätschaften und Bestandteilen voll belegt sind. Auf einer der Tischplatten gibt es eine von einer elektrischen Birne schwach beleuchtete freie Arbeitsfläche. Im Habitus eines Targi begrüßt uns der Gesuchte, der sich nach längerem Austausch von Höflichkeiten mit uns meines elektronischen Patienten annimmt. Bis morgen Mittag wird er das Gerät repariert haben. Unangenehm macht sich hier moderne Zivilisation bemerkbar. Obwohl er ein Einheimischer, demnach ein Targi ist, bietet er uns keinen Tee an. Die drei traditionellen Gläser Tee bei den Tuareg sind nicht nur Vertrauen bildend oder das Versprechen für eine überragende Gastfreundschaft, sondern ergeben darüber hinaus an heißen Tagen einen gesunden Durstlöscher. Müde begeben wir uns in ein Touristenhotel im Zentrum der Stadt und erwarten sehnsüchtig ein abendliches kühles Bier.
Am nächsten Morgen fahren wir mit Michelles Einkaufsliste für Lebens- und Putzmittel zu verschiedenen, europäisch wirkenden Läden. Aufmerksam besichtigen wir die saubere und teilweise moderne Stadt, mit ihren etwa 190.000 Einwohnern. Mir fällt auf, dass Autos von Toyota hier allgegenwärtig sind. Baukräne ragen in den Himmel, denn an einigen Stellen baut man mehrgeschossige Häuser, geplant sind 7.000 Wohneinheiten. Bei unserer Rückkehr ins Hotel erhalten wir die Nachricht, dass das Netzgerät wieder funktioniert und abholbereit sei. Francois regelt die finanzielle Angelegenheit mit seinem Freund und wir fahren auf breiter Asphaltstraße in die Wüste. Für diese Fahrt benötigen wir kaum Scheinwerfer, es ist Vollmond, der Straße wie Piste ausreichend und umfassend beleuchtet. Nach zügiger und romantischer nächtlicher Reise durch die Hamada erreichen wir spät in der Nacht die hell erleuchtete Auberge. François ärgert sich wegen der offensichtlichen Energieverschwendung. Aber infolge der herzlichen Begrüßung durch Michelle wagt er es nicht, ihr deshalb Vorwürfe zu machen, dieser Pantoffelheld. Ich verschwinde in das Turmzimmer, verbinde das Ladegerät mit dem Computer und stelle erfreut fest, dass es funktioniert. Dann übermannt mich große Müdigkeit und ich falle ins Bett. Vor dem schnell kommenden Schlaf scheitern Versuche, mich auf zukünftigen Text zu konzentrieren. Doch morgen werde ich an meinen Erinnerungen weiterschreiben:
In der Jugendherberge von Algier frühstückten wir wie geplant zeitig am Morgen. Mackie, Schani und Kopezky fuhren mit dem IFA zu Besorgungen in die Stadt. Wer ist „Schani“? In einer Anwandlung von Zärtlichkeit, ebenso aus Bequemlichkeit, hatte es sich im engen Kreise eingebürgert, Jean-Pierre einfach Schani zu rufen, was ihm gefiel und deshalb beibehalten wurde. Mit etwas ramponiertem Auto kehrten die drei später wieder zurück. Sie hatten eine kleinere Konfrontation mit einem LKW, aber der dadurch entstandene Schaden wurde von der Versicherung umgehend in bar geregelt. Das war damals in Algerien so üblich, was unserem Expeditionsetat recht guttat. Vorschläge, dass Schani weiterhin in Algier bleiben und mit dem Auto Geld verdienen sollte, wurden aus einsehbar praktischen wie moralischen Gründen verworfen.
Vor der Abfahrt äußerte ich deutliche Bedenken wegen der Achse an meinem Auto, die wurden aber von den Freunden mit fast beleidigenden Ausdrücken wie Angsthase, Pessimist etc., zerstreut. Da Schani und Kopezky aus administrativen Gründen in der Stadt blieben, gab es einen rührenden Abschied von ihnen, und einen, durch die exzessiv überzogene Abschiedsfeier des Vorabends bedingten, weniger emotionalen von der Herbergsmutter.
Endlich fuhren wir los. Die Besatzung des Ubu bestand aus Mackie, Walter und mir am Steuer des Humber. Voran düsten in ihrem VW-Käfer-Kabrio die Teutonen Hermann und Ernst, mit denen wir beim Touringclub in Algier einen Beistandsvertrag abgeschlossen hatten und somit engverbunden waren. Die Fahrt ging gegen Südwesten. Die etwa 400 Kilometer entfernte Stadt Mascara (jetzt Muaskar) war unser erstes Etappenziel. Diese Strecke ist auf einer breiten, exzellent ausgebauten asphaltierten Straße ohne Mühe in wenigen Stunden zu schaffen. Allerdings empfahl man uns, ausschließlich bei Tag zu fahren, denn die Route lief durch Gebiete der Aufständischen. Welch Unterschied zu meiner Reise im Vorjahr auf derselben Strecke! Verlassene, verwilderte und niedergebrannte Farmen zeugten davon, dass wir mitten durch Kampfzonen fuhren.
Die Straße führte uns durch eine fruchtbare, kultivierte Ebene. Da es Winter war, lagen die Äcker ringsum allerdings brach, sodass nicht zu erkennen war, was da angebaut wurde. Vor El Affroun tickten die sechs Zylinder des Humber nicht mehr richtig und stotterten. Bei einer Tankstelle wurde die Benzinleitung mit Druckluft ausgeblasen. Eine wohlgesetzte Aktion, die dem Motor wieder seinen gleichmäßigen Lauf und die volle Kraft zurückgab. Diese kleine Panne war also der Grund für die schlimmen Vorahnungen, die mich in Algier geplagt hatten. Das glaubte ich zumindest und fuhr beruhigt und froh in die Zukunft blickend weiter. Anscheinend etwas zu unbesorgt, denn zwölf Kilometer nach El Affroun, wir hatten kaum den winzigen Ort Oued Djer passiert, brach die zweite Achse und es gab keine in Reserve.
Die Straße schmiegte sich rechts, den Formationen der Berge folgend, an die Abhänge, links ging es hinunter in ein Flusstal, das in seinem Verlauf mehrmals die Breite wechselte. Eigentlich war der Fluss ein munter fließender Bach. Wir standen unbeweglich kurz vor einer Brücke, Père Ubu etwa ein Drittel der Straße blockierend und dadurch den Verkehr gefährdend. Da wir für die vorausfahrenden Deutschen im Rückspiegel nicht mehr zu sehen waren, drehten sie um, und der VW stieß wieder zu uns. Eine kurze Beratung ergab, dass sich die beiden Kölner mit 10.000 Francs nach Algier zurückbegeben und dort eine Ersatzachse suchen werden. Den auf dem Rücksitz zwischen Reisegepäck eingeklemmten Mackie setzten sie in El Affroun ab. Er kam dann bald im Auto eines Mechanikers zurück, mit dem wir gemeinsam versuchten mittels einer Schleppvorrichtung den schweren Wagen zur Seite zu bringen. Doch mit einem Gesamtgewicht von mehr als drei Tonnen widersetzte sich das Auto allen Bemühungen, seinen Standort zu verlassen.
Mackie, nicht an Technik interessiert, blickt von oben herab auf unseren Fuhrpark in Oued Djer
ch spazierte vor zu der Brücke über den ausgetrockneten Fluss, dem Oued, und sah unten einen zerschellten und halb ausgebrannten Citroën 11 liegen. Dieser Anblick brachte mir die verschiedenen Warnungen wegen der blutrünstigen Räuber und Wegelagerer, den Fellaghas, wieder zu Bewusstsein. Fellaghas nannte man damals abschätzig die algerischen Freiheitskämpfer, die von 1954 bis 1962 die französische Kolonialmacht bekämpften. Dieser Krieg war im Jahre 1955 erst im Anfangsstadium, doch zeichnete sich die Brutalität und Menschenverachtung mit der er geführt wurde schon deutlich ab. Er wurde deshalb allgemein der „schmutzige Krieg“ genannt. Wie wir später erfuhren, war genau dieses Gebiet, in dem wir festsaßen, ein Schwerpunkt für Überfälle. Uns umgab eine zerklüftete Berglandschaft, in der man hinter jedem Grat, Stein oder Busch einen bösen Fellagha vermuten konnte.
Bei Tageslicht war die Gefahr von Gewalt gering, erst in den Nachtstunden setzten die Kämpfer ihre Aktionen. Ein zufällig vorbeikommender, lokaler französischer Polizist erkannte, dass diese Panne nicht so schnell zu beheben war. Er half uns insoweit, indem er einem arabischen Gardien, einem Wächter, Anweisung gab, uns und unser Gepäck einzuquartieren. Das Haus, eine von ihren französischen Besitzern verlassene Farm, lag in 150 Metern Entfernung in dem Flusstal, durch einen Hügel vom invaliden Père Ubu getrennt. Von der höher gelegenen Straße führte eine unbefestigte kurvige Auffahrt hinunter zu dem kleinen Anwesen. Der Gardien, mit einem arg gebrauchten grauen Wintermantel und dem landesüblichen bunt gemusterten Turban bekleidet, transportierte unser Gepäck auf einem alten Lastauto von der Straße zum Anwesen. Das Haus war ebenerdig, sauber gehalten und gepflegt, das vorgezogene Ziegeldach wurde von einigen Säulen gestützt und bildete damit eine Art Veranda. Ein bis auf einen Schrank ausgeräumter, quadratischer Vorraum mit jeweils einer Türe an allen 4 Seiten empfing uns. Licht drang ausreichend durch die Füllungen aus Glas der sich gegenüberliegenden Eingangstüren. Eine davon war der Haupteingang, die andere, gegenüber liegende führte nach rückwärts hinaus auf eine Wiese und zu dem Bach hinunter, der das Grundstück begrenzte. Eine dritte Türe links war verschlossen und wahrscheinlich der Zugang zum Wohnbereich mit der Küche und den Sanitäranlagen der Farm. Nur von außen vom Hof zu erreichen, befand sich in einem Anbau das Zimmer des über das Anwesen wachenden algerischen Wächters. In der rechten Wand vom Haupteingang gesehen, war eine vierte Türe, die zu einem größeren, ebenso leeren Raum führte, mit einem übers Eck gebauten offenen Kamin. In der anderen Ecke stand verloren ein riesiges Ölfass. Ein Fenster gab den Blick nach außen, gegen Westen, frei. In dieses Wohnzimmer brachten wir das Expeditionsgepäck und die Luftmatratzen. Die drei Matratzen von Semperit bliesen wir auf und legten sie so nebeneinander, dass das Fenster in unserem Blickfeld lag.
Inzwischen war der freundliche Gendarm von seiner Suche nach einem Abschleppwagen ergebnislos zurückgekommen. Auf unseren Wunsch erhielten wir gegen geringe Entlohnung, eine einheimische Wache für das invalide Auto zur Verfügung gestellt. Wahrscheinlich war es dem Mann zu kalt und zu gefährlich, denn er blieb nur eine Nacht. Was ein paar Tage später Folgen hatte.
Langsam brach die Dämmerung herein und der Gendarm verabschiedete sich auffällig schnell. Es gab um diese Tageszeit zwar kaum Verkehr, blieben trotzdem die Standlichter unseres Fahrzeugs aus Vorsicht brennen. Wir machten uns Gedanken über die französischen Besitzer der Farm, sind sie geflüchtet, vertrieben oder gar ermordet worden? Auch waren wir nicht sicher, auf welcher politischen Seite der Gardien des Hauses stand, und ob er uns vielleicht in der Nacht umbringen wird? Deprimiert und müde schlüpften wir in unsere kuscheligen Schlafsäcke. Da das Quartier mitten im Krisengebiet lag, schliefen wir mit geladenen Waffen in Griffweite. Plötzlich riss uns lautes Gerenne und Gepolter aus tiefem Schlaf. Die Geräusche kamen von oberhalb der Zimmerdecke. Anscheinend spielten einige Ratten am Dachboden Fußball, zumindest klang es so. Außer diesem erschreckenden Ereignis gab es in dieser ersten Nacht keine besonderen Vorkommnisse.
Eine lange Zeit des Wartens auf eine neue Achse begann, die unsere Geduld und Nerven schwer auf die Probe stellte. Wir alle hatten triftige gemeinsame sowie persönliche Gründe dafür, die Expedition erfolgreich abzuschließen. Ein Abbruch stand deshalb niemals zur Diskussion. Die Batterie des Autos war am nächsten Morgen wenig überraschend absolut leer. In El Affroun trieben wir einen Mechaniker auf, der einen Wagenheber mit Rädern mitbrachte. Damit gelang das Verschieben des Ubu. Von jetzt an stand er korrekt am Straßenrand. Doch kostete diese Aktion wiederum 500 Francs. Der freundliche Gendarm besuchte uns und erzählte von einem heute Nacht stattgefundenen Überfall der Fellaghas. In circa fünfzehn Kilometern Entfernung von hier fanden etliche Pied Noires dabei den Tod. Als am nächsten Tag wieder von einem Angriff auf ein französisches Munitionsdepot in unmittelbarster Nähe berichtet wurde, beschlossen wir, unsere Sicherheit zu organisieren und Räume wie Leben taktisch zu verteidigen.
Am Abend waren wir mit dem ausgeklügelten Plan bereit, dem Angriff einer Division blutrünstiger FLN-Kämpfer standzuhalten. Im Falle einer Attacke sollte Walter mit seinem zur Jagdwaffe umgebauten Kriegsveteranen, einen Karabiner K 98, den linken Haupteingang im Vorraum verteidigen und Max, der zwischen uns sein Lager hatte, mit der Schrotflinte das rückwärtige Tor vor Eindringlingen schützen. Mir fiel die Aufgabe zu, mich hinter dem Ölfass zu verschanzen, und von dort den Schlafraum und dessen kostbarem Inhalt sowie das Fenster mit meiner 7,65 mm-Pistole zu sichern. Nach dieser taktischen Besprechung malten wir einen Wegweiser: „Villa Achsbruch – 100 m“ und stellten ihn gut sichtbar oben an der Straße auf. Wir hofften, dass uns dadurch eventuell vorbeireisende Landsleute und Besucher leichter finden, seien wir tot oder lebendig. Darüber hinaus sollte es ein Signal für die FLN sein, dass hier weder Franzosen, noch Pied Noirs wohnen. Selbstverständlich schliefen wir wieder mit geladenen Waffen bei der Hand.
m sicheren Gefühl unserer Kampfstärke dachten wir am nächsten Morgen an das, dem Rektor der Veterinärmedizin der Universität, Prof. Marinelli in Wien gegebene Versprechen, möglichst zahlreich Tiere zu fangen und heimzubringen. Nicht unbedingt wegen der zu erfüllenden Aufgabe, mehr als Beschäftigungstherapie, beschlossen wir die Jagd nach Schlangen aufzunehmen. Obwohl es in der Gegend sicher viele davon gab, fanden wir keine. Der neuerliche Wintereinbruch mit Schnee und Eis hat sie offensichtlich in ihre Höhlen getrieben. Dafür brachte Walter einen dicken Igel von der Jagd mit, den wir nach einer Comicserie prompt „Mekki“ tauften. Fleißig wurden trockene Äste zum Heizen gesammelt, denn es ist empfindlich kalt geworden. Niemand von uns hatte mit solchen Minusgraden in Afrika gerechnet. Der Kamin rauchte und qualmte dermaßen, dass wir wegen drohender Erstickungsgefahr die Fenster öffnen mussten, was uns in dieser Nacht fast erfrieren ließ.
Am nächsten Tag tauchte eine Abordnung Einheimischer auf und bei Kaffee wurde ausgiebig geplaudert. Auf deren Fragen erklärten wir ihnen offen, wer wir sind und was uns hierher verschlagen hat. Vorsichtshalber behandelten wir sie überaus freundlich, man kann ja nie wissen, ob sie nicht Informanten für die Fellaghas, oder gar selbst welche waren. Da französisch gesprochen wurde und ich recht wenig von der Unterhaltung verstand, zog ich alleine los, um zwischenzeitlich zu jagen. Eine betörend bunte Kröte und eine beachtenswert große Schildkröte waren die Ausbeute. Max, den die freundlichen „Nachbarn“ bereits verlassen hatten, sah Letztere und schwärmte laut mit glänzenden Augen von einer Schildkrötensuppe. Später am Tag war Mackie und Walter das Jagdglück hold und sie kehrten mit einer Schlange heim, Max hat sie mit der bloßen Hand gefangen. Niemand war in der Lage zu bestimmen, ob und wie giftig sie ist. Es entwickelte sich eine spannende Diskussion über die Merkmale, an denen man eine giftige von einer ungiftigen Schlange unterscheiden kann. Total verunsichert steckten wir sie in einen hohen, von der Fa. Semperit gespendeten Bottich. Bald darauf bemerkten wir, dass sich die Grundlage für die Schildkrötensuppe ihrer Bestimmung entzogen hatte und geflüchtet war. Dafür fürchteten wir, dass die still in sich ruhende Schlange dem Hungertod nahe sein könnte. Solch tragisches Ende versuchten wir mit einer gefangenen Maus abzuwenden. Nachdem dieses niedliche graue Tierchen mehrmals über Körper und Kopf des aus Angst vor dem wilden Tier wie gelähmt daliegenden Reptils gestolpert war, sprang das Mäuslein aus dem Gefäß und verschwand auf Nimmerwiedersehen. Womöglich lebte diese Schlange vegetarisch?
Wir erfuhren vom Gardien, dass sich bei Dunkelheit wieder ein tödlicher Überfall in nächster Nähe ereignet hat. Worauf wir uns frustriert in unser Zimmer zurückzogen. An diesem Abend kochte Max eine arabische Spezialität! Es waren „Pois chiches“ (Kichererbsen). Er hat eine große Menge davon zugestellt und würzte das Gericht äußerst scharf. Trotz stundenlangem Kochen im Druckkochtopf blieben die Hülsenfrüchte steinhart. Der Verzehr dieses widerstandsfähigen Gemüses gestaltete sich mühsam. Während des ausgiebigen Abendessens hob ein langes, wohlabgewogenes Gespräch über Kunst im Allgemeinen und im Speziellen an, das später unter dem Einfluss einiger Flaschen „Vin de Pays“ unaufgeregt im Unendlichen verkleckerte. Anschließend begaben wir uns mit Taschenlampen und Eifer auf eine wilde, allerdings erfolglose Mäusejagd.
Missgelaunt und mit Sodbrennen erhoben wir uns bei Tagesanbruch. Das Warten auf die Ersatzachsen nervte. Mackie, der Zivilisation entronnen, lässt sich einen Bart wachsen. Täglich marschierten zwei von uns zur Post in El Affroun und versuchten, nach Wien zu telefonieren. Es blieb erfolglos. Zur Abwechslung erschienen die „Teutonen“ Hermann und Ernst mit einer Wienerin und deren beiden jugendlichen Töchtern im Schlepptau. Die Freunde haben ihren Plan, die Sahara mit dem Käfer zu durchqueren, aufgegeben und kamen, um sich verabschieden. Sie mussten wieder zurück nach Köln. Sie erzählten uns, dass Feichtinger, die Kontaktperson, dies war der Pächter des „Rondell“ in Wien, von unserem Wunsch über drei Ersatzachsen sowohl schriftlich, als auch telegraphisch in Kenntnis gesetzt worden sei.
In der Zeit, da die anderen im Haus bei einem Kaffee plauderten, nahm ich eine Machete und lud die beiden Mädchen zu einer Besichtigung der Umgebung ein. Walter ließ es sich nicht nehmen die kleine Expedition zu führen, und eilte voraus. Ich war gewissermaßen die Nachhut. Vor allem der Anblick der seinerzeit äußerst modernen, über dem Gesäß recht enganliegenden, und dadurch meine Phantasie beflügelnden Keilhosen der vor mir gehenden jungen Damen war entzückend. Von Zeit zu Zeit fuhr sich die jüngere der beiden, Linda, mit den Händen auflockernd unter ihr schulterlanges Haar, um es gleich wieder mit einer unnachahmlichen, schnellen Kopfbewegung fallen zu lassen. Verloren in diese Ansichten verfehlte ich beim Überqueren eines Baches einen Stein. Der Länge nach fiel ich in das eiskalte, klare Wasser, was meiner Selbstsicherheit und dem galanten Eroberungsdrang ein unrühmlich abruptes Ende setzte. Nach einem maßvollen Abschiedstrunk blieben die Mitglieder der Expedition wieder sich selbst überlassen.
Walter buk zum Abendessen Palatschinken. Diese Jahrhundertwerke der Kochkunst erreichten langanhaltende Berühmtheit. Unser Kassenwart nahm dazu Mehl, eine Prise Salz und vermischte die Zutaten mit klarem Wasser. Dann verteilte er den daraus gewonnenen flüssigen Teig in eine schwach oder gar nicht eingefettete Stielpfanne und ließ ihn sorgfältig am Feuer auf beiden Seiten bräunen. Das Produkt wurde der Pfanne entnommen, mit einer Sardine belegt, etwas Öl aus selbiger Dose beträufelt und so verzehrt.
Da die nach rückwärts hinausführende Türe nicht zu versperren war, musste sie verbarrikadiert werden. Bevor wir uns in das Schlafzimmer zurückzogen, türmten wir alles zu findende Tischgeschirr aus Porzellan und einige Gläser aus dem Schrank vor die sich nach innen öffnende Türe. Bei unerlaubtem Öffnen von außen würde der Geschirrturm in sich zusammenstürzen und uns wecken. Beruhigt und in Erwartung friedlichen Schlafes verkrochen wir uns in die Schlafsäcke.
Doch in der Einschlafphase weckte uns Höllenlärm. Mackie warnte mit dem Ruf „Fellaghaaas“! Unser minutiös vorbereiteter Verteidigungsplan musste jetzt in die Tat umgesetzt werden. Diesem taktischen Meisterwerk gemäß sprang Walter von seinem Lager auf und raste in den Vorraum. Leider verdeckte die geöffnete Schlafzimmertüre den dahinter stehenden Karabiner, weshalb er ihn nicht sehen konnte, und ohne eine Waffe hinaus lief. Ich bekam das mit, konnte meinen unbewaffneten Freund Walter doch nicht im Kugelhagel der Freiheitskämpfer sterben lassen, und eilte ihm mit geladener 7,65 er zu Hilfe. In der Dunkelheit umkreisten wir zwei das Haus und fanden keine Angreifer. Der Vorraum war mit Scherben übersät. Zurück in unserem Raum hörten wir ärgerliches Stöhnen vom mittleren Lager her. Mackie wand sich auf der Matratze und versuchte vergebens, den verklemmten Reißverschluss seines Schlafsackes von innen zu öffnen. Wir befreiten ihn aus dieser misslichen Lage und untersuchten nochmals bei Licht den Vorraum. Igel Mekki zog unschuldsvoll grunzend seinen Weg durch die Scherben des Geschirrs. Daraufhin entschieden wir einstimmig, dieses Tier nicht der Wissenschaft zugänglich zu machen, sondern ihn bald als Bereicherung unserer fleischlosen Kost zuzuschießen.
Am nächsten Tag erhielten wir Besuch von drei französischen Offizieren. Wir sollten Einquartierung bekommen. Nachdem die Herren die Beengtheit der Wohnmöglichkeiten gesehen hatten, fuhren sie unverrichteter Dinge wieder ab, nahmen aber freundlicherweise Mackie und mich nach El Affroun zur Post mit. Weder ein Brief, noch ein Telegramm waren aus Wien angekommen. Müde und gedrückter Stimmung erreichten wir wieder die Villa Achsbruch. Walter empfing uns mit einem Druckkochtopf voll köstlicher Suppe, die ausgezeichnet wie vom Huhn schmeckte. Nach deren Genuss teilte uns der Koch mit, dass die Basis dieser Speise Mekki gewesen sei. Na ja, immerhin war Walter ja vor einiger Zeit Jäger, der sogar Antilopen vortrefflich zuzubereiten wusste. Kurz darauf kam unser Gardien mit einer großen Schüssel Couscous, die er uns stolz überreichte. Seine Frage nach dem Wohlergehen des Igels überhörten wir geflissentlich.
Später am Nachmittag marschierten wir zur Straße hinauf zu unserem dreibeinigen Père Ubu, um ihn mit Pflöcken abzustützen. Dabei entdeckten wir, dass zur Nachtzeit in das Auto eingebrochen, das Kurzwellenradio ausgebaut und gestohlen wurde. Dieses Radio war nicht zur Unterhaltung bestimmt, sondern bildete in vordigitalen Zeiten die einzig mögliche Informationsquelle und Verbindung zur Welt. Wir beschlossen, ab da den Wagen in der Dunkelheit nicht mehr unbeaufsichtigt zu lassen. Und so kam es, dass ich die erste Wache von 19:00 bis 22:00 Uhr zugeteilt bekam. Daran anschließend waren Max und Walter jeweils auf zwei Stunden mit ihren Waffen zum Wacheschieben dran. Ich wurde um 4:30 geweckt, da ich meinen Turnus bis 7:00 Uhr anzutreten hatte. Am Nachmittag kam der Besitzer der angrenzenden Farm, ein gebürtiger Russe, zu Besuch. Er wollte uns helfen, das Auto zum Haus hinunter zu bringen. Es ist aber zu schwer und bewegt sich nicht. Walter fuhr mit dem freundlichen Nachbarn zu dessen Farmhaus. In seiner Abwesenheit versuchten Mackie und ich, das Couscous zu vertilgen. Mit mäßigem Erfolg. Walter kehrte von seinem Besuch beim Russen mit zwei Hasen, Wein und Orangen zurück. Das ergab abends ein festliches Mahl! Da die Zeit seiner Wache gekommen war, verzog sich Walter in den Père Ubu, dieweil Mackie und ich um die folgenden Nachtwachen würfelten. Mir fiel gleich die Nächste zu.
Im Laufe dieser Wache erschienen gegen 23:00 Uhr zwei schwer bewaffnete Polizisten beim Auto. Sie wollten unsere Papiere überprüfen. Ich führte sie ins Haus hinunter, wo alle Dokumente aufbewahrt waren. Nach deren Sichtung waren Sie zufrieden und wir tranken Mokka miteinander. Gleich drauf trat ich wieder den Dienst im Fahrzeug an. Es war saukalt, die Temperaturen lagen unterhalb des Gefrierpunkts. Schneeregen tat das Übrige, damit die Wachezeiten so ungemütlich wie möglich wurden. Dementsprechend hatten wir unter den praktischen Overalls eine Menge Kälte isolierender Kleidung an, was uns Gangweisen und Bewegungen ähnlich Robotern beschied. Solche Montur ergab jedes Mal umständliches und abkühlendes Entkleiden, wenn man auf Wache dem oft nicht aufzuhaltenden Stoffwechsel unterschiedlicher Konsistenz Tribut zollen musste.
Am Morgen weckte ich die Schläfer im Haus singend mit dem schönen Lied „I’m dreaming of a White Christmas“, denn es hatte in der Nacht erstmals heftig geschneit, die umliegenden Höhenzüge waren weiß überzuckert. Selbst auf den Wiesen ringsum lag Schnee. Im Laufe des Tages schmolz er weg, um am Abend wiederzukommen. Nach etlichen missglückten Versuchen zog der Kamin endlich und wärmte unter Stimmung verbreitendem Knistern unsere Stube. Das trug zu einer gewissen allgemeinen Zufriedenheit bei. Doch wir sollten den Krieg noch hautnah zu erleben bekommen.
Gemütlich und in guter Stimmung sitzen wir drei, Michelle, Francois und ich in den etwas bequemeren Stühlen mit Armlehnen, vor uns jeder ein Glas roten Weines aus den Weingärten von Muaskar (Mascara), im Norden Algeriens. Ich bin wieder einmal sehr froh, dass es in diesem Haus keine Klimaanlage gibt. Die drei großen Deckenventilatoren verwirbeln fast unhörbar die Luft und kühlen damit ausreichend. Ich erzähle den beiden Geschichten aus den Erinnerungen, die ich demnächst schreiben werde. Die Reaktionen darauf helfen mir bei der Entscheidung, welche davon für mein Buch relevant sind. Der Wein ist getrunken, die Vergangenheit wieder zum Leben erweckt, es ist Zeit zu Bett zu gehen. Doch der Schlaf stellt sich nur mühsam ein und die Nacht wird unruhig. Mehrmals erwache ich aufgeregt, die Erzählungen am Abend scheinen mich selbst so berührt zu haben, dass ich nicht mehr warten kann. Es herrscht noch Dunkelheit, als ich den Computer starte. Das Schreiben läuft heute ganz wunderbar und ich merke darüber nicht einmal die Morgendämmerung. Die ersten Sonnenstrahlen fallen irritierend ins Zimmer auf den Bildschirm. Ich blinzele hinaus in die Wüste und sehe in der Ferne einige Kamele stehen. Die Tiere werfen in der Morgensonne lange Schatten. Es sind fünf an der Zahl und sie scheinen zusammen zu gehören. Doch woher kommen die, freilaufende Kamele sind in dieser Gegend äußerst selten anzutreffen. Ein Blick in den Hof des Anwesens erklärt alles, dort sind drei Gestalten versammelt und unterhalten sich leise. Akamouk ist wieder da! Neben ihm stehen ein in einen Tegelmust verhüllter Targi und François. Ich mache mich mit einem laut gerufenen „Guten Morgen“ bemerkbar und erhalte von unten dreifach fast synchron Antwort. Computerdeckel zu, vergessen ist das Schreiben für den Moment, es treibt mich hinunter in den Hof.
Die Begrüßung ist herzlich. Der zweite Targi heißt Iyad, ist ein Verwandter von Akamouk und möchte dorthin, wo er geboren wurde, in den Hoggar. Die beiden sind in der Nacht eingetroffen und standen vor verschlossenem Tor. Die Kamele wurden von ihrer Last befreit und sie warteten bis François, wie jeden Tag das Tor öffnet. Im Moment sind sie dabei die wertvollen Sättel und einige Bündel mit ihrem Hab und Gut in die Garage zu bringen. Michelle kommt aus dem Haus, begrüßt die beiden Männer gerührt, die Freude Akamouk heil wiederzusehen ist ihr anzumerken. Zu François und mir gewandt teilt sie uns mit, dass das Frühstück fertig sei. Es wird ein kurzes petit déjeuner, denn wir sind neugierig und wollen erfahren, wie es in Mali war.
Zum Verständnis des Folgenden ist es notwendig, in groben Zügen über die komplizierte Situation in Mali informiert zu sein. Fünf Kräfte (ohne der Untergruppen) mit unterschiedlichen Zielsetzungen kämpfen dort um ein riesiges Gebiet, das weder fruchtbar noch besonders reich an Bodenschätzen ist, mit Ausnahme von Uran, jedoch touristische und strategische Bedeutung hat:
Säkulare Tuareg für mehr Selbstbestimmung,
“ “ für einen eigenen Staat Azawad,
Islamistische Tuareg für eigenen islamischen Staat,
Regierung Mali (Bamako) plus den schwarzen Völkern im südlichen Azawad und
natürlich Frankreich
Azawad, das umkämpfte Gebiet Malis
Das Nomadenvolk Tuareg lebt in einem kargen Gebiet, das in seiner Ausdehnung etwa der Fläche Europas gleicht, in der Sahara und Teilen des Sahel im Süden. Ihr Einzugsgebiet umfasst Mali, Algerien, Libyen, Tschad, Niger und Burkina Faso. Es ist ein hellhäutiges nomadisierendes Reiter- und Hirtenvolk, das sich Sklaven aus Schwarzafrika hielt und noch heute hält. Woraus sich ergibt, dass sie sich von der durchwegs schwarzen Regierung in Bamako nicht beherrschen lassen wollen. Die Kel Tamaschek, wie sich die Tuareg selbst nennen, sind staaten- und stammesübergreifend durch ihre einheitliche Sprache und Kultur miteinander verbunden. Die von den Kolonialmächten im neunzehnten Jahrhundert willkürlich gezogenen Staatsgrenzen, welche Völker, Stämme und sogar Familien geteilt und über ganz Afrika Nationalstaaten gegründet haben, stören den Zusammenhalt der Tuareg überhaupt nicht. Viele Kämpfer im Azawad waren ehemalige Anhänger von Muammar al-Gaddafi. Sie flüchteten nach seinem Sturz mit großen Mengen Waffen und Munition nach Mali.
Die islamistischen Tuareg werden von der al-Quaida des Maghreb unterstützt und versuchen im Azawad durchgehend die Scharia einzuführen. Sie übernahmen kurz die Führung und zogen im Namen der Schari‘a raubend, mordend und plündernd durch das Land.
Die Regierung von Mali in der Hauptstadt Bamako, die in sich selbst zerstritten und durch ausufernde Korruption geschwächt, will den Norden Malis nicht verlieren.
Frankreich, das mit ihrer vierzehn afrikanische Staaten umfassenden Währungsunion, dem Franc CFA, auch Mali unter Kontrolle hat, will Frieden haben und selbstverständlich keinen islamischen Staat in ihrem Einflussbereich.
Zwei Revolten der Tuareg im vorigen Jahrhundert blieben ohne entscheidende Folgen für den Azawad. Der aktuelle Aufstand von 2012 wurde von den Franzosen zu einem trügerischen Stillstand gebracht. Truppen der UNO aus verschiedenen Ländern, darunter auch Deutschland, übernahmen die Kontrolle.
Flagge von Azawad
Nach dem gemeinsamen Frühstück begeben wir uns zu Akamouk in den Hof. Dort ist Iyad dabei ein für die Sahara typisches Lederzelt aufzustellen. Faktisch ist das kein Zelt, sondern eher ein Schutz gegen die Sonne. Über ein paar in die Erde gerammte Zeltpfosten werden imprägnierte Felle von Schafen oder Ziegen gespannt, die nur auf einer Seite bis zum Boden reichen, die anderen drei Seitenflächen bleiben meistens frei. Akamouk kocht währenddessen auf einem schnell entfachten Feuer Tee. Er hat seinen Tegelmust zu einem großen Teil abgenommen und zeigt seinen frisch gewachsenen, nicht gerade üppigen Bart.
Targi mit Bart
Den bewundern wir gehörig, erfahren aber den Grund dafür erst nach dem dritten Glas Tee. Dann beginnt Akamouk zu erzählen: Iyad wurde von Islamisten entführt und als Geisel für die Freilassung Gefangener benützt. Da er ein Verwandter ist, war es für den Targi Verpflichtung, ihn zu befreien. Das Versteck dieser Gruppe von Jihadisten lag unweit von Kidal entfernt, der durch die säkularen Tuareg zurückeroberten Stadt im Norden Azawads. Um als gläubiger Moslem erkannt zu werden, ließ er sich den Bart wachsen. Er ritt mit zwei Kamelen durch bergige Landschaften zum Lager der Islamisten und meldete sich beim Kommandanten, indem er sich als Kämpfer für die Scharia bekannte. Die Kommunikation war kein Problem, da alle Tamaschek, die gleiche Sprache verstanden. Akamouk erhielt nach intensiver Prüfung eine Tarnjacke aus russischer Produktion, einen Karabiner mit Munitionsgürtel ausgehändigt. Er bekam die Aufgabe, das Lager zu bewachen. Automatische Waffen wurden ausschließlich an aktive Kämpfer verteilt. In den nächsten Tagen musste er, von anderen streng beobachtet, fünfmal am Tag beten. Er machte sich mit der Gegend vertraut und konnte es einrichten, mit Iyad zu sprechen. Ein Raubzug der Gruppe nach Süden, an dem fast alle Kämpfer aus diesem Versteck teilnahmen, brachte in einer Nacht die Gelegenheit zu verschwinden. Da Akamouk seine Kamele darauf trainiert hatte beim Satteln nicht zu maulen, und die Jihadisten mit allen motorisierten Fahrzeugen unterwegs waren, entkamen sie unbemerkt. Sie ritten im schnellsten Tempo, das die Meharis hergaben, durch die Nacht und erreichten morgens das sichere Kidal. Dort besorgten sie innerhalb weniger Tage Proviant und füllten die Gerbas mit frischem Wasser.
Bei diesem Aufenthalt erfuhr Akamouk, was im Azawad geschehen war. Die Tuareg waren allein zu schwach, so paktierten sie mit den Jihadisten der al-Quaida. Das führte dazu, dass sie gezwungen waren, gegen ihre ursprünglichen Absichten, um mehr Autonomie zu kämpfen, einen islamischen Staat Azawad auszurufen. Die Islamisten übernahmen bald danach die Führung, terrorisierten das ganze Land und setzten die Scharia durch. Die Frauen gingen aller ihrer angestammten Rechte verlustig. Sie wurden zu totaler Verschleierung genötigt, was bei den an ein gemäßigtes Matriarchat gewöhnten Tuareg nicht gut ankam. Die säkularen Tuareg waren zu einem großen Teil gezwungen, nach Niger oder Ober Volta zu flüchten. Französische Fremdenlegionäre und Truppen aus dem Tschad setzten diesem Spuk ein Ende.
Die zwei mussten auf ihrem Weg nach Osten das Gebiet des einflussreichen Clans der Kel Ifoghas durchqueren. Akamouk hatte dort einmal geheiratet und suchte seine ehemalige Familie, die er in Frieden verlassen hatte. Er traf sie an, aber seine geschiedene Frau ist eine neue Verbindung eingegangen und war weggezogen, Teile ihres Eigentums zurücklassend. Ihr Bruder, der das Hab- und Gut der Frau übernommen hatte, starb bei Kämpfen im Azawad. Zurück blieben verwaist ein Mehari und zwei weitere Kamele, sowie ein Zelt. Akamouk bekam Kamele und Zelt vom Führer des Clans zugesprochen. Sie luden das zerlegte Zelt auf eines der Lastkamele und zogen in langen Tagesritten mit der kleinen Herde bis hierher. Hier möchten sie eine Weile rasten, bevor sie in den Hoggar weiterziehen. Akamouk ist enttäuscht über die Absichten seiner Tuaregbrüder in Mali. Sie wollen dort trotz des Widerstandes einen eigenen Staat gründen. Das brächte doch nur Arbeit und würde sehr viel Geld kosten. Es müssten Ministerien, Polizei, Militär aufgebaut werden, es gäbe Zwangssteuern und Gesetze zu befolgen die sich irgendwelche Leute ausdenken. Ein eigener Staat kompliziert doch alles, das freie Leben der Nomaden wäre vorbei.
Die Sonne steht schon recht hoch und es ist Zeit sich in den Schatten zurückzuziehen. Das Zelt ist aufgebaut, als Zeichen, dass das Gespräch beendet ist, reicht uns Akamouk ein zusätzliches viertes Glas Tee. François und ich begeben uns ins Haus. Am Weg hinauf in meine Stube überlege ich mir, dass ich ebenfalls gerne einmal gleich wie die Nomaden so durch die Wüste reisen würde. Aber ich verwerfe diesen Gedanken sofort wieder. Animiert von den Erzählungen Akamouks arbeite ich bis Mittag an meinem Manuskript:
In Oued Djer war Walter nach meiner Wache dran den Père Ubu zu beschützen. Wir haben uns angewöhnt, den nächstfolgenden Wachhabenden mit heißem Getränk zu versorgen. Damit es bei der herrschenden Kälte trotz Thermosflasche lange warm bleibt, wurde es in der Stube etwa eine Stunde nach Beginn des Turnus frisch zubereitet und zum Auto gebracht. Ich verließ das Haus mit der Flasche heißer Ovomaltine unter dem Arm, in der Jackentasche meine 7,65er – Pistole und einer Taschenlampe. Da wir hier mitten im Zentrum der Aufständischen festsaßen, vermittelte die Hand an der Waffe Mut und Zuversicht. Der Himmel war mit tiefen Wolken verhangen, darüber hinaus herrschte Neumond. Es war nicht nur bitterkalt, sondern dazu stockfinster. „Man konnte die Hand nicht vor den Augen sehen“. Dieses Sprichwort habe ich bei dieser Gelegenheit ausprobiert und fand es bestätigt.
Indem ich mich im Scheine der Taschenlampe die gewundene Rampe hinauf tastete, fand ich die Finsternis insofern vorteilhaft, weil man sich im Falle eines Angriffs links oder rechts die Böschung des aufgeschütteten Weges hinunterrollen und in der Dunkelheit verschwinden würde. Doch es sollte anders kommen. Auf halben Weg nach oben kam von irgendwo aus der Finsternis der Befehl: „Fermé la lumière“, mach‘ das Licht aus! Jetzt war der Moment gekommen, wie geplant davon zu laufen. Ich löschte die Taschenlampe, doch während ich überlegte, welche Seite des Weges zum fallen lassen die beste wäre, hörte ich ringsum das mir nicht unbekannte Repetieren von Maschinenpistolen. Da stand ich nun, mit einer Thermosflasche heißer Ovomaltine bewaffnet und einer bescheidenen Pistole in der Tasche, umringt von unsichtbaren Gestalten, die mit scharfen Waffen auf mich zielten. Sie hatten den Vorteil, aus der Finsternis zu kommen, meine Augen mussten sich erst auf die Dunkelheit einstellen. Man befahl mir, weiterzugehen. Ab und zu blitzte eine Lampe auf und einer der sich vollkommen geräuschlos fortbewegenden Herren beleuchtete damit kurzzeitig den Weg zum Auto.
Oben auf der Straße war es etwas heller, oder ich hatte mich an die Finsternis gewöhnt. Konturen des Autos und der Männer waren zu erkennen. Man bedeutete mir, ich solle in den Wagen steigen. Das ging aber überhaupt nicht, denn ich wusste, im Inneren sitzt Freund Walter mit geladenem Schrotgewehr. Wie wir besprochen hatten, würde er sofort schießen, sobald sich die Türe öffnete. Mein Zögern blieb nicht unbemerkt. Um mich zu beruhigen, zeigten sich im Lichte von Taschenlampen Männer in Djellabas, den längs gestreiften braunen Kaftans mit Kapuzen der Einheimischen. Ihr Anführer strippte vor mir, indem er sein arabisches Gewand bis zum Kopf hochhob und die französische Uniform darunter zeigte. Was mich keineswegs beruhigte, denn es war bekannt, dass die Fellaghas toten Soldaten die Kleidung auszogen, und in dieser Verkleidung ihre Überfälle tarnten. Mit angelegter Maschinenpistole deutete er mir, die Wagentüre zu öffnen. Es gab keinen Ausweg. Im Vertrauen auf die Besonnenheit Walters rief ich laut seinen Namen. Nicht die Spur eines Lebenszeichens kam aus dem Père Ubu. Ich dachte, ich soll einsteigen und dann erschießen sie mich im Auto. In Erwartung, eine blutüberströmte Leiche im Inneren des Wagens vorzufinden, öffnete ich die Türe und sah in eine Ecke gelehnt die Ferlacher Schrotflinte. Wo bitte, ist Walter?
Der Anführer der Truppe erzählte mit irgendetwas vermutlich in Französisch und deutete mir zum Haus hinunter zu gehen. Also ging ich los, von der geräuschlosen Horde Bewaffneter begleitet. Im Vorraum angelangt bedeutet man mir durch Gesten still zu sein und das Zimmer zu betreten. Jetzt stand ich vor der gleichen Konstellation wie oben beim Père Ubu. Verteidigung war sicher, nur dass Mackie wesentlich impulsiver war, als der in jeder Situation ruhig überlegende Walter war. Ich durfte vor dem Öffnen das zwischen uns ausgemachte Klopfzeichen nicht geben. Mit sehr gemischten Gefühlen und den schussbereiten Maschinenpistolen im Rücken öffnete ich betont lässig die Zimmertüre und überlegte, ob ich mich im Fall des Falles nach links oder rechts werfen sollte, um einer Kugel auszuweichen. Doch war auch hier diese Aktion nicht nötig, denn Max saß gegenüber dem Eingang beim Kamin und war konzentriert damit beschäftigt, sich knallrote Wintersocken anzuziehen. Mein Eintreten ignorierte er. Waffen gab es auch keine in seiner Reichweite. Allerdings erschrak er gewaltig und sprang mit einem roten Socken bekleidet auf, als er des Algeriers hinter mir ansichtig wurde. Der aber grüßte höflich und erklärte, sie seien eine mobile Kampftruppe und hätten Walter mit ihrem Fahrzeug in die Polizeistation der nächsten Ortschaft zur Überprüfung seiner Papiere geschickt. Es folgte ein kurzes klärendes Gespräch, währenddem sich Mackie ankleidete. Dann stieg er mit der Gruppe zum Auto hinauf. Oben angekommen funkte der Chefgoumier die Daten unserer Dokumente nach El Affroun. Wenig später kam Walter von einer Abteilung Polizisten bewacht, unbeschadet in einem Dienstagen der Polizei angefahren.
Ich legte mich mit dem Karabiner in Deckung hinter das Ölfass, weil ich war fest entschlossen, die Stellung zu halten! Es stellte sich heraus, dass unsere nächtlichen Besucher einer Spezialtruppe angehörten, den Goumiers. Das waren wilde algerische Kämpfer, vom französischen Militär speziell zu Partisanen ohne Hemmungen zu töten ausgebildet. Bei ihren Patrouillen in der Nacht bewegten sie sich auf den Gummisohlen ihrer Springerstiefel leise wie Katzen. Näherte sich ein Fahrzeug, verschwanden sie blitzartig von der Straße, bevor die Scheinwerfer die Truppe erfassen konnte. Spurlos tauchten sie in die Finsternis, ihre Position damit geheim haltend. Dieses Schauspiel beobachteten wir fast jede Nacht aus unserem Auto heraus, denn sie klopften bei ihren Kontrollgängen im Vorbeigehen regelmäßig freundlich an. Im Algerienkrieg auf der Seite der Franzosen kämpfend, waren sie nach der Befreiung Algeriens erbitterten Verfolgungen ausgesetzt.
In den Stunden nächtlicher Wachen der folgenden Nächte vernahmen wir oft deutliches Kratzen an der Karosserie des Père Ubu. Das hatte zur Folge, dass wir bei jedem Auftreten dieses Geräuschs mit entsicherter Waffe aus dem Wagen sprangen, ihn umkreisten, ohne jemanden zu erkennen. Einmal beobachtete ich, wie ein großer Vogel vom Autodach wegflog, der anscheinend den Aufbau des Gepäckträgers zum Ausgangspunkt seiner nächtlichen Jagden wählte.
Weit über drei Wochen waren wir jetzt an diesem Ort festgenagelt, das brachte unsere Nerven dazu, dass wir die Beherrschung schon aus geringstem Anlass verloren. Jeder auf seine Art. Mackie brüllte, sich mehrmals wiederholend „verdammt, verdammt“ wie ein brünftiger Stier, bis seine Narbe im Gesicht rot anlief, ich warf zerstörerisch den nächstliegenden zerbrechlichen Gegenstand in eine Ecke. Meine Uhr, die einzige neben der von Walter, fiel unabsichtlich durch die heftige Berührung mit einer Tischkante einer solchen Aktion zum Opfer. Walter zeigte seine Unzufriedenheit dadurch, indem er über seinen eigenen Schatten sprang, in den Expeditionsschatz griff und ein „Bidon“, eine große Flasche mit fünf Litern Rotwein aus El Affroun daher schleppte. Der Verlust meiner Uhr hatte zur Folge, dass wir uns auf die Zeitangabe der letzten halbwegs funktionierenden Uhr verlassen mussten. Walters Uhr blieb in vierundzwanzig Stunden grob geschätzte fünfzehn Minuten zurück. Und das nicht regelmäßig. Dies glich er täglich einfach durch manuelles Vordrehen um eine viertel Stunde aus. Dadurch stand im Laufe einiger Tage unsere Zeitrechnung in einem eigenwilligen Verhältnis zur Normalzeit. Dazu kam, dass in diesen Tagen ohne unser Wissen die algerische Zeit der MEZ angeglichen und eine Stunde vorgestellt wurde.
Walter sollte wegen eines avisierten Anrufes aus Wien zu einer bestimmten Zeit bei der Cabine telephonique im Postamt sein. Da er sich nach seiner Uhr richtete, war dieser Weg vergebens. Am nächsten Tag klappte es. In Algier wurde noch eine Achse für den Humber gefunden, und meine liebe und tüchtige Mutter hat auf Grund schriftlicher Erzählungen über unsere Nöte vom Unterrichtsministerium eine Aufstockung der Subvention erbeten und erhalten. Unsere Verluste durch die nicht vorherzusehenden recht kostspieligen Aufenthalte waren somit ausgeglichen. Darüber hinaus sind die Achsen aus Wien endlich angekommen. In Hochstimmung begaben wir uns am Abend auf eine wilde Rattenjagd und brachten binnen einer viertel Stunde fünf gewaltige Exemplare zur Strecke. Es war meine Wache, Mackie begleitete mich bis zum Auto. Am Rückweg gab er aus purem Übermut einen Schuss in die Luft ab, was den Gardien mit einem Gewehr auf den Plan rief. Doch der Erschrockene verstand diesen Ausdruck von Freude.
Der nächste Tag begann bei prächtigem Wetter mit einem ausgiebigen Frühstück. Der Kalender zeigte bereits den 15. Februar, die Sonne hatte etwas mehr Kraft, so dass für uns Körperreinigung und ein Bad im Bach angesagt war. Am Nachmittag, ich hatte eben mit der Reinigung des Père Ubu begonnen, hörten wir endlich das unverkennbare Knattern des IFA, der die Ersatzteile brachte.
Die neue Achse (Walter, Gardien und ich v.l.n.r.)
Es folgte ein netter Abendplausch mit Sekt und der von der Familie Halali gespendeten Flasche Pastis, bevor Schani und Kopezky wieder in die Stadt Algier abrauschten. Jetzt mischten wir uns wie gewohnt unser Leibgetränk nach eigenem Rezept: halb Anisette – halb Wasser. Die Nacht verlief ruhig, der Morgen brachte miserables Wetter mit Hagel, Schnee und Regen abwechselnd und dann wieder alles gleichzeitig. Wir hatten über den rückwärtigen Teil des Père Ubu sorgfältig eine Art Zelt aus Plachen konstruiert, damit wir die Montagearbeiten in Trockenheit durchführen können. Lange Kolonnen offener Lastwagen fuhren in hohem Tempo mit frierenden Fremdenlegionären auf der Ladefläche in Richtung Sidi-Bel-Abbès vorbei. Grüße in deutscher Sprache wurden uns zugerufen. Manchmal verwehte der Fahrtwind unsere „Garage“ und musste neu befestigt werden. Wir hatten einen Dichtungsring bei seinem Einbau zerstört, wir brauchten einen neuen. Schani, Hans und ich fuhren am frühen Nachmittag nach Algier. Doch bei den ersten Häusern der Stadt versagte wetterbedingt der IFA seine Dienste und wollte nicht mehr starten. In einer unerklärlichen und bei ihm nicht gewohnten Regung von Kameradschaft bot Kopezky an, beim Auto zu bleiben und es wieder flott zu machen. Er schickte Jean-Pierre und mich mit dem Bus zu den Halalis, die uns herzlich aufnahmen. Hans übernachtete im wassergetränkten IFA, aber ich schlief nach drei Wochen Luftmatratze wieder einmal in einem liebevoll vorbereiteten sauberen Bett! Frisch und ausgeruht wurde der Morgen danach der Reparatur des Autos gewidmet. Wir mussten die Dichtungsringe vom Flugplatz holen, um gleich von dort nach Oued Djer aufzubrechen. Auf der Verpackung der Ringe war die Anweisung zu lesen, diese vor dem Einbau in heißem Öl anzuwärmen. Am darauffolgenden Vormittag, nachdem wir einige der Dichtungen in siedendem Öl verbrennen ließen, war die Achse montiert.
Einbau der Achse, von l. nach r.: ich, Walter, Schani, Mackie u. Gardien.Einbau der Achse
Die ersten Startversuche schlugen fehl, weil beide Batterien leer waren. Da es kein Ladegerät gab, schleppten wir sie ins Haus zum Kaminfeuer. Später kamen die Fouberts zu Besuch und brachten ein feines Mittagessen mit, das uns nach Tagen des Genusses von Palatschinken (Pfannkuchen) aus Mehl und Wasser, belegt mit einer Ölsardine, besonders mundete. Wenige Stunden vor dem wärmenden Kamin genügten, um die Batterien zu reaktivieren. Nach deren Einbau sprang der Motor des Ubu unter mehrmaligem Rülpsen und einer Fehlzündung schnell an. Es war ein unglaublich erhebendes Gefühl, nach vier Wochen wieder mobil zu sein. So fuhr ich das erste Mal die Auffahrt hinunter zur Villa Achsbruch und stellte den Wagen davor. Wir lobten bei einem gemütlichen Abend die Bärenbatterien, den guten Gardien und uns selbst. Letztendlich hatten wir das drohende Gespenst des Scheiterns der Expedition für diesmal vertrieben.
Kurz vor Abfahrt aus Oued Djer: Ich, Walter, Schani, Mackie v.l.n.r.
Unser Tätigkeitsdrang kannte keine Grenzen. Schon früh am Morgen beluden wir die Autos. Da dies äußerst sorgfältig mit speziellem Augenmerk auf die Gewichtsverteilung in den Fahrzeugen zu geschehen hatte, verließen wir Oued Djer erst zu Mittag. Die Gefahr von Schneelawinen im Atlasgebirge zwang uns zu einem landschaftlich reizvollen, aber beschwerlichen Umweg. Selbst in den Bergen bei Schnee und Glatteis verhielt sich der IFA vorbildlich und der Allrad angetriebene Ubu sowieso. Alle Warnungen vor Überfällen in den Wind schlagend und ebensolche Unkenrufe ignorierend fuhren wir bei Nacht bis Mascara, wo es ein schnelles Abendessen gab. Uns zog es nur weiter, dorthin, wo Aufgaben warteten, die zu erfüllen waren. Und vor allem, wo es warm ist. Der ersehnte Anblick des Beginns der Wüste blieb uns bei dieser Fahrt in der Nacht verborgen. Wir erreichten Mechéria nach drei Uhr morgens und blieben bis Tagesanbruch in den Fahrzeugen. Der dort diensthabende Garde Champetre, er war so eine Art von den Franzosen eingesetzter Kommandant, empfing uns freundlich. Er kannte Walter schon, der im Vorjahr hier durchkam. Von ihm erfuhren wir, dass der belgische Großwildjäger, der sich uns in Algier anschließen wollte, ein Verbrecher sei. Den Rest der Nacht schliefen wir im Haus des Franzosen, drei Luftmatratzen zu fünft teilend.
Wasserentnahme aus dem zugefrorenen Brunnen in Mécheria
Der Brunnen vor dem Haus war mit einer fast einem Zentimeter dicken Eisschicht überzogen. Wir konnten aber nicht weiterfahren, weil kurz vor der Ankunft in Mechéria die Bremsleitung beim IFA ein Loch bekam. Der Wagen war derart überladen, dass der Benzintank die Leitung aus Kupfer aufgescheuert hatte. Nach einstündiger Reparatur durch einen autochthonen Mechaniker wollten wir uns wieder auf die Piste begeben. Walters Probefahrt endete frontal an einer Palme, er benutzte sie geistesgegenwärtig anstatt der Bremse, denn anders wäre der Wagen nicht stehengeblieben. Nach einer nochmaligen Instandsetzung der Bremsleitung ging es endlich weiter. Schani übernahm das Steuer des Père Ubu und fuhr uns, an Rechtslenkung nicht gewöhnt, in ein tiefes, aber ausgetrocknetes Flussbett. Dank Allrad holte ich das Fahrzeug wieder auf das Niveau der Straße. Das nächste Ziel war Colomb-Béchar, der letzte größere Ort vor der Einfahrt in die eigentliche Sahara. Unsere Stimmung war euphorisch zuversichtlich. Unterwegs trafen wir einen Schakal, den Mackie vergeblich mit seiner 9 mm Radom zu erlegen suchte. Da wir aus stoffwechseltechnischen Bedürfnissen sowieso stehen blieben, war eine Rast bei Haferschleim und Schießübungen angesagt. Die von mir mitgebrachte Pistole schießt doch, und sehr genau, stellte ich befriedigt fest. Auch mit meiner Zielsicherheit war ich zufrieden. Wir freuten uns alle auf Schwarzafrika und waren sicher, die größten Schwierigkeiten überwunden zu haben. So dachten wir wenigstens.
Sogar hier in der Auberge, mitten in der unendlichen Steinwüste, gelten offenbar die gleichen Gesetzmäßigkeiten wie in dem weit entfernten überbevölkerten Europa: Man sucht Wichtiges in den Unterlagen und findet Vergessenes. So geschehen heute. Unter anderen amtlichen Papieren versteckt liegt eine Verpflichtung, dass ich angehalten bin, meinen Landrover nach drei Monaten Aufenthalt im Land wieder auszuführen. Die sind in wenigen Tagen um. Mit Schaudern erinnere mich an die Grenzformalitäten bei der Einreise nach Algerien, die diese Auflage vorschreiben. Vergleiche mit den Schikanen bei Fahrten in die vormals kommunistischen europäischen Oststaaten vergangener Jahrzehnte werden lebendig. Damit ich nicht in Konflikt mit den Behörden gerate, bin ich gezwungen, irgendetwas in dieser Angelegenheit zu unternehmen. Da mein Aufenthalt in der Sahara sich deutlich verlängern wird, suche ich Rat bei Freund François. Der meint, die beste Lösung wäre, umgehend nach „In Guezzam“ zu fahren und von dort über die Grenze zur Zollstation „Assamaka“ im Staat Niger. In dem Ort kann ich übernachten und am folgenden Tag das Auto wieder in Algerien einführen. Das wäre die nächstliegende Möglichkeit für einen Ausweg aus diesem Dilemma. Nach dem Gespräch will ich mich zu meinem Fahrzeug begeben, treffe aber im Hof auf Akamouk, der im Schatten des Zeltdaches sitzend das Schloss seines Karabiners reinigt. Neben ihm liegt sein heißgeliebtes Schwert, die Takouba. Wir reichen uns kurz die Hände, wonach ich ihm das Problem erkläre und von meinem Vorhaben erzähle, über Tamanrasset nach Süden zu fahren. Dieser Umweg ist nicht notwendig, er wüsste eine Abkürzung zur algerischen Grenzstation. Er hat ohnehin da unten etwas zu erledigen, und wenn ich ihn mitnähme, könnte er mir den Weg zeigen.
Da trifft es sich ausgezeichnet, dass sein Cousin Iyad hier ist, der während seiner Abwesenheit auf die Kamele achten kann. Selbstverständlich nehme ich ihn mit, allein durch die Wüste zu fahren ist mir ohnehin nicht geheuer. Wir planen gleich morgen loszufahren. Ich beginne sofort mit den Vorbereitungen wie Wasservorrat und Treibstoff auffüllen, sowie von Michelle Proviant für die sicher einige Tage dauernde Ausfahrt zu erbitten. Ich rolle meinen Schlafsack zusammen und verknüpfe ihn fest. François leiht mir ein leichtes faltbares Feldbett, Akamouk hat eine Art Gebetsteppich und Wolldecken dabei, und alles, was man zum Teekochen in der Wüste braucht. Die zwei Touareg helfen mir, die Sandbleche an den Wagenseiten anzubringen und beim Füllen der Gerbas mit frischem Wasser. Jagdgewehr und Navi kommen auch mit, obwohl beides durch das Beisein von Akamouk nicht notwendig sein wird.
In der ersten Morgendämmerung verlassen wir das Anwesen auf der schmalen Zufahrt zur Hauptpiste. Nachdem wir auf diese links in Richtung Osten einbiegen, versuche ich den Wagen so schnell als möglich zu beschleunigen. Aufgewirbelte Steine schlagen mit ungeheurem Lärm gegen die Kotflügel, leicht schleudernd gewinnt der schwere Landrover an Tempo, bis er schließlich die Tiefen der Wellen überspringen kann und ruhig über die Piste fliegt. Nach einigen Kilometern biegen wir rechts in Richtung Süden ab. Wir fahren dieselbe Strecke wie vor kurzer Zeit François und ich zur Jagd. Bei dem grün bewachsenen Tal halte ich an. Wir sehen keine Dorcagazellen äsen, denn wir sind zu spät dran, nur einen Fenek glaube ich im spärlichen Gras zu entdecken. Über mehrere Stunden bewegen wir uns bergab, bergauf, durch verödete Täler und fruchtbare Oasen.
Am Nachmittag treffen wir vor einer der von Ortsansässigen bewirtschafteten Wasserstellen auf eine kleine Ansammlung verschleierter Tuareg. Wir steigen aus und werden überaus freundlich begrüßt. Bei mir ist die Begrüßung schnell vorbei, bei meinem einheimischen Begleiter fällt der Empfang nach vorgeschriebenem traditionellem Ritual wesentlich ausführlicher aus. Dessen Umfang nimmt eine gewisse Zeit in Anspruch. Wir folgen der Einladung, uns mitten auf die Piste in den Schatten der hohen Dattelpalmen zu setzen. Die Männer bilden einen Kreis, Akamouk und ich werden gegenüber einem älteren, mit einem Tagelmust verschleierten Targi platziert, der von den Anwesenden mit besonderem Respekt behandelt wird. Es stellt sich heraus, dass es der Amrar, der Sheikh der Ansiedlung mit seinem Gefolge ist. Wegen der Nähe zu den Häusern hat niemand Utensilien für die Zubereitung von Tee dabei. Um uns in traditioneller Gastfreundschaft zu begrüßen, schickt der Chef des Dorfes zwei Jungen auf die umliegenden Palmen, damit sie für uns Datteln pflücken. Einer der Herren aus dem Gefolge zaubert eine Plastikschüssel unter seinem Burnus hervor, die rasch mit den kleinen, aber unglaublich schmackhaften frischen Früchten gefüllt und herumgereicht wird. Wir sind hier an den Ausläufern des hinter uns liegenden Bergmassivs und erhalten die Information, dass der Weg bis zur Route National 1, der Trans-Sahara-Straße, in extrem schlechtem Zustand ist. Für diese Nebenverbindung fühlt sich anscheinend keine Behörde verantwortlich und es gibt massive Sandverwehungen. Wir schlagen die freundlich gemeinte Einladung, im Ort zu übernachten höflich aus und fahren weiter, bis hinunter zum Beginn der Hamada.
Es ist schon dunkel und wir bereiten uns für die Nacht vor. Akamouk lehnt das Angebot, den unvermeidlichen Tee auf meinem Gaskocher zuzubereiten ab, , er hat ausreichend Holz gesammelt. Einem Targi bei der Teezeremonie zuzusehen, ist ein besonderes Vergnügen. Eindrucksvoll ist immer wieder, mit welcher Treffsicherheit und Eleganz aus großer Höhe in einem Strahl der fertige Tee aus der Kanne in die kleinen Gläser gegossen wird, ohne dabei nur einen Tropfen zu verlieren. Gelbgrün opalisierend ist das auf diese Weise mit Sauerstoff versetzte Getränk jedes Mal gleichbleibend in Qualität und Wirkung. So auch an diesem Abend, an dem ich heilfroh bin, nicht allein zu sein. Gleich nach dem Tee legen wir uns schlafen, der Targi auf seinem Teppich, ich im Schlafsack auf dem Feldbett. Irgendwelche Nachttiere fiepen, kläffen oder surren um uns herum. Ober mir spannt sich der märchenhafte, mit vielen Sternen übersäte Nachthimmel. Ich überlege, ob Akamouk nicht neben seiner Geschäfte andere Gründe hat, meine Fahrt hier mitzumachen? Er weiß sicher über die Gefahren auf dieser Strecke Bescheid. Trotz des mit Daunen gefüllten Schlafsacks wird es eine recht kühle Nacht und ich freue mich an diesem Morgen, im Osten das aufsteigende Tageslicht zu beobachten. Es verspricht Wärme. Akamouk legt schon seine Decken in den Landrover, ich rolle meinen Schlafsack zusammen und falte das Feldbett auf sein Minimum.
Das Morgenlicht wird schnell heller, sodass wir gleich starten. Die ersten Kilometer auf dem Geröll der hinter uns liegenden Berge sind flott bewältigt. Wir queren Sandverwehungen ohne größere Schwierigkeiten. Doch dann ist unvermittelt Schluss. Da wir uns gegen Osten bewegen, steigt die Sonne genau in Fahrtrichtung über dem Horizont auf, und blendet trotz Sonnenbrille. Ich kann die vor uns liegende Strecke nur mehr schemenhaft wahrnehmen, wegen der harten Wellblechpiste am Gas bleibend fahre ich direkt in ein mit Treibsand gefülltes Loch. Typischer Fehler eines Anfängers, nur teilweise durch die Blendung der Sonne entschuldbar. Äußerst vorsichtig versuche ich, mit niedrigster Übersetzung und Allradantrieb aus der Falle zu entkommen. Vergebens, der Sand ist trotz der frühen Morgenstunde schon zu trocken. Um weiteres Eingraben der Räder zu vermeiden, stelle ich den Motor ab und wir steigen aus dem Auto. Der Wagen steckt bis zu den Achsen im feinen Wüstensand. Während ich die Schaufel aus dem Landrover klaube, geht Akamouk voraus, um zu sehen, wo die befahrbare Piste wieder anfängt, bzw. weitergeht. Inzwischen schaufle ich vor den Vorderrädern Sand weg, so dass man die Sandbleche unterschieben kann.
Akamouk kommt mit keiner erfreulichen Meldung zurück, die Wanderdüne ist überaus breit und sie von hier aus zu umfahren nicht möglich. Das bedeutet vor allen vier Rädern den Sand wegschaufeln, Bleche legen und so weit es geht zu fahren, auf der schon bewältigten Strecke zurückgehen, die Sandbleche holen, erneut ausgraben. Die Schieflage des Rovers begünstigt das Eingraben der Räder deutlich. Diese Aktionen sind so lange zu wiederholen, bis es wieder festeren Grund gibt. Wir heben die Sandbleche herunter und platzieren sie unter und vor den Vorderrädern. Ich richte sie präzis ein, Akamouk gräbt die Hinterräder frei. Mit Allradantrieb vorsichtig losfahren, dann Gas geben und so schnell wie möglich weiter, so lange, bis die Räder neuerlich im Sand versinken. Ein paar Meter sind geschafft. Akamouk läuft zurück, holt die zugeschütteten Bleche aus dem Sand. Wir graben beide, einer mit der Schaufel, der andere mit bloßen Händen. Mehrmals wiederholen sich diese Vorgänge. Die Sonne sticht gewaltig, das Schaufeln wird mühsamer, der Sand ist jetzt noch trockener und unbefahrbarer geworden. Ich zähle die Stationen nicht mit, doch nach geschätzten viermal graben packt den Rover der Ehrgeiz und er fährt und fährt, bis die Steinwüste wieder erkennbar ist. Ich spüre meinen Puls rasend schnell am Hals pochen, mein Hemd ist klatschnass und ich stapfe durch den weichen Sand in der langen, von mir gefahrenen Spur zurück zur letzten Grabstelle. Schon von Weitem sehe ich Akamouk, beide Bleche schleppend. Ich beeile mich, ihm entgegen zu kommen, und übernehme eines der schweren Sandbleche. Er windet seine Kopfbedeckung zu einem Knäuel und trägt das eine Blech auf dem Kopf, ich Europäer das andere unterm Arm.
Beim Auto angekommen fülle ich aus der Gerba zwei Becher mit Wasser bis zum Rand und wir trinken das herrlich kühle Nass. In einer Aufwallung von Dankbarkeit will ich den Targi umarmen, doch es bleibt bei einem herzlichen Händedruck. Mehr wage ich nicht, denn es ist schwer abzuschätzen, wie Akamouk europäische Dankesbezeigungen aufnehmen würde, die über Schulterklopfen hinausgehen. Wir beschließen, keine Pause einzulegen, sondern weiterzufahren.
Bis auf einige leicht zu umfahrende kleinere Verwehungen verläuft die Weiterfahrt ohne Probleme. Am späten Nachmittag sehen wir aus der Ferne die Route Transsaharienne in der Hitze flimmern, die vom Mittelmeer bis nach Lagos führt. Diese 4.500 Kilometer lange Straße wurde 1960 in Zusammenarbeit der Staaten Algerien, Mali, Niger, Tschad und Nigeria zur Belebung des Handels gebaut. Das ehrgeizige Unternehmen nimmt in Algier mit einer prächtigen vierspurigen Autobahn seinen Anfang, die sich später bis Ghardaia in eine normale Landstraße verwandelt. Von dort geht die zunehmend weniger gewartete, aber teilweise asphaltierte Straße zur algerischen Grenzstation In Guezzam, unserem ersten Ziel. Die Dunkelheit bricht schnell herein, wir sind hungrig und müde. Akamouk kocht Tee und ich bereite aus einem Teil des von Michelle vorbereiteten Proviants ein Abendessen. Erschöpft schlafen wir bis in die frühen Morgenstunden und erreichen nach kurzer Fahrt den Asphalt der großen Straße. Ein Wegweiser zeigt die Richtung an und verrät, dass weitere 150 Kilometer bis zur Grenzstation zu fahren sind. Es ist ein seit Wochen vermisstes Vergnügen, auf glattem Untergrund sicher dahin zu gleiten. Nach einer Stunde Fahrt zwingt uns eine Militärstreife an den Straßenrand. Das wird ein eher längerer Aufenthalt, denn die Militärs können unsere Papiere nicht an Ort und Stelle überprüfen. Sie schicken einen Boten mit den Dokumenten nach dem 200 Kilometer entfernten Tamanrasset. Akamouk lässt die Bescheinigungen nicht aus den Augen und fährt mit, ich bleibe beim Wagen. In den folgenden Stunden des Wartens passieren zwei riesige mit Menschen und Bündeln überladene Sahara-Lkws den Kontrollposten in Richtung Süden, ohne aufgehalten zu werden. Ich grabe in Erinnerungen und nütze die Zeit, um ausführliche Notizen für mein Buch zu machen, die ich nach unserer Rückkehr zu den Mouloudjies ins Reine übertragen werde:
Wellblechpiste
IIm Jahr 1956 führte von Mecheria eine die Stoßdämpfer mordende Wellblechpiste über viele Kilometer nach Colomb-Bechar, wo wir, die Österreichische Westafrikaexpedition 1955-56 um drei Uhr nachts vor der Post am Hauptplatz eintrafen. Wir übernachteten dort in den Autos, da wir zu dem von Walter angepeilten „maurischen Bad“, in dem das Quartier geplant war, keinen Zugang bekamen. Am nächsten Tag wurden die Briefe vom nahen Postamt geholt und die pflichtgemäße Anmeldung bei der Polizei erledigt. Lange Stunden verbrachten wir in der Amtsstube bei regelrechten Verhören durch höchst unfreundliche Beamte. Zumindest durften wir danach im „Waschraum“ der Offiziersmesse endlich wieder einmal Körperpflege betreiben und neue Stempel zierten unsere Reisepässe mit dem Datum 22. Februar 1956. Und ich kam in den Besitz einer Uhr. Mackie fand in einer Verhörpause den Karton mit den eher anspruchslosen Uhren, die uns die Wiener Vertretung von Timex zum Zwecke der Verteilung in Schwarzafrika mitgegeben hatte. Sie waren später in Form von Geschenken und „Türöffnern“ recht nützlich. Die geschätzten Zeitangaben nach Walters Uhr waren damit auf jeden Fall Geschichte.
EAm frühen Abend, nach den langwierigen Polizeiverhören, konnten wir endlich unsere Fahrt fortsetzen. Es war nicht weit bis Taghit, einer reizenden Oase, wo wir das erste Mal im Laufe dieser Expedition ein Lager mit Zelten aufschlugen, begleitet von allen Tücken, die ein erstmaliger Zeltaufbau durch Ungeübte mit sich bringt. Walter wollte sich solchen Mühsalen nicht aussetzen und bereitete aus Decken und seiner Luftmatratze einen Schlafplatz im Sand. Ja, das war Afrika! Wir vier, die vorher noch nie so weit im Süden waren, fühlten uns in unserem Expeditionsvorhaben bestätigt und erlebten anhaltende Glücksgefühle. Ausgenommen Walter, dem Abgeklärten. Ihm war keine Regung abzuluchsen, nicht einmal beim folgenden ausgiebigen Abendmahl, das wir uns nach den Strapazen auf der geöffneten, zum Tisch umfunktionierten Heckklappe des Père Ubu gönnten.
Lager in Taghit
„Ausspeisung“ In der Oase Taghit
Taghit
Nachtlager in Taghit
Mit ihren Brüdern im Norden verwandt, sind dort Berber ansässig. Sie hielten sich Sklaven und trieben Handel mit den Menschen. Das Leben an diesen Wasserstellen der Sahara war seit urdenklichen Zeiten bis jetzt das gleiche geblieben. Erst auf Anordnung von Beamten des französischen Militärs wurde eine der wichtigsten Einnahmequellen, die Sklaverei offiziell abgeschafft. Seit vor Jahrhunderten die ersten arabischen Karawanen die Sahara zum Sudan durchquerten, brachten sie von dort ihre Sklaven, das „schwarze Elfenbein“ mit nach dem Norden. Sklavenhaltung und –handel waren das angemaßte Recht der wohlhabenden Araber dieses Gebietes am nördlichen Rand der Sahara. Um das Verbot zu umgehen, beförderten sie die Sklaven kurzerhand zu Dienern. Außer einer neuen Bezeichnung änderte sich für die Schwarzen nichts an deren Lebensumständen.
Umringt von staunenden Kindern aller Farbschattierungen von schwarz bis ganz hell, brachen wir unser Lager ab und strebten weiter nach Süden. Die ersten bis zu hundert Meter hohen Sanddünen tauchten links und rechts von der Piste auf, mit ihrer bräunlich-gelben Farbe die eintönige Hamada, die graue Stein- und Felswüste unterbrechend. In Igli, im Büro der Societé Mer – Niger erfuhren wir mehr über den Zustand der folgenden Strecke. Überschwemmungen und Sandstürme wurden uns prophezeit, Ankündigungen die zu unserem Leidwesen in der Folge auch eintrafen. Da mussten wir durch und fuhren auf einer Wellblechpiste der übelsten Ausformung unserem nächsten Etappenziel, der Oase Kerzáz, entgegen.
Kurze Rast an der Tanezrouft
Kurz vor dem geplanten Etappenziel machte der IFA auf sich aufmerksam, indem er überdurchschnittlich zu saufen begann. Und zwar in einem Ausmaß, das den Neid seiner momentanen Besitzer erregte: zwölf Liter auf zwanzig Kilometer! Zusätzlich bekam er Fieber, die Temperatur des Kühlwassers sprang auf 95° Celsius. Und das bei durchaus kalten Außentemperaturen. Zweifel an der Tauglichkeit für Afrika dieses DDR-Produktes kamen hoch. In kurzen Abständen wurden nervende Pausen zur Abkühlung des Antriebes eingelegt. Endlich reinigten Schani und Walter eine verstopfte Düse im Vergaser, was der Motor mit exzellentem Gleichlauf und normaler Konsumation dankte. Nach etwa fünf Kilometern Pistenfahrt war der IFA F9 wieder dem Kochen nahe. Mein Rat, den Kühler auszubauen und zu reinigen wurde zwar befolgt, verringerte aber den allgemeinen Wasservorrat auf ein gefährliches Minimum. In flotter Fahrt erreichten wir zu nächtlicher Stunde Kerzaz, wo wir vor den Portalen des Hotels unser Lager aufschlugen. Ein Umstand, der unerfreuliche Diskussionen mit dem Hotelpersonal oder dessen Besitzer zur Folge hatte. Wir meldeten uns pflichtschuldig beim ebenso ungehaltenen Militärkommandanten und tankten bei der Tankstelle des Hotels auf. Scheinbar achtlos weggeworfen lag dort ein Benzinkanister, den wir zu unserer Sicherheit mitzunehmen gedachten. Dieses Unterfangen zog einen heftigen Streit über die Besitzrechte an dem Kanister mit dem Tankwart nach sich. Kerzaz war einer der wenigen Ortschaften, die uns nicht freundlich empfingen. Nur gut, dass wir diesen widerspenstigen Ort am Nachmittag schnell wieder verließen.
Eine frisch angewehte Sanddüne versperrte die Ausfahrt aus der Oase. Walter versuchte den IFA mit gehörigem Anlauf über die Düne zu jagen. Aber die 28 PS schafften es nicht einmal bis zur Hälfte. Nach ein paar Versuchen krachte es im Getriebe und ließ sich daraufhin nicht mehr schalten. Père Ubu schleppte den kleinen Wagen in eine Baracke der Societé Mer-Niger, wo wir mit Entsetzen einen dünnen Strahl Öl aus dem Gehäuse des Getriebes fließen sahen. Zum Glück lebte im Ort ein tüchtiger Schweizer Mechaniker, namens Hans Weyanet, der eine Autowerkstatt betrieb. Er kam, sah und stellte fest, dass das Getriebe und sein Kasten nicht mehr zu reparieren sind. Das war keineswegs hilfreich. Unserem Schwur treu bleibend, gaben wir das Auto trotzdem nicht auf. Umgehend schickten wir ein Telegramm an den Wiener IFA – Vertrieb, mit der Bitte um ein Ersatzgetriebe. Der Kommandant, er herrschte über ein Gebiet geschätzt halb so groß wie Österreich und bekleidete den Rang eines Lieutenants der französischen Armee, bot uns die sichere Aufbewahrung der von uns mitgeführten wertvollen Technik wie Kameras und Tonbandgeräte an. Er gab sich jetzt wesentlich freundlicher, wahrscheinlich erwartete er sich durch uns Abwechslung im öden Wüstenleben. Ihm diese zu bieten waren wir in der folgenden Zeit eifrig bemüht. Auf seine Intervention hin erhielten wir für die Dauer unseres Aufenthaltes eine alleinstehende leere Lagerhalle der Societé Mer-Niger zugewiesen, welche ein großes Einfahrtstor, keine Fenster, dafür aber Luftlöcher knapp unter dem Blechdach hatte.
Unsere Lagerhalle in Kerzáz
Drei Wochen Aufenthalt sollten folgen! Sorge erfüllte uns, dass wir den Zweck der Expedition und die in uns gesetzten Erwartungen womöglich nicht erfüllen werden. Wir haben von den Soldaten klappbare Feldbetten geliehen bekommen. Die gaben uns die Sicherheit, in den Nächten nicht von den zahlreichen Skorpionen gestochen, oder von Schlangen gebissen zu werden. Lagerleben hatten wir schon vorher geübt, allein unsere Kochkünste waren bisher nicht so ausgereift, dass wir ohne Konserven auskamen.
Schnell haben wir uns in das soziale Leben von Kerzáz integriert. Wir trieben Sport, indem wir gegen die dort stationierten Soldaten Fußball spielten. Das brachte uns eine Einladung auf Bier und zwei leicht invalide Mitglieder der Expedition ein. Hans, der Schweizer, gesellte sich dazu und spendierte einige Runden Rotwein im Hotel. Später matchten wir uns sogar mit der Fußballmannschaft von Kerzáz, die wir später einmal bei einem Spiel gegen die Mannschaft von Beni Abbes, einer nördlich gelegenen kleinen Wüstenstadt, erfolgreich unterstützten..
Am 27. Februar 1956 feierten wir feuchtfröhlich den einunddreißigsten Geburtstag von Mackie. Wir hatten dabei Gesellschaft von Hans, dem Schweizer und der Leiterin einer am selben Tag eingetroffenen französischen Reisegruppe. Die vorgesehene kulinarische Abendeinladung, Reis mit Kichererbsen, war absolut ungenießbar. Das hielt die Festgesellschaft nicht davon ab, unter dem Absingen vaterländischer Lieder über den Platz der Oase zum Hotel zu ziehen. In dem wurde heftig weiter gefeiert. Hans Kopecky und die Reiseleiterin beschlossen einen nächtlichen Rundgang durch den Ort bei Mondschein, von dem Hans erst im Morgengrauen zurückkehrte.
Spät, sehr spät in der Nacht fielen wir auf unsere Feldbetten und schliefen tief, bis uns Schani abrupt mit den Worten weckte: „Brennt, brennt, wir ‘aben Brand ge’abt ‘eute Nackt!“ Durch das offene Tor sahen wir im Mondlicht vor der Einfahrt die glosende Bettdecke unseres Belgiers. Ob er selbst oder Mackie die Decke mittels einer brennenden Zigarette angezündet hatte, konnte nie mehr schlüssig festgestellt werden. Bei Tagesanbruch wurden wir nochmals geweckt, ein Bursche vom Hotel brachte ein paar Dosen Bier, welche die Reiseleiterin vor ihrer Weiterfahrt noch schnell für uns gespendet hatte. Hans scheint bei Ihr einen positiven Eindruck hinterlassen zu haben.
Meine Freunde begaben sich später zum Markt vom Douar, um frische Lebensmittel zu kaufen. Dort mussten sie Walter, unseren geizigen Kassenwart, mit Gewalt davon zurückhalten, sich von den ohnedies nicht reichen Oasenbewohnern Gemüse schenken zu lassen. Seine Mitleid heischende Verhandlungstaktik war wesentlich ausgereifter, als die der ansässigen Bauern. Ich nützte diese Zeit, mein Tonbandgerät aufzubauen. Da das Stromaggregat der Oase nur innerhalb der dunklen Nachtstunden lief, war eine Inbetriebnahme der Elektronik tagsüber nicht möglich. Für den nächsten Abend hatten wir mit Musikern aus der Nachbaroase eine Aufnahmesession vereinbart, aber die Herren erschienen nicht. Wieder ein Rückschlag für mich. In der Absicht, Frust und Langeweile damit zu vertreiben, und da die Technik nun schon einmal betriebsfertig stand, schlug Walter vor, wir sollten jeder etwas singen, und zwar so schön wie möglich. Ich habe bemerkenswert unorthodoxe Interpretationen von Mozarts Bildnis- und Hallenarie, Nicolais „Als Knäblein klein an der Mutterbrust“, oder Johann Strauss‘ „Im tiefen Keller sitz‘ ich hier“ zu hören bekommen, die mich zutiefst berührten. Diese Dokumente unserer fortgeschrittenen Sangeskunst wurden von mir umgehend wieder gelöscht. BASF war zwar großzügig mit geschenktem Bandmaterial für die Arbeiten der Expedition, doch fand ich diese Aufnahmen für weder wissenschaftlich bedeutend, geschweige denn künstlerisch hochwertig.
Le Commandant de Kerzaz
Und ein weiteres Fest feierten wir. Just in die Zeit unseres Aufenthaltes fiel die Beförderung des amtierenden Lieutenants zum Capitaine. Dieser lud uns zu dieser Feier schriftlich ein und ich wurde gebeten, das „starke“ Telefunken-Tonbandgerät mitzubringen. Wahrscheinlich war an diesem Abend das Stromaggregat von Kerzáz derart überlastet, dass sowohl Spannung als auch Frequenz der Stromversorgung nicht mit dem Magnetophon koordinierten. Die wiederzugebende Musik von Sidney Bechet jaulte entsetzlich. Ein Umstand, der für einige Missstimmung bei mir, und logischerweise beim Militär sorgte. Die österreichische Tabakregie hatte uns ein paar Schachteln Zigarren der Marke „Großglockner“ mitgegeben, die wir bei dieser Gelegenheit großzügig verteilten und damit den Abend wieder ins Gleichgewicht brachten. Selbst der Scheich von Kerzáz hatte uns liebgewonnen und lud zu einem Meshoui (Hammel am Spieß) und Couscous ein. Dafür hatte ihm Mackie seine Pistole verkaufen müssen.
Anfang der vierten Woche in der Oase erreichte uns ein Telegramm mit der Mitteilung, dass das Ersatzgetriebe auf den Weg gebracht worden sei. Es war der erste halbwegs warme Tag. Mit Eifer machten wir uns an die Reparatur der Holzkarosserie des Père Ubu, die wegen der trockenen Luft an einigen Stellen zu zerfallen drohte. Aus dem IFA wurde der komplette Motor ausgebaut. Am nächsten Tag kam das ersehnte Ersatzteil. Zu unserem nicht geringen Schreck waren die gesamten Kosten für den Transport von Wien bis hierher aus eigener Tasche zu bezahlen. Wir bauten das neue Getriebe und den Motor wieder ein. Diese Arbeiten verrichteten wir selbst, denn der Schweizer wäre zu teuer gekommen. Im Teamwork gelangen Walter und mir die Einbauten ohne Kran innerhalb einer Rekordzeit in wenigen Stunden.
Aus/Einbau Motor u. Getriebe
Das „böse“ Getriebe
Zu Mittag erschien ein Engländer auf seinem Motorrad. Er wollte bis nach Accra, an die Goldküste. Das Fahrzeug hatte eine Panne, Schani half ihm bei der Reparatur. Am späten Nachmittag startete der IFA wieder. Sein Geknatter war Musik für unsere Ohren. Fachmännisch beluden wir die Autos, füllten die Wasserreserven auf, und stiegen daraufhin auf einen für uns ungewohnt kurz gehaltenen Abschiedsdrink zum Capitaine auf den „Berg“. Wir hatten nur vor, weg- und weiterkommen.
Bei erster Morgendämmerung sprangen wir von den Feldbetten, packten die persönlichen Sachen zusammen und machten uns gut gelaunt bei Tagesanbruch auf den Weg. Uns war bewusst, dass wir bis Gao am Niger weitere 2.000 Kilometer Wüstenpisten und Sand zu bewältigen haben. Zügig fuhren wir durch Täler gebirgiger Landschaften, bis der Motor des IFA wieder einmal kochte. Kurzerhand wurde die Kühlerhaube abmontiert und dem Père Ubu aufs Dach gebunden. Das war die Lösung des Problems. Nach einiger Zeit öffnete sich die Bergwelt und vor uns lag die unendliche Fläche der Hamada, einer von Sandflächen unterbrochenen riesigen Steinwüste. Voll Zuversicht stürzten wir uns da hinein, ins Ungewisse. Die Fahrt verlief ohne Probleme, bis sich hundert Kilometer vor Adrar, unserem Etappenziel, Ubu eine Feder brach. Eine relativ einfache Reparatur, ich wechselte die gebrochene Lamelle innerhalb von zwei Stunden gegen eine neue. Kurz nach der Oase Sbaa bekamen wir einen kleinen Vorgeschmack auf die vor uns liegenden 1.800 Kilometer. Wir gruben den IFA mehrmals mit bloßen Händen aus dem Sand aus, über manche Strecken schleppte ihn der große Wagen.
Erst in der Nacht erreichten wir die „Stadt aus Schokolade“ Adrar. Alle Häuser waren aus einem dunkelbraunen Lehm erbaut, sie vermittelten damit den Eindruck, in einer Konditorei zwischen überdimensionalem Konfekt zu weilen. Leichte Schwindelanfälle überfielen mich überraschend, vermutlich durch die anstrengenden Tätigkeiten des vergangenen Tages verursacht. Stundenlanges fahren im Sand, Autos reparieren und ausgraben, alles Kraft und Energie fordernde Einsätze.
Gegen ein Mietentgelt von 300 FF bezogen die insgesamt fünf Mitglieder der Expedition im Hotel „Marabou“ einen leeren Raum. Der Engländer mit Motorrad war vor uns angekommen und hatte ein „normales“ Zimmer gleich nebenan erhalten. Wegen meines andauernden Schwindelgefühls nahm ich sein verständnisvolles Angebot an, mit ihm das Quartier zu teilen. Das verschaffte mir die ungewohnte Möglichkeit, in einem richtigen Bett zu schlafen!
Wir legten in der Stadt eine kurze Reisepause ein, Schani und Walter arbeiteten an den Autos, Mackie und Kopezky fotografierten Motive in Adrar. Diese Stadt lag nahe von Wasserquellen und verfügte über ein ausgeklügeltes System von Wasserkanälen, das seit Jahrhunderten verwendet wurde, um Wasser aus den umliegenden Bergen in die Stadt zu leiten. Diese Kanäle, „Foggaras“ genannt, waren ein wichtiger Teil der traditionellen Lebensweise der Bewohner. Sie ermöglichten es den Menschen, in einer Region zu leben, die sonst zu trocken wäre, um eine dauerhafte Siedlung zu unterhalten. Die Foggaras waren eine Erfindung der Berber, die diese Technik seit Jahrtausenden nutzten, um Wasser aus dem Grundwasserstrom in die Siedlungen zu bringen. Sie wurden von Generation zu Generation genutzt und sind bis heute ein wichtiger Bestandteil des Lebens in Adrar. Die Kanäle waren oft mehrere Kilometer lang und wurden von einer Gruppe von Arbeitern, die als „Foggaraschis“ bekannt waren, gewartet und instand gehalten. Man erzählte uns, dass sogar Fische darin leben. Insgesamt war Adrar eine faszinierende Stadt, von einer reichen Geschichte und Kultur geprägt. Die Foggaras sind nur ein Beispiel für die erstaunlichen technischen Leistungen, die von den Menschen in der Sahara-Wüste geschaffen wurden, um in einer der extremsten Gegenden der Erde zu überleben.
John, der Engländer mit dem Motorrad, lud sein Fahrzeug auf einen LKW auf, denn die Behörden ließen ihn nicht weiter allein durch die Sahara fahren. An dem von uns mitgeführten Wassertank war ein Leck entstanden, das mit den in Adrar verfügbaren Mitteln nicht zu reparieren war. Walter kaufte am Markt eine zusammengenähte Ziegenhaut, eine Gerba, die wir mit frischem Wasser füllten und seitlich außen an den Père Ubu banden. Damit war unsere Versorgung mit Trinkwasser gesichert. Das sowieso überladene Fahrzeug musste immer mehr Gewicht auf sich nehmen.
Südlich Adrar war die Wüste eben wie ein Brett, auch keine Dünen weit und breit. Die Piste wurde hier kilometerbreit, jeder Durchfahrende suchte in der Ebene für sein Fahrzeug einen Weg dort, wo er den besten Untergrund vermutete, um nicht im Sand stecken zu bleiben. Die Beschaffenheit des Sandes konnte sich von Stunde zu Stunde ändern, sodass es nicht ratsam war, einer Spur zu folgen und sich auf diese zu verlassen. Einige böse Überraschungen erlebten wir, weil wir ein Auto, das nicht für die Wüste gebaut war, über die Distanz bringen mussten.
Graben mit bloßen Händen
Untauglicher Versuch selbst freizukommen
Wie die Maulwürfe arbeiteten wir uns durch den Sand bis zur Oase Reggan, wo wir Trinkwasser nachfüllen wollten. Es blieb beim bloßen Willen. Wasser gab es schon, aber es war trübe und für Europäer nicht genießbar. Bis zum nächsten Lagerplatz schleppte Père Ubu den IFA mit einem zum wiederholten Male reißenden Seil, dabei zusätzlich einen heftigen Sandsturm überstehend. Endlich wieder eine Nacht unter freiem Himmel. Die Sternenpracht war in ihrer Schönheit erdrückend, und die Stille körperlich zu erleben. Obwohl allen bewusst war, dass noch 1.500 Kilometer Durstwüste vor uns lagen, waren wir glücklich, weil die Expedition trotz der Umstände mobil war. Unsere Zuversicht kannte nach der bisher bewältigten Strecke keine Grenzen. In Clouzot’s Schwarzweißfilm „Lohn der Angst“ hatten wir ein ständig präsentes und oft zitiertes Vorbild.
Es vergehen Stunden mit Warten auf Akamouks Rückkehr. Nachdem mich das Stillsitzen im Auto langsam nervt, steige ich aus, um meine Beine zu bewegen. Ich möchte ein bisschen in die Wüste spazieren und probieren, ob man bei gleichmäßigem Gehen tatsächlich Einfälle hat und Gedanken besser koordinieren kann. Die herumlungernden Soldaten nehmen von meinem Fortgehen keine Notiz, da der Rover als Pfand bei ihnen bleibt. Nach dem Verlassen der Straße marschiere ich zügig gegen Osten. In scheinbar erreichbarer Nähe ragen einige rote Felsen auf einer Hügelkette hoch in den Himmel. Da ich nicht vorhabe mich sehr weit von der Straße fortzubewegen, nehme ich mir diese Erhebungen zum Ziel. Die Fortbewegung auf dem buckligen, mit Steinen durchsetzten Untergrund ist zwar etwas mühsam, trotzdem komme ich leidlich schnell voran. Meine Versuche, die Gedanken auf einen allein zu konzentrieren, werden aber immer wieder durch verschiedene Eindrücke vereitelt. Da sind Unebenheiten, die einige Aufmerksamkeit fordern, um nicht darüber zu stolpern, dort läuft eine aufgescheuchte Echse davon, bleibt stehen, sieht sich nach mir um und verschwindet hinter einem Haufen aus Steinen. In einem leichten Bogen nähere ich mich von der Seite so leise wie möglich dem Steinhaufen an, von dem Tier ist jedoch keine Spur mehr zu sehen. Anstatt des Reptils hat sich dort eine Art buntes Kopftuch verfangen. Ich gehe weiter und bewundere einen bewegten See, der zwischen mir und den Hügeln liegt. Aber im gleichen Tempo, in dem ich auf ihn zugehe, zieht er sich zurück. Aus diesem See ragen einige verdorrte Akazien heraus, näherkommend erkenne ich, dass sie im trockenen Wüstenboden stehen. In dem Augenblick wird mir bewusst, dass sich meine Gedanken im Laufe des Fußmarsches wahrhaftig auf irgendeine Art entwirren. dass sich meine Gedanken während des Fußmarsches wahrhaftig auf irgendeine Art entwirren.
Es ist erstaunlich, wie nahe restriktive Gewalt und absolute Freiheit beieinanderliegen. Nur ein paar hundert Meter von hier entfernt steht auf der Straße mein Fahrzeug, durch staatliche Willkür blockiert. Ich darf es, obwohl in meinem Besitz stehend, weder vor, noch zurück bewegen. So werde ich dazu gezwungen, dorthin zurückzukehren. Hier dagegen befinde ich mich in nicht antastbarem Freisein. Keine Gewalt kann an diesem Ort die Befolgung von durch Menschen erdachte Gesetze oder Vorschriften von mir erzwingen, weil sie in der Wüste nicht existieren. Meine persönlichen physischen und psychischen Eigenverantwortlichkeiten werden nicht eingeschränkt. Nur den Zwängen natürlicher Körperfunktionen und -bedürfnisse, die dem freien Willen entzogenen sind, muss ich mich beugen. Und eben meiner eigenen ethischen Verantwortung, die aber nicht durch die Macht anderer erzwungen wurde. Definitionen von Freiheit gibt es sicher so viele, wie Individuen. Ein nomadisierender Targi, der seine gesamte Lebenszeit in größtmöglicher Unabhängigkeit verbringt, wird anders darüber denken, als ein Großstädter in beengender Zivilisation. Sehnsucht nach Freiheit empfinden und sich für diese einsetzen, ist vermutlich vor allem denjenigen möglich, denen Eigenbestimmung großteils entzogen wurde. Meine grundlegende Abneigung gegen Zwang, Ungerechtigkeit und repressive Machtausübung ist sicher ererbt. Bei den internationalen Machteliten in der Politik und im Kapital beginnt dieser Widerwillen, und reicht bis zur Zwangsbeglückung durch die mit angewandter Psychologie professionell durchdachten Werbemethoden. Klingt wie Anarchie. Ist es aber nicht, eher nach Immanuel Kants: „Gesetz und Freiheit ohne Gewalt“.
Anscheinend kann gleichmäßiges Gehen tatsächlich Erkenntnisse bringen, bemerke ich an diesem Ort verwundert. Hier in der Sahara fühle ich mich zufrieden und glücklich, sowie dankbar dafür, das erleben zu dürfen. Unbeirrt durch die Luftspiegelung, die mir einen See vorgaukelt, marschiere ich weiter und stelle fest, dass die von mir angestrebte Hügelkette trotz längerem Fußmarsch nicht nähergekommen ist. Ich gehe auf einen grünlich fluoreszierenden Gegenstand zu, der meine Aufmerksamkeit verlangt. Es ist einer dieser billigen Plastikschuhe aus chinesischer Produktion, wie man sie millionenfach auf den Märkten im Sudan anbietet. Irgendetwas stimmt damit nicht. Objekte, die über mehrere Tage in der Wüste liegen, werden mit der Zeit von Flugsand bedeckt, zumindest aber sammeln sich auf ihrer dem Wind abgekehrten Seite Häufchen von Sand an. Nichts davon traf hier zu. Wie kam der Schuh hierher, denn es führen auch keine Fußspuren zu diesem Ort. Das Rätsel ist nicht zu lösen, somit beschließe ich umzukehren, um entlang meiner eigenen Fährte zum Auto zurückzukommen. Ich scheine mich weiter vom Rover entfernt zu haben als geschätzt, denn nur schemenhaft nehme ich am Horizont die undeutlichen Umrisse der Militärfahrzeuge auf der Straße wahr. Ich gehe nochmals an dem verlorenen Tuch vorbei, auch da gibt es keine Spuren von Sand. Die Gegenstände können demnach nicht lange da liegen.
Erschöpft, müde und durstig erreiche ich den Rover. Kräftige Schlucke vom kühlen Wasser aus der Gerba wirken auf meinen Körper erfrischend. Das Timing stimmt, denn bald darauf trifft der Toyota mit Akamouk und unseren Dokumenten ein. Er scheint mürrisch zu sein, doch kann ich seine Stimmung nicht genau erkennen, da er den Tegelmust so weit hochgezogen hat, dass nur die Augen zu sehen sind. Wir bringen die bestätigten Papiere zu dem Offizier. Er wirft einen kurzen Blick darauf und wünscht uns eine gute Fahrt. Wir fahren los, und Akamouk erzählt mir unterwegs die Gründe für seine Verstimmung. In den Büros von Tamanrasset arbeiten nahezu durchwegs Leute aus dem Norden. Er musste endlos lange warten, wurde von einem Büro ins andere geschickt, voll Misstrauen ausgefragt und fühlte sich wie ein Fremder behandelt. Und das einem freien Targi! Er erzählte, dass es in den Städten im Norden bürgerkriegsähnliche Zustände gibt, weil der seit zwanzig Jahren regierende greise Präsident Bouteflika weiter regieren will. Dass wir im Süden Algeriens recht wenig darüber erfahren, ist bezeichnend. Nur vier Prozent der Gesamtbevölkerung Algeriens leben in und südlich der Sahara. Dem Großteil der Menschen hier ist das, was im Norden ihres Landes geschieht, herzlich egal.
Bis In Guezzam ist die Straße asphaltiert und in recht gutem Zustand, wir sind dementsprechend schnell unterwegs. Erstaunlich ist die starke Präsenz von Soldaten in dieser Gegend. Jetzt weiß ich endlich, welches Ziel die lange Kolonne von Militär-LKWs hatte, die vor einiger Zeit in der Nacht an unserer Auberge vorbeigedonnert ist. Es sind Spezialtruppen, viele mit Metalldetektoren ausgBis In Guezzam ist die Straße asphaltiert und in recht befahrbaren Zustand, wir sind dementsprechend schnell unterwegs. Erstaunlich ist die große Präsenz von Soldaten in dieser Gegend. Jetzt weiß ich endlich, welches Ziel, die lange Kolonne von Militär-LKWs hatte, die vor einiger Zeit in der Nacht an der Auberge de Soleil vorbeigedonnert ist. Es sind Spezialtruppen, viele mit Metalldetektoren ausgerüstet, um im Sand vergrabene Schmuggelware zu orten. Das scheint notwendig zu sein, denn die Soldaten, bei denen ich vorhin warten musste, erzählten mir, sie haben Lager mit automatischen Gewehren, und sogar mit schweren Waffen, wie Granatwerfer gefunden. Alles sicher Vorräte der Al Quaida. Das Militär hat hier zusätzlich andere Aufgaben zu verrichten. Die maßgeblicheren Grenzen zu den angrenzenden Ländern wie Mali und Marokko sind gesperrt, diese hier nach Niger ebenfalls. Hinaus werden wir mit der von Akamouk in Tamanrasset erhaltenen Bewilligung ohne größere Schwierigkeiten kommen, wie das bei unserer Rückfahrt sein wird, steht in den Sternen geschrieben. Inschallah!erüstet, um im Sand vergrabene Schmuggelware zu orten. Das scheint notwendig zu sein, denn die Soldaten, bei denen ich vorhin warten musste, erzählten mir, sie haben Lager mit automatischen Gewehren, und sogar mit schweren Waffen, wie Granatwerfer gefunden. Alles sicher Vorräte der Al Quaida. Das Militär hat hier noch ganz andere Aufgaben zu verrichten. Die größeren Grenzen zu den angrenzenden Ländern wie Mali und Marokko sind gesperrt, diese hier ebenfalls. Hinaus werden wir mit der von Akamouk in Tamanrasset erhaltenen Bewilligung ohne größere Schwierigkeiten kommen, wie das bei unserer Rückfahrt sein wird, steht in den Sternen geschrieben. Inschallah!
An einer langen stehenden Kolonne von Lastentransportern vorbei, erreichen wir das Zollamt. Es klappt alles angenehm schnell, die Ausfuhr des Wagens wird mit einem Stempel bestätigt und wir dürfen südwärts fahren. Eine kurze Strecke ist die Straße asphaltiert und endet bei einer Art befestigten Fort. Die weitere Route führt über eine Piste, teilweise markiert, streckenweise wild durch die Gegend. Es sind fünfundzwanzig Kilometer zu überwinden, die mich an frühere Zeiten erinnern. Immer wieder begegnen uns kleine Trupps und ganze Familien Schwarzafrikaner, die in Richtung Algerien ziehen. Wir erreichen gegen Abend Assamaka, den Grenzposten von Niger. Das Zollamt unterscheidet sich von den umliegenden Bauten nur durch einen Fahnenmast mit aufgezogener Landesfahne. Militär gibt es hier ebenfalls, allerdings in wesentlich geringerem Ausmaß als jenseits der algerischen Grenze. Der Diensthabende ist ein Targi und er begrüßt uns auf Art der Tuareg mit „labess“. Über ihn erfahren wir von zahlreichen toten Flüchtlingen, die in Massengräbern ringsum verscharrt sind. Algerien hat bei massiven Ausweisungen seit Oktober 2017 an die 13.000 Immigranten zurückgeschickt, weil die Europäische Union Druck auf die nordafrikanischen Länder ausübt, damit der Strom der Migranten über das Mittelmeer unterbunden wird. Den in Niger arbeitenden Organisationen der UN fehlen die Kapazitäten, um sich in dem Ausmaß zu kümmern, die bei dieser Anzahl Menschen notwendig wären. Lediglich an die 11.000 Flüchtlingen aus Mali, Gambia, Guinea, Elfenbeinküste, Niger und anderen Ländern ist der Marsch durch weit über 200 Kilometer unbarmherzige Wüste bis zur nächsten Stadt, Arli, gelungen.
Der „Chef de poste“ ist auch ein Targi und außerordentlich freundlich zu uns. Weil es in weiterer Umgebung kein Hotel gibt, dürfen wir in den Räumen des Amtshauses übernachten. Das ist eindeutig meiner Begleitung und der allgemeinen Gastfreundschaft der Touareg zu verdanken. Im Hof des Zollgebäudes bereitet Akamouk eine große Portion Tee für uns und den gefälligen Zöllner. Bald gesellt sich einer seiner Untergebenen, ebenfalls ein Targi, zu uns. Die Beamten haben neben ihrem Dienst keine Zeit, nach alter Tradition Tee zu kochen, und sind über diese Einladung unverkennbar erfreut. Ich bin etwas gelangweilt, denn die Herren unterhalten sich in ihrer Sprache Tamasheq. Das Gespräch scheint manchmal meine Person zum Thema zu haben. Das bemerke ich an den interessierten Blicken, die mich gelegentlich treffen. Wir sitzen bis spät in die Nacht, bevor wir uns zur Ruhe begeben.
Am Morgen des folgenden Tages erhalten wir anstandslos die notwendigen amtlichen Bestätigungen für mein Auto. Nach dem Betanken des Rover und Nachfüllen der Wasserbehälter sowie einem länger sich hinziehenden Abschied der Touaregstämmigen, brechen wir wieder in Richtung Algerien auf. Jetzt erst fallen mir verlassene Lagerstellen in Pistennähe auf, erkenntlich an zurückgelassenen leeren Konservendosen und Resten anderer Verpackungen von Lebensmitteln. Damit erklären sich die Fundsachen bei meinem Spaziergang am Tag zuvor. Die dort gefundenen Gegenstände dürften von einem solchen Lager vom Westwind oder Tieren dorthin verschleppt worden sein.
Der erste Teil der Rückreise auf und neben der Piste ist zwar mühsam, aber ohne Probleme zu bewältigen. Auf Asphalt geht es dann nach In Guezzam, wo ich größere Schwierigkeiten bei der Einfuhr des Rovers erwarte. Ein jugendlicher, offensichtlich aus dem Norden stammender Zollbeamter prüft die Papiere sorgfältig, blättert lange in einem Buch. Mit wichtiger Miene erhebt er sich von seinem Schreibtisch und kommt mit aufgeschlagenem Gesetzbuch auf mich zu. Es ist in der Amtssprache französisch gehalten. Er zeigt mir darin die Stelle seines Missfallens, wo geschrieben steht, dass mindestens weitere drei Tage vergehen müssen, bevor er das Fahrzeug wieder ins Land lassen darf. Meine Versuche, ihm glaubhaft zu erklären, warum ich gezwungen bin, ganz dringend in den Norden zu fahren und dass ich keine Migranten mitführe, sind vergebens. Er bleibt hart und lässt mich reden, bis er fragt, ob ich in Österreich geboren wurde. Die Überprüfung meines Reisepasses fällt zu seiner Zufriedenheit aus. Zwei Stempel und zwei Unterschriften, jeweils von ihm und seinem Vorgesetzten, und wir dürfen fahren. Was mein Geburtsland mit diesem Entgegenkommen zu tun hat, wird für mich dauerhaft ein Rätsel bleiben, oder ist es wegen der Neutralität Österreichs? Ich beschließe, darüber nicht weiter nachzudenken, denn zu solch afrikanischer Logik scheine ich keinen Zugang zu haben.
Hoggar, am Weg nach Tamanrasset
Da wir die zwar schönere, aber umständlichere Route durch die Ifoghas-Berge zur Heimfahrt nicht nehmen, bleibt uns nur der Weg über Tamanrasset. Was mir nicht ungelegen kommt, denn es würde mich interessieren, ob es selbst in dieser südlichen Hochschulstadt Unruhen gibt, da in den Städten im Norden Studenten die Organisatoren sind. Wir schaffen die 500 Kilometer bis „Tam“ in einer Rekordzeit von viereinhalb Stunden. Bei dem Militärkontrollpunkt winkt man uns höflich durch, da wir dort bestens bekannt sind. Die Abenddämmerung ist bei unserer Ankunft angebrochen. Ich überlege, ob wir die Nacht in der Stadt verbringen, oder vor deren Toren kampieren sollen. Bei Finsternis einen geeigneten Platz dafür zu finden, bedeutet Glückssache, außerdem ist Tamanrasset einer der kühlsten Orte der Sahara. Erreichen andere Städte wie In Salah Höchsttemperaturen bis 55° C, gibt es in Tam nicht einmal 30° C. Dementsprechend das Verhältnis in den Nachtstunden, wobei 0° in Tam keine Seltenheit sind. Deshalb leiste ich mir ein Zimmer in derselben Unterkunft, die ich von der Fahrt mit François zum Elektroniker kenne. Selbstverständlich lade ich Akamouk auf diese Übernachtung im Hotel ein. Wir schlendern durch die stille Stadt, lediglich auf einem größeren Platz hat sich verloren und friedlich eine kleine Gruppe Studenten versammelt, die zwei algerische Fahnen hochhalten. Wir erfahren von ihnen, dass die Regierung die anstehenden Semesterferien um elf Tage vorverlegt hat. Da in den Ferien die Studentenheime durchwegs geschlossen bleiben, zerstreuen sich deren Bewohner in ihre Heimatorte. Eine Anordnung zur Schwächung der Demonstranten.
In der Morgendämmerung machen wir uns auf den Weg in Richtung Osten, zur Auberge. Dort kommen wir spät am Nachmittag an. Michelle und François begrüßen uns herzlich und familiär. Akamouk verzieht sich in den Hof zu Iyad, seinem Verwandten, ich steige in mein Türmchen hinauf, um mich zu duschen und der Kleidung zu entledigen, die ich in den Tagen dieser Fahrt getragen hatte. Beim Abendessen hören mir die Wirtsleute meinem Bericht aufmerksam zu, François ergänzt die Erzählungen mit der neuesten Nachricht, dass Bouteflika dem Druck der Demonstranten nachgegeben hat und nicht mehr für eine weitere Amtsperiode kandidiert. Das könnte eine ruhig verlaufende Wahl bedeuten. Nach dem Essen begebe ich mich in das Turmzimmer, öffne den Computer und will meine persönlichen Erinnerungen an die Westafrikaexpedition vor sieben Jahrzehnten weiterschreiben. Doch nach einigen Zeilen schlafe ich vor dem Bildschirm kurz ein. Ich beschließe, morgen ausgeruht mit der Arbeit fortzufahren:
Fahrtroute Österr. Westafriaka-Expedition
Wir, die fünf Mann der Expedition, hatten irgendwo an der Piste nach Bidon 5 übernachtet. Frierend, aber ausgezeichneter Stimmung brachen wir unser Lager unterm Sternenzelt ab, um die folgenden zweitausend Kilometer Sahara zu meistern. Die Wüste war eben wie ein Tisch, nirgends mehr Sanddünen zu sehen. Obwohl versandet, war der Boden hart und mühelos befahrbar. Damit den Autos das Wellblech der Piste ersparend, fuhren wir auf den Spuren der Fahrzeuge, die hunderte Meter neben der Hauptstrecke nach Süden führten. Dabei stets die Markierungen der Piste durch Steinhaufen, alte Telegraphenmasten oder leere Benzinfässer im Blick.
Der IFA lief wie ein Wiesel, bis mit zunehmender Sonnenwärme sein Kühler wieder kochte. Ab da waren wir gezwungen öfters stehenzubleiben, um Wasser nachzufüllen. Das Sonnenlicht wurde immer trüber und es waren keine Schatten mehr zu sehen. Im unheimlichen Schleier eines aufkommenden Sandsturms erreichten wir den nächsten französischen Militärposten, den Poste Weygand, amtlich Balise 250 genannt. Dieser und der dreihundert Kilometer weiter südlich gelegene Posten gewährleisteten den Durchfahrenden die Versorgung mit Treibstoff und Wasser. Dort standen ein paar Baracken, wovon wir eine beziehen durften und den IFA durch das groß dimensionierte Tor hineinfuhren. Der Kühler wurde ausgebaut und wir erkannten seinen Zustand als irreparabel. Der Sturm rüttelte am Dach und an den Ecken der aus Wellblech bestehenden Unterkunft und vollführte einen Höllenlärm. Wir fürchteten, mitsamt der Baracke weggeblasen zu werden. Plötzlich wurde die kleine Türe neben dem Haupttor aufgerissen und schlug mit unerhörter Gewalt an die Wand. Zwei sich gegen den Sturm stemmende vermummte Gestalten kamen herein und schlossen, sich gegenseitig unterstützend, wieder den Eingang. Die Reisenden waren recht sympathische Dänen. Einer davon war ein Kinderarzt aus Indien, der einen anderen Kontinent kennenlernen wollte. Der Zweite war einfach nur Däne. Der Sturm ebbte ab, die gewohnte Stille umfing uns wieder. Wir verbrachten zu siebent eine recht angenehme Nacht in der Baracke. Diese Herren aus Dänemark schickte uns der Himmel, denn sie spendeten ein Dichtungsmittel für den Kühler. Das ermöglichte uns nach dessen Anwendung, einen Tag später weiterzufahren.
Bei Tagesanbruch verließen wir den Posten, die Dänen in ihrem alten Ford in Richtung Norden, wir mit frischem Mut nach Süden. Wir fuhren mit annehmbarem Tempo zügig durch die stets größer werdende Hitze, bis eine über den Weg laufende tiefe Querrinne der Achse des Père Ubu neuerlich das Genick brach. Und das geschah nur wenige Kilometer vor unserem angestrebten Etappenziel!
Begräbnis der letzten Achse
Übung macht den Meister. In der Rekordzeit von knapp zweieinhalb Stunden war die Reserveachse eingebaut. So erreichten wir todmüde vor Sonnenuntergang Bidon 5, den mutmaßlich bekanntesten Ort der Tanezrouftpiste. Ort wäre übertrieben, eher eine Örtlichkeit, denn der Posten bestand aus zwei Wellblechbaracken, einer gemauerten Unterkunft und dem Stahlgerüst eines Sendemastes. Bidon V heißt auf Deutsch „Fass 5“. Bereits im Jahre 1923 wurden nummerierte leere Benzinfässer zur Markierung entlang der Strecke deponiert. Der Ort war deswegen berühmt und auf jeder Landkarte eingezeichnet, weil er markierte die genaue Hälfte der Route zwischen Colomb Béchar im Norden und der Grenze zu Niger im Süden. Soweit das Auge reichte, sah man rundherum ausschließlich brettebene Wüste. Im Fall eines Falles war dies ein fixer Anlaufpunkt für Rettung Suchende auf der langen Durststrecke.
Zwei einsame französische Soldaten waren hier für alles verantwortlich. Allerdings waren die beiden nicht als Armeeangehörige zu erkennen. Sie hatten ihre Uniformen sorgsam im Spind aufbewahrt, um sie vor dem allgegenwärtigen Sand zu schützen. Sie waren Funker, die uns freundlichst in ihrer Radiostation aufnahmen. Max und Schani unterhielten sich mit den beiden länger bei ausreichend Wein und Kognak, denn Wasser war kostbar. Es wurde über viele Kilometer in Tankwagen von der nächsten Oase Tessalit hierher transportiert. Der erschöpfte Rest der Expedition legte sich im Freien unter phänomenal dichtem Sternenhimmel schlafen.
Wir haben beschlossen, hier einen Ruhetag einzulegen. Kopezky und ich reinigten jeweils unsere Arbeitsgeräte und befreiten sie von Sand. Walter „schmierte den Wagen ab“, der IFA besaß am Fahrgestell einige Nippel, durch die regelmäßig Fett gepresst werden musste, damit Lager etc. immer gut geschmiert waren. Schani reparierte am Humber den streikenden Starter. Nachdem der IFA fertig war, nahmen Walter und ich eine kurze Tonreportage über diese faszinierende Örtlichkeit und deren Bewohner auf. Wir hatten vor, sie auf unserer weiteren Route beim Besuch des nächstgelegenen Postamts nach Wien dem österreichischen Rundfunk schicken. Es gab einen herzlichen Abschied, die Soldaten schenkten jedem von uns ein Paket Zigaretten.
Grenzstein Algerien / MaliAn der Grenze Algerien / Mali
Mitten in der Wüste, mutterseelenallein, stand ein Grenzstein. Er zeigte den Reisenden die Entfernung zur nächsten Oase, den Wechsel von Nordafrika (Afrique du Nord AFN) zum Gebiet von Französisch Westafrika (Afrique occidentale Française AOF) an. Ab hier galt der Franc CFA (Colonies Française d’Afrique). Der war doppelt so viel wert wie der französische Franc, das geltende Zahlungsmittel in Algerien. Doch ab hier waren die Preise die Gleichen wie die weiter nördlich in FF. Das hieß, alles war jetzt zweimal so teuer wie bisher. Walter, unser Kassenwart, war der Verzweiflung nahe. Seine ohnehin permanent sorgenvollen Ernst ausstrahlenden Gesichtszüge zeigten ab da beim Bezahlen stets so abgrundtiefe Trauer, dass wir um Walters seelische Gesundheit bangten. Aber bis zum ersten Schock dieser Art dauerte es eine Weile, wir mussten vorerst noch auf der folgenden Strecke einige Aufgaben lösen. Wir hatten uns in Wien verpflichtet, ein Auto durch die Wüste zu bringen, das in keiner Form für ein derartiges Unternehmen gebaut und darüber hinaus erheblich überladen war. Ein rückwärtiger Stoßdämpfer des IFA wollte nicht mehr weiter und musste mit Kupferdraht provisorisch repariert und damit halbwegs funktionstüchtig gemacht werden. Aber auch unserem Wüstenschiff, dem Humber, mangelte es an der für so ein Unternehmen notwendigen Robustheit. Ich habe mich mehrmals gefragt, wie die Engländer mit solch anfälligen Fahrzeugen einen Krieg gewinnen konnten. Der rechte Vorderreifen des Père Ubu verlor sichtlich schnell Luft und musste gegen den letzten intakten Reservereifen getauscht werden.
Kommt der invalide Père Ubu nach?
s gab andere interessante und erfreulichere Unterbrechungen. Die riefen uns in Erinnerung, dass wir nicht ausschließlich dazu aufgebrochen waren, kaputte Autos wieder flottzumachen. In der viele hundert Kilometer weiten flachen Wüste und Einsamkeit ringsum, trafen wir unseren ersten wirklichen Nomaden und bewunderten ihn gebührend.
Ein nomadisierender TargiVersuch einer Kommunikation
Dann kreuzte eine schöne junge Targia unsere Bahn. Wir hielten an und Mackie sprach mit ihr. Die Zelte ihres Touarg-Clans standen nicht weit von hier und sie lud uns zum Tee ein. Meine Freunde nahmen diese Einladung begeistert an und folgten ihr zu Fuß. Ich blieb als Wächter bei den Fahrzeugen. Mir war das recht, denn schon damals war mir die absolute Stille eine Wohltat im Gegensatz zu den lauten Fahrgeräuschen von vorher. Nach dem Genuss der üblichen drei Gläser Tee kamen die Freunde beglückt zurück und wir fuhren wieder gen Süden. Der schwächere Wagen, der IFA, knatterte mit seiner normalen Besatzung, Walter und Kopezky voran, wir im Humber folgten mit einigem Abstand. Allmählich verwandelte sich die trockene Wüste mit einer jährlichen Niederschlagsmenge von 100 mm in feuchtere Steppe. Die ersten Büsche, tropische Had-Sträucher, tauchten vereinzelt auf, dazwischen an manchen Stellen Cram-cram, das Gras der Sahelzone. Die Touareg nennen diese harten Grasbüschel Fesh-fesh. Das begünstigte die Fauna, die ersten Wildtiere flüchteten aufgeschreckt von links nach rechts über die Piste. Das ist nicht ungefährlich, denn ein Zusammenstoß mit einer Gazelle, oder einer der größeren Antilopen kann schlimme Folgen haben. Später lernte ich, dass das Wild immer in Richtung Sonne flüchtet.
Wir planten, vor der Dunkelheit bis zu unserem nächsten Etappenziel zu fahren, deshalb fuhr ich, zwar wegen der Tiere besonders aufmerksam, aber zügig weiter. Vor uns in der Ferne sahen wir ein Fahrzeug stehen und Menschen daneben. Im Näherkommen erkannten wir das Objekt, es war der vorausgefahrene IFA. Wieder einmal stehend. Was bei den Passagieren des Humber größte Befürchtungen auslöste. Doch brachte dieser Aufenthalt Erfreuliches. Hans Kopezky hatte einen prachtvollen Bock geschossen, eine Dorcagazelle. Als wir ankamen, hatte Walter das Tier bereits aufgebrochen und war am abhäuten. Das Fleisch wurde in das eigene Fell verpackt und wir erreichten bald Tessalit, wo wir außerhalb der Stadt, in Nähe der Werkstatt der Societé Mer-Niger unser Lager aufschlugen. Es gab brennbares Holz von den Büschen der Umgebung für ein entsprechendes Lagerfeuer. An dem grillten wir große Fleischstücke und verzehrten sie mit Appetit und Begeisterung. Gesättigt und zufrieden verbrachten wir die Nacht vor den Toren Tessalits.
Frühstückszeit in der Auberge de Soleil. Wir haben Besuch von Akamouk, der den Wirtsleuten mitteilt, dass er und Iyad in den nächsten Tagen in ihre Heimatgegend im Hoggar aufbrechen werden. Das bedeutet einige Tagesritte durch die Wüste. So einen Trip mitzumachen war schon immer mein Wunsch, nicht nur des Erlebens willen, sondern um besser verstehen zu können, wie Nomaden in der Einsamkeit leben und was sie prägt. Trotz der mir selbst auferlegten Pflicht, meinen Lebensweg schriftlich zu dokumentieren, würde ich diese Gelegenheit gerne wahrnehmen. Ohne zu zögern, frage ich ihn, ob ich mitkommen könne. Er reagiert positiv und es bleiben zwei Tage Zeit zur Vorbereitung. Ungläubig schütteln Michelle und François ihre Köpfe über mein Vorhaben, zeigen aber grundsätzlich Verständnis dafür.
Der Tag des Aufbruchs ist gekommen. Die Sterne verblassen am schnell heller werdenden Himmel. Kälte kriecht unangenehm am Hals und bei den Handgelenken unter meine Kleidung. Im Hof selbst ist es noch recht dunkel, der sparsame François hat das Stromaggregat nicht angeworfen. Wenigstens scheint trübe aus der Küche ein von der Photovoltaik gespeistes Licht. Dort bereitet die gute Michelle Proviant für unsere Reise vor. Doch dann schiebt sich das Morgengrauen bis in die letzten Winkel des Hofes der Auberge du Soleil, in dem die längst fertig gesattelten und beladenen Kamele liegen. Das mir zugewiesene Reittier erkenne ich an den nicht aus Afrika stammenden Decken, die man mir am Sattel festgebunden hat. Karl Mays Kara-ben-Nemsi hat sein treues Pferd Rih stets mit einer Handvoll Datteln belohnt. Deshalb denke ich, auf gleiche Weise mit dem edlen Mehari Freundschaft zu schließen, das mich die nächste Zeit durch Wüste, Sturm und Sand tragen wird. Offenen Herzens und mit den süßen Früchten auf der Hand gehe ich direkt auf das Tier zu. Es ist mir bewusst, dass Kamele kräftig beißen und Menschen gefährliche Wunden zufügen können, aber ich überwinde meine Bedenken und nähere die auf flacher Handfläche ausgebreitete Gabe seinem Maul. Da dieses Kamel keinen Namen hat, spreche ich dabei einschmeichelnd mit leiser und tief gehaltener Stimme beruhigende Worte. Doch in von mir nicht erwarteter abwehrender Reaktion brüllt das Vieh gurgelnd und reißt seinen Kopf mitsamt dem langen Hals rasch zur Seite. Erschrocken springe ich einen Satz rückwärts. Misstrauisch beäugt es mich mit einem Auge von oben herab. Durch den Lärm aufmerksam geworden, eilt Akamouk sofort herbei, das Kamel schwenkt den Kopf wieder in die gewohnte Lage und genießt zufrieden die ihm zuteilwerdenden Streicheleinheiten. Ob der Targi dabei überheblich lächelt, bleibt mir hinter seinem hochgezogenen Tegelmust zum Glück verborgen.
Zugegeben, die rüpelhafte Abweisung des wohlgemeinten Freundschaftangebots hat meine Seele verletzt. Sollte diese offen gezeigte Aversion während des engen Zusammenlebens in den nächsten Tagen bestehen bleiben, könnte die Reise schwierig werden, überlege ich sorgenvoll. Michelle bringt drei Päckchen mit liebevoll zusammen gerichteten Lebensmitteln in den Hof. Meines ist etwas größer als die der anderen, wozu sie erklärend meint, dass mir die einfache Kost der Touareg vielleicht nicht zusagen würde. Weiterhin sauer auf dieses ungebildete Tier, das mich durch ein gewaltiges Stück Wüste tragen soll, steige ich in den Sattel. Der Erwartung entsprechend begleitet von heftigen lauten Unmutsäußerungen des Kamels. Akamouk gibt einen Befehl, ruckelt am Zaumzeug und das Mehari hebt sich, indem es seine Vorderbeine zur Hälfte streckt, sodass ich vermeine hinten hinunter zu rutschen. Ich ergreife rasch das Sattelkreuz vor mir und klammere mich kräftig daran fest. Und schon werde ich nochmals nach vorne geworfen, gefolgt von einem weiteren schnellen Strecken der Vorderbeine, was mich beinahe wieder rückwärts aus dem Sattel katapultiert. Bilder von texanischen Stierrodeos tauchen kurz in meiner Erinnerung auf. Dann sitze ich endlich aufrecht hoch oben. Das Kamel sieht sich nach mir um, wahrscheinlich in der Hoffnung mich abgeworfen zu haben. Ich zeige ihm den Stinkefinger, was bei den Dimensionen eines Dromedars eher eine lächerliche Geste darstellen mag. Ich habe das Gefühl, wir mögen uns nicht.
Die kleine Karawane setzt sich in Bewegung, François und Michelle stehen beim Tor und winken uns zum Abschied. Wir verlassen die Auberge, erst Akamouk, dann ich, und Iyad, der die zwei Lastkamele an einem Seil führt, bildet den Schluss. Es trifft sich glücklich, dass der Einfahrtsbogen für große Lastwagen gebaut ist, denn zum Missvergnügen des Reitkamels unter mir passe ich nur knapp darunter durch. In dieser Reihenfolge bleiben wir am Rand der Piste. Die Kühle des Morgens unterstreicht ein kalter Lufthauch. Mein Reittier schaukelt mich friedlich hinter dem des Targi her, ich habe nichts anderes zu tun, als zu sitzen und zu schauen. Nach einigen Kilometern biegt Akamouk unvermittelt in die freie Ebene ab. Bis jetzt decken sich meine Vorstellungen von einer solchen Reise mit dem gegenwärtigen Geschehen. Außer dem leisen Stapfen der Kamele und regelmäßigen Schaben eines Gepäckstückes an den Aufhängungen herrscht angenehme Stille. Nach und nach versinke ich in diesem Meer aus Ruhe und den gleichmäßig schaukelnden Bewegungen des Meharis.
Über lange Strecken verbreitet sich vollkommene Ausgeglichenheit in meiner sonst durch die Normen unserer industrialisierten Zivilisation und Kultur gequälten Seele. Jeglicher Zeitdruck fällt von mir ab. Die Sonne steigt höher und wärmt so kräftig, dass ich mich der dicken Jacke entledige und sie zusammengerollt über den Sattel lege. Mein Hut mit der breiten Krempe bietet ausreichenden Schutz gegen die Sonne. Es ist recht wohltuend, dass Akamouk um die Mittagszeit die Karawane anhält. Erst steigt er selbst von seinem Reittier ab, danach bringt er meines zum Niederlegen. Das erfordert die gleichen Übungen des Gleichgewichts wie beim Aufstehen heute Morgen, nur in umgekehrter Reihenfolge. Die Unmutsbezeugungen dieses Kamels sind laut und nervtötend.
Die beiden Touareg legen ihre Schwerter, Akamouk dazu seinen Karabiner, den er stetig am Riemen quer umgehängt trägt, auf den Boden. Sie schlichten die mitgebrachten Holzzweige zu einem Häufchen und fachen ein Feuer an. Die unvermeidliche Zeremonie des Teekochens beginnt. Nach dem über Stunden dauernden Ritt wird es mir erstmals besonders deutlich bewusst, wie belebend die Wirkung dieses Gebräus ist. Da es für uns keinen Zeitdruck gibt, genießen wir den Tee langsam schlürfend in kleinen Schlucken. Anschließend folgt das Reinigen und Wegräumen der Utensilien mit gemessen bedachten Bewegungen. Ebenso ohne Hast geschieht der neuerliche Aufbruch.
Wir reiten einige Stunden und halten erst, als sich die Sonne dem Horizont nähert. Im Windschatten größerer Felsen schlagen wir unser Nachtlager auf. Nachdem die Kamele von ihrer Last befreit sind, öffnen wir die von Michelle liebevoll gerichteten Proviantsäcke und genießen die belegten Brote. Der selbstverständliche Tee lässt nicht lange auf sich warten. Drei blasse Skorpione, angelockt durch das Licht des Feuers, statten uns einen Besuch ab. Eine Beteiligung an den Gesprächen, welche die Zeremonie normal begleiten, ist mir heute lästig. Ich bin zu müde dazu, außerdem spüre ich leicht schmerzend den Satteldruck durch den langen Ritt. Schließlich unterhalten sich die beiden in Tamasheq. Nach dem dritten Glas Tee ziehe ich mich auf mein Feldbett zurück. Höflich in einem Abstand von ein paar Metern kuscheln sich die zwei Touareg in ihre Decken, die Kamelsättel benützen sie als Kopfstütze.
Bis zum Ziel haben wir noch einige Tage vor uns. Akamouk ist in diesen endlosen Weiten der Sahara ein verlässlicher Führer. Sterne, Sonnenstand und Sandbeschaffenheit lassen ihn untrüglich den Weg finden, an dem die lebensnotwendigen Wasserstellen liegen. Es ist erstaunlich, wie viele Tiere in der Wüste leben. Von meinem erhöhten Sitz auf dem Mehari kann ich sie so direkt wie nie zuvor beobachten, denn sie flüchten kaum vor uns. Kommen wir ihnen zu nahe, stellen sie mit ein paar schnellen Bewegungen ihren natürlichen Sicherheitsabstand zu uns her und lassen sich nicht weiter stören. Antilopen, Gazellen, Wüstenfüchse und -mäuse, Eidechsen, sowie zwei Hornvipern bleiben völlig unbeeindruckt bei ihren jeweiligen Tätigkeiten. Aus nicht ersichtlichen Gründen gehen wir gewisse Strecken zu Fuß und führen unsere Tiere an einer Art Zaumzeug. Das scheint meinem unleidlichen Kamel zu gefallen, denn es brüllt nicht mehr, wenn ich mich ihm nähere, und frisst sogar den dargebotenen Hafer aus der Hand. Datteln bekommt es keine, weil die habe ich inzwischen mit Genuss selbst verzehrt.
Mein Zeitgefühl richtet sich kaum mehr nach der Armbanduhr, sondern wird durch die natürlichen Umstände definiert. Es mag daran liegen, dass Zeit hier nicht in Geld umgerechnet wird, so wie man es aus Europa gewohnt ist. Nicht die Zeit, die uns die mechanische Uhr diktiert, muss die Richtige sein. Daneben scheint es in Afrika eine andere Einteilung zu geben, die nicht wie in den Industrieländern die Lebensqualität der Menschen in Sekunden, Minuten und Stunden zerhackt. Die Nomaden erfahren ihre Zeit durch ihre Umgebung und Lebensrhythmen, womit sie eine abstrakte Messung vermeiden. Solche und ähnliche Gedanken begleiten mich während dieser Wanderschaft durch die Wüste, die allerdings nicht alle mit derartigen Erkenntnissen enden.
Langsam erreichen wir die ersten Anhöhen und schroffen Berge des Hoggar. Es ist Mittag, wir folgen einer schmalen ansteigenden Piste, die deutlich nicht sonderlich befahren ist, denn die „tôle ondulée“, das unvermeidliche Wellblech, hält sich in Grenzen. Sie führt zu einer Oase mit Pflanzenbewuchs und einem zwischen Felsen eingebetteten größeren Teich. Es gibt Palmen mit mickrigen Datteln, die hauptsächlich aus Kernen bestehen. Eine Gruppe Schwarzafrikaner sammelt diese kaum genießbaren Früchte vom Boden auf. Weder ein Fahrzeug noch Lasttiere sind zu sehen, wie kamen die Menschen hierher? Sie scheinen verängstigt zu sein. Auf meine Fragen bekomme ich Antworten in englischer Sprache. Sie kommen aus dem Norden Nigerias und sind aus wirtschaftlichen Gründen und Angst vor dem islamistischen Boko Haram nach Algerien geflüchtet. Sie haben Schlepper bezahlt, die sie auf Umwegen bis hierher gebracht haben. Die machten sich aber in der Nacht mit dem Fahrzeug aus dem Staub, trotz des Versprechens, die Gruppe bis zum Mittelmeer zu bringen. Sie haben kaum Essbares dabei und wollen zu Fuß weiter nach Norden. Nachdem Akamouk mir versicherte, dass wir spätestens binnen zwei Tagen das Ziel unserer Reise erreichen werden, übergeben wir ihnen eine mit Wasser gefüllte Gerba und alle für uns voraussichtlich nicht mehr notwendigen Lebensmittel. Akamouk kann einige Worte Englisch und versucht, den Leuten die Merkmale in der Landschaft zu erklären, an die sie sich halten müssen, um die Transsaharastraße in wenigen Tagen zu erreichen.
Die Mittagssonne heizt den Sand und die Steine erheblich auf. Nach den Tagen, in denen Wasser ausschließlich zum Trinken und Tee kochen verbraucht werden durfte und es keine Körperpflege gab, spüre ich das Verlangen im Teich zu baden. Am gegenüber liegenden Ufer nehmen die Kamele Wasser auf. Der kleine See ist glasklar und von angenehmer Temperatur, folglich steige ich hinein. Durch den bis zur Brust reichenden See bis in die Mitte watend, spüre ich an der tiefsten Stelle Bewegung an den Füßen. Wunderbar kühles Wasser quirlt mit Druck aus dem Boden. Das muss die Quelle sein, die den See speist. Meine zwei Reisegefährten bereiten inzwischen Tee und halten den Rumi, wenn schon nicht für verrückt, so vermutlich doch für ziemlich seltsam. Ich fühle mich nach dem Bad extrem wohl und erfrischt. Die Teegläser werden im See gewaschen und wir brechen auf, um unsere Reise fortzusetzen. Im Sattel sitzend und geschaukelt, schreibe ich in meinen Notizblock folgende weitere Erinnerungen an die erste Afrikaexpedition:
Begegnung mit einer Familie der Touareg im Hoggar
Tessalit ist eine Oase mit spärlichem Strauch- und Baumbewuchs, ringsum ist nur Wüste. Unsere Autos waren auf den Pisten der Sahara extrem in Mitleidenschaft gezogen worden und mussten dringend repariert und überholt werden. Wir nutzten die Gelegenheit bei der Mer – Niger die Reifen des Père Ubu fachgemäß flicken zu lassen. Walter setzte den Stoßdämpfer des IFA eigenhändig wieder halbwegs instand. Hans Kopezky wollte seine erste Jagdtrophäe, den wahrhaft schönen Kopf der Gazelle, unbedingt nach Hause bringen und bestand auf dessen Mitnahme. Er meinte, dass das trockene Wüstenklima das Fleisch vom Schädel rasch abfallen lassen würde. Beispiele dafür hätte man ja im Sand der Sahara liegend mehrfach angetroffen. Also banden Walter und Hans den Gazellenkopf auf das Dach des IFA und hofften auf schnellen Erfolg durch den trocknenden Fahrtwind.
Am Weg aus der Ortschaft Tessalit gab es einen französischen Flugplatz. Aus Neugier fuhren wir durch das unbewachte Zugangstor. Die dort stationierten Flieger luden uns auf ein Bier ein, was wir nicht ausschlagen konnten. Gestärkt und guten Muts begaben wir uns am Abend auf die Piste in Richtung Anefis. Südlich von Tessalit begann allmählich die Sahelzone, der Bewuchs mit Sträuchern wurde etwas dichter, Flächen von verdorrtem Steppengras weiteten sich aus. Es wurde Nacht und wir suchten einen Lagerplatz. Abseits der Piste fanden wir eine geeignete Stelle. Kopezky hatte Hunger und zündete ein kleines Lagerfeuer zum Kochen an. Was er besser unterlassen hätte, denn das trockene Gras um uns brannte sofort und war nicht mehr zu löschen. Fluchtartig verließen wir den brennenden Busch, um einige Kilometer weiter neuerlich ein Lager aufzuschlagen. Ohne Lagerfeuer. An Schlaf war nicht zu denken, denn der Kopf der Gazelle stank erbärmlich und Hans musste ihn für die Dauer dieses Nachtlagers im Geäst eines entfernten Gesträuchs deponieren. Es wurde wieder eine unglaubliche Nacht unter einem überwältigenden Sternenhimmel. Man konnte schon den Stern des Südens sehen und ein Flugzeug kreuzte blinkend in großer Höhe von Nord nach Süd. Ich ertappte mich bei der intensiven Vorstellung, sauber gewaschen und gut riechend darin zu sitzen, ich hörte das Knacksen der Eiswürfel in dem beschlagenen Whiskyglas, das mir eine freundlich lächelnde Hostess reichte. Ich versuchte, diese Halluzination zu vertreiben und lieber dem Jaulen und Kläffen der immer näherkommenden Schakale zuzuhören. Das war die aufregende Realität. Zweifel am Sinn unseres Unternehmens und an meinem Entschluss, aus Europa zu fliehen, wurden durch die gewaltige Schönheit dieser Nacht schnell vertrieben.
Leider hatten die Schakale kein Verständnis für Trophäenjäger, denn sie transportierten in der Dunkelheit den wunderschönen Gazellenschädel, Kopezkys ersten Jagderfolg, unauffindbar weit weg in die Steppe. Ein Umstand, der bei ihm für Verstimmung sorgte, bei den anderen aber höchstens zu hämischen Mitleidbezeugungen Anlass gab. Wir erreichten Bourem, die erste Ansiedlung am Niger nach der Wüste. Es war drückend heiß, als wir über einen Abhang kommend den langsam dahinfließenden, überaus breiten Strom sahen. Wir verstanden die Araber, die in monatelangen Ritten auf ihren Kamelen die Sahara durchquert hatten, bei diesem Anblick den Niger als „das Meer“ bezeichneten. Auch uns gab das weite Panorama ein Gefühl des Glücks und der Genugtuung darüber, unser Ziel trotz unzähliger technischer Pannen erreicht, und über viele menschliche Unzulänglichkeiten gesiegt zu haben.
Dem Flusslauf folgend fuhren wir auf der Piste nach Gao, der zweitgrößten Stadt Malis. Die Reparatur einer Ölleitung hielt uns auf, weshalb wir bei enormer Hitze erst zu Mittag auf der breiten, aus roter Erde bestehender Route National Nr. 8 zum Zentrum strebten. Wir fielen in das nächste Hotel ein und feierten uns in der klimatisierten Lobby mit mehreren Flaschen eiskaltem Bier. Mackie versuchte, mit all seinem Charme die Hoteliers zu überreden, uns einige Nächte kostenloses Quartier zu gewähren. Angesichts des beachtlich desolaten Zustandes unserer Kleidung und wegen Wassermangels ausgebliebener Körperpflege, fand diese Kraftanstrengung taube Ohren. Wir suchten uns einen Lagerplatz nächst einer Eingeborenensiedlung außerhalb der Stadt. Nicht zu nahe am Wasser, denn wir haben schon längst den vermehrten Ansturm von Moskitos und lästigen Fliegen gemerkt. Wir beschlossen eine Ruhepause einzuschieben, da die Wüste eine Menge unserer Energie beansprucht hatte. Hier herrschten bisher ungewohnt hohe Temperaturen. Das begünstigte die Anpassung an das Klima der folgenden Monate.
Wir genossen die Pause mit der in diesem Gebiet üblichen trägen Zeitlosigkeit, nach der die Menschen hier so leben. Die Bevölkerung setzte sich in friedlichem Nebeneinander aus zwei Ethnien, Negriden und Tuareg zusammen. Eine Konstellation, die manch Interessantes für die Arbeit der Expedition versprach.
Zwei junge Touareg aus verschiedenen Klassen. Der Rechte trägt viele der „Kri – Kris“ Amulette, die Suren aus dem Koran beinhalten.
Die Ruhepause bedeutete aber nicht Untätigkeit. Die Auenlandschaft entlang des Flusses war wild, versumpft und der Niger suchte sich in zahllosen Armen um lang gestreckte Inseln herum seinen Weg nach Südosten. Unsere Überlegungen waren, wie wir an die zahlreichen Wasservögel, wie Reiher oder Kraniche herankommen und sie ohne langer Optiken fotografieren könnten. Hans Kopezky war ein genialer Erfinder. Die Welt verdankte ihm nicht nur einen Ersatzverschluss für einen verlorenen Deckel des Benzintanks durch einen Plastikbecher, sondern dazu die schwimmende Tarnluftmatratze. Unsere Luftmatratzen von Semperit hatten die Fähigkeit zu schwimmen und ausreichend Tragfähigkeit für einen Mann – solange sie ohne Loch waren. Da wir kein Boot besaßen, lag es nahe, die Matratzen mit Gras und Büschen zu umwickeln und damit zu tarnen. Mit solchem Gerät machten sich Mackie und Kopezky Gelingen erhoffend auf Fotojagd. Aber der Schwimmkörper des Expeditionsleiters wurde bald undicht und er ging mitsamt der Konstruktion unter. Was seinen Unwillen derart hervorrief, dass er dieser faszinierenden Jagd auf Vögel endgültig ein Ende setzte. Mackie war so verärgert, dass er am Abend sogar darauf vergaß, die tägliche Wiedergabe von „River of no return“ (Marilyn Monroe), einzufordern.
Ein weiteres Fiasko bahnte sich an. Wir waren im ursprünglichen Afrika angekommen, es war heiß, die Nächte von Moskitos gestört, um uns herum negride Bevölkerung, der Niger in greifbarer Nähe. Erzählungen zufolge soll dieser Fluss mit Krokodilen verseucht sein, was uns dem Entschluss nahebrachte, die großen Reptilien zu jagen. Wir nahmen Kontakt zu einheimischen Fischern auf, die uns freundlich erklärten, wo solche Tiere zu finden wären. Dort fanden wir sie aber nicht, wodurch notwendig wurde, am Fluss lebende Führer, somit Kenner des Niger anzuheuern. Die gingen mit uns in der Nacht mit Taschenlampen ausgestattet am Ufer entlang, nahmen nach einiger Zeit den versprochenen Lohn, und verschwanden spurlos. Kein Krokodilauge blitzte, kein gezielter Schuss fiel, und den Genuss einer Delikatesse, gekochten Krokodilschwanz, mussten wir um Wochen verschieben. Sowohl Schlangen, als auch Vögel, die zu fangen wir dem Institut für Zoologie der Universität Wien versprochen hatten, entzogen sich unserem Eifer. Doch nicht alle Jagden blieben erfolglos. Die zum Verzehr benötigten Mengen wurden immer herangebracht. Wir erlegten Gänse, Ibisse, Kraniche und mitunter eine Gazelle. Natürlich war uns Diana nicht regelmäßig hold und wir mussten uns wieder mit angebrannten Palatschinken aus einem Gemisch von Mehl und Wasser begnügen.
In martialischer Pose auf einem Termitenhügel mit Jagdausbeute.
Obwohl ich ein recht treffsicherer Schütze war, zumindest nicht schlechter als meine Freunde, konnte es genauso mir geschehen, dass ich von längerer Jagd nur mit einem erlegten Täubchen zurückkehrte.
Zur Zeit der alten Königreiche entlang des Nigerstromes kommunizierten deren Herrscher untereinander durch verlässliche Boten, den Troubadouren und Märchenerzählern. Diese Dynastien sind zum größten Teil verschwunden, geblieben sind die fahrenden Sänger, die Troubadoure. In der, an diese Kommunikation gewohnten Zeit zogen sie von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt. Sie brachten Neuigkeiten und besangen Helden und Könige. Manche waren weit über die Grenzen ihres Landes hinaus berühmt. Von so einem erzählte man uns wiederholt, aber niemand war in der Lage zu sagen, wo er sich im Moment aufhielt. Ich insistierte ihn zu finden, denn mich drängte es, endlich meiner Aufgabe nachkommen und bedeutsame Tonaufnahmen herstellen zu dürfen. Für die Suche brauchten wir funktionierende Autos. Schani und Walter wagten den Versuch, mit dem IFA zu einer Werkstatt in Gao zu fahren. Sie kamen mit einem LKW zurück, der sie mitgenommen hatte, denn die Kupplung des IFA war am Wege komplett unbrauchbar geworden. Aber sie brachten die frohe Botschaft mit, dass wir gerade eben Ostern hatten! Nach zwei Tagen konnte der reparierte IFA abgeholt werden. Wir begaben uns auf die Suche, um das Objekt meiner Begierde, den berühmten Troubadour Moise Yacouba zu finden. Der wurde wie ein Phantom angeblich einmal da, ein andermal dort gesehen, ganz sicher. Ein schier nicht zu bewältigendes Problem, das zu lösen uns aber eher anspornte, denn aufgeben ließ.
Der Ritt auf dem Rücken der Kamele in die Heimat von Akamouk, dem Hoggar, ist faszinierend, aber von beachtlicher Länge. Wir queren die asphaltierte Transsaharastraße, die von Algier im Norden bis nach Lagos im Süden führt und umgekehrt. Beim Anblick des Luxus‘ dieser breiten Straße steigen Visionen von frisch überzogenem Bett, blitzsauberem Badezimmer, Abendessen im Restaurant an weiß gedecktem Tisch, gemütlichem Heurigen, Whisky in der Bonboniere-Bar und bezaubernden Damen dortselbst auf. Sie berühren mich wie die himmlischen Töne todbringender Sirenen, die den Reisenden in den trügerischen vermeintlichen Luxus locken. Doch schon sind wir auf der östlichen Seite der Straße angelangt, wo die unendliche flache Weite der Hamada-Wüste von Hügeln und größeren Felsen unterbrochen wird. Vergessen sind die Verlockungen der Zivilisation Europas und tiefe Genugtuung erfasst mich, hier und nicht dort zu sein. Unmerklich steigt die Ebene an und schnell bricht die Abenddämmerung herein. Am Ufer eines ausgetrockneten Oued halten wir und richten unser Nachtlager. Beim unvermeidlichen Tee meint Akamouk, dass wir eine Tagesreise vom ständigen Sitz seiner Familie entfernt sind. Eine Mitteilung, die mich und meine vom Kamelreiten gequälte untere Körperhälfte auf baldige Erlösung hoffen lassen.
Nicht von ungefähr kommen wir im Laufe des Abends auf Politik zu sprechen. Algeriens Staatsform ist eine Demokratie, die aber mit Unterstützung Russlands versucht Machtpolitik zu betreiben, indem es die Frente Polisario in der angrenzenden Westsahara unterstützt. Akamouk hält eine solche Regierungsform für Afrika als ungeeignet. Zumindest in der zurzeit im Norden existierenden Form. Auf meine erstaunte Frage antwortet er, dass das Volk Diktatoren ausgeliefert sei, die sich über Jahrzehnte an der Macht halten und sobald sie selbst Schwäche zeigen, von neuen Despoten, die sich wieder als Demokraten ausgeben, abgelöst werden. Eine wirkliche Demokratie kann es nur dann geben, wenn das Volk in gleichem Maße Lebenserfahrung und Bildung besitzt, wie die Politiker. Diese Augenhöhe bewahrt es davor, benützt und ausgebeutet zu werden. Ich halte ihm dagegen, dass es demokratische Wahlen gibt, um solche Missverhältnisse auszugleichen, und dabei das Volk die Leute frei bestimmen könne, die dann in den Regierungen den Willen der Bevölkerung vertreten. Kopfschüttelnd erklärt er mir, dass dies eben diejenigen sind, die in ihrem Wissen, vom Volk gewählt worden zu sein, ihre persönliche Macht ausleben und bedacht sind, diese zu erhalten und zu mehren. Warum fällt es mir schwer, ihm zu widersprechen? Die Touareg wählen einen Amenokal aus den Ihaggaren, den Adeligen, der als Chef zwar respektiert und bezahlt wird, aber ausschließlich die Macht ausüben darf, die ihm zugestanden wird. Sein Volk lebt selbstbestimmt dort, wo die Mächtigen der Demokratie aus dem Norden nicht hinkommen, und handelt nach eigenen Gesetzen. Ohne aufwändige Bürokratie, es gilt eine Art Ehrenkodex, den niemand zu brechen wagt. So einfach ist das. Später, auf meinem Feldbett liegend überlege ich, ob man so ein System nicht auf unsere Demokratien übertragen könnte. Aber ich finde keine befriedigende Antwort darauf und schlafe in dem Gefühl, ein Teil des Sternenhimmels ober mir zu sein, zufrieden ein.
Sehr früh drängt Akamouk am nächsten Morgen zum Aufbruch, eine bei ihm ungewohnte Nervosität scheint ihn ergriffen zu haben. Er legt ein schnelleres Tempo als normal vor. Wir kommen den steil aufragenden Felsen des Hoggargebirges immer näher. Zwischen Geröll wächst grünes Cram-Cram, das widerstandsfähige harte Gras der Wüste, sich farblich von der roten Erde ringsum abhebend. Der für mich kaum zu erkennende Weg, dem wir folgen, führt sachte bergan und die schroffen Zinnen rücken näher zusammen, sodass wir uns später am Nachmittag wie durch eine Schlucht bewegen. Im Schatten dieser steil aufragenden Felsen stehen wir mit einem Mal vor einer Wasserstelle, umrahmt von karg blühenden, Oleander ähnelnden Pflanzen. Die Kamele haben dort Gelegenheit zu trinken, was einige Zeit in Anspruch nimmt. Sie naschen von dem frischen Grün der Büsche. Die zwei Touareg bereiten auf einem schnell angefachten Feuer Tee.
Dann ziehen wir durch die felsige, wie von Stalagmiten begrenzte Schlucht weiter. Nach kurzem Marsch öffnet sie sich und gibt den Blick auf ein ausgedehntes Tal unter uns frei. Flach von der Abendsonne beleuchtet stehen eine Anzahl aus Lehm gebauter Gebäude um einen zentralen Platz herum, dahinter einige der für die Touareg typischen Spitzzelte, die Khaimas. Diese Zusammenstellung ist bezeichnend für einen Clan, dessen Mitglieder sich im Laufe der Zeit zu Halbnomaden entwickelt haben. Ein paar rechteckige Flächen werden von niederen, aus rohen Steinen zusammengefügten Mauern begrenzt. Im Tal verstreut weiden größere Ziegenherden das spärlich wuchernde Steppengras ab. Neben einem hinter Büschen versteckten kleinen See stehen und liegen wiederkäuend einige Kamele. Auf dem Platz im Ort haben sich eine Menge Menschen und Meharis versammelt, wobei in der Mitte eine flache Sandfläche großräumig ausgespart bleibt. Rundherum steigen wie von Opferfeuern dünne Rauchsäulen gegen den Himmel. Wir hören den Klang eines Saiteninstruments, dem Imzad, begleitender Trommeln und singender Frauen deutlich bis zu uns herauf. Ein großes Fest scheint stattzufinden. Akamouk deutet auf die Ansiedlung hinunter, mit der Bemerkung, dass das seine Familie sei. Wir steigen den steil abfallenden, nicht ungefährlichen Weg in das Tal hinab. Das geschieht nur recht langsam und vorsichtig, denn selbst unsere Kamele rutschen manchmal auf dem abschüssigen Geröll. Bricht sich so ein Tier in der Wüste ein Bein, ist es unrettbar verloren.
Schon lange hat es mich gewundert, wieso die Afrikaner in weit entfernten Zielorten, die wir oft erst nach tagelangen Fahrten erreichten, bereits über uns Bescheid wussten. So auch hier. Ich weiß, dass Akamouk keine weitreichenden Kommunikationsmittel besitzt, geschweige denn fremde benützt. Das hier ist aber unverkennbar ein vorbereiteter Empfang, wie zu Ehren eines Fürsten. Ich beschließe, Akamouk erst später danach zu fragen, denn eben queren wir den freien Platz in Richtung einer am Boden sitzenden Gruppe älterer Männer. Sie sind alle mit ihren Tegelmusts verschleiert. Iyad und Akamouk begrüßen einen nach dem anderen, jeden mit dem bei den Touareg üblichen, reichlich umständlichen Ritual. Nachdem ich vorgestellt wurde, lädt mich der vermutlich älteste von ihnen ein, neben ihm Platz zu nehmen. Meine zwei Begleiter ziehen sich auffallend schnell zurück und verschwinden in der Menge. Möglichst schwungvoll lasse ich mich auf den mir frei gemachten Teil des Teppichs fallen. Niemand sollte meine, durch Arthrose und dem langen Ritt hervorgerufenen Schmerzen in den Kniegelenken bemerken. Noch denke ich nicht daran, wie ich da wieder hochkommen werde, und verschränke meine Beine so gut als möglich nach Art der Eingeborenen. Der mir zunächst sitzende Vermummte scheint der Scheich zu sein. Er spricht ausgezeichnet Französisch und erzählt mir, dass er wüsste, wer ich sei und dass ich an einem Buch schreibe. Wie kann er das wissen, weder ich noch meine beiden Begleiter haben irgendetwas in dieser Richtung gesagt. Ob darin alle Menschen vorkämen, die ich auf meinen Wegen treffe, fragt er hinterhältig. Wahrscheinlich ist der alte Schlawiner auf Bezahlung aus, und so sage ich ihm, dass ich ausschließlich Natur und Landschaften beschreibe. Womit ich keineswegs lüge, denn die Menschen sind ja auch Natur, und ich erspare mir mühsames Feilschen. Nicht nur im Urwald, sogar in der Sahara scheint es einen Buschtelegrafen zu geben, der Neuigkeiten wie diese über weite Strecken transportiert.
In der Mitte des Platzes haben Frauen einen kleinen Kreis gebildet. Sie musizieren mit handlichen Trommeln und dem Imzad, einem Streichinstrument, das einen großen Klangkörper, aber nur eine Saite hat. Sie spielen und singen und begleiten damit eine spektakuläre Vorführung. Um die Musikerinnen herum treiben bewaffnete Krieger der Touareg in voller Montur ihre Meharis in solchem Tempo zum Galopp, dass sie in Schräglage geraten. Die Erde dröhnt vom Getrampel, die flachen Zehen der Tiere wirbeln kleine Sandfontänen vom Boden hoch. Eine auffallend attraktive Targia nähert sich, sie ist in einen Haik, ein ärmelloses langes Gewand, gekleidet. Sie reicht uns, die wir auf dem Teppich sitzen, ein verziertes Tablett mit Tee. Davon nehmen wir jeder ein Glas. Nach kurzer Zeit erscheint sie abermals mit frisch gefüllten Gläsern. Flirtet sie mit mir? Oder ist das nur eine Illusion wegen ihrer großen dunklen Augen, die mich offen und direkt anblicken. Dreimal wiederholt sich diese Zeremonie. Die Musik hat inzwischen ihren Rhythmus geändert und es erscheinen drei Tuareg auf Kamelen in paralleler Formation, die sie tänzerisch in exaktem Gleichschritt im Kreis um die Musikerinnen bewegen. Obwohl die Musik weiterspielt, verlassen die Reiter nach mehreren Runden den Platz und verschwinden hinter dem nächsten Gebäude. Wieder ändert die Musik jihren Charakter, sie wird ruhiger, der Gesang der Frauen verebbt. Nur die Musikerin mit dem Imzad fiedelt leise weiter vor sich hin. Musiker, die dieses Saiteninstrument spielen können, gelten in Algerien schon fast als ausgestorben. Seit einigen Jahren ist man mit Erfolg bemüht, bei der Bevölkerung das Interesse an diesem Instrument wiederzubeleben. Dass ich eines davon heute hier zu Gehör bekomme, bedeutet eine glückliche Ausnahme.
Seit unserer Ankunft regt der Duft, der von den Feuerstellen herüberweht, meinen Appetit an, denn dort werden Hammel gebraten. Das dauert Stunden, bis sie vollständig gar sind. Jetzt aber ist es so weit. Bei leiser „Tischmusik“ bringt uns die reizende Targia lächelnd tiefe Teller, angefüllt mit Couscous, worauf große, duftende Stücke vom Mechoui eingebettet liegen. Weil ich ein Rumi bin, gibt es für mich sogar Essbesteck. Meine Gastgeber greifen mit den bloßen Fingern der rechten Hand zu. Das Fleisch ist zart, durchgegart, und schmeckt typisch nach Hammel. Da jeder Bissen von Fett trieft, wäre mir ein alkoholisches Getränk dazu recht angenehm, damit es das Fett etwas neutralisiert. Aber so weit geht die Gastfreundschaft der Moslems doch wieder nicht, dass sie über ihren eigenen Schatten springen und Alkohol herbeischaffen würden. Ich genieße die Speisen trotzdem, da derartige Feste äußerst selten stattfinden. Außerdem kann ich später in meinem Gepäck nach dem Fläschchen Kognak graben, welches die fürsorgliche Michelle für solche Fälle darin versteckt hat.
ch bin noch in den seltenen Genuss dieses köstlich zarten Hammels vertieft, da legen die Frauen ihre Instrumente beiseite und stehen auf. Sie wenden sich in unsere Richtung, und singen in höchster Tonlage, dazu klatschen sie mit den Händen den Rhythmus. Zwei Touareg erscheinen mit Tanzschritten vor uns auf der Sandfläche. Sie schwenken Schwerter über ihren Köpfen, die breit auseinander gehaltenen Beine stampfen rhythmisch den aufstiebenden Sand. Wie in Zeitlupe vollführen die beiden tänzerisch einen Schwertkampf, jedoch ohne dass sich die Tabukas jemals berühren. Sich duckend gehen sie tief in die Hocke, um sich gleich darauf wieder federnd zu aufrechtem Tanz zu strecken. Ihre linken Arme zeigen Bewegungen, als würden sie Schutzschilder führen. Die typischen bemalten Schilder der alten Tamascheq-Krieger sind kaum mehr zu finden. Wahrscheinlich weil sie nutzlos geworden sind und an Touristen verkauft wurden. Die Schwerter aber sind weiterhin aktuell zur Verteidigung und zur Manneszierde in Gebrauch. Das Fest dauert bis in die Dunkelheit der Nacht, erhellt von einigen Feuern. Ich verziehe mich müde in den mir vom Scheich in einem Haus zugedachten Raum. Freundliche Menschen tragen mein Gepäck herein. Kaum wieder allein, suche ich sofort die Kognacflasche. Der Inhalt ist kräftige Medizin für den Magen, der derartige Mengen Fett nicht gewohnt ist. Schnell ist das Feldbett aufgebaut, ich lege mich komplett angezogen darauf, und überlege mir, begleitet von der noch vom Platz gedämpft herübertönenden Musik, die nächste Folge meiner schriftlichen Erinnerungen:
Traditioneller Schwertertanz der Touareg
Wir waren noch immer am Ufer des Niger entlang auf der Suche nach dem Troubadour. Ein Mann aus einem nahegelegenen Dorf hat auf irgendeine Weise erfahren, dass wir Moise Yacouba, den großen Barden, suchen. Dieser Informant kam zu uns ins Lager, als wir ums Lagerfeuer herum saßen und versuchten, mit Appetit eine Speise zu verdrücken, die Walter vorher leicht anbrennen hat lassen. Er erzählte uns, dass dieser Troubadour morgen in einer Siedlung, etwa fünfzig Kilometer südlich von hier, spielen wird. Mit Mühe hielten wir Walter davon ab, den schwarzen Gast aus Dank für seine Mitteilung auf das Essen mit uns einzuladen, denn wir befürchteten darauffolgende Racheakte. So gaben wir dem Überbringer der Nachricht etwas Geld, was ihn sicher mehr freute und uns weniger beunruhigte.
Obwohl wir nach den bisherigen Erfahrungen nicht wirklich an einen Erfolg glaubten, wollten wir am nächsten Tag zu dem angegebenen Dorf aufbrechen. Wir beluden am Morgen unsere beiden invaliden Autos mit dem nötigsten Gepäck für die Arbeit. Die Motoren liefen schon, als uns Schani in dem ihm eigenen deutsch-belgischem Kauderwelsch mit der Nachricht überraschte, dass die Bremsen beim IFA wieder einmal kaputt seien. Diese Mitteilung brachte uns einen heftigen Ausraster des Expeditionsleiters ein, den ich mit meinem Vorschlag, notfalls alleine zu fahren, beendete. Walter, der zur Bewachung im Lager bleiben sollte, machte sich sofort an die verantwortungsvolle Reparatur. Kopezky und Schani assistierten ihm. Da ich zu bedenken gab, dass wenn wir das Funktionieren der Bremsen abwarten, der Sänger uns wieder durch die Lappen gehen könnte, fuhren Mackie und ich im Père Ubu los.
Wir kamen am Nachmittag in ein Dorf, das aus geschätzten fünfzig Hütten bestand. Direkt am Ufer des Niger gelegen, lebten die Dorfbewohner, Angehörige der Völker Songhai und Djerma vom Fischfang, der Jagd auf Vögel und Krokodile.
Fische trocknen am Niger
In ihren lang gestreckten und meist sehr alten Piroggen, das waren aus einem Baumstamm geschnitzte Boote, befuhren sie virtuos wie Seiltänzer den Fluss. Oft bewegten sie die schwer beladenen Einbäume, indem sie kurze Blattruder benutzten oder mit langen Stangen an den Rändern des Niger entlang stakten. Zwischen den Lehmhütten mit den spitzen Grasdächern herrschte reges Leben. Es lag Spannung in der Luft. Alle Dorfbewohner waren da, die Fischerboote lagen dicht gedrängt am Ufer, auf dem Fluss selbst waltete ungewohnte Leere. Mackie suchte den Chef du Village auf und erklärte dem Häuptling, unter Übergabe von einigen Geldscheinen, unser Vorhaben.
Wir erkundigten uns nach dem Ort, an dem sich Yacouba zeigen wird. Dort stellte ich das Auto so ab, dass die Länge des Kabels für das Mikrofon gerade noch über den Platz reichte, trotzdem aber eine Sichtverbindung zwischen dem Künstler und mir erhalten blieb. Wie gewohnt scharten sich die Dorfbewohner, die Jugend vor allem, um den Père Ubu und sahen mir interessiert bei den Vorarbeiten zu den Aufnahmen zu. Ein Junge und ich hoben die schwere Bärenbatterie von der Ladefläche. Den Einankerumformer, der 12 Volt Gleichstrom der Autobatterie in 220 Volt Wechselstrom wandelte, stellten wir in seiner Kiste daneben auf den Boden. Die beiden Instrumente zur Messung der Spannung und der Frequenz des Stromes für das Tonbandgerät schaltete ich dazu. Damit war ein störungsfreier Betrieb des Telefunken KL 25 gewährleistet.
Die schwere Bärenbatterie als Stromquelle
In der ersten Reihe halbnackte Jugendliche und dahinter Erwachsene drängten sich um Mackie, der ein paar Schritte abseits stand und auf meine Geräte aufpasste. Vor allem beim Expeditionsleiter wurden die Rufe nach einem Cadeau, einem Geschenk, ständig eindringlicher. Auch ich musste mich gegen körpernahen Andrang wehren, weil grenzenlose Neugier die Menschen dazu trieb, alles zu betasten. Was halt überhaupt nicht in meinem Sinn lag. Es war geraten äußerst vorsichtig zu agieren, da wir es uns keineswegs mit den Dorfbewohnern verscherzen, aber genauso wenig als Melkkühe dastehen wollten. Endlich traf zu unserer Entlastung der IFA mit Besatzung ein. Walter hatte mit Schani getauscht, sodass er als amtierender Kassenwart die Geschenke heischenden Halbwüchsigen freundlich selbst abwimmeln durfte.
Vorbereitung für Aufnahmen
Um den Gleichlauf des Tonbandgerätes zu überprüfen, war Musik bestens geeignet. Ich legte zu diesem Zweck ein Band mit Aufnahmen vom Radiosender Blue Danube Network aus Wien auf. Das lenkte die Aufmerksamkeit der Leute wieder mehr auf meine Tätigkeit. Lachend und plaudernd hörten sie verschiedenen Jazznummern zu. Teilnahme kam bei den Umstehenden erst beim Anhören eines Mambos, der Begeisterung und wildes Tanzen auslöste. Alles war schlagartig in Bewegung geraten, feiner Staub stieg auf, ich machte mir schon Sorgen um die einwandfreie Funktion der Geräte. Meine drei Kollegen drängten die Tanzenden so weit zurück, dass der Kreis größer wurde und die Gefahr durch den aufgewirbelten Staub gebannt schien.
Schließlich lichteten sich die Reihen, und ich hatte Zeit, ein noch unbespieltes Band für die bevorstehende Aufnahme einzulegen. Wir hatten von BASF ein großzügiges Kontingent an tropenfesten LGS – Tonbändern mitbekommen, deren Qualität und Haltbarkeit ich besonders schätzte. Unvermittelt verlor sich das Interesse der Dorfbewohner an mir und meinen Geräten. Alle liefen zum Dorfeingang, Moise Yacouba, der Chef der fahrenden Sänger, war eingetroffen! Er ließ seinen Peugeot 403, der ihn von einem Auftrittsort zum anderen brachte, am Dorfrand stehen. Gemessenen Schrittes wurde er von den Honoratioren des Dorfes und einer sich ehrfurchtsvoll leise verhaltenden Menge zu dem Platz geleitet, der für ihn vorgesehen war. Für den in hellblaues Tuch gewickelten Meister, dessen Haar grau meliert war, wurde eiligst ein richtiger Stuhl gebracht, den man in den Eingang eines aus Lehm gebauten Hauses stellte, um ihm den Rücken freizuhalten. Einige Dorfbewohner bemühten sich rührend um ihn, indem sie Unmengen gegrilltes Rindfleisch herbeibrachten und Kalebassen mit frischem Wasser in seine Reichweite stellten. In gehörigem Respektabstand von Yacouba haben sich der Chef und die Ältesten des Dorfes in einem Halbkreis niedergelassen. Dahinter standen, in mehrere Reihen geschichtet die Dorfbewohner. Ein leichter Wind wehte den konzentrierten Schweißgeruch der angesammelten Menge über den Platz zu mir herüber. Es war der typische Geruch, der einem überall dort in Afrika begegnete, wo Menschen sich versammelten und tanzten. Einmal ist er stärker, ein anderes Mal schwächer. In kurzer Zeit gewöhnt man sich daran und empfindet ihn letztendlich nicht als unangenehm. In gewisser Weise gehört er zum Lokalkolorit.
Nach längerer Zeit, in welcher der immerzu lächelnde Meister gespeist und getrunken hatte, näherte sich Mackie dem Troubadour. Die beiden handelten den Preis aus, der für das Mitschneiden seiner Darbietungen bezahlt werden musste. Es war eine größere Summe, die Walter aufregte und zum Erbleichen brachte. Des Kassenverwalters erregtes Zögern beruhigte sich, weil ich ihn daran erinnerte, dass wir nicht hier wären, wenn uns das Phonogrammarchiv in Wien nicht mehrmals die wissenschaftliche Notwendigkeit unseres Unternehmens bescheinigt hätte. Das verpflichtete uns, solche Aufnahmen heimzubringen. Um das Gesicht zu wahren, meint er ernst und mit herabgezogenen Mundwinkeln, dass er bezahlen würde, aber erst nach erbrachter Leistung. Das war einleuchtend, auch Moise Yacouba war damit einverstanden. Ich hatte inzwischen unser einziges Mikrofon, das AKG D 12, auf das Stativ geschraubt und Mackie bahnte sich mit diesem eine Schneise durch das Publikum und zog das Mikrofonkabel nach. Er stellte das Mikrofon meiner Anweisung folgend genau vor den Troubadour, der bereits auf seiner Komsa, einer selbst gebauten Gitarre, improvisierte.
Moise Yacouba 1
Bevor er zu seinem Sprechgesang anhob, griff er sich noch ein Stück Fleisch, aß es genüsslich und wischte sich daraufhin die Finger an der Tunika ab. Dann begann er mit dem Vortrag. Er erzählte alte Märchen und Legenden von den vergangenen Dynastien der Djerma und Haussa. Völker, die in den Gebieten Niger und dem südlichen Mali sesshaft waren. Zur Begleitung entlockte er seinem Instrument eine Fülle von Rhythmen und Tönen, die das gesprochene Wort unterstützten und bereicherten. Unser Dolmetscher übersetzte die Texte sofort. Moise Yacouba gab ihm die Zeit dafür, indem er selbst schwieg, dabei aber auf seinem Instrument weiterspielte und damit die jeweilige Übersetzung mit Klangbildern untermalte. Dadurch hatten wir Gelegenheit zu verstehen, was wir hörten. Es waren richtige literarische Kunstwerke mit uraltem Sinngehalt und enormer Symbolkraft.
Moise Yacouba 2
In
Begleitung des Meisters war ein hochgewachsener junger
Mann mitgekommen. Ali Mabou war sein Name und er war ein Schüler des großen Yacouba.
Er war anders gekleidet als sein Lehrer.
Er trug einen Boubou, ein bis zu den
Knien reichendes gerades Kleidungsstück mit Stickereien aus Vorarlberg auf der
Brust, von dem er sicher annahm, dass es weiß
sei. Auf dem Kopf hatte er eine runde weiße
Kappe ohne Krempe, die ihn als gläubigen
Mohammedaner auswies. Er hielt sich die ganze Zeit über im Hintergrund,
andächtig seinem Idol zuhörend. Doch als nach etwa
einer halben Stunde sein Chef müde wurde,
übernahm Ali und setzte das Konzert fort. An diesen Gesang mussten wir uns erst gewöhnen, die Inhalte
seiner Texte hingegen waren nicht weniger interessant,
als die von Yacouba. Auch ihm hörten die Leute aufmerksam und bewundernd zu. Mir kam der
ungeplante Zusatz sehr gelegen, denn ich konnte damit wieder ein ganzes Tonband mit archaischer afrikanischer Kunst bespielen.
Ali Mabou
Nach dem Ende der Darbietungen hob neuerliches Feilschen um die Bezahlung an. Da es zwei Sänger geworden waren, und Ali doch so schön gesungen hatte, verlangte Moise Yacouba jetzt das Dreifache von dem anfänglich ausgemachten Preis. Walter, in afrikanischem Handeln erfahren, wollte partout nicht mehr zahlen und bestand auf der vorher beschlossenen Summe. Daraus entstand ein langes Palaver, Argumente für und dagegen wurden ausgetauscht. Darüber brach die Dämmerung herein und ich musste mich beeilen, im Rest des Tageslichts die Geräte wieder in das Auto zu verladen. Weil das sorgfältig durchgeführt werden musste, dauerte es einige Zeit, bis alles endlich seinen unverrückbaren Platz gefunden hatte. Walter und Mackie einerseits, Yacouba und Mabou andererseits palaverten nach Abschluss meiner Arbeiten noch immer. Dem Expeditionsleiter war eine gewisse Unruhe deutlich anzumerken, während der Kassenwart unendliche Geduld bewies. Das waren Afrikaner von Europäern nicht gewohnt und sie hatten erkennbar Achtung vor solcher Standhaftigkeit. Walter zahlte letztendlich nur einen Bruchteil von dem, was mehr verlangt wurde, trotzdem trennten wir uns in Frieden.
Obwohl die Nacht schon hereingebrochen war, begaben wir uns wieder auf die Piste, um zum Lager zurückzukehren. Ohne größere Zwischenfälle erreichten wir die Zelte vor Mitternacht. Schani hatte in irgendeinem Laden eine fünf Liter fassende Flasche Rotwein aufgetrieben, mit der wir den Erfolg unserer Arbeit so lange feierten, bis sie zur Nagelprobe geleert war. Müde und zufrieden begaben wir uns zur Ruhe.
Walter und ich gingen bei Tagesanbruch auf Jagd und kehrten am Vormittag mit Beute zurück. Der Vogel, den Walter geschossen hatte, ähnelte in Größe und im Äußeren einer Graugans. Da wir keine Vorrichtungen hatten, die Jagdbeute zu braten oder zu grillen, wurde der erfolgreiche Schütze beauftragt, das Tier zuzubereiten. Das war ein Fehler. Das Lager und die nächste Umgebung waren weithin mit gerupften Federn überzogen. Ebenso war die Bissfestigkeit des stundenlang mit Liebe gekochten Tieres derart, dass wir das Fleisch in kleinste Würfel schnitten, um es verspeisen zu können. Zur Ehrenrettung des Koches stellten wir fest, dass das Abendessen geschmacklich ausgezeichnet gelungen war. Bei diesem Mahl beschlossen wir die Weiterreise für den folgenden Tag, und das unbedingte Verfassen eine Sammlung Märchen der Djerma und Songhai in deutscher Sprache.
Schon routiniert brachen wir unser Lager ab, beluden die Autos und begaben uns auf die Piste in Richtung Niamey im Süden. Erst der IFA und nach einiger Zeit der Humber. Einem Franzosen, der an der Strecke mit seinem Auto in Panne lag, verkauften wir vier Liter Motoröl aus unserem Fundus. In Ayorou trafen wir die Besatzung des IFA wieder und besuchten den dort diensthabenden Gardien. Nicht ausschließlich um uns zu melden, er hatte im Haus einen Tisch stehen und ein paar Stühle, die den Eindruck einer Gaststätte vermittelten. Außerdem sahen wir in einer Ecke einen Kühlschrank und daneben eine Kochstelle. Auf unsere Frage, ob wir etwas zu essen bekommen könnten, bot er uns Eierspeise an. Aus dem Frigidaire holte er ein paar Flaschen Bier, nach denen wir gierig griffen. Dann brachte er selbstbewusst die Rühreier. Sie waren nicht nur versalzen, sondern zusätzlich so stark gebraten, dass sie durchgehend braun und staubtrocken waren. Da wir befürchteten, wieder Palatschinken von Walter essen zu müssen, verputzten wir brav das Gebotene. Es war unvermeidlich, dass es später eine gröbere Auseinandersetzung mit dem Gardien gab, da wir für diesen Fraß nicht bezahlen wollten. Aber auch hier fand sich ein Weg! Walter drohte dem schwarzen Uniformträger an, er würde ihn beim Commandant Cercle, dem französischen Kommandanten für das Gebiet melden. Wir zahlten das konsumierte Bier und ersetzten großzügig den Einkaufspreis der verbratenen Eier. Er ist damit zufrieden, und wir waren uns wieder einmal darüber einig, dass Walter der beste Kassenwart war.
Am Abend campierten wir vor Tillabéri auf freier Strecke und schliefen beim Hören vom Band des dritten Aktes aus Mozarts Don Giovanni friedlich ein. Ab und zu wurde die Stille von Schakalen und aus weiterer Entfernung von Hyänen unterbrochen. Vor Tagesanbruch fuhren Walter und Kopezky los. Sie starteten mit großem Lärm, der einem Rennauto der Formel 1 alle Ehre gemacht hätte. Das war auf einen fehlenden Schalldämpfer zurückzuführen, der lag nämlich auf dem Gepäck im Auto, um bei Gelegenheit neu angeschweißt zu werden. In dem Städtchen Tillabéri fanden die beiden Teile der Expedition wieder zusammen. Dort trafen wir abermals den Franzosen, dem wir auf der Piste mit dem Motoröl ausgeholfen hatten. Es stellte sich heraus, dass er Angehöriger einer französischen Organisation für Entwicklungshilfe war. Aus lauter Dankbarkeit lud er uns alle auf jeweils zwei riesig dimensionierte Kognaks ein. Dadurch gestärkt und äußerst vergnügt begaben wir uns auf den Weg nach Niamey, der Hauptstadt von Niger, die wir als Basis für unsere Exkursionen in Niger ausgesucht hatten..
(Die Musikaufnahmen sind im Phongrammarchiv der Akademie der Wissenschaften, 1010 Wien, Liebiggasse 5 zu finden, das auch die Rechte dafür besitzt. Bei Interesse an näheren Auskünften bitte Kontaktaufnahme direkt mit dem Archiv, oder mit mir.)
Der frühe Morgen in Akamaouks Geburtsort. Meckern und das Getrappel einer Ziegenherde, die langsam an meiner Behausung vorbeizieht, wecken mich. Durch die breiten Spalten der roh gezimmerten Türe dringt schon helles Licht, in dem Staubpartikel tanzen. Ich krieche aus der wohligen Wärme meines Schlafsacks und versuche in der Dunkelheit die Konturen des Schlafgemachs zu erkennen. Neben der Türe gibt es keine Öffnungen, nicht einmal ein Fenster. Das ist gut durchdacht, denn dadurch werden sowohl Kälte als auch mittägliche Hitze draußen gehalten. Mit einem Anflug von Heimweh denke ich dabei an die Weinkeller in Österreich, die ähnlich konzipiert sind. Diese emotionelle Aufwallung ist in dem Moment vorbei, in dem ich das Tor aufstoße und in den werdenden Morgen blicke. Die Sonne steht knapp unter dem Horizont, am Himmel blinken noch ein paar der hellsten Sterne, die Ziegen haben sich verzogen und es herrscht absolute Ruhe. Ein wenig vom Duft der Herde bleibt in der Luft hängen. Die Bewohner des Dörfchens scheinen nach der anstrengenden Nacht versäumten Schlaf nachzuholen.
Ich beschließe, die Kühle des Morgens für einen Spaziergang zu nützen und dem naheliegenden Teich einen Besuch abzustatten. Der Weg führt mich über den großen leeren Dorfplatz, an den gelöschten Feuerstellen vorbei, deren graue Asche und ein paar abgenagte Knochen der gebratenen Hammel Zeugnis von dem gestern und heute Nacht stattgefundenen Fest geben. In der herrschenden vollständigen Stille sind meine Schritte derart laut, dass ich unwillkürlich versuche, leiser aufzutreten. Außerhalb der Siedlung angelangt, führt der Weg bergab zum Wüstenteich. Das Ufer ist mit Abdrücken menschlicher Füße und tieferen Spuren von Tieren übersät und sinkt flach in den glasklaren Teich hinab. Ich entledige mich der Hose und des Hemdes und wate in das an der Oberfläche angenehm temperierte Wasser. Ich schwimme mit wenigen Schwimmbewegungen zum anderen Ende des kleinen Sees und wieder zurück. Das wiederhole ich einige Male und fühle mich wie ein König, der morgens allein in seinem Swimmingpool ein paar Schwimmzüge macht. Die Sonne schickt ihre ersten warmen Grüße durch die Blätter der Palmen, am Ufer haben sich Frauen und Mädchen plaudernd und unter weithin hörbarem Gelächter versammelt. Sie holen mit Kübeln und Tonkrügen Wasser aus dem See und verschwinden wieder im Dorf. Ich ziehe mich über die nasse Haut an. Beim Erreichen des Platzes im Zentrumsind Hemd und Hose trocken.
Der Stille folgt Unruhe, auf dem Platz haben sich Menschen eingefunden, viele Kinder darunter. In der Mitte liegen sechs Kamele, die von Männern in langen weißen und blauen Gewändern anscheinend für eine Ténet, eine Reise beladen werden. Einen davon erkenne ich wieder. Gelassen spricht er mit einem anderen Targi und beteiligt sich nicht an den Tätigkeiten. Es ist einer der bevorzugten Gäste, die beim vergangenen Fest neben mir am Teppich gesessen sind. Die Männer sind seine nicht adeligen Diener, welche die Arbeiten verrichten. Hier, in der Abgeschiedenheit des Hoggar, gelten bis heute die alten Gesetze der Hierarchien. In die unwillig klingenden Gurgelgeräusche der Kamele mischt sich das Meckern zweier Ziegen, die Leinen um den Hals gewunden haben, deren andere Enden unter einem schweren Stein eingeklemmt sind. Begleitet von einem Tross schnatternder und höchst neugieriger Kinder, die ich auf ein Alter zwischen sechs und zwölf Jahren schätze, begebe ich mich zu meiner Behausung.
Doch kurz vor dem Eingang bin ich wieder allein, die Nachkommen des Clans haben sich verkrümelt. Eine Rücksichtnahme auf Privates, die ich mehrmals bei Autochthonen, egal welcher Ethnie, rund um den Erdball erlebte. Ich betrete den dunklen Raum und werde von Akamouk begrüßt, der sich bei meinem Eintritt vom Feldbett erhebt. Er ist gekommen, um mich zu einem Frühstück mit der Freundin einzuladen, bei der er die Nacht verbracht hatte. Am Weg dorthin meint er, dass er gerne möglichst schnell zur Auberge du soleil zurückkehren, demnach sein Volk hier verlassen will. Seine Pflicht, den jungen Iyad gesund wieder heimzubringen, hatte er erfüllt. Niemand würde ihn hier mehr benötigen. Mir war es Recht, und ich stimme einer vorzeitigen Abreise zu.
An einer langgestreckten Mauer mit nur einem Eingang stehen die bisher nicht beladenen drei Kamele Akamouks. Er betritt den Hof vor mir und geht auf das aus Lehm gebaute, groß dimensionierte Wohnhaus zu. Ein Anwesen dieser Ausmaße kann nur einer einflussreichen Familie gehören. Meine Annahme wird durch Akamouk bestätigt, sie gehört zum Clan des aktuell herrschenden Amenokal, dem Chef aller Touareg. An einem Platz nahe dem Haus steht ein meisterlich aus rohen Holzstangen errichteter und mit Leder gedeckter Baldachin. Auf einer dem Augenschein nach festen Feuerstelle kocht schon Teewasser in der typischen Kanne aus blauem Email. Sie wird von einer ausnehmend hübschen, ja schönen jungen Targia gehütet. Sie trägt eine Menge Silberschmuck und ist kunstgerecht geschminkt. Ich verstehe Akamouk und bewundere seinen guten Geschmack. Sie bleibt, das ist ungewöhnlich, an der Kochstelle sitzen, während wir uns auf den ausgebreiteten kleinen Teppichen niederlassen. Mit bedachten, eleganten Bewegungen bereitet sie nach alter Tradition den Tee. Akamouk erklärt mir, dass sie in Oran und Algier Wirtschaft sowie Agrikultur studiert und die durch politische Umstände erzwungenen Ferien hier zu Hause verbringt. Täusche ich mich, oder wirft sie meinem Freund verliebte Blicke zu?
Wir führen ein anregendes Gespräch über die verschiedenen Möglichkeiten, die karge Landschaft der Sahara wirtschaftlich zu nützen. Sie beweist Ihre Intelligenz, indem sie ihr perfektes Französisch umgehend meinen bescheidenen Sprachkenntnissen anpasst, sodass eine recht flüssige und anregende Unterhaltung zustande kommt. Sie plant, gleich wie es etliche Bauern im Sahel seit einiger Zeit mit Erfolg realisieren, ebenfalls hier im Hoggar die Täler mit Anpflanzungen zu kultivieren. Auf meinen Einwand, die enorme Wasserarmut in diesem Gebiet betreffend, meint sie, man könne mit künstlicher Bewässerung aus Brunnen anfangen. Das würde Pflanzen und Bäume bis zu einer solchen Höhe und Dichte gedeihen lassen, um einen natürlichen Kreislauf herzustellen. Dadurch sollte ausreichend Regen entstehen, vorausgesetzt, die Grünfläche ist groß genug. Im Sahel gibt es Unterstützung aus China für diese Projekte, sie hofft auf eine solche von der EU und von einer neuen Regierung in Algerien. Die kürzlich Abgesetzte war nicht interessiert, da sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt war. Gerne würde ich weiter mit dieser anziehenden Frau plaudern, aber Akamouk drängt zum Aufbruch. Ich verabschiede mich kurz mit dem Versprechen, bei nächster Gelegenheit wiederzukommen. Ihren Vorschlag, mir einen Vasallen als Führer bis zu meiner Unterkunft mitzugeben, lehne ich ab, denn in der mir eigenen Eitelkeit will ich den Weg eigenständig finden. Akamouk begleitet mich bis vor das Tor und zeigt mir die Richtung, in der ich gehen soll.
Aber das hätte ich besser unterlassen. Alle Lehmhäuser sind so oder so gleich gebaut. Keine Fixpunkte sind vorhanden wie Bäume oder Geschäfte. Auch natürliche geographische Merkmale, wie Hügel und Gräben gibt es nicht. Bis auf ein paar bettelnde Kinder zeigt sich niemand, den ich nach dem Weg fragen könnte. Einige Hühner und einzelne Ziegen kreuzen den Weg, irgendwo liegt ein von Hammelresten vollgefressener Hund, der bei meinem Erscheinen müde nur leicht seinen Kopf hebt. Der Stand der Sonne ist ebenso wenig hilfreich. Es ist nicht zu leugnen, ich habe mich verirrt. Der Tross lärmender und aufdringlicher Kinder hinter mir wächst mit jeder Häuserecke an. Kommunikation mit den Kleinen ist aus sprachlichen Gründen nicht machbar. Das steigert die Nervosität und ich verliere mich in Umwegen. Das Dorf ist nicht so groß und zu meiner Überraschung stehe ich unvermittelt auf dem recht belebten Hauptplatz. Die Karawane ist aufgebrochen und im Gelände in der Ferne verschwunden. Von diesem Platz finde ich den Weg zum Quartier schnell und direkt.
Ich rolle rasch meinen Schlafsack ein, da kommt schon Akamouk in Begleitung von zwei Halbwüchsigen zur Türe herein. Er erklärt ihnen, wie das Zusammenlegen des Feldbettes funktioniert. Sie machen das großartig und tragen es als Bündel hinaus. Während mein Reisegefährte das Bett am wie gewohnt unwillig brüllenden Lastkamel befestigt, gebe ich jedem der Helferlein ein paar Centimes. Das mir zugeteilte Mehari begrüßt mich schon von Weitem mit ungehaltenem Gurgeln. Zu Fuß, die Kamele an Stricken führend, ziehen wir aus dem Ort. Um Proviant und Wasservorrat brauche ich mich nicht zu kümmern, mein zuverlässiger Freund, der Targi, hat alles vorbereitet.
Wir verlassen das Ksar, die Siedlung des Clan, in Richtung Gebirge. In der Ebene klettern wir in die Sättel und lassen uns durch die Gegend schaukeln. Am Beginn der Steigung zum Pass steigen wir wieder ab, obwohl sich die Kamele bergan sicherer bewegen, als hinunter. Weiter geht die Reise durch bekannte Landschaften, die mir insofern neu erscheinen, weil wir in die Gegenrichtung ziehen. Das Nachtlager wird nicht am selben Platz errichtet, den wir schon einmal dafür benützt hatten, sondern ein paar Kilometer weiter westlich. Noch immer ist es mir nicht möglich, mein Kamel zum Niederlegen zu bewegen. Akamouk muss nachhelfen. Beim abendlichen Tee möchte ich von ihm wissen, warum er so schnell wieder von seinem Clan fortwill, da doch diese Frau zu ihm passt und ihn sicher glücklich machen würde. Er sei einmal verheiratet gewesen und habe seine Lehren daraus gezogen. An das nicht gebundene Nomadisieren hat er sich gewöhnt. Dieser Zustand dauert schon zu lange, um nochmals eine solche Bindung zu versuchen.
Nach dieser Nacht bewegen wir uns weiter gegen Westen und kommen neuerlich zum schnurgeraden Asphaltband der Transsaharastraße. Dort steht eine Gruppe Schwarzafrikaner, unverkennbar Flüchtlinge aus dem Süden. Sie umringen uns und wollen Geld, nein, sie verlangen es. Weit und breit keine algerischen Sicherheitskräfte, es gibt nur die leere, am Horizont verschwindende Straße und endlose Wüste um uns herum. Es scheinen Nigerianer zu sein, da sie mit uns Englisch sprechen. Wir sitzen hoch oben auf den Kamelen, die aber das Außergewöhnliche der Situation registrieren und unruhig werden. Ängstigen sie sich, kann das zu nicht kontrollierbaren Reaktionen der eigenwilligen Tiere führen. Mein Lieblingsreittier droht auszubrechen. Akamouk wendet sein Mehari und eilt mir erfolgreich zu Hilfe. Die Lage wird immer bedrohlicher, einige der Dunkelhäutigen sind mit Stangen aus Holz bewaffnet, die Knüppel ähneln. Wir müssen irgendetwas tun. Der Targi wirft mir seinen Karabiner herüber, den ich mit viel Glück auffange. Das bewirkt, dass einer der Männer nach dem Zügel von Akamouks Kamel greift. Der zieht blitzschnell sein Schwert und schlägt dem Angreifer mit der flachen Klinge derart auf die Hand, dass der Mann vor Schmerz aufbrüllt und den Strick loslässt. In einem Schwung trifft er den Kopf des neben ihm Stehenden. Ich lade mit extra lautem Geräusch den Karabiner durch, was seine Wirkung nicht verfehlt. Die Meute weicht daraufhin etwas zurück und gibt den Weg frei. Das erlaubt es uns weiterzureiten, doch der Schreck sitzt mir in den Gliedern.
In angemessener Entfernung halten wir an und steigen ab. Bevor ich den Karabiner Akamouk zurückgebe, nehme ich die Patrone aus dem Lauf und drücke sie in das Magazin. Es scheint so, als würde er zufrieden lächeln. Der Targi hat gezeigt, dass noch immer das Blut der kriegerischen Vorfahren in seinen Adern fließt. In aller Ruhe bereitet er Tee und wir warten im spärlichen Schatten einer Akazie, bis die ärgste Hitze des Tages vorbei ist. Unser Ziel ist von hier sicher zwei Tagesmärsche entfernt. Wasser gibt es ausreichend in den Gerbas, allerdings werden die Lebensmittel knapp. Da wir in der Ebene gut vorankommen und kaum Pausen einschieben, legen wir am nächsten Tag eine erhebliche Strecke zügig zurück. In den letzten Strahlen der Sonne sichten wir einen Gazellenbock in bester Schussentfernung, der langsam gegen die Abendsonne spaziert. Akamouk schießt vom Kamel aus. Auf den ersten Schuss reagiert der Bock nur, indem er seinen Kopf in unsere Richtung dreht. Der zweite ist ein Treffer. Mit diesem alten Gewehr eine großartige Leistung. Ich helfe ihm beim Aufbrechen und Zerteilen der Jagdbeute. Ein Großteil des Fleisches wird in die eigene Haut gepackt, ein paar gute Stücke werden schnell an einem Holzfeuer geröstet. Zum Glück finden wir nicht weit von unserer Route entfernt einen abgestorbenen Akazienbusch, dessen Holz mehr als ausreichend dafür ist. Es freut uns, dass wir den Mouloudjis so ein nahrhaftes Geschenk mitbringen können.
Das Ehepaar empfängt uns wie zwei verlorene Söhne. Besonders Michelle ist die Wiedersehensfreude anzumerken, sie küsst uns auf beide Wangen, François umarmt uns herzlich. Akamouk übergibt zuerst das Fellbündel mit dem Fleisch der Gazelle, damit es gleich in den Kühlschrank kommt. In der Gaststube angekommen bringt François zwei große Flaschen Bier und Michelle einen Krug perlender Limonade für den Mohammedaner. Das erste Glas trinke ich auf einen Zug leer, worauf mir sofort wieder nachgeschenkt wird. Jetzt wären Erzählungen über die Reise angebracht und das Abendessen zu genießen. Ich bitte aber um Verständnis, das auf morgen zu verschieben, denn ich fühle mich nicht nur müde, sondern auch in der durch die seit Tage getragenen Kleidung nicht wohl. Nach diesem Begrüßungstrunk steige ich zu meinem Quartier hinauf, um ausgiebig zu duschen. Akamouk verzieht sich in den Hof und tränkt seine Tiere, was eine gewisse Zeit in Anspruch nimmt. Michelle hat mir eine französische Seife ins Bad gelegt, die mich, da sie leicht parfümiert ist, die Dusche länger als notwendig genießen lässt. Ein Blick in den Hof zeigt mir, dass sich die Kamele schon außerhalb der Mauern aufhalten, und ich vermute Akamouk in der Garage, wo auch er sich der Körperpflege hingeben dürfte. Ich verbinde den Computer mit dem Netz und freue mich, dass er einwandfrei hochfährt. Der Kopf ist voll mit den Erlebnissen dieser eindrucksvollen Reise, aber es ist mir bewusst, dass ich an meinen sechs Jahrzehnte alten Erinnerungen arbeiten sollte. Doch nachdem ich mehrmals vor dem Bildschirm eingenickt bin, beschließe ich, morgen weiterzuschreiben:
See in der Wüste
Es war schon April 1956, die Expedition hatte gewaltige Verspätung. Die Reparaturen an den Autos haben die Planung um Monate zurückgeworfen. Wir mussten uns beeilen, denn langsam ging die Trockenzeit zu Ende, und nach einem Regen war die Beschaffenheit der Strecke unberechenbar. Bis Niamey, der Hauptstadt von Niger, hatten wir noch einige Kilometer zurückzulegen. Die Piste führte durch eines der wildreichsten Gebiete Westafrikas, dem Tillabéri. Alle Tierarten, welche heute in Ost- und Südafrika in touristisch genutzten Reservaten auf engstem Raum zu besichtigen sind, gab es im Cercle Tillabéri. Elefanten, Antilopen, Löwen, Leoparden, eine Vielzahl verschiedener Affen, Hyänen, Schakale, Krokodile und Hippopotami (Flusspferde).
Obwohl die Bevölkerung am Niger Fische im Überfluss fing, war ihr Bedürfnis nach Fleisch ungestillt. Das Volk der Haussa, die Viehzüchter in diesem an die Sahara grenzendem Gebiet, verkauften zwar Fleischprodukte am Markt, aber zu hohen Preisen. Flusspferde waren eine geschützte Art. Da kaum jemand Interesse daran hatte, den riesigen Schädel eines Nilpferds als Trophäe mit heimzunehmen, gab die Administration ab und zu eines davon zur Jagd frei. Eine solche Menge Fleisch auf einmal wie ein Flusspferd liefert kein anderes Tier, darum wurden ein- bis zweimal pro Jahr Jagden veranstaltet. Es gab eine eigene Kaste unter den Bewohnern der Uferlandschaften, welche befugt war, Nilpferde zu jagen, die Sorkos. Diese Ehre vererbte sich über Generationen innerhalb weniger am Ufer des Niger lebender Familien. War eine solche Jagd angesagt, versammelten sich die Sorkos aus mehreren Familienclans, um das Vorgehen zu besprechen und durchzuführen. Wir wollten uns ein derart ursprüngliches und dramatisches Ereignis nicht entgehen lassen. Leider waren wir zu den feierlichen Beschwörungen, die den Jagden immer vorangehen, zu spät gekommen. Das wäre ein Fressen für mein Tonbandgerät gewesen!
In Tillabery, der Siedlung am Niger, lagen die langen Holzboote nebeneinander im Wasser. Die fünfzehn Jäger brachten ihre Harpunen in fünf Boote. Wir versuchten, eine der Piroguen mit Ruderern zu mieten. Das gelang erst, nachdem wir uns direkt an den Chef der Sorkos wandten und nach Übergabe eines kleinen Geschenks. Da es nichts zum Aufnehmen gab, konnte ich einmal unbeschwert in dem Boot mitfahren. Das war lang, aber äußerst schmal und ich fühlte mich nicht ungeheuer sicher. Nilpferde sind recht friedliche Tiere, doch wenn sie sich angegriffen glauben, werden sie erstaunlich gefährlich. Vor allem im Wasser sind sie überraschend schnell. Man hat uns vorher erzählt, dass ein verletzter Bulle vor kurzer Zeit ein solches Boot versenkt hat und alle Jäger darauf ums Leben gekommen sind. Wir verstauten uns zu dritt in dem Boot, als wichtigster Mann drängte sich der Fotograf Kopezky zuerst hinein, in der Mitte war ich und hinter mir Mackie.
Die Jagd kann beginnen
Vorne am Bug und hinten im Heck standen jeweils halbnackte schwarze Männer, deren schweißnasse Haut über den beachtenswerten Muskeln in der Sonne glänzte. Mit langen Stangen stakten sie das Boot mit großer Präzision durch das seichte Ufergewässer. Nach einer Fahrt von sicher einer Stunde hörten wir die typischen Grunzgeräusche von Nilpferden. Vorsichtig näherte sich die Flotte einer Hippofamilie an. Einige der gemütlichen Tiere standen oder lagen in Ufernähe, auf dem Fluss weiter draußen konnte man Augen und Nasenlöcher anderer Hippos wahrnehmen. Die sonst schwerfällig wirkenden Flussriesen im Schilf bemerkten unsere Annäherung sehr bald und liefen mit unglaublicher Geschwindigkeit ins tiefere Wasser. Das war so geplant, denn die Harpunen waren nur im tiefen Fluss anzuwenden. Im seichten Uferwasser hätten Jäger mit Harpune keine Chance gehabt und wären in Gefahr geraten, von einem aufgebrachten Hippo umgerannt und zertrampelt zu werden. Die gesamte Herde schwamm jetzt weiter draußen, dort wo der Fluss tief ist.
Das Nilpferd ist gesichtet
Dort zogen die Jagdboote hinaus und versuchten, ein besonders großes Exemplar einzukreisen. Die Jäger verständigten sich laut rufend und gestikulierend untereinander, jedes Boot nahm seine ihm zugedachte strategische Position ein. Die ersten Harpunen flogen, das getroffene Tier wehrte sich und der gewaltige Körper schoss zur Hälfte aus dem Fluss, sodass die hohen Wellen einige Boote beinahe zum Kentern brachten. Die Ruderer waren gezwungen ihre gesamte Kraft und Geschicklichkeit anzuwenden, damit die Boote, die durch die Stricke mit dem Tobenden fest verbunden waren, nicht umstürzten. Ein ins Wasser gefallener Mensch wäre in Lebensgefahr gewesen, denn die riesigen Kiefern eines Hippopotamus können ein Krokodil in der Mitte durchbeißen.
Auch unser Boot, obwohl etwas entfernt vom Geschehen, schaukelte gewaltig. Kopezky, er war bleich unter der sonnengebräunten Haut, hatte seinen Fotoapparat im Lederetui um den Hals hängen und hielt sich krampfhaft an den Bootsrändern fest. Obwohl ich mir einer unausweichlichen Retourkutsche bewusst war, konnte ich mich des Ratschlags nicht enthalten, dass man im Boot stehend sicher bessere Bilder von der Jagd schießen könne.
Nach längerer Zeit aufrecht in den Piroggen balancierend waren die Sorkos erfolgreich. Durchbohrt von einer Anzahl Harpunen verendete der Bulle endlich. Die tonnenschwere Beute wurde an Land gerollt und mit beachtenswerter Geschicklichkeit zerteilt.
Die JagdbeuteDas Tier wird an Land gerolltDas Hyppo wird aufgeteilt
Es ergab eine große Menge Fleisch, von dem die Jäger einen Teil an Ort und Stelle an die Interessenten verkauften. Der Großteil wurde auf den Markt und dort unter die Leute gebracht. Kein Stückchen blieb von dem gewaltigen Tier am Skelett. Wir verbrachten die Nacht im Dorf und bekamen jeder ein Stück Nilpferdfleisch ab, dessen Zubereitung wir leider nicht so einwandfrei schafften und uns fast die Zähne daran ausbissen. In Form von Faschiertem hätten wir sicher mehr Freude an dem fleischlichen Segen gehabt, aber wo soll man im afrikanischen Busch einen Fleischwolf finden? Etwas entfernt vom Lagerfeuer saß Kopezky an ein Rad des Pére Ubu gelehnt und nuckelte böse zu mir herüberblickend an einer frisch geöffneten Dose Nestlé-Kondensmilch. Das war seine Rache für meinen Ratschlag, denn wir liebten beide gleichermaßen diesen überaus gezuckerten, dickflüssigen Saft, der die Glückshormone jubeln lässt. Leider war der Vorrat davon enden wollend.
Sahel: Lager zwischen Gao u. Niamey
Die Stadt Niamey, die zu erreichen über Monate unser gesamtes Streben gewidmet war, lag bloß wenige Kilometer entfernt vor uns! Doch davor mussten ein paar steile Strecken der Piste bewältigt werden. Gewohnt, mit kaum funktionierenden Bremsen zu fahren, meisterten wir bravourös diese Gefälle knapp vor dem Ziel. Nach ewig langer Zeit hatten unsere Autos wieder Asphalt unter den Rädern und waren nicht mehr zu halten. Nur wenige asphaltierte Straßenzüge durchzogen wie Adern die Hauptstadt mit dem Regierungssitz von Niger. Die einzige stadteigene Ampel regelte nicht vorhandenen Verkehr. Der Hauptplatz war in kurzer Zeit erreicht und wir genehmigten uns in einem Bistró pro Mann zwei Limonaden. Etwas überrascht waren wir über die Größe der Flaschen, weil sie beinhalteten jeweils einen ganzen Liter! Kleinere Gebinde gab es nicht. Wir waren zutiefst zufrieden und verständlicherweise ein bisschen stolz, denn wir hatten unser geografisches Ziel trotz widrigster Umstände erreicht. Die fünf Expeditionsteilnehmer unterschiedlichster Charaktere waren inzwischen eine fest zusammengeschweißte Truppe geworden, in die sich sogar der professionelle Fotograf fast nahtlos einfügte.
Österreichs Außenamt hatte die Ankunft der Expedition vorangekündigt. Der französische Kommandant empfing uns freundlich. Als wir ihm unsere Sorgen um ein Quartier für einige Wochen mitteilten, gab er uns einen schwarzen Polizisten zum Geleit. Der führte uns in eine Art Villenviertel und zeigte uns ein Gebäude, das wir auf unbegrenzte Zeit bewohnen durften. Er übergab uns den Schlüssel und wir verabschiedeten ihn dankbar. Mit afrikanischen Maßstäben gemessen war das kein Haus, sondern ein kleiner Palast mit einem prominenten Eingang:
Niamey: Unser Haus
Wir öffneten die Türe und begannen zu inspizieren. Eine gewölbte und kühle Halle empfing uns. Dazu gab es vier große Räume, eine Küche, Wasch- und Toilettenräume und einen Weinkeller. Dem aufgelassenen „Club européen“, hatte das Gebäude als Clubhaus gedient und war nahezu vollständig eingerichtet. Obwohl das Dach an einem Ende eingefallen, waren da zwei Kühlschränke, etwas morsche Schränke mit Tafelgeschirr, Besteck und Gläsern verschiedenster Art. Metalltische und Stühle stapelten sich in den Ecken. Ein verwahrloster, ausgetrockneter Garten und eine zwanzig Meter im Geviert messende Terrasse, mit bunten Steinfliesen gepflastert. Dazwischen waren zwei Schatten spendende Akazienbäume gepflanzt. Im gesamten Haus gab es Anschlüsse für elektrischen Strom. Eine dicke Schicht Sandstaub überzog alles.
Ein Paradies für die fünf von Anstrengung und Entbehrungen gezeichneten Expeditionsteilnehmer. Der Weinkeller war leer, wie wir annahmen. Schani aber nahm nicht an, sondern suchte im Lichte einer Taschenlampe. Er brachte beim Graben mit einer Machete eine ausreichende Menge Flaschen Burgunder und andere französische Weinspezialitäten älteren Datums ans Tageslicht. Einstimmig beschlossen wir, den Wein seinem Eigentümer zu bezahlen, sobald er sich melden würde.
Niamey: Mittag auf VerandaNiamey: Siesta auf Veranda
Vorerst teilten wir die gegen Regen geschützten Räumlichkeiten unter uns auf. Jeder bezog sein Büro, ich richtete mein „Tonstudio“ ein. In einer Ecke der kühlen Halle entstand der Schlafraum für uns fünf. Da es nicht regnete oder stürmte, übernachteten wir auf der Terrasse. Was keine gute Idee für die erste Nacht war. Blutrünstige Moskitos raubten uns den wohlverdienten Schlaf. Anfangs waren es nur einige wenige Exemplare. Doch schien die Kommunikation unter den Quälgeistern bestens zu funktionieren, denn im Laufe der Nacht kamen Myriaden Stechmücken. Vermutlich aus dem ganzen Land herbeigerufen, um vier Österreichern und einem Belgier Blut abzuzapfen. Da wir zum Abendmahl eine Reihe von Flaschen von dem gefundenen Wein geleert hatten, dürften diese promillehaltigen Blutproben für die Insekten, die muselmanische Enthaltsamkeit gewohnt waren, sensationell berauschend gewirkt haben. Dieser massive Überfall ergab bei den übernächtigen Europäern den gesamten nächsten Tag jucken und kratzen ohne Ende. Dessen ungeachtet säuberten Walter, Kopezky und ich Haus und Terrasse von Mist und Sand, während Mackie und Schani in die Stadt zur Polizei und zum Büro der Air France fuhren. Diese hatte die ersten entwickelten Farbdiapositive aus Wien eingeflogen, auf die wir uns voller Neugier stürzten.
Der Chef du Cabinet der nigrischen Regierung hatte sich zu einem Besuch angesagt. Da sich die zufällig gleichzeitig in Niamey aufhaltenden Reporter von Paris Match verabschieden wollten, drückten sich meine Kollegen vor den anstehenden Aufräumarbeiten und fuhren zum Flugplatz für eine Fotoreportage. Somit blieb ich zurück und versuchte, das Haus bestmöglich auf Hochglanz zu bringen. Am Vormittag wurde elektrischer Strom eingeleitet, was uns dazu brachte, zumindest einen der Kühlschränke in Betrieb zu nehmen. In Afrika kommt man ohne Kühlung nicht aus. Bier und Trinkwasser erhalten damit belebende Temperaturen und, na ja, auch Lebensmittel halten länger. Der Besuch des schwarzen Ministers wurde durch die dargereichten kühlen Getränke zu einem Erfolg. Das war vorteilhaft, weil sein Wohlwollen sollten wir bald benötigen. Denn eines Tages erschien ein Beamter der Sureté, der Staatssicherheit, hörte die Tonbänder ab und notierte die Nummern aller technischen Geräte und Jagdwaffen. Wir sollten für irgendetwas Strafe zahlen. Unser gesamter Reichtum bestand aus knapp zweitausend CFA. Allein die Erlaubnis für die Gewehre betrug sechstausend Francs. Wir mussten die Bezahlung der Gebühren auf irgendeine Art so lange hinauszögern, bis das seit ein paar Wochen angekündigte Geld aus Wien ankommen würde. Das ließ sich aber Zeit. Es war unausbleiblich, dass nach einigen Tagen wieder Beamte der Sureté mit dem Verdikt erschienen, wegen dieser Schulden und Spionage müssten wir umgehend das Land verlassen. Das hätte ein unrühmliches Ende dieses Unternehmens der Feldforschung bedeutet, ehe es eigentlich angefangen hatte. Unausgesprochen hatten wir das Gefühl, dass uns der Chef de la Sureté womöglich nicht positiv gesinnt sein könnte. Unsere Nervosität wurde greifbar. Wir erbaten uns ein paar Stunden Zeit. Die wurde gewährt und genützt, um den französischen Commandant cercle und den Chef de cabinet zu mobilisierten. Diese zwei Herren übernahmen die Verantwortung für uns und wir konnten ab da ungestört unserer eigentlichen Arbeit weiter nachgehen.
Gemeinsam mit Walter nahmen wir für den österreichischen Rundfunk Features auf. Da waren Erzählungen von Märchen aus der Umgebung, eine Radioreportage über die Stadt und eine ebensolche für die Air France aus dem Flughafen von Niamey.
Flugplatz Niamey, Mackie u. Kopezky, dahinter eine DC 3Flugplatz Niamey: Ich, Walter u. Direktor des Flughafens
Wir recherchierten fleißig, sowohl in der Stadt, und in deren Umgebung. Dabei entstanden einige der eindrucksvollsten Tonaufnahmen, wo lebensfrohe Eingeborene immer wieder irgendwelche Feste mit Musik, Trommeln und Tanz veranstalteten.
Tam -Tam aus Tera„Für den vom Blitz Erschlagenen“ (Yakatala)
Wir lernten dabei interessante Menschen kennen, deren Einladungen zu Abendessen wir gerne annahmen, denn die ewigen angebrannten Palatschinken aus Walters Haute Cuisine nervten uns gewaltig. Wir befürchteten, alle an Skorbut zu erkranken. Aus diesem Grund wurde mir die Aufgabe übertragen, am Grand Marché Gemüse einzukaufen. Dieser großflächige Markt war von frühmorgens bis spät in die Nacht geöffnet und man fand dort alles, was das Land produzierte. Inklusive Käfer und anderes Kleingetier. Gelegentlich begleitete mich unser schwarzer Boy Kindo, ein vierzehnjähriger aufgeweckter Junge vom Stamme der Songhai. Das erleichterte mir das Feilschen. Wegen der kühleren Temperaturen war ich häufig am Abend einkaufen. Selbst bei Dunkelheit gab es in den stillen Gassen keine Sicherheitsrisiken für einen Weißhäutigen.
Für Ausländer und gut bezahlte Beamte fanden sich im Zentrum von Niamey zwei saubere und von Franzosen hygienisch betriebene Geschäfte, die Waren und Lebensmittel aus Europa anboten. Aber zu derart hohen Preisen, dass wir davon Abstand nahmen, dort einzukaufen. Unter den faszinierendsten Menschen der Stadt befand sich der Apotheker, dem die einzige Pharmacie nach europäischem Standard im Land gehörte. Louis Mouren war ein Hüne von Gestalt und sah John Wayne zum Verwechseln ähnlich. Das wissend hatte er vollkommen den Habitus dieses Filmhelden angenommen. Da er den Markt mit Medikamenten für das gesamte riesige Land beherrschte, war er dementsprechend wohlhabend.
Bis die Versicherungssumme von IFA bei uns eintraf, mussten wir Möglichkeiten finden, unseren Lebensunterhalt zu verdienen. Mouren hatte neben der Apotheke einen Fotoladen mit Labor, das für Kopezkys technische Begabung bestens geeignet war. Dorthin brachten Leute nicht nur ihre Filme zum Entwickeln, sondern sogar ihre defekten Fotoapparate zur Reparatur. Hans untersuchte die Kameras und stellte mit sorgenvoller Miene größeren Schaden fest. Die Fehlerbehebung würde sicher einige Tage in Anspruch nehmen, oder man müsse die Kamera gar ins Werk einschicken, was logischerweise hohe Kosten verursache. Dann brachte er die Fotoapparate in die Werkstatt, nahm das winzige Stück Film, das den Transport blockiert hatte mit der Pinzette heraus und ließ eine geschmalzene Rechnung schreiben. Manchmal genügten wenige gezielte Strahlen Pressluft, um die Funktionsfähigkeit einer Kamera wiederherzustellen. Auch das musste entsprechend honoriert werden. So wurden auf kurze Zeit unsere sonst gefestigten Grundsätze von Ethik und Moral der Wissenschaft geopfert.
Damit kamen wir finanziell über die Runden. So lange bis der Chef der Sicherheit wieder eingriff und Mouren anwies, die Österreicher hinauszuschmeißen. Es wurde uns sogar verboten, die eigenen Filme zu bearbeiten. Das kam einer Ausweisung gleich. Sollten alle bisherigen Anstrengungen und Entbehrungen umsonst gewesen sein, unsere gesamten Pläne an einem missgünstigen Beamten scheitern? Trotz der sich offensichtlich anbahnenden Katastrophe blieb die Stimmung im Grunde optimistisch. Haben wir doch bisher schon einiges gemeistert.
Alle bisherigen und denkbaren zukünftigen Verzögerungen einrechnend, hatte ich eine Tafel „Österreichische Westafrikaexpedition 1955 – 57“ gemalt. Kaum war die Plakette am Haus angebracht, da erreichte uns die vernichtende Nachricht. Somit war dieses beachtenswerte Schild im Moment seiner Enthüllung obsolet geworden. Trotzdem fertigten wir davor ein unbekümmertes „Selfie“ an:
Niamey: Gruppenbild mit Schild: Kopezky, Schani, Walter, Herbert u. Mackie
Es war kein guter Tag für uns. Max setzte sich daraufhin nur spärlich mit einem Tanga bekleidet auf einen glühend heißen Blechstuhl, der den ganzen Tag in der Sonne gestanden war, Schani verwechselte beim Mittagessen Salz mit Zucker und die Palatschinken wurden so schwarz und hart wie nie zuvor. Abends fuhren wir zu einer Krokodiljagd, um diese akustisch einzufangen. Hundegebell und ununterbrochenes Krähen dutzender Hähne ließen auch dieses Vorhaben platzen.
Am nächsten Tag erschien Mouren mit zwei erfreulichen Nachrichten. Die Versicherungssumme von 85.000 FF (französischen Francs) von der IFA-Versicherung war angekommen und die Ausweisung sei vom Commandant Cercle aufgehoben worden. Außerdem erzählte er uns von einem großen Fetischfest, das wir aufnehmen könnten. Es war das von uns lange gesuchte Yenendi, ein Fruchtbarkeitsritual.
Der Ausflug zu Akamouks Familienclan in den Hoggar war aufregend und recht anstrengend gewesen. Geduscht und komplett frisch gekleidet steige ich in Erwartung eines Frühstücks die Turmstiege hinunter. Mein Platz ist gedeckt, Michelle hat alles vorbereitet. Francois sitzt am Nebentisch bei seinem geliebten Kaffee. Der weiträumige Gastraum, seine kahlen Wände, die stetig die Originalfarbe verlierenden Metallmöbel und die stillstehenden Deckenventilatoren, vermitteln ein Gefühl des Nachhausekommens. Von François herzlich gemeint, werde ich mit einem deutschen „Guten Morgen“ begrüßt. Lachend meint er, dass Österreich im Wechseln von Regierungen mit den Italienern konkurrieren würde. In der Zeit meiner Abwesenheit, wir schreiben das Jahr 2019, hätte es drei unterschiedliche Regierungen gegeben, und das innerhalb von zehn Tagen. Scheint ein ziemlicher Kindergarten zu sein, diese Alpenrepublik, fügt er provokant hinzu.
Obwohl ich die Umstände, die zu einem derartigen GAU geführt haben noch nicht kenne und kein fanatischer Patriot bin, fühle ich mich in meiner staatsbürgerlichen Ehre getroffen. Ich pflege eine Hass-Liebe zu Österreich, vor allem zu meinem Geburtsort Wien. Keineswegs will ich mich auch nur annähernd mit Thomas Bernhard vergleichen, doch waren seine Empfindungen sicher ähnlich. Denn ohne Empathie zu den Menschen dieses Landes hätte er nicht derart kritisch geschrieben. Hier in der Wüste, wo Sand, Steine, Hitze und Durst die Dominanten des Lebens sind, ist es herzlich egal, ob die eigene Regierung kurz oder lang (welch Wortspiel!), gut oder schlimm herrscht. Wien ist viele Flugstunden weit weg, und man vermag von hier aus nichts beizutragen, um extremes Abdriften egal ob nach links, oder rechts zu verhindern. Das ist gut so, denn solche im fernen Europa gelegenen Ereignisse würden das Aufnehmen der gewaltigen Eindrücke, die Afrika in jedem Winkel bietet, beeinträchtigen.
Es trifft sich ausgezeichnet, dass in diesem Moment die gute Michelle mit einer Kanne Tee erscheint. Ich nütze die Zeit, in der sie die duftende Flüssigkeit in die Tasse schenkt, um einige belanglose Worte mit ihr zu wechseln. Das enthebt mich im Augenblick der unangenehmen Verpflichtung, auf das von Francois angesprochene Thema einzugehen. Während sich Michelle wieder Richtung Küche verzieht, widme ich mich intensiv dem Frühstück. Meine offen zur Schau getragene Konzentration auf das Bestreichen des Baguettes mit Camembert, wagt sicher niemand zu stören. Lange lässt sich dieses Gehabe nicht durchziehen, denn ich spüre schon Mitleid für den Nachbarn am Nebentisch aufkommen, der mein Verhalten erkennbar nicht versteht. Seine Gesichtszüge signalisieren komische Verzweiflung. Doch da geschieht Allahs Wille und Akamouk betritt den Gastraum. Er geht direkt auf François zu. Die beiden begrüßen sich nach der längeren Abwesenheit extra ausführlich. Michelle kommt dazu, verschwindet aber sofort wieder in die Küche, um Kaffee für den Gast zuzubereiten. Dieser hat Geschenke mitgebracht. Ein frisch geschmiedetes Schwert mit ausnehmend kunstvoll gearbeitetem Griff, den ein fein ziselierter Knauf ziert. Es steckt in einer mit geprägten Mustern versehenen und bunt bemalten Scheide. Sie hat am unteren Ende einen ebenso sorgfältig bearbeiteten runden Abschluss aus Metall. Dieses Prachtstück von einer Takuba, hat einen geflochtenen Strick, an dem man sie umhängt und so immer griffbereit hat. Er überreicht dem Hausherrn das Schwert mit beiden Händen. François springt vor Rührung ungewohnt behende von seinem Stuhl hoch. Die Übergabe erinnert mich an einen Ritterschlag im Mittelalter, mit dem Unterschied, dass der zu Erhebende nicht kniet, sondern aufrecht steht. Selbst für den Targi scheint die Zeremonie etwas Besonders zu sein, denn ich habe ihn nie vorher verlegen oder gar nervös gesehen. François erkennt sofort, dass diese Takouba eine kostbare Sonderanfertigung ist. Dem Wert des Geschenkes entsprechend bedankt er sich ausführlich.
Während dieser Feierlichkeit stellt Michelle den dampfenden Kaffe wortlos vor Akamouk auf den Tisch. Der greift unter sein weites blaues Gewand und zieht ein zusammengerolltes Lederpäckchen heraus, das er mit einer eleganten, eines Targi würdigen Geste der Hausfrau überreicht. Michelle nimmt das Paket verwundert entgegen, knüpft den herumgewickelten Riemen auf und entfaltet dabei eine Satteltasche. Eine Tasche kostbarer Machart, verziert mit breiten Lederstreifen, auf denen seit Urzeiten überlieferte Formen geometrischer Muster der Touareg sorgfältig eingeritzt und gefärbt sind. Nicht nur das, die fleißigen Frauen der Heimat Akamouks haben die für Reittiere gedachte Tasche mit einem Trageriemen zu einer Umhängetasche geändert. Das lässt auf eine Sonderanfertigung schließen. Ich bin überrascht, denn mein afrikanischer Freund hat mir von seinem Vorhaben nichts mitgeteilt. Darüber hinaus ist diese Geste merkwürdig, weil Touareg allgemein besser im Nehmen, als im Geben sind. Er ist eben ein Imuhar, ein Adliger. Einerseits in berberischer, andrerseits in der besten europäischen Tradition erzogen. Das Zusammenspiel aus Jahrhunderten Lebenserfahrung seines Volkes in der Sahara und westlichem Wissen formte seinen außerordentlichen Charakter.
Da ich mich bei diesem Fest innerhalb einer Familie als Außenseiter fühle, beschließe ich, einen kurzen Spaziergang in die Stille der Wüste zu machen. Das würde helfen, das zuletzt Erlebte und den leichten Ärger über die Taktlosigkeit Françoise’s zu verarbeiten. Ich drücke die Eingangstüre auf, die vom Gastraum ins Freie führt, da schlägt mir nicht erwartete Bruthitze wie beim Öffnen eines Backrohrs entgegen. Die Sonne hat sich längst ein großes Stück über den Horizont erhoben und heizt mit voller Kraft den Vorplatz und die Mauern des Gebäudes auf. Es herrscht totale Windstille, was den Effekt der Hitze zusätzlich verstärkt. Schnell kehre ich wieder in das kühle Innere des gastlichen Hauses zurück. Die dicken, praktisch fensterlosen Wände konservieren die nächtlichen frischen Temperaturen. Ich begebe mich direkt in das Turmgemach um meiner seit Tagen aufgestauten Schreiblust nachzugeben
Ein Wüstensohn auf seinem Mehari
Louis Mourèn war der Apotheker von Niamey, er besaß die Grande Pharmacie am zentralen Platz der Hauptstadt. Es gab oben am Markt eine wesentlich bescheidenere zweite Apotheke, mit dessen einheimischen Besitzer lebte er auf Kriegsfuß. Nicht weil sie Konkurrenten waren, sondern sie hatten unterschiedliche Auffassungen davon, wie man eine Apotheke führt.
Die Pharmacie sur le marché am Markt versorgte das Volk mit preiswerteren Medikamenten. Louis‘ Geschäft war für die im Niger lebenden Europäer und die reichere Schicht der farbigen Einwohner vorgesehen. Seine Wohnung lag über dem Laden im ersten Stock und war flächenmäßig größer, da sie sich zusätzlich oberhalb der Garagen und einer Werkstatt ausdehnte. Von der breiten Veranda überblickte man den gesamten Platz und war damit vom Treiben dort stets bestens informiert. Da hier Umzüge und Paraden über das zentral gelegene Areal vor dem Haus geführt wurden, war dieser Ort bei den Europäern überaus beliebt. Man gestattete sich, in kolonialer Manier bei kühlem Bier und Whisky auf das Geschehen da unten zu blicken. Mourèn nützte den gegebenen Vorteil zur Kommunikation mit Geschäftsfreunden und lokalen Autoritäten jeder Hautfarbe.
Staatsfeiertag in Niamey (Niger) 1956
Der Präsident der Republique Nigér 1956
Islamische Andacht
Die üblichen Gebete zu den Feierlichkeiten
Aus dem ganzen Land kamen Abordnungen …
….und nahmen an dem Aufmarsch teil.
Gefeiert wurde gerne in Afrika, Prunk, Musik und Tanz gehörten dazu. Das Gewand der Feiernden und Betenden, die weiten Boubous, waren mit kunstvoll gestickten Ornamenten verziert. Solche Kleidungsstücke wurden fast durgehend in allen Staaten Afrikas getragen. Die Stickereien dazu kamen aus der Textilhochburg Österreichs, Vorarlberg. Das war so lange ein Monopol, bis die Chinesen mit ihrer Billigware den Kontinent versorgten.
Seit vielen Jahren gab es im Land eine Reihe von christlichen Missionen. Verschiedene Konfessionen warben um Anhänger, wobei die katholische am besten angenommen wurden. Die weiteste Verbreitung fand aber der Islam wegen des großen arabischen Einflusses. Das war ein friedlicher, unaufgeregter Islam mit schlichten Koranschulen, von weltoffenen Imamen geführt. Das waren die Marabouts, denen man übernatürliche Kräfte zusprach, ähnlich den Zauberern und Féticheuren. Ungeachtet der Religion, als deren Mitglied man sich einschrieb und taufen ließ, wurden in den jeweiligen Missionsstationen kostenlos Essen, Medikamente und neue Hemden abgeholt. Aber jedermann besuchte die Fetischfeste der unterschiedlichen Naturreligionen. Diese waren nicht ausschließlich wegen ihrer Inhalte und deren bisweilen ausufernden Zeremonien interessant, sondern es gab die Gefahr ihrer Auslöschung durch christliche Religionen und vor allem durch den fortschreitenden mohammedanischen Einfluss. Es war gar nicht mehr so leicht diese Manifestationen uralten Brauchtums zu finden, und in solchem Glücksfall für Tonaufnahmen zugelassen zu werden. Die Recherchen gestalteten sich schwierig, da die Menschen, die darüber etwas wussten, lieber schwiegen. Speziell aus Furcht sich zu verraten und damit die Geschenke der Missionen nicht mehr zu erhalten.
Eines Tages lud uns der Apotheker Louis Mourèn auf einen Abendtrunk nach Sonnenuntergang zu sich ein. Es war in der Trockenzeit, sodass dieser Empfang auf der Terrasse seines Hauses stattfinden konnte. Als wir dort ankamen, saßen schon ein paar ausgewählte Herren der französischen Administration und Geschäftsleute der Stadt in den bequemen Gartenmöbeln, kühle Getränke vor sich auf kleinen Tischchen. Außerdem war Père Ducros da, der Leiter der katholischen Mission in Niamey. Er wurde von den zwei bloßfüßigen schwarzen Boys, die notdürftig in weiß gekleidet waren, speziell respektvoll bedient. Mit Limonade, denn außer dem Schluck Wein zur Messe, trank er keinen Alkohol. Wir Teilnehmer der Expedition wurden vom Gastgeber Mourèn den Anwesenden wie eine Art Exoten vorgestellt. Mackie, Schani und Kopecky stürzten sich gewandt in den Smalltalk, das heißt, der Letztere nervte aus Mangel an französischen Sprachkenntnissen die anderen mit der sich mantrisch wiederholenden Frage: „Was sagt er“? Walter und ich hielten uns abseits vom Getriebe an unseren Whiskygläsern fest. Die Terrasse war durch eine Abgrenzung gesichert, deren Metallgestell die Sonnenbestrahlung gespeichert hatte und sich wesentlich heißer als die kühlere Abendluft anfühlte. An dieses Geländer gelehnt betrachteten wir das Treiben.
Einer der Herren gesellte sich zu uns, wie sich herausstellte, war er Beamter des französischen Kolonialministeriums, und wollte wissen, wofür wir hier arbeiten. Wir erzählten ihm in groben Umrissen über die zu erfüllenden Aufgaben für die Universität Wien, das Phonogrammarchiv der Akademie der Wissenschaften und das Museum für Völkerkunde. Das bewog ihn zu der Frage, ob wir an einem Fetischritual im Norden des Landes teilnehmen wollten, er hat in dem Gebiet dort oben zu tun und könnte uns die dazu notwendigen Kontakte herstellen. Von dieser Mitteilung derart überrascht, wussten wir beide im Moment nichts darauf zu sagen. Der gute Mann musste ob unserer schockbedingten Reaktion das Gefühl gehabt haben, uns mit seiner Frage verletzt zu haben. Da suchten wir wochenlang mühevoll mit bescheidenem Erfolg nach genau solchen Informationen, und hier, bei einem Abendtrunk, wurde die Expedition so nebenbei aus längerem Stillstand erlöst. Nach verflogener Schrecksekunde erkundigten wir uns über Details. Jeweils zu Beginn der Regenzeit veranstalteten die Menschen der Gegend Fetischzeremonien, Yenendi genannt. Er fährt demnächst nach Téra, einer Kleinstadt, in welcher der Commandant Cercle des gesamten Verwaltungskreises residierte, und kann für uns den Weg bereiten. Père Ducros wird in der Zeit ebenfalls dort sein. Dieser Missionar, ein gütiger und freundlicher Herr asketischen Aussehens, war bei der schwarzen, sowie weißen Gemeinde außerordentlich beliebt. Er betreute ein Gebiet, das sich flächenmäßig sicher doppelt so weit wie Österreich ausbreitete. Er besuchte entlegene Dörfer und half Eingeborenen, ihr bescheidenes Dasein zu bewältigen. Er verbesserte ihre Ackerbaugeräte, betätigte sich als Arzt, baute Bewässerungsanlagen mit ihnen, predigte und griff gelegentlich zum Gewehr, wenn Löwen oder Hyänen die Bauern bedrängten. Er konnte sich fließend in den Sprachen Songhai, Haussa und Djerma unterhalten. Wir hatten ihn bereits mehrmals aufgesucht, er verstand unsere Arbeit und beriet uns effizient, weil er die meisten „Kollegen“ der Umgebung, die mohammedanischen Imams, sowie die Priester der autochthonen Kulte kannte.
Mitternacht war vorbei, Kopecky war aus Langeweile längst nach Hause gegangen, weil er kein Wort der Unterhaltung verstanden hatte. Mackie und Schani hatten dem kostenlosen Whisky ausgiebig zugesprochen und stützten sich nach langwieriger Verabschiedung gegenseitig am Weg zum Auto die Stiegen hinunter. In diesem Zustand waren sie kaum fähig, die Tragweite unserer Neuigkeit zu ermessen. Aus dem Grund unterließen wir es vorerst, sie davon zu informieren. Erst bei einem späten gemeinsamen Frühstück platzte Walter mit einem minutiös ausgearbeiteten Durchführungsplan in die verkaterte Runde. Auf die drei Übernächtigen wirkte die Nachricht wie eine Überdosis Amphetamin. Kopecky sprang unvermittelt auf und riss dabei beinahe den Tisch um, Schani hob hysterisch zu lachen an, und Mackie verschluckte sich derart, dass wir seinen Erstickungstod befürchteten. Nachdem er sich von diesem Anfall erholt hatte, reagierte er unverhohlen gekränkt, weil nicht er, der Leiter der Expedition, derjenige war, der sich damit rühmen durfte. Wir gingen den von Walter erstellten Plan durch, an dem Mackie freilich einiges auszusetzen hatte. Das ignorierte Walter großzügig und brachte dagegen seine nicht unbegründeten Bedenken wegen unserer Finanzen ein. Aus diesem Grund beschlossen wir, die Exkursion allein mit dem IFA zu unternehmen. Der Humber würde an einen begüterten Targi verkauft werden, der schon länger großes Interesse an dem Fahrzeug bekundet hatte. Die Neigung zum Brechen der linken Hinterachse verschwiegen wir ihm wohlweislich. Da er den Wagen nicht so schwer beladen wird, wie wir es mussten, sollte sich dieser Umstand in nächster Zeit kaum bemerkbar machen.
Wir stürzten uns sofort in die Organisation, überprüften die seit einer Woche unberührte Technik und die Bärenbatterien mussten geladen werden. Weitere Informationen über den Ort und die Hintergründe dieses Yenendi wurden eingeholt. Die ersten Schauer der beginnenden Regenzeit brachen vom Himmel. Wir waren neben den Vorbereitungen für die Aufnahmen voll mit Abdecken beschäftigt, um zu verhindern, dass die Wassermassen aus dem zerfallenden Teil des Gebäudes die trockenen Räume überfluteten. Walter und Schani wurden dazu verdonnert in der Stadt zu bleiben. Sie sollten auf das Haus aufpassen und sich um den Verkauf des Père Ubu kümmern. Es brauchte zwei Tage, bis wir bereit zur Abfahrt waren. Die Arbeitsgeräte, Tonbandgerät, Umformer und Akkumulatoren wurden zuerst in das Auto geschlichtet, gefolgt von Luftmatratzen, Kochutensilien und sparsam Ersatzkleidung. Zwei Jagdgewehre mussten auch mit. Obwohl wir an Gewicht einsparten, wo es nur ging, wurde das Fahrzeug weit über sein offizielles Gesamtgewicht beladen.
Der Informant vom französischen Ministerium fuhr kurz vor uns Richtung Téra ab. Nach einigen Kilometern auf der Asphaltstraße erwischte uns ein erster Vorgeschmack auf die kommende Regenzeit. Der Scheibenwischer auf der Seite des Fahrers funktionierte – wer braucht schon so etwas in der Sahara – war aber machtlos gegen die Wassermengen. Da ich nichts mehr vor mir sah, blieb ich trotz Mackies Protest am Straßenrand stehen und wir warteten im Wagen den Regen ab. Wir hatten das Gefühl, in einem U-Boot zu sitzen, und befürchteten, dass das Dach nicht dicht bleiben könnte. Aber alle Achtung vor den Mechanikern in Eisenach, die den IFA F9 zusammengeschraubt hatten, wir blieben trocken! Selbst die Fensterscheiben waren rundherum erfreulich abgedichtet. Gleichwohl waren wir durch und durch nass, schweißnass. Kaum eine viertel Stunde später war der Zauber vorbei, die Sonne knallte wieder auf Kühlerhaube und Straße, die wie Kochtöpfe dampften.
Wir konnten weiterfahren, erreichten die nicht befestigte Piste und kamen nach etwa einer Stunde Fahrt in den Genuss des nächsten Wolkenbruchs, der gleich heftig wie der erste verlief. Mit dem unbedeutenden Unterschied, dass der IFA daraufhin nicht mehr startete. Der Verteiler musste trockengelegt werden. Er hat sich vermutlich an die 5% Luftfeuchtigkeit in der Sahara derart gewöhnt, dass er hier bei annähernd 100% streikte. Geduldig und liebevoll trockneten wir die elektrischen Kontakte nach jedem Regen und dazwischen ebenfalls. Das Fahren wurde immer schwieriger und nahm die volle Aufmerksamkeit in Anspruch. Das zügige „Fliegen“ über die Wellblechpiste mit mindesten 70 Kmh durfte nicht unterschritten werden, weil wir Karosserie und Geräte weiterhin dringend brauchten. Durch den schweren Regen bildeten sich zusätzlich tiefe Querrinnen und mit Wasser gefüllte Löcher auf der Piste, die man vorsichtig und möglichst schräg anfahren musste. Die Bodenfreiheit war für ostdeutsche Autobahnen berechnet, und durchaus nicht für Geländefahrten. Diese oftmalig notwendigen Wechsel zwischen Tempo halten, abruptem Bremsen und zartem über die vom Wasser ausgewaschenen Löcher gleiten, war für mich als Fahrer, wie für das Auto extrem anstrengend. Selbst an meinen Mitfahrern gingen diese heftigen Tempowechsel nicht spurlos vorüber. Viele Zigaretten wurden auf der Strecke nervös und achtlos geraucht.
Nach mühsamen Stunden erreichten wir Téra und sahen am Platz vor der Kommandantur den Powerwagon des französischen Überseeministeriums parken. Monsieur Aillot, der Commandant Cércle, zeigte sich informiert und empfing uns freundlich. In einem mit tiefen Sesseln ausgestatteten, klimatisierten Empfangsraum saß schon der Herr vom Ministerium. Wir ließen uns in die restlichen bequemen Sitzgelegenheiten fallen. Eine Ordonanz in Uniform bot uns verschiedene Getränke an, Erdnüsse und Knabbergebäck standen auf runden Tischchen bereit. Wir erfuhren, dass das Yenendi in einem gewöhnlichen Dorf, namens Begouriou Tondo Kangé, was so viel wie „Wäldchen am Fuß des Steines“ heißt, einmal jährlich stattfand. Es lag bloß vierzig Kilometer von hier entfernt, hinter ein paar Hügeln. Das Fest war eines der größten dieser Art in dem gesamten Gebiet. Bei den Zeremonien opferte man Kleintiere, um den Zorn Dongos, dem mächtigen Wettergeist, abzuwenden. Tanzende Medien wurden in Trance versetzt und aus ihrem Mund sprachen die Geister. Der Commandant bedeutete uns, dass wir um eine Woche zu früh gekommen waren. Es war uns aber wichtig dorthin zu fahren, um mit den Leuten im Dorf zu reden, damit wir am Tag des Festes keine unangenehmen Überraschungen erleben. Das heißt, es wurde notwendig, sich um ein Nachtquartier zu kümmern. Es gab ein Hotel in der Stadt, aber im Hinblick auf unsere Finanzen lehnten wir mit der Erklärung ab, dass das kostbare Equipment nachts unbedingt unter Beobachtung und in Griffweite sein sollte. Es traf sich, dass nahe gelegen eine Garage leer stand, die ein regendichtes Dach zu bieten hatte.
Die Einladung zum Abendessen nahmen wir nur zu gerne an, denn wir hatten ursprünglich mit Palatschinken und Ölsardinen, dem normalen Menü, gerechnet. Monsieur Aillot stellte uns einen jungen Mann vor, Banjou war sein Name, den er uns mitgab. Er stammte aus der Gegend und würde für uns dolmetschen. Wir verabredeten uns mit ihm für den nächsten Morgen zum Tagesanbruch und bezogen das Quartier. Sogar das Auto fand in dem Gebäude Platz. Wir waren glücklich darüber, nicht draußen übernachtet zu haben, denn in der Nacht zogen einige heftige Gewitter über uns hinweg.
Der Morgen kam, mit ihm Banjou. Wir traten vor die Garage, die uns die Nacht über trocken gehalten hatte. Eine merkwürdig kontrastreiche Stimmung empfing uns. Der Himmel war düster mit grauen Wolken verhangen, die im gleichen Moment aufgehende Sonne tauchte die Dächer der Häuser am Platz in goldgelbes Licht. Es wurde recht eng im IFA mit dem zusätzlichen Passagier und das Heck des Autos berührte nahezu den Boden. Es regnete nicht und Banjou führet uns hinaus aus der Stadt. Am Stadtrand begann eine schmale Piste, die sich später wie ein Hohlweg durch die Hügel zog. Hier fuhren vorher Geländewagen und LKWs mit ausreichender Bodenfreiheit, die Fahrspuren waren tief eingegraben, auf jeden Fall zu tief für unser Auto. Obendrein hatten sich die Fahrrinnen wegen der Regengüsse bis zum Rand mit Wasser gefüllt. Es blieb mir über weite Strecken nichts übrig, als mit zwei Rädern am Pistenrand, mit den anderen wie auf Schienen am Mittelstreifen zu balancieren. Dazwischen versanken die Antriebsräder öfters im Morast und wir durften wieder einmal graben, Äste von Bäumen brechen und unter die versunkenen Räder legen und anschieben.
Lehmverschmiert und physisch ausgepowert kamen wir bei Einbruch der Nacht am Ziel an. Monsieur Aillot hatte uns den Namen des großen Fetischeurs genannt, Yabilan. Unser Dolmetsch kannte den Feticheur natürlich und wir suchten ihn bei seiner Hütte auf. Das war ein Fehler. Was wir nicht wussten, zuerst hätten wir den Chef de village, den Häuptling des Dorfes konsultieren müssen. Es gab zwischen ihm und dem Zauberer heftige Rivalität. Wir kümmerten uns nicht weiter darum, der Beschwörer war für uns wichtiger.
Yabilan kam uns aus seiner Hütte entgegen. Tief musste er sich bücken, um durch den Eingang zu kommen. Die Einlässe zu den Behausungen aus Lehm waren allgemein recht niedrig gehalten. Yabilan war hochgewachsen, hager, und hatte eine flache breite Nase wie die breitgeklopfte eines Schwergewichtsboxers. Unter schweren Lidern blickten schlaue, jung gebliebene Augen aus dem faltigen Gesicht. Seine Haltung und das Gehabe waren Respekt gebietend. In blaues, dezent glänzendes Tuch gewandet, einen weißen Schal um den Kopf gewunden, strömte er Charisma aus. Yabilan schien über unser Kommen informiert zu sein. Wie das funktioniert hat, war und blieb ein Rätsel. Junge Frauen brachten Sitzgelegenheiten auf den Vorplatz, auf die wir uns im Halbkreis niederließen. Der Dolmetsch überbrachte Grüße vom Commandant und von Père Ducros, die er schweigend mit angedeutetem Nicken huldvoll entgegennahm. Mehr Emotionen zeigte er, als Mackie ihm die mitgebrachten Gaben überreichte. Wir hatten eine große Packung Zündhölzer und zwei Meter dunkelblauen Stoff in Niamey besorgt. Wir erzählten von den Bräuchen mit Zaubercharakter in den Tiroler Bergen, legten zum Beweis Bilder von Perchtenläufen aus den Prospekten der österreichischen Fremdenverkehrswerbung vor, die man uns ausreichend mitgegeben hatte. Das überzeugte ihn, sodass er ohne Bedenken dem Anliegen zustimmte, das Fest aufzunehmen. Er zeigte uns obendrein eine leerstehende Hütte, deren geflochtenes Dach freilich nicht mehr absolut dicht war. Dort, und in einem unserer Zelte daneben, schlugen wir das Nachtquartier auf.
Zum Glück fiel in dieser Nacht kein Regen. Das Fest wird erst in einer Woche, nach dem Ende des mohammedanischen Fastenmonats Ramadan abgehalten werden. Diese Zeit wollten wir nicht in Begourou abwarten, und beschlossen, erst nachdem wir mit dem Chef de village gesprochen hatten, zurück in die Stadt Téra zu fahren. Banjou führte uns am nächsten Morgen zu dem Haus des Häuptlings, der war aber ausgeflogen. Das versicherte uns eine der anwesenden Damen. Unser Übersetzer meinte dagegen, dass der Dorfoberste gekränkt sei, weil wir zuerst Yabilan besucht hatten und daraufhin mit uns nicht sprechen wollte. Warten wäre sinnlos, wurde uns bedeutet. Somit zogen wir wieder ab, um es später nochmals zu versuchen.
Da das Gebiet rundherum bekanntes Jagdgebiet war, gingen Mackie und ich jagen. Wir brauchten ohnehin zur Abwechslung Fleisch nach Tagen mit Palatschinken und Ölsardinen. Der Regen hatte Busch und Savanne verändert. Sie waren nicht mehr gelb und braun, sondern zeigten frühlingshaftes Grün. Das Gras schoss aus dem Boden und war schon recht hoch, was die Jagd erschwerte. Aber wir hatten Glück. Mit sieben Perlhühnern Jagdbeute kehrten wir in das Dorf zurück. Eines davon wurde zu Yabilan gebracht, ein Huhn schenkten wir Banjou. Mit zweien zum Geschenk marschierten wir nochmals zum Häuptling. Die Türe des Hauses war verschlossen, selbst auf heftiges Klopfen wurde nicht geöffnet. Banjou rief laut, dass wir zwei Hühner mitgebracht hätten. Es dauerte Minuten, bis sich die Türe einen Spalt öffnete und eine weibliche Stimme verkündete, man möge sie ihr übergeben, und der Chef sei nicht zu sprechen. Bumms, das Tor war wieder zu. Am Nachmittag kam ein Mann zu Yabilan, mit der Anweisung vom Chef de village, uns hinauszuwerfen. Wir dürfen beim Yenendi auf keinen Fall dabei sein. Daraufhin kochten wir eines der Hühner und begaben uns nach dessen Verzehr bedrückt zur Ruhe, denn wir sahen schon unsere Felle wegschwimmen. Am folgenden Morgen kam Yabilan herüber und meinte, der Zwerg hätte ihm nichts zu sagen, er würde das übernehmen. Das war aber nicht so problemlos, denn ein von den Franzosen eingesetzter Administrator hatte gewisse Machtbefugnisse, denen selbst ein Medizinmann unterworfen war.
Nicht allein aus Sorge um unsere Arbeit in gedämpfter Stimmung traten wir die Rückfahrt an. Tiefhängende schwarze Wolken kündigten ein Gewitter an. Dass sich der Zeitpunkt für die Durchführung des Yenendi nach dem Ramadan richtete, war sicher afrikanischer Diplomatie zuzuschreiben. Niemand wollte den Teil der zum Islam übergetretenen Bevölkerung überfordern, der sich von seinem traditionellen Glauben nicht abbringen ließ.
Wir benötigten für diese vierzig Kilometer Strecke nach Téra wiederum einen vollen Tag. Müde und verdreckt angekommen, durften wir die Garage wieder beziehen. Monsieur Aillot gestatte uns die Benützung des Gästebades im Haus. Nach erfolgter Toilette konzentrierten wir uns auf die Zubereitung der Hühner. Banjou war so freundlich gewesen, die Tiere unterwegs fachgerecht zu rupfen. Kopecky schlug vor, sie über einem Feuer zu braten. Da wir uns aber in einer Stadt befanden und Rücksicht auf den Kommandanten nehmen mussten, wurden sie zerteilt und verschwanden zum garen im Druckkochtopf, erhitzt von einem Petroleumkocher. Diese Suppe besserte unsere Kost für einige Mahlzeiten auf. Die nächsten Tage des Wartens auf das Ende des Ramadans verbrachten wir mit Reparaturarbeiten am IFA, Spaziergängen in und außerhalb der Stadt, sowie gelegentlichen Einladungen beim Kommandanten. Die dort geführten Gespräche mit einigen seiner Afrikaerfahrenen Gäste, deren Namen in der Zwischenzeit aus meinem Gedächtnis fielen, brachten uns wichtige Informationen für unsere zukünftige Arbeit in Westafrika.
Das Tempo der Kreise, die ich in den quadratisch angeordneten vier Wänden des von mir bewohnten Turmgemachs ziehe, verändert sich gleichermaßen mit den Stimmungen meiner Eingebungen. Die Gedanken drehen mit, oder sind sie gegenläufig? Drei Runden im Sinne der Uhrzeiger, drei Runden dagegen. Egal, in welcher Richtung ich mich bewege, sobald mein Weg an einem bestimmten Fenster vorbeiführt, sehe ich die Scheibe des in der Morgendämmerung verblassenden Vollmondes. Quälend sind die Versuche, in der Erinnerung nach Begebenheiten zu suchen, die in den vergangenen Jahrzehnten durch andere tiefgreifende Erfahrungen überlagert worden sind.
Hervorgerufen durch die Bewegungen des Körpers und der Gedanken im Kreis, macht sich leichter Schwindel bemerkbar. Hier bin ich an einem der wenigen Orte dieser Erde, in dem noch größtmögliche Freiheit für den Menschen herrscht. Ich finde die widerssprüchliche Erkenntnis lustig, dass ich mich hier inmitten der Sahara an ewig sich im Kreise drehenden Gedanken berausche, gleich einem gefangenen Kriminellen. Im Jargon der Wiener Häfenbrüder werden solche Übungen „Hirntschechern“ genannt. Total ungeordnet tauchen Bilder aus vergangenen Zeiten auf. Dieses wiedergefundene Material aus Erinnerungen in geschriebene Worte umzusetzen, ist mir im Moment verwehrt. Wie Nebel steigen Befürchtungen auf, dass ich aus Altersgründen nicht mehr weiterschreiben könnte. Das trübt meine hoffnungsfrohe Sicht auf zukünftige Schreibarbeit. Das in der Runde Schreiten trägt wenig dazu bei, den Nebel zu durchdringen. Mehrere Versuche, Kniebeugen auszuführen, ohne dabei am nächstgelegenen Möbel Halt zu suchen, scheitern kläglich. Diese zusätzliche Erkenntnis meines Unvermögens ist weder aufbauend, geschweige denn weiterführend. Ich überlege mir die Möglichkeit, in den Gastraum hinunter zu pilgern, und mich zur Hebung der Stimmung aus dem reichlichen Vorrat an alkoholischen Getränken zu bedienen.
Diesen Gedanken verwerfe ich nach einem Blick auf die Uhr, deren Zeiger im rechten Winkel stehen und den Morgen ankündigen. Ich muss hier raus, eine Spur von Ablenkung täte meinem Gemütszustand sicher gut. Selbst ein über den Tisch laufender Skorpion wäre dafür hilfreich. Die hier oben herrschende absolute Stille wird von Gesprächsfetzen unterbrochen, die aus der Gaststube zu mir heraufdringen.
Kurze Zeit später klopft es rücksichtsvoll an der Türe. Das Herankommen geschah lautlos, denn es waren keine Schritte auf der Stiege zu hören. Ich richte mich auf und rufe mit munter klingen sollender maskuliner Stimme: „entrez“! Zu meinem Erstaunen betritt Akamouk den Wohnraum. Er hat sich der Sandalen vorher entledigt und geht bloßfüßig, was die Lautlosigkeit seiner Annäherung erklärt. Unsere Fingerspitzen berühren sich gleitend zur Begrüßung. Nie zuvor hat er mein Zimmer betreten. Für ihn ist es von einem Rumi bewohnt, dessen Privatsphäre nicht ohne triftigen Grund gestört werden darf. Demnach scheint Wichtiges vorzuliegen. Ein Kamel ist verschwunden. Keines seiner zwei Mehari, sondern das Lastkamel. Da bei mir der höchste Punkt der Umgebung ist, und man deshalb weit in die Wüste sehen kann, wollte er von hier versuchen das Tier zu entdecken. Er wechselt von einem Fenster zum anderen und blickt in den beginnenden Tag hinaus. Ich biete ihm meinen Swarovski-Feldstecher an, den er anfänglich ablehnt, nach erfolglosem Umsehen aus Höflichkeit doch annimmt. Spielerisch benützt er ihn länger als notwendig und schaut damit in alle Richtungen. Das Kamel ist nicht auszumachen. Danach nehme ich das Glas und suche selbst den Horizont ohne Erfolg ab. Er meint, dass er losgehen müsse, um das Lasttier einzufangen. Das kommt mir gelegen, und ich biete ihm die Unterstützung mit dem Landrover an. Sichtlich erfreut nimmt er das Angebot an, und ich hole gleich meine Desertboots hervor. Wir wären nicht in Afrika, versuchte er nicht, mich davon abzuhalten. Das muss ja nicht sofort sein, es ist Zeit genug, wenn wir morgen früh losfahren.
Weil Akamouk einmal da ist, ergreife ich die Gelegenheit und zeige ihm am Bildschirm des Rechners Fotos aus Österreich. Die gefallen ihm recht gut. Aber dann meint er in Bezug auf meine Ausrüstung mit Auto, Computer, Feldstecher usw., dass die Roumis ungeheuer arm dran seien. Sie brauchen solche Hilfsmittel, die in seinem Leben keine, oder nur eine untergeordnete Rolle spielen. Er ist mit dieser Meinung nicht allein, insbesondere in den Clans im Hoggar gibt es bis zum heutigen Tag Familien, die fast ausschließlich strikt nach ihrer Tradition leben. Das sind Ausnahmefälle in einer Welt, in der die Fortschritte und Verlockungen der technisierten Zivilisationen konstant stärker Fuß fassen.
Vor mehr als zweihundert Jahren befand sich die Weltwirtschaft in einer langjährigen Depression, deshalb wurden neue Absatzgebiete für Industrieerzeugnisse und Handelswaren gesucht. Damit begann die Kolonialisierung Afrikas. Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts wurde die Industrialisierung der Elektrizität immer bedeutender und der Bedarf an Bodenschätzen wie Kupfer, Zink, Gold etc. stieg. Darüber hinaus wurden Kolonialwaren verlangt. Die meisten europäischen Staaten errichteten Kolonien in Afrika. Sie versetzten den afrikanischen Menschen einen Kulturschock nach dem anderen. Der belgische König Leopold II. gründete im Kongo sogar seine Privatkolonie. Die Methoden Länder zu unterwerfen waren unterschiedlich und fanden selten ohne Einsatz von Gewalt und Brutalität ab. Nach Beendung des letzten Kolonialkriegs, Italien gegen das Königreich Abessinien (Äthiopien) im Jahre 1936, war das gesamte Afrika erobert. Die Afrikaner wurden mit europäischer Zivilisation konfrontiert, doch kaum mit Kultur aus Europa bekannt gemacht. Das übernahmen die christlichen Religionen wie die Römisch-Katholische, die Protestantische sowie die Anglikanische, welche allerorten missionierten.
In der Konsequenz war solches Bemühen selbstverständlich recht einseitig. Zu diesen drei großen Richtungen gesellten sich bald aus den USA Missionare der Mormonen und verschiedener weiterer Sekten, die alle versuchten, den Afrikanern das Heil zu predigen und hofften, damit den Islam am Vormarsch zu hindern. Die von den Kolonialmächten vorgezeigte materielle und technische Überlegenheit der Europäer führte den Ureinwohnern unweigerlich den Unterschied zu ihren eigenen Lebensumständen vor Augen. „Das Vergleichen ist das Ende des Glücks und der Anfang der Unzufriedenheit“ sagte der Philosoph S. A. Kierkegaard. In Bezug auf die Entwicklung in Afrika ist das sicher zutreffend. Europa bietet seit Jahrzehnten einzelnen Afrikanern Bildung. In jüngster Vergangenheit taten dies vor allem Oststaaten, die keine Kolonien besaßen. In hohem Maße boten die DDR und einige Balkanländer erschwingliche Bildungsmöglichkeiten bis zum Universitätsabschluss. Aber auch die Sowjetunion und die Volksrepublik China holten junge Menschen an ihre Universitäten und gewannen durch die dadurch neu entstandenen Bildungsschichten umfassenden Einfluss in Afrika. China führt diese Politik weiterhin konsequent durch, zusätzlich mit enormen Investitionen, die allerdings über Kosmetik nicht hinausgehen. Nur wenige Afrikaner können den Verlockungen der ihnen vorgeführten Zivilisation so widerstehen, wie es Akamouk gelingt. Ihm kommt das Leben in der unendlichen Wüste zu Gute, wo sich zivilisatorische Wandlung und technischer Fortschritt hauptsächlich in den relativ kleinen Ballungszentren manifestieren.
Die Gerbas sind mit frischem Wasser gefüllt, ein Kanister mit Benzin zur Reserve ist verladen, mein Jagdgewehr und der Karabiner Akamouks sind verstaut. Wir begeben uns bei Tagesanbruch auf den Weg, der Targi gibt die Richtung an. Für mich bedeutet diese Fahrt einen besonderen Kick, weil ich bisher wegen der Orientierung die Pisten nie wesentlich außerhalb von der Sichtweite verlassen habe. Verloren gegangene Kamele halten sich allgemein nicht an diese Regel. Wir fahren nach Norden, den aus dem Wüstenboden herauswachsenden Büscheln Cram-Cram sorgfältig ausweichend. Die Wurzeln und Stiele des grünen Grases kleben mit dem angewehten Sand wie Zement zusammen und werden dadurch zu harmlos aussehenden, allerdings steinharten Hügeln. Fährt man die mit hohem Tempo an, kann ein Auto solchen Schaden nehmen, dass es liegen bleibt. Akamouk scheint einer für mich unsichtbaren Spur zu folgen. Wie er die erkennt, weiß ich nicht.
Da wir keine Wellblechpiste unter den Rädern haben, kann ich das Tempo so anpassen, dass er Da wir keine Wellblechpiste unter den Rädern haben, darf ich das Tempo so weit anpassen, dass er die Fährte nicht verliert. Bei den stundenlangen Fahrten durch die Wüste erfasst mich stets ein außerordentliches Glücksgefühl. Es ist herrlich, einfach nur so dahinzufahren, wo keine Verkehrsampeln Halt gebieten, oder Beschränkungen der Geschwindigkeit zu beachten sind. Unser Tempo ist ohnehin durch die Beschaffenheit des Geländes vorgegeben. Es gibt keine die persönliche Freiheit beschneidenden Regeln, außer den durch Erfahrung erhaltenen Ge- und Verboten, wie Selbsterhaltungstrieb, Moral oder Ethik. Ich verstehe Akamouk mit der Zeit immer besser. Durch den Wegfall all der Einschränkungen scheinen sich die natürlichen Sensoren des Wüstenbewohners zu schärfen und damit sein Überleben zu garantieren. Neben den ethnischen Gegensätzen unterscheidet dieses Wesensmerkmal die Menschen der Sahara von den Bewohnern des zivilisierten nördlichen Teils des Landes. Auf unserer Fahrt in Richtung Norden sehen wir das Wrack eines Peugeot 203, das bis zur Hälfte vom Erdreich verschlungen und mit Treibsand bedeckt ist. Das ist das Denkmal einer Tragödie, die sich geschätzt vor zirka sechzig Jahren hier zugetragen hat. Da der Befreiungskrieg nicht nur an den Küsten Algeriens tobte, war es für das Militär unvermeidlich, auch in den Wüstengebieten präsent zu sein. Diese lebensfeindlichen Regionen belegten mehr als zwei Drittel des Landes. Viele Soldaten aus dem Norden sind in die Sahara gesandt worden und sind in den Weiten der ihnen fremden Wüste verschollen, verhungert und verdurstet.
Wir fahren weiter in der Richtung, die Akamouk durch Handzeichen angibt. Meine Gedanken sind in der Vergangenheit, und da geschieht es, dass ich einen gefährlichen Anfängerfehler begehe. Eine hellere Stelle in der flachen Hamada bringt das Auto abrupt zum Stehen. Es ist trotz Allradantrieb und eingeschaltetem Zwischengetriebe nicht mehr aus dem Sandloch zu bewegen. Schuldbewusst schaue ich zum Beifahrer am Nebensitz, der meinen Blick mit blauen Augen offen erwidert. Seine Bemerkung, dass mit einem Kamel so etwas nicht passieren kann, empfinde ich in diesem Moment als süffisant und eher unangebracht. Es hilft nichts, wir müssen aussteigen und graben. Das ausgiebig, denn der Landrover sitzt auf den Achsen auf. Wir schaufeln in der beginnenden Tageshitze, positionieren die Sandbleche unter die Räder. Der Motor springt anstandslos an, erster Gang hinein und mit viel Gefühl langsam die Kupplung loslassen. Wie von Engeln getragen klettert der Rover die Bleche hinauf und fährt auf diesen ohne Anstrengung aus dem Sandloch. Die Sandbleche sind schwer mit Sand bedeckt und es bedarf ziemlicher Kraftanwendung, um sie herauszuholen. Nachdem sie wieder an den Seitenwänden des Rovers befestigt sind, trinken wir von dem kühlen, ja kalten Wasser aus den Ziegenhäuten.
Es geht weiter in Richtung einer Sanddüne, die sich aus dem Hitzeflimmern der Ebene erhebt. Es macht den Eindruck, als läge sie inmitten eines Sees. Sie wächst im Näherkommen zu enormer Höhe. Auf die halten wir direkt zu und kommen zu einer von dieser Wanderdüne erstickten Oase. Hier muss eine größere Ansiedlung gewesen sein, denn Konturen ehemaliger Lehmbauten und einige Reste verdorrter Akazien ragen aus dem meterhohen Sand. Die Kronen von zwei Palmen mit langen grünen Blättern haben sich der tödlichen Umklammerung des feinen Wüstensandes bisher entzogen. Demzufolge muss es hier Wasser geben. Wir steigen aus dem Auto und eine erstaunlich große Menge Fliegen summt um uns herum und versucht an den Augen, am Hals, am ganzen Körper zu landen. Akamouk zieht seinen Tegelmust über das Gesicht und ist damit bis auf die Augenpartie vollständig geschützt. Fliegen in der Sahara sind keine Seltenheit. Selbst mitten in den Sanddünen sind diese Quälgeister lästig. Man wundert sich, wie sie dort überleben. Sie ernähren sich von Mikroorganismen, die durch Wind herangetragen werden. Die genügen ihnen zur Feuchtigkeitsaufnahme und sind damit unabhängig von Flüssigkeit. Schweiß einer Menschenhaut, egal welcher Farbe, bedeutet für diese Insekten eine selten zu findende Delikatesse. Ein Kamelkadaver bei einer der Palmen erklärt die Konzentration der Fliegen. Der wieder höher steigende Wasserspiegel scheint nicht nur das Kamel Akamouks angelockt zu haben. Wir finden es am Rande der Sanddüne, wo es sich friedlich an den dort wachsenden Grasbüscheln und sprießenden Akazienzweigen delektiert. Es hat mit seinen Vorderbeinen eine Mulde so tief gescharrt, bis Feuchtigkeit hervortrat, ja sogar eine bescheidene Menge Wasser ist am Grunde des Loches zu sehen. Akamouk meint, die Ansiedlung ist seit über zehn Jahren verlassen, und weil in dieser Zeit niemand Grundwasser entnommen hat, ist der Spiegel wieder gestiegen.
Akamouk nähert sich langsam dem Ausreißer. Der macht ein paar eher lustlose Schritte zur Flucht, der Targi greift schnell nach dem Strick, der noch vom Maul des Kamels hängt und lässt das Tier niederlegen. Mit den bekannten Unmutsäußerungen folgt es anstandslos. Eine Gerba wird ihm auf den Hals gelegt und Akamouk prophezeit, dass er morgen zu Mittag sicher in der Auberge sein werde. Ich hingegen solle ohne Umstände zurückfahren. Seine Augen blitzten schalkhaft zwischen den Tüchern des Tegelmust, während er mir versichert, sollte ich wieder im Sand stecken, er würde ohnehin vorbeikommen, um mir beim Schaufeln zu helfen. Ich unterdrücke eine Bemerkung dazu. Das bekommt er bei nächster Gelegenheit zurück, denke ich mir, bin aber froh, dem Fliegenschwarm zu entrinnen. Meiner eigenen Spur folgend, fahre ich in Richtung Auberge. Vor Einbruch der Dunkelheit taucht die mir bekannte Silhouette des Wohnturmes am Horizont auf.
Tuareg vor Wanderdüne in der Sahara
Der ungewollte Aufenthalt in Téra war für die Expeditionsarbeit recht befruchtend. Der Ramadan neigte sich dem Ende, Auto und Geräte waren repariert. Die Stadt versank teilweise in Morast. Den ganzen Tag hat es immer wieder geregnet. Spät am Nachmittag kam die Sonne heraus, doch die hohe Luftfeuchtigkeit blieb. Der Schweiß trocknete nicht, Hemden und Hosen klebten an den Körpern der Menschen. Dies war mit ein Grund, die Einladung des Commandant du Cercle, Monsieur Aillot, zu einem Abendumtrunk höchst willkommen zu heißen. Wir verbrachten den Abend auf dessen Terrasse. Außer uns waren Père Ducros von der Mission in Niamey, der nahe Tillabery ein Dorf besuchen wollte und hier in der kleinen katholischen Station untergebracht war, sowie der schwarze Adjutant des Kommandanten eingeladen.
Ich wurde wieder einmal dazu verdonnert, mit Hintergrundmusik die Stimmung durch Mozart und Sidney Bechet zu heben. Das anfänglich sich nur mühsam dahinschleppende Gespräch wurde durch den Alkohol, dem wir seit Tagen entwöhnt waren, rasch lebhafter. Der Gastgeber war ungeheuerlich schnell mit der Flasche bei der Hand, wenn es galt nachzuschenken. Bei Père Ducros holte er sich einen Korb nach dem anderen, trotzdem versuchte er immer wieder den schlanken, asketischen Missionar zum Trinken zu bewegen. Der Geistliche widerstand lächelnd. Das war für uns nichts Neues, denn wir kannten ihn aus der Hauptstadt Niamey, wo ich eine seiner Predigten aufgenommen hatte und durch seine Anwesenheit bei verschiedenen gesellschaftlichen Ereignissen. Seine Güte und Freundlichkeit waren bisher von keinem seiner Schützlinge ausgenützt worden, man hatte eben zu großen Respekt vor ihm. In dem sehnigen Körper wohnten ungeheure Energie, Willenskraft und Geduld. Die Arbeit, die er sich mit den Schwarzen in der Regenzeit machte, war enorm. Seine Mission bestand darin, dass er sich über diese Zeit in ein entlegenes Dorf zurückzog und dort den Eingeborenen half, ihr kümmerliches Dasein ein bisschen zu erleichtern. Er sprach ihnen nicht nur geistlichen Trost zu, sondern legte kräftig selbst mit Hand an, denn es gab immer etwas zu reparieren oder Arbeitsabläufe praktischer zu gestalten. Nebenher arbeitete er an Übersetzungen verschiedener Sprachen der Region, wie Haussa, Songhai und Djerma. Das erregte in erster Linie meine Aufmerksamkeit, weil ich für das Institut für Afrikanistik der Universität Wien und das Phonogrammarchiv Diktionäre akustisch dokumentieren sollte.
Père Ducros kannte unsere Aufgaben und nahm sie keinesfalls als Spielerei. Er war beruflich mehrmals mit Fetischeuren zusammengekommen und wusste eine Menge über diese Auserwählten zu verraten. Der Missionar war für seine Schweigsamkeit in diesen Fragen bekannt. Was uns nicht daran hinderte, ihn in unserem Forscherdrang eben darum zu bitten. Wir waren deshalb erstaunt, dass er ansetzte, offen darüber zu erzählen. Ich hatte gerade noch Zeit ein neues Tonband einzulegen und das Mikrofon am Magnetophon anzuschließen, da begann er, weit in den Stuhl zurückgelehnt, seine Geschichte (wortwörtlich direkt vom Band der Aufnahme transkribiert):
„In der Nähe des Marigot von Gorouol, einem toten Flussarm, lebte in einem Dorf namens Yatakala ein Zauberer, ein Zimma. Er wachte eifersüchtig über seine schwarzen Dorfbewohner und hatte einen Kummer, einen durch das Gebiet reisenden Marabout, einem moslemischen Prediger, der unermüdlich versuchte, die Schützlinge des Zimma zum Islam zu bekehren. Dieser Mann erschien von Zeit zu Zeit in dem Dorf. Der Zauberer unternahm nichts gegen ihn und ließ ihn gewähren. Aber einmal erwartete er ihn bereits vor dem Dorf und machte ihm den Vorschlag, in aller Öffentlichkeit ihre Kräfte zu messen. Dem Marabout blieb nichts anderes übrig, als die Herausforderung anzunehmen. So führte der Fetischeur seinen Gegner inmitten aller Dorfbewohner auf den Platz vor der Fetischhütte. Dort ließen sich die beiden nieder und breiteten ihre Kultgegenstände vor sich aus. Lange saßen sie sich so gegenüber und murmelten. Der eine Suren aus dem Koran, der andere Beschwörungsformeln für seine Geister. Da machte der Zauberer mit einem Male eine Bewegung mit den Händen und der Marabout war über und über bedeckt mit roten Ameisen! Die sind für ihre kräftigen Zangen und besonders schmerzhaften Biss bekannt. Sicher ein Taschenspielertrick, aber er tat seine Wirkung. Blitzschnell krochen hunderte dieser Insekten unter das Gewand des Mannes, der, gequält von den Bissen, aufsprang und zum Wasser rannte. Der Zimma blieb Sieger und der Marabout vermied in Zukunft Besuche in dem Dorf.
Und genau in dieses Dorf sollte ich vor zwei Jahren das Christentum tragen. Mir war die Geschichte bekannt und man kann sich vorstellen, mit welchen Gefühlen ich in Yatakala ankam. Am Dorfeingang wartete bereits der Zauberer, umgeben von seinen Vertrauten. Wir sahen uns in gegenseitigem Misstrauen eine Weile an. Es fiel ihm nicht ein, mich willkommen zu heißen. Er war finster und feindselig. Niemals werde ich seine Augen vergessen, als er mich fragte, was ich wolle. Ich war damals überzeugt, Mordgedanken in ihnen lesen zu können. Es war mir klar, dass ich für ihn ein weit größerer Feind sein musste, als der Marabout, dem er so übel mitgespielt hatte. Ich antwortete ihm klar und eindeutig, dass ich hier sei, den Menschen von dem einzigen Gott zu erzählen. Soll ich ihnen schildern, was in mir dabei vorging? Wenn er ablehnte, oder sich offen gegen meinen Besuch stellte, dann war meine Mission so gut wie beendet. Die Angst und der Respekt der Dorfbewohner vor dem Zimma waren viel zu stark, als dass sie mich geduldet hätten. Einige von ihnen waren zwar offen, aber niemand würde ein Wort mit mir sprechen, sie würden sich vor mir verstecken. Das waren meine Gedanken und ich habe in die von mir gegebene Antwort alle meine Gebete gelegt.
Ja, sagte er auf Songhai, ich wusste, dass du kommst. Eine Hütte ist bereit, du wirst uns von deinem einzigen Gott erzählen. Dabei lachte er mir höhnisch ins Gesicht. Ich hatte das Gefühl, hier nicht mehr lebend herauszukommen. Der Zauberer grinste und trat mit einer Handbewegung zur Seite, die alle Anwesenden dazu veranlasste, eine Gasse zu bilden. Langsam, ohne ein Wort zu erwidern, ging ich in die Richtung, in der ich den Dorfplatz vermutete. Vor mir lief eine Meute Schwarzer und ich erreichte bald eine der größten Hütten des Dorfes. Man hatte sie ausgeräumt. Sie wartete auf mich. Ich konnte mir nicht erklären, woher man über mein Eintreffen wusste. Ich ließ mich in der Hütte nieder, denn ich war wie erschlagen und begann zu überlegen. Dass der Zauberer mich nicht ungehindert predigen lassen würde, das war mir klar. Aber was plante er? Musste ich nicht hinter jeder Ecke, ja bei jedem Schritt eines seiner gefährlichen Kunststücke erwarten? Und würde er mich so relativ gut wegkommen lassen, wie den Marabout? Mein kleiner Songhaijunge, der für mich dolmetschte, klebte beinahe an meinen Füßen. Er hatte wahnsinnige Angst. Dabei war er als Christ geboren und in der Missionsschule erzogen worden. Ich sah ein, dass ich dem Knaben ein Beispiel geben musste, wenn ich nicht zulassen wollte, dass er instinktiv wieder in den Teufelsglauben seiner Ahnen zurückfiel. Laut begann ich zu beten, und sah, dass das seinen Eindruck auf den Vierzehnjährigen nicht verfehlte. Später brachte man mir zu essen. Ich lachte laut auf, als man mir die Kalebasse zur Tür hereinstellte, denn jeder, der hier mit den Eingeborenen zu tun hat, der weiß, welche Künstler sie im Giftmischen sind. Natürlich aß ich keinen Bissen, aber die Tatsache, dass man mir Essen brachte, hatte in mir die völlige Gewissheit erstehen lassen, dass man mir nach dem Leben trachtete.
Die Zeit der Predigt rückte näher. Das Dorf versammelte sich um die Fetischhütte, vor der ich sprechen sollte. Konnte ich es wagen, einen anderen Platz zu verlangen? Ich war sicher, dass ich etwas zu befürchten hatte. Besonders als ich sah, dass sich der Zauberer unter die Wartenden gemischt hatte. Als ich vor die Hütte trat, beteuerte er mir mit scheinheiliger Miene, dass er auch zuhören wolle. Sosehr ich mich auf dem Weg zur Fetischhütte auch umsah, ich konnte nichts Verdächtiges bemerken. Nicht einen Augenblick ließ mich der Medizinmann aus den Augen. Als ich zu sprechen begann – ich gebe zu, dass mir bei den ersten Worten die Stimme vor Nervosität beinahe versagte. Ich sprach wie in Fieber. Heute weiß ich nicht mehr, was ich gesagt habe. Der Zauberer verfolgte jede meiner Bewegungen mit den Augen, die mir weh taten. Ich erinnere mich, dass ich schnell sprach, ich hatte keine Zeit! Jeden Augenblick konnte ich durch irgendetwas unterbrochen werden. Ich musste die Zuhörer packen. Während der junge Gehilfe meine Sätze verdolmetschte, hatte ich Zeit gehabt mich zu fassen, aber mein Hirn arbeitete zu krampfhaft. Ich suchte nach Gleichnissen, die verständlich waren. Es suchte nach Formen, die aus dem Leben der Schwarzen gegriffen waren. Ihre Tierwelt, die Trockenheit und das Mil als Grundnahrungsmittel mussten in die Predigt hinein. Langsam merkte ich einen geringen Widerhall. Und mit ihm überbrückte ich alles, was mich hemmte. Ich sprach mich in eine Begeisterung und fühlte immer mehr, wie die Menschen an meinen Lippen hingen. Die Augen des Zauberers spürte ich nicht mehr. Ich sah, dass die Hühner, die sich auf den Platz wagten, sofort verjagt wurden. Das ist bei den Negern ein Zeichen von außerordentlichem Interesse.
Als ich geendet hatte, starrten mich die Leute an, als wäre ich einer ihrer mächtigen Geister. Die Runde war so tief beeindruckt, dass mir Tränen in die Augen traten. Ich sagte ihnen noch einige sehr freundliche Worte und hieß sie in ihre Hütten gehen um nachzudenken über alles, was sie gehört hatten. Den Zauberer hatte ich völlig vergessen. Jetzt bemerkte ich ihn, unbewegt und finster. Er fixierte mich noch immer. Als auch er wegwollte, fasste mich ein… wie soll ich es nennen, ein unbezwingliches Verlangen danach, einige Worte mit ihm zu wechseln. Ich sprach ihn an und fragte ihn, ob er verstanden hätte. Er nickte. Ich fragte ihn, ob er mir glaube, und wieder nicken. Das kam für mich überraschend, dass ich deutlicher fragte: Glaubst Du, dass Jesus Christus wirklich und wahrhaftig Gott ist?‘
Abermals bejahte er schnell. Ich war so verblüfft, ich konnte nicht anders, als ihn zu fragen, warum er mir alles glaube, da ich doch das erste Mal zu ihnen gesprochen habe. Seine Antwort war: ,Ich kenne sehr viele Menschen, aber ich habe noch nie einen gesehen, der für die zu sterben wünscht, die ihn töten wollen. Er muss Gott sein. ‘Das war die Antwort eines Zauberers der Wilden, die das erste Mal eine Predigt hörten.“
Kopecky, der Französisch nicht verstand, nervte uns mit seiner ständig wiederholten Frage: „wassagter?“. Deshalb übersetzten wir abwechselnd die für ihn unverständlichen Geschichten. Im Laufe der Erzählung war er still und blass geworden. Plötzlich bezweifelte er die Sinnhaftigkeit der geplanten Aufnahmen des Yenendi und schlug vor, umgehend nach Niamey zurückzufahren. Dieser Vorschlag wurde mehrheitlich abgelehnt. Wir blieben tief beeindruckt noch einige Zeit sitzen, weil sich ein interessantes Gespräch entwickelte. Père Ducros bekam bewunderndes Lob zu hören, doch meinte er dazu, dass der Erfolg seiner Bemühungen voraussichtlich nicht von Dauer war. Man müsste immer bei den Menschen bleiben. Man sollte nicht gezwungen sein, sie nach einigen Monaten zu verlassen. Wie Kinder vergessen sie so leicht. Es gibt zu wenig Missionare, derzeit sind nur acht an der Zahl im gesamten Gebiet von Niger. Der Staat ist etwa dreieinhalb Mal so groß wie Frankreich, bewohnt von zweieinhalb Millionen Afrikanern, die aus verschiedenen ethnischen Gruppen stammen.
Wir verabschiedeten uns von ihm mit dem Versprechen, in Niamey wieder zusammenzutreffen. Das waren die Verhältnisse im Jahre 1956 in diesem teil von Afrika. Wir nützten die Gelegenheit diesen erfahrenen Priester mit dem langen schwarzen Bart nach Fetischkulten und autochthonen Religionsfesten zu befragen. Dieser Abend brachte unsere Arbeit ein erfreuliches Stück weiter. Leider musste er bald beendet werden, da es inzwischen recht spät geworden war und Blitze und Donnergrollen aus der Ferne den nächsten Regen ankündigten. Père Ducros sollte möglichst vor Eintreffen des Gewitters die Missionsstation erreichen, und wir waren von den vielen Informationen und dem ungewohnten Alkoholgenuss ohnehin recht erschöpft. Darüber hinaus standen Mackie und mir die Aufgabe bevor, Hans Kopecky von der Ungefährlichkeit unseres bevorstehenden Unternehmens zu überzeugen. Ich packte mein Magnetophon zusammen, drückte Hans die Tonbänder in die Hände, nicht ohne ihn auf die Verantwortung hinzuweisen, die dem Transport dieser heiklen Fracht in die Garage zukäme. Eine Bemerkung, die mir sicher demnächst wieder Ärger mit ihm einbringen würde, ihn aber für den Moment von seinen Sorgen und Ängsten ablenkte.
Der nächste Tag war ausgefüllt mit Vorbereitungen für die geplanten Aufnahmen in Begouriou Tondo Kangé. In der gesamten Stadt fanden heute Festlichkeiten zum Ende des Ramadan statt, die in den frühen Morgenstunden mit Trommeln und Geschrei begonnen hatten. Aus der näheren und weiteren Umgebung waren sie gekommen, die Moslems und die Ungläubigen der verschiedenen Stämme, wie Djerma, Touareg, Bella und Songhai. Sie alle feierten das Ende des Ramadans ausgiebig und geräuschvoll. Abordnungen zogen zum Sitz des Kommandanten, um ihn zu begrüßen und schlichte Geschenke zu überreichen. Handarbeiten, Schmuckgegenstände und kleinere Haustiere. Monsieur Aillot schüttelte unzählige Hände und verschenkte an die zahlreichen Besucher als Gegenleistung Stoffe, dunkelblau für die Touareg, bunte für die anderen. Genauso Salz, Messer, Taschenlampen mit Batterien, Angelhaken und Zierknöpfe wurden gerne von den Eingeborenen entgegengenommen.
Festtrommeln zum Abschluss des Ramadan
Mackie und Kopecky begaben sich am Vormittag ins Zentrum von Téra, um die Verpflegung für die nächste Woche zu besorgen. Wobei sie äußerst umsichtig mit unserem Vorrat an Geld vorzugehen hatten, da wir nicht wussten, ob und um welchen Preis der Humber in Niamey verkauft wurde. Mackie wäre nicht er gewesen, hätte er nicht an einen fünf Liter Rotwein fassenden „Ballon“ gedacht.
Währenddessen kümmerte ich mich um die Bärenbatterien, sie waren ein grundlegender Baustein für meine Technik. Ich prüfte deren Säurestand, füllte destilliertes Wasser nach und „pufferte“ sie vorsichtshalber mit dem mitgebrachten Ladegerät. Das Funktionieren von Einankerumformer in Kombination mit dem Tonbandgerät bedurfte einer Überprüfung. Den Vergaser vom IFA legte ich trocken und startete den Motor. Das musste leider bei geschlossenem Tor geschehen, denn die vorbeiziehenden, das Ende des Ramadan feiernden Massen, hätten aus Neugierde sicher die Garage überflutet. Durch den laufenden Zweitaktmotor des IFA füllte sich der kaum lüftbare Raum mit milchigem Nebel, bläulich und beißend. Sehr zum Leidwesen meiner Kollegen, denn nachdem sie heimgekommen waren, fluchten sie laut über den Gestank in der Garage. Das war mir durchaus egal, Hauptsache der Wagen lief. Mackie versuchte den zweiten, rechten Scheibenwischer am F9 zu reparieren, der genau vor seinem „Kommandoplatz“, dem Beifahrersitz, die Klarsicht herstellen sollte. Mackie hatte auf dieser Reise schon mehrmals sein Unverständnis für Technik aller Art bewiesen. Nachdem wir den Inhalt des Weinballons bis zu dessen Hälfte verringert hatten, folgte eine von außen durch überbordenden Festlärm gestörte, unruhige Nacht.
Banjou, unser Dolmetscher, weckte uns durch heftiges Klopfen am Tor. Der Wettergott meinte es Banjou, der Dolmetscher, weckte uns durch heftiges Klopfen am Tor. Der Wettergott meinte es gut mit uns, denn obwohl der Himmel mit schwarzen Wolken tief verhangen war, regnete es nicht. Banjou saß neben Kopecky auf der Rückbank. Unterwegs fragte er uns, warum wir das alles hier täten, ob wir keinen Beruf hätten? Mackie erklärte ihm, dass wir für die Wissenschaft als Feldforscher nach Afrika gefahren sind. Wir sollten möglichst umfänglich über die Sitten und Gebräuche der Menschen hier erfahren, sowie diese für Universität, Museum und Akademie der Wissenschaften dokumentieren, und um für uns selbst daraus zu lernen. Das waren die Zauberworte, die uns einen Einblick in sein Leben erlaubten. Dieses war bezeichnend für einen Großteil der Bevölkerung im Staate Niger, regionale Besonderheiten ausgenommen. Er wuchs im Glauben an Allah auf, besuchte die Koranschule, aber ebenfalls die offizielle nationale Schule und verbrachte kurze Zeit in einer katholischen Mission. Er diente etliche Jahre beim Militär und arbeitete manchmal als Dolmetscher. Anscheinend hatten wir sein Vertrauen, denn er erzählte uns, dass seine Mutter eine „Hole Tam“ gewesen war. Sie war so eine Geistersklavin, ein Medium der Medizinmänner, wie wir es bald mit Ton und Foto zu dokumentieren hofften. Gewissermaßen unter vorgehaltener Hand vertraute er uns an, die meisten seiner Freunde und Bekannten würden den Religionen ihrer Väter folgen, egal ob sie jetzt Moslem oder Christen wären. Seine Erklärung dafür war einleuchtend: Die alten Geister könnten doch nicht so einfach verschwinden.
Einmal musste die Fahrt unterbrochen werden, weil sich mitten auf der Piste ein Liebespaar räkelte. In Westafrika befinden sich die Löwen nicht nur im Aussterben, sondern sind außerdem lange nicht so stark und prächtig wie ihre ostafrikanischen Kollegen. Mackie machte Anstalten die beiden Großkatzen zu erschießen, was mit Unterstützung von Banjou verhindert werden konnte. Ich erinnerte den Expeditionsleiter an unsere bevorstehende Arbeit, aber Banjous Bemerkung, die zu erlegen würde ein schlechtes Omen bedeuten, gab den Ausschlag. Mackie war im Grunde seines Herzens recht abergläubisch. Kopecky saß mit weit aufgerissenen Augen zusammengekauert auf dem Rücksitz und meinte, dass man aus dem Auto heraus nicht fotografieren könne. Der Aufforderung Mackies, die Tiere durch Hupen zu verscheuchen, konnte ich nicht Folge leisten, weil die Halterung der Hupe schon nach den ersten Kilometern im Norden der Sahara den Erschütterungen durch die Wellblechpiste nicht standgehalten hatte. Wir warteten im Auto sitzend und diskutierend so lange, bis sich das Pärchen erhob und unendlich langsam von der Piste fortbewegte.
Wir schafften die vierzig Kilometer in einer Rekordzeit von drei Stunden, dann sahen wir Begouriou Tondo Kangé vor uns in einem Tal liegen. Es war ein Dorf wie jedes andere in der Gegend. Dicht drängten sich die Hütten auf der sorgfältig gerodeten Buschlichtung. Wir fuhren so weit, bis die Piste in einen schmalen Dorfweg mündete. Eine Meute Hunde umringte uns kläffend, einige Hühner waren zu sehen und ein paar nackte Dorfkinder liefen auf uns zu. Darunter fanden sich erstaunlich junge Mädchen, die mit einer Art Schurz bekleidet waren und auf ihren Hüften kleine Kinder balancierten. Ihre jüngeren Geschwister. Erwachsene Dorfbewohner zeigten sich keine.
Es lag eine merkwürdige Stimmung über dem Hauptplatz der Siedlung. Trotz des Kläffens der Hunde und dem Krähen eines Hahnes hörten wir Stimmen vom anderen Ende des Dorfes. In diese Richtung bewegten wir uns. An die letzten Hütten anschließend, öffnete sich eine mit einem dürftigen Zaun zum Busch abgegrenzte ebene Fläche, auf der sich die gesamten Einwohner von Begouriou tummelten. Die Vorbereitungen zu dem Kultfest waren voll im Gange. Yabilan, der Zauberer, war in ein Gespräch mit dem Chef du village vertieft, der bei unserem Anblick sofort unterbrach und in der Menge verschwand. Yabilan begrüßte uns freundlich und wir durften uns frei bewegen und die Gegebenheiten begutachten. Große, halbe Kalebassen waren mit der Öffnung nach unten in die Erde eingelassen, Matten und Teppiche lagen für die „Hole N‘kainas“, die Geistermusiker und dem Zauberer bereit. Die eigentliche Opferstätte bestand aus zwei mannshoch an Stangen befestigten Tongefäßen in Halbkugelform. In sie floss später das Blut der Opfertiere. Es gab hier keine Götzen- oder Ahnenfiguren wie in anderen Gebieten Afrikas wo Opferrituale gefeiert wurden, über die das Blut geschüttet wurde. Die Gefäße waren die „Hampis“, deren eigentliche Bedeutung sich uns zu diesem Zeitpunkt nicht erschloss..
Hampi. Ritualgefäße für Opferblut. Niger
Mackie war wegen des Problems mit dem Häuptling besorgt. Obwohl Yabilan ihn beruhigte, Mackie war wegen des Problems mit dem Häuptling besorgt. Obwohl Yabilan ihn beruhigte, suchte er in der Menge nach dem Chef du village. Er fand ihn und bat ihn auf die Seite. Der Mann sprach gut Französisch, dadurch konnten sie unter vier Augen ohne Dolmetscher verhandeln. Nach langen Erklärungen unseres Expeditionsleiters, die alle auf deutliche Ablehnung stießen, gab Mackie seinem Herzen einen Stoß und holte aus der Hemdtasche ein paar Scheine CFA heraus. Die übergab er dem Chef mit der Bemerkung, das Geld sei zur Abdeckung der Kosten bestimmt, die wir dem Dorf durch unsere Anwesenheit verursachten. Diesem Angebot konnte der Häuptling nicht widerstehen, er steckte die Geldscheine flink ein und verschwand wieder in der Menge. Wir durften nun ziemlich sicher sein, dass er uns zwar hasste, aber nicht sabotieren würde. Sogar eine Hütte bekamen wir zugewiesen, deren Dach, wie wir später bemerken mussten, nicht lückenlos dicht war. Wir lagerten dort unsere Luftmatratzen, Kochgeschirre und die spärlichen persönlichen Gegenstände. Das Auto mit meinen Arbeitsgeräten und den Waffen fuhren wir um das Dorf herum und stellten es so weit vom Ort des Geschehens ab, wie die Länge des Mikrofonkabels mit einer Verlängerung reichte. Der IFA stand knapp außerhalb der Schatten spendenden Äste eines Baumes, die in der glühenden Mittagshitze die Sonne vom Auto abgehalten hätten. Langsam füllte sich der Platz mit Dorfbewohnern und bunt gekleideten, von weither angereisten Gästen.
François erkundigt sich beim Frühstück nach dem Erfolg der von Akamouk und mir unternommenen Kamelsuche. Ich erzähle ihm von den Erlebnissen und von der durch eine Düne verschütteten Siedlung, die mein Mitgefühl für die armen vom Sand vertriebenen Menschen weckte. Er meint, das sei eine typisch europäische Betrachtungsweise solcher Ereignisse. Der Wüstenbewohner betrachtet das als Kismet, das erspart ihm eine Menge Aufregung. Dazu sind die Bewohner dieser Oasen Halbnomaden und emotional nicht an Orte gebunden. Sie suchen in den Weiten der Sahara eine andere Stelle, die ihnen das zum Überleben notwendige Wasser und genügend Nahrung für ihr Vieh bietet. Eine derart gewaltige Wanderdüne ist eine unaufhaltsame Katastrophe, für jeden sichtbar und abzuschätzen. Die Bewohner eines dem Untergang geweihten Dorfes wissen das und treffen rechtzeitig Vorkehrungen. Obwohl der Sand mit dem drohenden Wandel des Klimas nichts zu tun hat, vergleicht François die im Grunde verschiedenen Faktoren miteinander. Die Afrikaner, egal welcher Hauttönung, die sich ihre natürlichen Sensoren trotz des kolonialistischen Einflusses bewahrt haben, erahnen vielfach, was auf sie zukommt. Im Fall des wandernden Sandes können sie das Herannahen des aus Erfahrung Unvermeidlichen sehen, ja greifen. Bei uns liegt die Sache anders. Wir sind in unseren Kulturkreisen ausschließlich auf Informationen bezahlter oder freier Wissenschaftler angewiesen. Die liegen in ihren Aussagen aber weit auseinander, sodass sich Unsicherheit und Sorgen aufbauen.
François ist so richtig in Fahrt, er kommt zu meinem Tisch herüber, an dem das Frühstück in Ruhe verzehrt werden will. Ich genieße den ausgezeichneten Ziegencamembert, den Michelle nur selten herausrückt, weil der Transport dieser Köstlichkeit hierher schwierig und kostspielig ist. Der alte Pied noire macht sich Sorgen um Europa, denn er kann einige Fernsehsender von Satelliten empfangen, und verbringt nicht wenig Zeit mit Radiohören. Obwohl seit Jahrzehnten von arabischer Kultur umgeben, ist er Franzose geblieben. So meint er, dass verschiedene Umweltorganisationen radikale Züge anzunehmen scheinen. Sicher nicht ohne Absicht wurden die beiden, zwar nahe beieinander liegenden, dennoch unterschiedlichen Themen Umweltschutz und Klimawandel zu dem Begriff Klimaschutz zusammengezogen. Weltweit werden nach dem Vorbild der ehemaligen Kulturrevolution in China ungezügelte Demonstrationen organisiert. Die durch den natürlichen Klimawandel ausgelösten Katastrophen bringt man mit den durch die Menschen herbei geführten oder verstärkten Unregelmäßigkeiten in der Natur in Verbindung. Inzwischen ist Michelle aus der Küche gekommen. Sie hört eine Weile zu und verdreht hinter seinem Rücken ihre Augen zu einem unsichtbaren Himmel. Den Redeschwall unterbricht sie mit der Mitteilung, dass ein paar Lebensmittel zur Neige gehen, die bestellt oder in Bordij Mokhtar eingekauft werden müssten. Das verschafft mir die Ruhe für den Verzehr des Restes der Mahlzeit. Im Weggehen wirft mir François die Bemerkung hin, dass es sicher von Bedeutung sei, dass man heranwachsende Mädchen und junge Frauen als Galionsfiguren für diese Bewegung heranzieht.
Mit dem von ihm angesprochenen, aber nicht aufgelösten Thema verschwindet er und lässt mich bedrückt und gedankenvoll allein sitzen. Demnach schweige ich. Freilich, im Verlauf seines eruptiven Vortrags hat er genauso wenig um meine Stellungnahme gebeten. Michelle meint entschuldigend, ihr Mann würde täglich Fernsehen und es gäbe niemand, dem er sich mitteilen könne. Ich widme mich den Resten des Frühstücks. Dabei fällt mir auf, dass sich die „Wilden“ Afrikas diesen Problemen wesentlich pragmatischer nähern, als die „Zivilisierten“ Europas. Afrika war der erste Kontinent, der dem beginnenden Klimawandel durch lange Perioden von Dürre, abwechselnd mit verheerenden Überschwemmungen ausgesetzt war. Zuerst machte sich die Klimaänderung in Eritrea und Äthiopien bemerkbar, später in Somalia und den Sudanstaaten. Von Ostafrika bewegten sich die Katastrophen gegen Westen. Die am schwersten betroffenen Gebiete lagen und liegen in der Sahelzone. Sie zieht sich wie ein Gürtel über den gesamten Kontinent. Die über lange Zeit anhaltenden Dürreperioden trafen die dort liegenden Staaten überaus hart. Kolonialmächte und einflussreiche Kunstdüngerfirmen hatten gemeint, die Länder ihres jeweiligen Einflussbereichs mit Getreidesorten beliefern zu müssen, die zwar in gemäßigten Klimazonen mehr Ertrag bringen, für Afrika aber nicht ausreichend widerstandsfähig sind. Damit wurden schrittweise die ursprünglichen, wetterresidenten Sorten nahezu ausgerottet. Die neu eingeführten Getreide müssen jedes Jahr frisch gesät werden, was für die afrikanischen Bauern wegen der hohen Kosten unerschwinglich ist. Seit einiger Zeit sät man die bodenständigen Getreidesorten wieder, da sie ein paar Jahre Dürreperioden unbeschadet überstehen. Darüber hinaus hat man vor einem Jahrzehnt das internationale Projekt gestartet, im gesamten Sahelgebiet Millionen Bäume zu pflanzen, in der Erwartung, damit Feuchtigkeit anzuziehen. Ein wissenschaftlich absolut begründetes Verfahren. Es ist ein unterschiedliche Völker und Staaten übergreifendes Unternehmen, bei dem allerdings der Erfolg im erhofften Umfang bisher ausblieb. Man verlegt sich zurzeit darauf, kleinere, überschaubare Gebiete zu bewalden. Dadurch sind die Aussichten auf Bewässerung etwas größer. Die Bauern, die solches realisieren, werden von den jeweiligen Regierungen in der Absicht unterstützt, in einigen Jahren die gesamte Sahelzone von jenen Grünzellen aus wieder fruchtbar zu machen.
In Gedanken verloren klettere ich die Stiege hinauf in das Refugium. Über die emotional geprägten Worte von François bin ich verärgert. In solcher Stimmung kann man nicht schreiben. Somit lasse ich mich auf mein Bett fallen und verfolge mit den Augen eine Fliege, die auf der Zimmerdecke herumkrabbelt. Sie läuft aufgeregt im Zickzack, gelegentlich hebt sie mit Gebrumm ab, um gleich darauf wieder zu landen und ihre eckigen Krabbelbewegungen fortzusetzen. Meine Sympathien sind bei dem munteren Insekt. Diese Spezies hat einige Millionen Jahre trotz wechselnder Eiszeiten, Hitzeperioden mit Überschwemmungen und Trockenzeiten überlebt. Zeiten, in denen viele Arten ausgestorben sind.
Ein wesentlicher Grund für meinen Aufenthalt hier ist abhandengekommen. Die Fahrt in die Wüste war von Überlegungen geleitet, weit weg von solchen Ereignissen und medialen Nachrichten in abgeschiedener Ruhe an den Erinnerungen zu arbeiten, diese niederzuschreiben und dadurch gewisse Selbsterkenntnis zu erfahren. An die ersehnte Unerreichbarkeit, und damit uneingeschränkte Selbstbestimmung ist in unserem Zeitalter der allgemeinen Kontrolle nicht einmal hier mehr zu denken. Die von François in seinem gefühlsbetonten Ausbruch behandelten Themen betreffen weltumspannend Mensch und Tier. Sogar hier in der Abgeschiedenheit gibt es davon kein Entkommen. Über diesem Grübeln nicke ich ein.
Lästiges Kitzeln im Gesicht setzt dem Schläfchen nach einigen Minuten ein Ende. Die Fliege hat Lästiges Kitzeln im Gesicht setzt dem Schläfchen nach einigen Minuten ein Ende. Die Fliege hat den Ort ihrer Emsigkeit auf mich verlagert, sie scheint Geschmack an meinen Segregationen gefunden zu haben. Mehrmals verscheuche ich sie, sie bleibt ein Weilchen weg, um sich gleich darauf mit Gebrumm wieder auf meiner Stirn niederzulassen. Dieses Spielchen wiederholen wir öfters, wobei die Abstände zwischen Flucht und Wiederkommen immer kürzer werden. Sie testet die Schnelligkeit meiner Reaktionen. Da der Kampf gegen die Fliege aussichtslos erscheint, begebe ich mich zum Arbeitstisch, starte den Computer und habe vor zu schreiben. In bewährter Sitzposition müssten Konzentration und Kreativität von selbst kommen. Endlich finde ich eine ausgezeichnete Formulierung für den Beginn des Kapitels, da berührt die Hand, welche die Computermaus führt, ein zarter Luftzug. Die Fliege landet auf meinem Handrücken. Eine kurze Bewegung vertreibt die „musca domestica“. Alles, was Recht ist, aber bei der Arbeit ist solch ein Besuch ausgesprochen lästig. Sie macht sich nicht die Mühe weit wegzufliegen, sie kommt in Abständen von Sekunden wieder und immer wieder. Meine Konzentration und die lange gesuchte Formulierung sind verloren.
Ärger ergreift langsam von mir Besitz, und ich beschließe, das anhängliche und lästige Biest zu fangen. Ich habe mir den Trick angeeignet, Fliegen mit einer schnellen Bewegung von rückwärts zu erwischen. Ohne sie zu verletzen gelingt es mir, die sich heftig Sträubende nach draußen zu transportieren und in die Freiheit zu entlassen. Aber diese Fliege hat nicht vor, sich irgend woanders, als auf meinem rechten Handrücken niederzulassen. Als Rechtshänder ist es unmöglich Fluginsekten, noch dazu derart clevere, mit der linken Hand zu erwischen. Wie zu erwarten, landet sie wieder und hebt an, genüsslich Nahrung von meiner Haut zu saugen. Sie hat erkennbar eine schmackhafte Stelle gefunden, denn ihr winziger Rüssel bewegt sich saugend wie wild auf und ab. Aus Begeisterung über das Festmahl merkt sie nicht, dass ich mit ihr behutsam zum Eingang gehe. Langsam drücke ich die Türklinke mit der linken Hand hinunter, trete einen Schritt hinaus und schüttle mit einer heftigen Bewegung den Quälgeist ab. Lautstark fällt die Türe ins Schloss, und ich genieße den Erfolg, endlich wieder allein zu sein. Habe ich bereits erwähnt, dass dieses Tier schlau ist? Auf jeden Fall summt sie trotz meiner taktisch genialen Aktion wieder bei mir im Zimmer herum. Doch scheint sie begriffen zu haben, dass ich sie, zumindest bei der Arbeit, nicht auf mir haben will. Jetzt macht sie dort oben wieder ihre Lauf- und Flugübungen und zieht ihre Platzrunden. Erneut wirkt Ihr Summen beruhigend auf mich, die Konzentration kehrt zurück und ich hacke meine Sätze in den Computer. Nach einer Pause ungewöhnlicher Stille stattet sie dem Bildschirm einen kurzen Besuch ab. Sie sucht sich eine geeignete Stelle, hinterlässt eine winzige Fäkalie als grammatikalisch völlig falsch gesetzte Interpunktion und verschwindet rasch aus meiner Reichweite. Ob das ihre Art von Kritik an meiner Arbeit ist?
Die Versunkenheit ins Schreiben und die bewegenden Erinnerungen an die tief eindrucksvollen Ereignisse aus mehreren Jahrzehnten, lassen mich Raum und Zeit vergessen. Es ist spät am Nachmittag, die Fliege hat zu summen aufgehört und absolute Stille umfängt mich. Vielleicht ist meine Zimmergenossin müde geworden, oder am Ende ihres kurzen Lebens angekommen. Apropos Leben, ich mache mir Sorgen um Akamouk, er ist schon zwei Tage unterwegs, und ich blicke in die Richtung, aus der er kommen sollte. Wenn er bis morgen früh nicht da ist, werde ich losfahren, um ihn zu suchen.
Junger Targi auf schönem Mehari
Das Fetischfest hatte noch nicht begonnen, aber auf dem Platz tummelten sich schon viele Menschen. Unter den zahlreicher werdenden Gästen aus der näheren und weiteren Umgebung von Begouriou Tondo Kangé erkannte ich einen Marabut wieder, der in Téra, beim Fest zum Ende des Ramadans vor gläubigen Moslems gepredigt hatte. Weder Yabilan, der Fetischeur, noch der Häuptling des Dorfes waren zu sehen. Den Himmel überzog eine Dunstschicht, die zwar wie ein Streufilter wirkte und die Kontraste milderte, doch die Intensität der Sonnenstrahlen nicht verhinderte. Das Blech des IFA wurde derart erhitzt, dass es gut möglich gewesen wäre, darauf Eier zu braten. Unter den wallenden Gewändern und Boubous dampfte es, die Gesichter waren nass vom Schweiß. Der den schwarzen Afrikanern eigene, ausgeprägt süßliche Geruch verbreitete sich über den Platz. Ich hatte keine Zeit, weitere Beobachtungen anzustellen, denn ich musste meine Arbeitsgeräte zusammenstellen. Einer der beiden schweren Akkumulatoren und die Kiste mit dem Einankerumformer stellte ich neben das Auto, auf den Rücksitz das Magnetophon und die beiden Messgeräte, den Spannungs- und den Zungenfrequenzmesser. Diese Geräte mussten in der richtigen Reihenfolge hintereinander angeschlossen werden. Vor allem der Frequenzmesser war von entscheidender Bedeutung, weil das Tonbandgerät auf Schwankungen empfindlich mit Störgeräuschen reagierte. Letztlich war alles aufgebaut und der Probelauf fiel zu meiner Zufriedenheit aus.
Banjou zeigte sich an Technik interessiert und hat mir beim Ausladen geholfen. Er brachte es fertig, die Menge davon abzuhalten, mir die Sicht zum Geschehen zu verstellen und eine Gasse für das am Boden schleifende Mikrofonkabel freizumachen. Wie er das schaffte, wusste ich nicht, wahrscheinlich hat er den Leuten erzählt, ich sei ein weißer Zauberer. Der eingehaltene Respektabstand sprach für diese Annahme. Ich stieg wieder aus dem, trotz offener Fenster aufgeheizten Wagen. In dem Moment erschienen die ersten Hole N’Keinas, die Geistermusiker. Sie hatten Zugtrommeln, mit Schlangenhäuten bespannte Godijehs, das sind Streichinstrumente, die entfernt an unsere mittelalterlichen Gamben erinnern, und mit einem Bogen ähnlich gespielt werden. Daneben waren in den Erdboden eingelassene Hälften von Kalebassen. Die wurden mit speziell zusammengeflochtenen handlichen Besen geschlagen und verliehen der Begleitmusik einen ausgefallenen Reiz.
Kopecky streunte am Platz herum und fotografierte begeistert das bunte Treiben. Das Fest, das sicher einmalige Szenen bot, sollte erst beginnen und er verschwendete kostbares Filmmaterial? Unvermittelt trat rundum Stille ein, nur ein Hahn krähte aus der Ferne. Yabilan erschien. Groß, schlank, aufrechte Haltung wie ein General der KuK-Armee. An der Spitze des Kinns deuteten ein paar graue Haare einen Bart an. Unter dem traditionellen dunkelblauen Überwurf der Touareg blitzte sein weißer Boubou an der Seite hervor. Am Kopf trug er eine Mütze, ähnlich einer übergroßen Baskenmütze. Sich des ihm entgegengebrachten Respektes bewusst, strahlte er hypnotische Kraft aus. Begleitet wurde er von Frauen in weiten weißen Gewändern. Diese Gruppe übte dienende und schützende Funktionen aus. Sie waren an ihren Frisuren, die aus unzähligen Zöpfchen bestanden, zu erkennen.
Yabilan, der große Fetischpriester
Mit dem Erscheinen Yabilan’s begannen die Hole N’Keinas ihre Zugtrommeln zu bearbeiten.
Hole N’Keina (Geistermusik)
Hole N’Keina (Zugtrommel)
Sobald der Zauberer mit Gefolge bei ihnen Platz genommen hatte, steigerte sich das Tamtam. Ich lief sofort zu meinen Geräten und fuhr den Umformer hoch. Da kam auch schon der aufgeregte Mackie heran und holte das Mikrofon, ein AKG D 12, ab. Auf dem von der Menschenmenge freigelassenen Platz begannen sich vier Frauen mit langsamen, gemessenen Schritten zu bewegen. Das waren die „Hole Tams“, die Geisterpferde. Hole heißt Geist und Tam ist das Pferd. Das waren Yabilans Medien, durch sie sollten die mächtigen Geister sprechen.
In dieser Phase des Aufwärmens geschah nichts Besonderes, lediglich die Tamtams wurden schneller und gleichermaßen das gemessene Schreiten zum Tanz. Die Mittagshitze wurde stärker, die Hole Tams tanzten in der prallen Sonne. Die Füße der immer rasanter und wilder werdenden Medien wirbelten dermaßen dichten Staub auf, dass ich in Sorge um meine Geräte die Fenster des Autos fest verschloss. Die Tänzerinnen beugten im Rhythmus der Trommel ihre Körper, rissen die Arme in die Höhe und nach rückwärts. Sogar die Umstehenden blieben von der Wirkung der Musik und dem wilden Tanz nicht verschont. Erregt bewegten sie sich, vereinzelt wurde in die Hände geklatscht, alle Gespräche untereinander hatten aufgehört. Die Menschen standen voll im Bann des Geschehens.
Hole Tam (Geisterpferde)
„Geisterpferde“
Weil Banjou die Gasse für das Mikrofonkabel von Menschen freihielt, konnte ich das Geschehen mitverfolgen. Über eine Stunde änderte sich nichts, außer dass Rhythmen und Tanz immer rascher wurden. Yabilan saß die gesamte Zeit stumm inmitten seiner Gehilfinnen, ignorierte die sich wild bewegenden Gestalten und blickte scheinbar unbeteiligt vor sich auf den Boden.
Yabila scheint teilnahmslos u. Kalenasse
Die Hitze wurde unangenehm, die Medien keuchten außer Atem, doch ihre Augen waren bis jetzt noch klar. Ein in ein langes weißes Gewand gekleideter Mann mischte sich mit ebensolchen Bewegungen unter die Tänzerinnen. Die Hole N’Keinas bearbeiteten ihre Zugtrommeln wie rasend und wurden lauter und schneller, ohne auf deren Bespannung Rücksicht zu nehmen, die ebenso an ihre Grenzen zu stoßen schienen, wie meine Technik. Ich kam mit Aussteuern kaum nach, das „Magische Auge“ befand sich fast ständig im Bereich des Übersteuerns. Die Tonbänder von BASF hielten das jedoch zu meiner Freude aus, hatten ausreichend Headroom und waren absolut tropenfest. Einer der Geistermusiker trennte sich von seinen Kollegen, begab sich in die Nähe der wild Tanzenden und begann sie laut in singendem Ton zu beschwören. Das war ein professioneller Sänger und Lobpreiser, der mit kräftiger Stimme in unzähligen überlieferten Strophen die Medien in ihrer Ekstase unterstützte.
2. Priester
Die Medien schleppten ihre Körper durch die Gluthitze, die ebenso mich, eingesperrt in das glühend aufgeheizte Auto, an meine Grenzen brachte. Nichts Menschliches war mehr an ihnen, die Gesichter qualvoll verzerrt stöhnten sie wie unter Schmerzen. Statt der verstummten Zugtrommeln erklangen die Godjes und die Hole N’Keinas schlugen die Kalebassen in durchdringenden, ungewöhnlichen Rhythmen. Jetzt erhob sich Yabilan, der berühmte Zauberer, warf theatralisch einen Teil seines blauen Umhangs über die Schulter und begab sich langsam auf die Tanzfläche. Ihm folgten zwei Priesterinnen. Er stand gegenüber dem Sänger der Louagen und begann mit heiserer, dabei eindringlicher Stimme die Geister, vor allem Zaberi, den Gott der Flüsse und des Wassers, zu zitieren: „Du, die du die Augen krank hast, du wirst Feuer sehen können!“ „Du, beruhige dich, Zaberi zuliebe, der dein Vater ist!“ „Du, die du das Meer mit der Stange misst, schätze nicht, ohne vorher gemessen zu haben!“ „Du hast die Zähne faulend, aber du wirst Steine essen können!“
Hole Tam
Hole Tams in Trance
Yabilan näherte sich den Tanzenden, seine Stirnadern krochen wie Würmer über seinen Schädel. Er brüllte auf die Medien ein, die sich verkrampften und die Ohren zuhielten. Ekstatisch zuckten sie und verdrehten die Augen, und begannen gequält zu schreien. Mackie war mit dem Mikrofon mitten im Geschehen. Am anderen Ende des Mikrofonkabels hatte ich die Kopfhörer auf und erlebte bei gewaltiger Lautstärke das Schreien der Medien und das Gebrüll der Fetischeure mit voller Intensität direkt in den Ohren, faktisch im Kopf. Inzwischen war das Fest zu einem Höhepunkt gekommen, die Grimassen der Medien wurden unwirklicher und ihr Stöhnen und Geschrei unerträglich. Unvermutet stand Mackie neben dem Auto. Ich kurbelte das Fenster herunter und er bat mich um eine Pause. Er war am Ende seiner Kräfte. Die Aufnahme lief dabei:
Ich war froh über diese Unterbrechung. Die enorme Hitze im Auto, meine verkrampfte Haltung und der dramatische Ton mitten im Kopf hatten mich in einen irrealen Zustand versetzt. Wie in einem Rausch bewegten sich reflexartig Muskeln, wie Blutstropfen fielen Schweißperlen aus meinen Haaren aufs Gerät. Ich öffnete die Wagentüre, nahm das Mikrofon und legte es auf den Vordersitz. Dann stieg ich mehr fallend als kontrolliert aus dem Auto. Obwohl es in der direkten Nachmittagssonne sicher weiterhin siebzig Grad hatte, erschien es mir dort kühl zu sein. Typischer Schweißgeruch erfüllte die von Staub geschwängerte Luft. Banjou brachte erfrischendes Wasser aus unserer Gerba. Wir tranken die trüb gewordene Brühe dankbar wie Leitungswasser aus einer Wiener Hochquellenleitung. Die Ritualgeräusche kamen aus der Entfernung wohltuend gedämpft und wir erholten uns rasch. Mit Hilfe des Boys Banjou wechselte ich die gebrauchte Batterie gegen die geladene. Mackie und ich grinsten uns verstehend an, er warf sich wieder ins Getümmel und ich stieg in mein überhitztes „Studio“. Wir wollten dieses in Afrika selten gewordene Ritual so umfassend wie möglich dokumentieren.
Hole Tam in Trance
Hole Tam in Trance
Der große Zimma Yabilan schrie den Medien weiter Texte in die Ohren, die sich nie wiederholten. Ihre Zuckungen wurden stärker, sie hatten keine Möglichkeit, sich dem Zauberer zu entziehen. Der wischte den Schreienden mit einem Tuch den Schweiß und den Schaum vom Gesicht, indem er auf sie weiter einsprach. Eine der Frauen stürzte wie vom Blitz getroffen zu Boden, schrie gellend und wand sich wie bei einem epileptischen Anfall. Schreie und Stöhnen, der Sprechgesang von Yabilan und seinen zwei Gehilfen, das Wimmern der Godiehs und das Geräusch der mit Besen geschlagenen Kalebassen vereinigten sich zu einem wahnwitzigen Klanginferno.
Ein „Geisterpferd“
Sie sieht Geister in Trance
Die Gruppe versammelte sich vor den beiden Gefäßen, dem Hampi.
Nach dem Opfer
Eine Frau wiederholte zwischen Stöhnen und Schreien immer nur: „Gebt mir den schwarzen Bock, gebt mir den schwarzen Bock ….!“ Damit war klar, was die Geister wünschten. Der Mann schrie in Trance: „Geht nie zu meinen Zeiten auf die Felder!“ Eilends schleppten zwei Gehilfen einen schwarzen Ziegenbock herbei und schächteten ihn. Sie hoben das Tier hoch und ließen das Blut in ein Gefäß rinnen, der Körper verschwand in der anderen Kalebasse.
Totale Erschöpfung
Die Medien hatten sich beruhigt. Sie umstanden das Hampi, bewegten sich unangestrengt tanzend und starrten mit verglasten Augen gebannt auf Yabilan, den Zimma. Dieser trat vor die beiden Gefäße und bat den Donnergott Dongo um Wohlstand und Fruchtbarkeit für alle. „Ia“ kam es von seinen Lippen. Das bedeutete so viel wie: es ist geschehen, oder es ist getan.
Obwohl die Trommler ihre Energie in den letzten Stunden verbraucht hatten, spielten sie weiter, denn alle tanzten. Dieser Tanz war nicht mehr dämonisch, er schien Freude auszudrücken über den positiven Erfolg der Zeremonien und dass Dongo ihnen gut gesinnt war. Einzeln und gruppenweise lösten sich Menschen aus dem wirren Haufen der Tanzenden. Ein Feuer wurde entzündet, in dessen Schein ich meine Technik einpacken konnte. Mackie war mit Banjou unterwegs, Informationen einzuholen und Fragen zu klären. Ich fuhr allein die kurze Strecke bis zu unserer Hütte. Kopecky hatte sich schon vorher zurückgezogen und mit der Petroleumlampe den bescheidenen Raum beleuchtet. Er öffnete eine stattliche Flasche Rotwein, deren Herkunft unklar war und reichte sie mir. Ich nahm einen langen ausgiebigen Schluck, fiel auf meine Luftmatratze und schlief bis zum nächsten Morgen durch.
Die Rechte für die akustischen Beispiele und Originale davon findet man im Phonogrammarchiv der Akademie der Wissenschaften oder über mich.
Es ist ein paar Minuten vor 6:00 Uhr, der Sonnenaufgang kündigt sich am Horizont durch hellblauen Schein an. Ich verlasse das wohlig warme Bett, um in die Wüste hinaus zu fahren, Akamouk zu suchen. Die Kühle der Nacht ist in das Turmzimmer eingedrungen und ich zögere deshalb zu duschen. Zähneputzen aber ist kein Problem. Im Vorbeigehen blicke ich aus dem Fenster und sehe den Targi in seinem zeltartigen Verschlag in Decken gehüllt am Boden ausgestreckt schlafend. Er ist lautlos während der Nacht eingetroffen. Beruhigt und darüber zufrieden, dass ich nicht losfahren muss, um ihn zu suchen, kuschle ich mich nochmals in das vorgewärmte Bett. Meine Gedanken drehen sich um das nächste zu schreibende Kapitel. Erinnerungen steigen auf und formen sich zu Worten. Ich sollte Notizen machen. Der Weg zum Schreibtisch erscheint mir zu weit und ich bleibe im Vertrauen auf mein Kurzzeitgedächtnis liegen. Es herrscht diese absolute Stille der Wüste, die beruhigend, aber ebenso beängstigend wirkt. Darüber schlafe ich nochmals ein und werde erst wieder durch die Sonne geweckt. Durch die Spalten der Jalousie wirft sie ihr Licht in hellen Strahlen, in denen Staubpartikelchen tanzen. Bei dem Anblick erfasst mich unwiderstehlich der Gedanke, dass es manchmal reizvoll wäre, ein Sandteilchen der Sahara zu sein, sich in der Morgensonne auszudehnen, dadurch leichter als Luft zu werden und in kühle Höhen aufzusteigen. Dort tagsüber im Schwebezustand ungestört die Erde von oben zu betrachten, um bei Sonnenuntergang wieder schwerer geworden, sachte auf den Boden zu sinken.
Es ist reichlich spät heute. Der Gästeraum ist leer, auf meinem Platz steht verwaist das unberührte Frühstücksgeschirr. Auf einem Tisch in der dunklen Ecke des Raumes liegt in Cellophan verpackt ein faltbarer Christbaum aus Plastik. Ach ja, Weihnachten ist nahe! Ursprünglich hatte ich vor, die kühle Jahreszeit für die Heimfahrt nach Wien zu nützen, aber da ich im Rückstand mit meinem mir selbst auferlegtem Pensum Arbeit am Buch bin, verzögere ich die Abreise immer wieder. Niemand ist anwesend, sogar die Küche ist verlassen. Die von mir sonst so gewünschte und angenehm empfundene Stille wirkt heute bedrückend. Auf Kommunikation hoffend begebe ich mich in den Hof, um Akamouk aufzusuchen. Obwohl die Sonne längst schon schräg in den Hof scheint, ist es kühl draußen.
Als wäre mein Besuch angesagt, ist der Targi soeben dabei Tee zu kochen. Freundlich begrüßen wir uns und er lädt mich mit einer großen Handbewegung, die jedem Schauspieler aus der Schule der Commedia dell’arte zur Ehre gereicht hätte, dazu ein, auf seinem Teppich Platz zu nehmen. Die heute bisher nicht bewegten Gelenke knacksen laut und vernehmlich, doch ich schaffe es auf den Boden und in den Türkensitz, ohne mich dabei durch Schmerzenslaute zu verraten. Der Targi gießt die kochende Flüssigkeit aus großer Höhe zielsicher ein und reicht mir das erste Glas mit dem zuckersüßen Wundertrank. Es ist derart heiß, dass ich das Trinkglas nur mit dem Mittelfinger am Boden und dem Daumen am oberen Rand anzufassen vermag. Einvernehmliches Schweigen herrscht zwischen uns. Akamouk ist durch den um den Kopf gewundenen Tegelmust total verhüllt, nur zum Trinken zieht er die Gesichtsbedeckung bis unter seine Lippen. Erst mit dem Einschenken des dritten Glases, was das Beenden der Zeremonie bedeutet, hebt Akamouk zu erzählen an.
Kurz nach meiner Abfahrt aus dem verschütteten Dorf machte er sich mit dem wiedergefundenen Kamel auf den Weg zurück. Nur wenige Kilometer von dort im Süden kreuzt ein Trek, so bezeichnen die Touareg einen vorgezeichneten Weg oder eine Fährte, von Ost in Richtung West die von uns im Wüstenboden hinterlassene Spur. Diese direkte Verbindung nach Mali wird von Bewohnern des Hoggargebirges, des nördlichen l’Aïr und Nomaden aus Libyen benützt. Dort traf er eine Karawane aus seiner Heimat. Die Reisenden erzählten ihm, dass in ihrem Teil des Hoggar Unruhe herrscht. Die Augen des Targis sehen mich offen an, während er erklärt, warum er zu mir Vertrauen gefasst hat. Ich würde offensichtlich die Afrikaner nicht aus europäischer Sichtweise betrachten, sondern wie ein Einheimischer urteilen. Die Glut in dem kleinen Kreis aus Steinen, der zum Halt der Teekanne diente, wechselt mit jedem zarten Windhauch ihre Helligkeit und graue Stellen entstehen an den Kanten der glosenden Holzstücke. Mit leiser Stimme, den Blick auf die Asche und Glut der Feuerstelle gerichtet, beginnt er mit seiner Beschreibung.
In dem riesengroßen Territorium lebt eine Anzahl unabhängiger Berberstämme in losem Verbund. Von einer politischen Nation unter einheitlicher Führung, kann bei den Touareg nicht die Rede sein. Wenn man die im Laufe der Zeit eroberten, unterworfenen und besiedelten Länder im südlich gelegenen Sahel dazurechnet, ergibt sich eine Fläche, die der Gesamteuropas entspricht. Die jeweils aus einigen Familien bestehenden Stämme leben in der existenzbedrohenden Wüste in gewachsener Symbiose miteinander. Die Mitglieder der Clans werden in drei Klassen eingeteilt. An der Spitze sind die Imohagh, die Adeligen, welche nie arbeiten oder niedrige Dienste verrichten. Stets umfassend bewaffnet treten sie ausschließlich als kriegerische Beschützer der Angehörigen ihres zugehörenden Stammes auf. Aus den in verschiedenen Schlachten meist dunkelhäutigeren Unterworfenen besteht die Schicht der Halbfreien. Sie sind zum großen Teil sesshaft und betreiben Gartenbau und Viehzucht, haben Tribut zu leisten und unterscheiden sich in ihrem Habitus nicht von den adeligen „Rittern“. Ihre Wohnstätten sind aus Lehm gebaute Häuser, im Unterschied zu den transportfähigen Zelten aus gewebten Stoffen oder Tierhäuten der nomadisierenden Oberschicht. Dann gibt es die Schicht der meist aus Schwarzafrika kommenden Leibeigenen, welche die niederen Arbeiten verrichten. Der aus edlem Geschlecht stammende und zu seiner Würde von den Adeligen ernannte Amenokal ist zwar das Oberhaupt aller Touareg, hat aber, außer im Kriegsfall, keinerlei Befehlsgewalt. Er hat kein Recht auf Tribut seiner Untertanen, wird allerdings von ihnen durchaus respektiert und unterstützt. Akamouk löst seinen Blick von der erkaltenden Glut und wendet sich mir zu.
An der Küste im Norden Algeriens gibt es laufend politisch motivierte Demonstrationen. Sie werden von Studenten mit einem demokratischen Weltbild angeführt, deren Paradigmen in alten kommunistischen Doktrinen verwurzelt sind. Die Gewaltbereitschaft nimmt täglich zu. Ein paar junge Leute, die in den Städten im Norden Algeriens Schulen und Universitäten besuchen, sind zu ihren Familien zurückgekommen und versuchen die überlieferten Strukturen der Stammesführung aufzubrechen. Sie wünschen sich bei den Touareg eine ebensolche Demokratie, wie sie von ihnen im Norden angestrebt wird. Diese jungen Gebildeten, vorwiegend den Klassen der Adeligen und der Halbfreien entstammend, planen die seit Jahrhunderten geltende Gesellschaftsform der Touareg in eine gänzlich andere Staatsform umzuwandeln. Sie hoffen, ihre in den Studentenbuden des Nordens entwickelten, umstürzlerischen Träume zu verwirklichen. Es entsteht ein Konflikt der Generationen. Die „Miaad“, eine Art Ältestenrat, soll aufgelöst und existierende Klassenunterschiede aufgehoben werden. Wobei es nicht sicher ist, ob die Sklaven in der Praxis dann ebenfalls davon profitieren. Doch die uralten Gesetze der Wüstenvölker sind archaisch und werden blutig durchgesetzt. Akamouk sagt, dass es ein Leichtes ist, in den Weiten eines Ergs endgültig und spurlos zu verschwinden. Ich habe den Eindruck, dass er dabei verschmitzt lächelt. Wir schweigen, solange der Targi die Glut mit Sand erstickt. In der wiederentstandenen vollkommenen Stille hören wir aus weiter Ferne Motorenlärm. Wir haben keine Eile nachzusehen, denn gemäß unserer Erfahrung kann es über eine halbe Stunde dauern, bis sich das annähernde Fahrzeug am Horizont zeigt.
Ich bedanke mich für den Tee und klettere die Stufen zu meinem Dachgeschoss hinauf, von wo man weiter in die Wüste sieht. Gelegentlich bricht das Geräusch ab, entweder weil das Fahrzeug angehalten wurde, oder sich in einer Senke fortbewegt, aus welcher der Schall nach oben geleitet und nicht waagrecht verbreitet wird. Die Sonne steht schon hoch am Himmel und heizt die in der Nacht heruntergekühlte Erde auf. In ziemlicher Entfernung im Westen breitet sich ein riesiger, scheinbar vom Wind bewegter See über den gesamten Horizont aus. Durch meinen Feldstecher glaube ich einen Geländewagen zu erkennen, der sich, eingetaucht in die Fata Morgana, in Schlangenlinien auf die Auberge zu bewegt. Er scheint in dem silbern glitzernden See zu schwimmen.
Um den Wirtsleuten den kommenden Besuch anzukündigen, steige ich wieder hinunter in die Gaststube, wo François und Michelle mit dem Auspacken des Christbaumes beschäftigt sind. Sie haben das sich nähernde Geräusch ebenfalls bemerkt und beeilen sich, das Kunstbäumchen vor dem Eintreffen der Leute fertiggestellt zu haben. Glücklich wie Kinder sind sie beim Aufstellen der Plastikattrappe und ordnen sorgfältig den spärlichen Schmuck darauf. Es entwickelt sich zwischen den beiden eine Diskussion um den endgültigen Aufstellungsort dieses christlichen Glaubensbekenntnisses, die vom Motorenlärm unterbrochen wird, der aus dem Hof ins Haus dringt.
Wir treten aus der in den Hof führenden Türe und sehen zwei Landrover der längeren Bauart und gleicher blauer Farbe streng ausgerichtet im Hof stehen. Beide sind hoch mit allerlei Gepäckstücken beladen. Als Nachzügler fährt zuletzt ein dritter Wagen herein und hält ebenso geordnet daneben. Da scheint militärischer Drill zu herrschen, denke ich mir. Wie auf Kommando öffnen sich alle Türen der Fahrzeuge und jeweils fünf merklich erschöpfte Personen klettern ins Freie. Ein hochgewachsener Mann mittleren Alters kommt breitbeinig im Seemannsschritt auf uns zu. Er raucht eine Zigarette, hält sie zwischen Zeigefinger und Daumen, macht einen tiefen Zug ohne sie dabei auszulassen, und reißt sie von den Lippen, wie wenn sie daran angeklebt wäre. Gleich führt er sie nochmals zum Mund, hält sie fest, inhaliert einen weiteren kräftigen Zug und zieht sie ebenso eckig wieder ab. Aus dieser Bewegung heraus schnipst er den Stummel gekonnt über einen Meter in den Sand, wo dieser bläulich rauchend liegen bleibt. Seiner Wichtigkeit bewusst stellt er sich den Wirtsleuten als Reiseleiter der Gruppe vor. Er spricht ein sogenanntes Küchenfranzösisch und das rollende „R“ vorne auf der Zunge, sowie die Sprachmelodie lassen deutsche Muttersprache vermuten. Doch bevor es ihm gelingt zu erklären, weshalb die Gruppe gezwungen ist hier einzukehren, geschieht es. Aus dem zuletzt angekommenen Rover löst sich geschmeidig eine weibliche Gestalt, welche meine und François‘ volle Aufmerksamkeit auf sich lenkt. Scheint die Sonne mit einem Mal heller? Sogar Akamouk, der seine Emotionen nie zeigen würde und anfangs scheinbar teilnahmslos auf seinem Teppich saß, ist aufgesprungen und starrt die junge Frau an, die, sich ihrer Wirkung bewusst, nach vorne kommt und neben dem Reiseleiter Aufstellung nimmt. Ihr langes blondes Haar trägt sie offen, ihre den Körper betonende hautnahe Kleidung besteht aus blauen Skinny Jeans und einem knapp unter dem erlaubten Maß geöffnetem Slimfit-Hemd. Es ist wirklich unerträglich heiß hier! Um den Hals hängt an einer Lederschnur das Croix d’Agades, das Agadaskreuz aus reinem Silber, eine Schmiedearbeit und Symbol der Touareg des l‘Aïr.
AgadeskreuzKreuz des Südens
Diese Erscheinung bedeutet für mich einen Lichtblick in der einsamen Gegend, die nur selten von Frauen frequentiert wird. Doch nicht bloß für mein Gemüt ist sie eine Sensation, wie ich am Gesichtsausdruck von François erkennen kann. Die meisten Besucher der Auberge sind unattraktive, total vermummte Gestalten oder zumindest in ausnehmend luftige und weite Kleidung gehüllt.
Radebrechend versucht der Reiseleiter zu erklären, dass der Kühler eines der Autos einer Reparatur bedarf. Ich übersetze die ihm fehlende Vokabel mit „radiateur“, damit François versteht, dass es sich um einen lecken Kühler handelt. Dem Kühlwasser bisher beigegebene Dichtungsmittel haben nichts geholfen, es muss gelötet werden. François meint, dass die Reparatur einige Stunden dauern wird, und ersucht die Herrschaften in der Gaststube Platz zu nehmen. Was jetzt aufgeregt ins Haus drängt, ist ein buntgemischter Haufen Menschen verschiedener Nationalitäten. Da François mit dem Chauffeur des defekten Wagens in die Garage verschwindet, biete ich Michelle meine Hilfe beim Bedienen der Gäste an. Viele Limonaden und nur leicht alkoholische Getränke, sowie Sandwiches werden geordert. Man erzählt mir, dass ein deutscher Automobilclub diese Reise organisiert und der Reiseleiter bisher ausschließlich Reisegesellschaften in Sibirien geführt hat, was gegenwärtig nicht im Trend liegt. Er war vorher nie nach Afrika gereist und ist in allen Belangen auf in der Wüste erfahrene Einheimische angewiesen.
Zwei der Fahrer sind Araber aus Algier, der dritte, in blaues Tuch der Touareg gehüllt, gibt an, authentischer Kel Ifogha zu sein, der aber in Oran an der Mittelmeerküste lebt. Für einen echten Tuareg erscheint er ein bisschen zu klein geraten zu sein. Er lässt sich Ali rufen, da die Touristen seinen Originalnamen nicht behalten könnten. Mir fällt auf, dass alle Mitglieder der Gruppe, Männer wie Frauen, ein, oder einige Kri-Kri um den Hals hängen haben, die durchwegs relativ neu wirken. Ali selbst baumelt ein ganzes Bündel davon auf seiner Brust. Auf meine diesbezügliche Frage meint er, dass die Roumis Talismane für die Wüste brauchen und er würde sie damit versorgen. Sicher ein einträgliches Geschäft für ihn. Die Kri-Kri sind aus Leder oder Metall gefertigt, die jeweils eine Sure aus dem Koran in sich bergen. Meist sind diese aus einem gedruckten Buch des Koran herausgeschnitten und werden willkürlich ausgewählt. Sie schützen, je nach Sure, vor Krankheit, Unwetter, Gewalt, Unfall oder anderen Gefahren.
Kri-Kri aus Leder (klein)Kri-Kri (groß)Kri-Kri (Ring)Kri-Kri (mehrere zusammen)Kri-Kri (sehr klein)Kri.Kri (Ziegenhorn mit Leder umwickelt)Kri-Kri (Kupferlegierung)
Es ist angenehm kühl hier in der Wirtsstube, und die Stimmung wird mit später werdendem Tag immer ausgelassener. Das dürfte dem Alkoholkonsum zuzuschreiben sein, denn man steigt auf Wein, Whisky und Pastis um. François hat das Aggregat gestartet, die großen Deckenventilatoren drehen sich und wandeln den Schweiß der Gäste durch Verdunstung in Kühlung. Ich höre, dass der Konvoi trotz Navi von der Piste abgekommen sei und einige Sandlöcher unter oftmaligem Ausgraben der Fahrzeuge zu überwinden waren. Das waren große körperliche Anstrengungen, gepaart mit der Angst, dass das mitgeführte Wasser nicht reicht, denn der lecke Kühler hat einen Großteil des Vorrates verbraucht. Jetzt sind sie froh, endlich Menschen getroffen zu haben und in Sicherheit zu sein. Selbst unsere elfengleiche Blondine scheint sich erholt zu haben. Roswitha, so ihr Name, ist werdende Ornithologin, die ihre Dissertation über afrikanische Vögel schreiben möchte. Ich verkneife mir die Frage, was sie dabei in der Sahara suche, und lasse mir von ihr lieber die Gründe für das Artensterben in Europa erklären. Schließlich erscheint sie deutlich unbeschwerter als heute Morgen. Zugegeben, ich fühle mich von ihrem Anblick recht angezogen. Wir trinken miteinander einen Pastis nach dem anderen, der ihr ausnehmend gut zu schmecken scheint. Da mir die Abwesenheit Akamouks auffällt, entschuldige ich mich bei der Lichtgestalt für einen Moment, und gehe in den Hof. Kein Akamouk ist dort zu sehen. Sein Sonnenschutz ist abgebaut und der Platz dort leer. Die frische Luft tut dem Befinden nach den Mengen Alkohol und dem rauchgeschwängerten Dunst im Haus gut. Ich laufe hinaus zu dem Ort, wo für gewöhnlich die Meharis des Targis angebunden sind. Der Platz ist leer. Selbst den Dung hat er mitgenommen, mit dem er unterwegs Feuer machen wird. Ich verstehe seine Flucht. Der ungewohnte Trubel ist ihm offenbar zu viel geworden, so hat er sich auf den langen Weg in die Siedlung seines Clans begeben, wo ihn schwierige Aufgaben erwarten.
In den Raum mit den lustigen Menschen zurückgekommen, sehe ich François im Schatten an eine Wand gelehnt, mit halb offenem Mund das sexy Mädchen anstarrend. Er dürfte seine Arbeit an dem Motorkühler fertiggestellt haben und will sich jetzt ein kühles Bier gönnen. Das Erscheinen Michelles aus der Küche enthebt mich der Aufgabe, ihn aus seiner Trance zu wecken und aus dem Ausschnitt der Dame zu heben. Das macht sie recht energisch. Über dem lauten Gewirr verschiedener Sprachen ist es mir nicht möglich zu hören, was sie sagt. Doch ihre Gesten und der dazu passende Gesichtsausdruck vermitteln mir das Vergnügen eines Slapsticks. Sie zieht ihn hochroten Kopfes in die Küche und schließt die Türe. Er tut mir ja leid, denn er darf jetzt nicht mehr in die Nähe der jungen Dame, darüber hinaus ist das Bier warm, weil die Gäste das gekühlte längst ausgetrunken haben. Ich unterlasse es, neuerlich mit dem Wunder Roswitha Kontakt aufzunehmen, da sie auf dem Schoß des Reiseleiters Platz genommen hat und sich dort offensichtlich recht wohl fühlt.
Da sich der Tag seinem Ende zuneigt und selbst die Fahrer den Alkoholika ausgiebig zugesprochen haben, beschließt man eine Übernachtung an Ort und Stelle. Einige begeben sich hinaus in den Hof, um Zelte aufzustellen, ein paar Unentwegte versuchen mit Decken und Schlafsäcken ein Lager in der Gaststube vorzubereiten. Nachdem meine Hoffnung auf eine Fortsetzung des Gesprächs mit der Lichtgestalt wegen des Austausches von Intimitäten zwischen ihr und dem Reiseleiter zunichtegemacht ist, verziehe ich mich allein die merkwürdig bewegt erscheinende Treppe hinauf in das Turmgemach. In einem Gemütszustand, zwischen Glück und Seelenschmerz schwankend, falle ich halb schlafend rücklings aufs Bett und erwache erst am hohen Mittag durch heftigen Bratengeruch, der sich von der Küche in mein Zimmer zieht. Wohltätige Stille herrscht wieder rundherum, die Fahrzeuge mit den Menschen sind verschwunden, und ich nehme mir vor, am Nachmittag weiter zu schreiben:
Junge Targia der MittelschichtAdelige Targia mit Silberschmuck u. Kri-Kri
Trotz der Erschöpfung, die er durch das Yenendi erfahren hatte, sammelte Mackie an diesem späten Abend bedeutende wissenswerte Informationen über die Geister- und Götterwelt unseres Forschungsgebietes. Nachdem er heimgekommen war, ging er mit Kopezky der Rotweinflasche auf den Grund. Ich habe diese Aktion verschlafen. Wie gewöhnlich bereitete ich den Morgentee. Den brauchten wir, um das tägliche Resochin, ein vorbeugendes Medikament gegen Malaria, schlucken zu können. Dabei musste ich feststellen, dass der Zucker ausgegangen oder verschwunden war. Es bedurfte nur kurzer Überlegung, ihn zu finden. Nach längerem Zureden ließ Kopezky endlich seinen geheimen Vorrat aus, nicht ohne darauf hinzuweisen, wie wichtig Vorratshaltung sei. Darüber hinaus erwähnt er unser Glück, dass wir ihn, den Hüter der Reserven, dabeihätten. Sogar eine unberührte Dose gezuckerter Kondensmilch von Nestlé übergab er widerstrebend. Beim folgenden kargen Frühstück gab uns Mackie einen groben Überblick über den Glauben der Eingeborenen in diesem Gebiet, und den Sinn des Fetischfestes.
Die Konstruktionen der verschiedenen Klassen von Halbgöttern, Göttern und Geistern ähneln in ihrer Komplexität denen der antiken Griechen. Mit dem Unterschied, dass es keine anthropomorphen Vorstellungen von den Geistwesen gibt, die gleichwohl Namen haben. Da findet sich einmal Dongo, der fast allmächtige Gott der Blitze und Gewitter. Diverse Naturgewalten sind sein eigen. Er besitzt die Fähigkeit, gleichzeitig fünfhundert Kilometer weiter weg nochmals zu erscheinen. Was in hohem Grade an Quantenphysik erinnert. Trotz seines enormen Rufes haben Untergeister Agenden übernommen. Da gibt es die Göttermutter und Herrscherin über den Niger, somit eine Göttin des Wassers insgesamt, Harakee. Sie beschützt Fischer und Jäger am Fluss vor finsteren Dämonen und treibt ihnen die Beute zu. Faran Baru ist anspruchslos weiß, und bringt höchstens kleine Krankheiten, ist aber allgemein nur gütig. Zaberi ist anders, er ist undurchsichtig, niemand hat Einblick in sein Wesen und welche Aufgaben er hat. Seine ihm zugehörende Farbe ist ebenfalls weiß. Zur Sicherheit versucht man sich mit ihm gut zu stellen, und opfert ihm manchmal ein weißfarbiges Tier. Alle Geister lieben Opfergaben, die allerdings die gleiche Farbe wie die ihnen zugeordnete haben muss. Nicht zu spaßen ist mit Tschiree. Ihm werden Krieg und der schnelle Tod zugesprochen. Er verhält sich still und gelassen, hat aber immer seinen Speer dabei. Niemanden ist es möglich, vor ihm zu flüchten. Am klügsten ist es, sich mit diesem Geist gutzustellen. Denn ist er einmal verärgert worden, tötet er sofort. Folglich opfert man ihm. Seine Lieblingsfarbe ist Rot. Doch wo bekommt man ein rotes Opfertier her? Glücklicherweise nimmt er aber ebenso Opfer rötlicher Farbe an.
Dann gibt es böse Dämonen wie Tierkee, welche die Zauberer, die das Volk geistlich betreuen, hassen und bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu töten versuchen. Tierkee macht sich damit nicht selbst die Hände schmutzig, sondern hat seine zwei gefährlichen Gehilfen Kasankee und Fitijari, die seine Anordnungen erledigen. Sie sind weder allwissend oder allgegenwärtig und man kann sich vor ihnen verstecken und sie gegeneinander ausspielen. Altgriechische Mystik feiert hier fröhliche Urständ‘. Alle diese Wesen sind auf irgendeine Weise miteinander verwandt. Der Zima (in unserem Fall der Zauberer Yabilan) arbeitet mit den guten Geistern zusammen. Die beschützen ihn zwar nicht, geben ihm aber Rüstzeuge in die Hand, mit denen er sich vor dem Bösen selbst schützen kann, wie zum Beispiel seinen langen Eisenstab, den Lola. Der funktioniert wie ein Zauberstab, mit dem man allerhand bewirkt, wie Geistwesen beschwören, oder Vergrabenes aufzufinden. Darüber hinaus gibt es die Karu Bene, das sind Menschen, die sich mit den Geistern einlassen und auf Zeit deren Fähigkeiten annehmen, um damit etwas zu erreichen (Dr. Faustus lässt grüßen).
Wie wir schon vorher mitbekommen haben, die drei großen Religionsrichtungen, Islam, Fetischkult und christliche Kirchen, lebten und ergänzten sich nicht nur in den Köpfen der Eingeborenen, sondern vertrugen sich darüber hinaus recht gut miteinander. Das Nebeneinander wurde von allen großzügig toleriert. Nur die Missionare versuchten eine Abkehr von der Urreligion zu erreichen, indem sie deren Geister als Teufel, auf Französisch „Les Diables“ bezeichneten. Mit dem Erfolg, dass die Autochthonen ihre „Hole“ in „Diables“ umbenannten, was überhaupt keinen Einfluss auf die Beziehung zu ihren mystischen Vorstellungen hatte.
Nach diesen anstrengenden und aufregenden Tagen waren wir allesamt recht erschöpft. Wir Nach diesen anstrengenden und aufregenden Tagen waren wir allesamt recht erschöpft. Wir wollten nur schnell wieder in Richtung Niamey, in unser Haus und Hauptquartier. Vor allem Mackie zog es mit Macht dorthin, er hat ja mit dem Mikrofon an vorderster Front „gekämpft“, arbeitete in der Hitze mittendrin im schweißtreibenden Geschehen. Seine diplomatisch geschickt durchgeführten Recherchen vor und nach dem Fest nicht zu vergessen. Ich habe den IFA wieder mit aus Erfahrung bewährter Aufteilung des Gewichtes neu beladen. So konnte man das Fahrzeug knapp davon abhalten, mit dem Heck am Boden zu schleifen. Die Wolken am Himmel hingen tief und zeugten von einem kurzen, aber heftigen Gewitter, das in den frühen Morgenstunden hier und in der Umgebung stattgefunden hatte. Dongo hatte seine Stärke gezeigt. Im Moment des Losfahrens zeigte sich kurzzeitig die Sonne, was wir als gutes Omen für die Fahrt deuteten, und unsere müde Stimmung wich freudiger Erwartung. Wir fuhren über den Dorfplatz, die Räder des Autos hinterließen im aufgeweichten Sand tiefe Spuren. Wir erreichten die mit einer Art Schottersteinen befestigte Piste, die genau genommen ein Hohlweg war, und knatterten mit unserem Zweitakter wohlgemut gegen Süden. Nach kurzer Fahrt war der die Sicht einengende Weg zu Ende. Vor uns breitete sich die von Hügeln unterbrochene Savanne bis zum Horizont aus. Es ging in die Ebene hinunter, das Auto lief wie von selbst den vorgezeichneten Weg bergab.
Tillabery, Fahrt in die Ebene
Im Flachen angekommen, musste ich wieder mit zwei Rädern auf dem Mittelstreifen und mit den anderen am Rand der Piste balancieren. Die Bodenfreiheit war zu gering für die von Gelände- und Lastkraftwagen gegrabenen Fahrspuren. Ich wunderte mich zwar über Autospuren, die rechts vom Fahrweg in die Grasebene führten, maß aber diesem Zeichen keine Bedeutung bei. Und dann war unvermutet Schluss. Vor uns lag ein die Piste überflutender See, der sich in einer Quermulde links und rechts unübersehbar weit ausbreitete. Ich hielt den IFA an. Das war so gar nicht nach Mackies Geschmack und er versuchte mich im Befehlston davon zu überzeugen, dass diese Lacke überwindbar sei. Meine standhafte Weigerung da hinein zu fahren, brachte das Fass zum Überlaufen. Mackie sprang aus dem Auto, dabei fluchte er laut „verdammt, verdammt, verdammt“! Eine dreimalige Wortfolge, die er öfters gebrauchte, sah er sich einem Ereignis gegenüber, das sich seinem Willen oder seinen Plänen entgegenstellte. Zornig stieg er mit seinen Clarks Desertboots ins Wasser, um dessen Tiefe zu sondieren, nach dem Motto: seht her, was ich für Euch vollbringe, meine für trockene Wüste gemachten Schuhe werden am Altar der Expedition geopfert. Er watete schon bis zu den halben Waden in der braunen Brühe, da stellte er fest, dass ich doch Recht hätte. Darüber zusätzlich ungehalten stapfte er zurück, wobei er ausrutschte und fast der Länge nach in die Fluten gefallen wäre. Sein Zorn stieg in lichte Höhen, als er im Näherkommen das Grinsen in unseren Gesichtern sah.
Im Flachen angekommen, musste ich wieder mit zwei Rädern auf dem Mittelstreifen und mit den anderen am Rand der Piste balancieren. Die Bodenfreiheit war zu gering für die von Gelände- und Lastkraftwagen gegrabenen Fahrspuren. Ich wunderte mich zwar über Autospuren, die rechts vom Fahrweg in die Grasebene führten, maß aber diesem Zeichen keine Bedeutung bei. Und dann war unvermutet Schluss. Vor uns lag ein die Piste überflutender See, der sich in einer Quermulde links und rechts unübersehbar weit ausbreitete. Ich hielt den IFA an. Das war so gar nicht nach Mackies Geschmack und er versuchte mich im Befehlston davon zu überzeugen, dass diese Lacke überwindbar sei. Meine standhafte Weigerung da hinein zu fahren, brachte das Fass zum Überlaufen. Mackie sprang aus dem Auto, dabei fluchte er laut „verdammt, verdammt, verdammt“! Eine dreimalige Wortfolge, die er öfters gebrauchte, sah er sich einem Ereignis gegenüber, das sich seinem Willen oder seinen Plänen entgegenstellte. Zornig stieg er mit seinen Clarks Desertboots ins Wasser, um dessen Tiefe zu sondieren, nach dem Motto: seht her, was ich für Euch vollbringe, meine für trockene Wüste gemachten Schuhe werden am Altar der Expedition geopfert. Er watete schon bis zu den halben Waden in der braunen Brühe, da stellte er fest, dass ich doch Recht hätte. Darüber zusätzlich ungehalten stapfte er zurück, wobei er ausrutschte und fast der Länge nach in die Fluten gefallen wäre. Sein Zorn stieg in lichte Höhen, als er im Näherkommen das Grinsen in unseren Gesichtern sah.
Mackie legte sich währenddem ins Gras, sah teilnahmslos in den Himmel und ließ sich von Dutzenden Fliegen bekrabbeln. Wie ein schuldbewusster Dackel bestieg er nach dem Beladen wieder das Auto und verhielt sich ausnehmend still. Der Weg führte uns zu einem Dorf. Dort stand der Geländewagen, der die Spur hierhergelegt hatte. Ein Weißer kümmerte sich um zwei Verletzte vor einer nahezu gänzlich abgebrannten Hütte. Die Dorfbewohner standen im Kreis herum und verhielten sich seltsam gedämpft. Der Besucher war ein Chef de cercle aus der Umgebung. Er begrüßte uns, und erzählte, dass die Eingeborenen sicher sind, ein Karu Bene hätte den Blitzeinschlag verursacht. Banjou vermittelte einen ängstlichen Eindruck, erklärte uns aber mit gedämpfter Stimme, was ein Karu Bene ist. Wenn ein Mann gegen jemanden anderen etwas unternehmen will, sei es aus Rache oder Zorn, sucht er den Zima auf und lässt sich darin einweisen, wie er mit einer Gewitterwolke mitreisen und den Gegner mittels Blitzes erschlagen könne. Er wird innerhalb einer kurzen, Dogon gewidmeten Zeremonie mit reichlich Strophanthus beinhaltender Salbe eingerieben.
Im Mittelalter hatten Hexen nach Benützung dieses Giftes Flughalluzinationen. Die Menschen im Gebiet von Tillabery waren überzeugt, dass rosa gefärbte Wolken einen Karu Bene transportierten und dieser von dort Blitze auf sein Opfer schleuderte. Die uns umstehenden Bewohner des Dorfes schworen darauf, dass dieses Unglück von einem Karu Bene verursacht wurde, man hätte sogar die rosa Wolke beobachtet. Nach der Art wie ein gläubiger Moslem, der Banjou ja war, uns diese Geschichte vermittelte, war anzunehmen, er spräche aus tiefster Überzeugung. So ein Karu Bene lebt gefährlich. Sollten die Angehörigen der Opfer Rache üben wollen, ist es ein Leichtes den Übeltäter ausfindig zu machen. Sie wenden sich an den Zauberer, der einen Hund töten lässt, dessen Kadaver, von vier Männern getragen, dann den Weg zum Karu Bene weist. Da der Zima vorher dem Mann die Fähigkeit zum Fliegen selbst gegeben hatte, wirkt dieser Zauber verlässlich. Das ist sein Todesurteil. Der angebliche Wolkenflieger wird aber von seinen Angehörigen verteidigt und es beginnt ein Krieg zwischen den betroffenen Familien. Die Franzosen haben diese Gemetzel zwar abgestellt, aber wie sich die Leute heutzutage untereinander ohne Mord und Totschlag in so einem Fall einigen, blieb uns leider verborgen.
Yakatala: Für den vom Bltz erschlagenen.
Unser Aufenthalt war kurz, denn wir trachteten unbedingt vor Einbruch der Dunkelheit die Hauptstadt des Gebietes, Tillabéri, zu erreichen. Ohne Spur pflügten wir durch das Gras um einen Hügel herum, nur unserem Gefühl für Richtung folgend, denn der Himmel war mit Wolken dicht bedeckt, was das Orten des Sonnenstandes verhinderte. Heftige Diskussionen über den richtigen Weg zur Piste begleiteten die Fahrt. Einige größere Rudel Gazellen und Antilopen querten unseren nicht vorgezeichneten Pfad. Das erleichterte die Richtungsfindung, denn Fluchttiere haben die Angewohnheit immer zur Sonne zu laufen, selbst wenn sie nicht scheint. Das dürfte den Sinn haben, Angreifer durch das Sonnenlicht zu blenden und damit eine Chance zur Flucht zu haben. Da es Nachmittag war, liefen sie demnach von Ost nach West. Diese Erfahrung hat sich gelohnt, denn die breite Hauptpiste war bald wieder gefunden, auf der wir Tillabéri in beginnender Dunkelheit erreichten. Zu unserer großen Erleichterung erfuhren wir vom Kommandanten, dass in Niamey Geld für uns angekommen sei, was wir mit einigen eisgekühlten Bieren der Marke Tuborg feierten. Die ermutigende Aussicht, nicht wegen Geldmangels zu scheitern, ließ uns für diese Nacht ein Hotel beziehen. Nach ausgiebigem Duschen schliefen wir wieder einmal in richtigen Betten und fühlten uns Königen gleich.
Michelle und François brechen knapp vor Tagesanbruch nach Tamanrasset auf. Im Zustand des Aufwachens höre ich sie in ihr Auto einsteigen und losfahren. Sie hatten mich schon vor einiger Zeit gefragt, ob ich ein paar Tage auf die Auberge aufpassen würde. Michelle hat einen runden Geburtstag und die beiden wünschen sich, diesen mit ein bisschen Luxus zu feiern, soweit das in dieser Wüstenstadt möglich ist. Man wird sich in einem guten Hotel mit Klimaanlage von geschultem Personal bedienen lassen, in Restaurants an blendend weiß gedeckten Tischen direkt aus Frankreich eingeflogene Speisen und Getränke genießen, ohne sich hinterher um das Geschirr kümmern zu müssen. Geschäfte und Basar locken mit erstaunlichen Gegenständen, die man zwar nicht unbedingt braucht, aber kaufen könnte. Da mir von den beiden so etwas wie Familienanschluss gewährt wurde und ich darüber hinaus Inspirationen durch sie für die Arbeit am Buch erhielt, lag meine Zusage auf der Hand.
Jetzt aber, verschlafen im Bett das Tageslicht erwartend, steigen Bedenken auf. Allein in diesem doch recht großen Anwesen inmitten des größten Wüstengebiets der Erde, ob das gut geht? Mir fällt ein viele Jahre zurückliegendes Erlebnis ein. Ein in einer riesigen Südtiroler Burg einsam lebender Kastellan erwiderte auf meine Frage, ob er nicht Angst habe so allein zu leben, dass er sich überaus sicher fühle. Fürchten müsse er sich nur, wenn Menschen da wären. Diese Einstellung eigne ich mir jetzt an, und begebe mich nach einer kurzen Dusche hinunter in den Gastraum, nicht ohne vorher mein Jagdgewehr zu laden und umzuhängen. Unten angekommen verspüre ich die neue Einsamkeit und Stille wie intensiven Druck auf die Ohren. Von Zeit zu Zeit wird die Ruhe unterbrochen. In unregelmäßigen Abständen verfängt sich Wind in den halb offenen Fensterläden. Dieses melodische Geräusch, dem Ton einer Äolsharfe gleich, wirkt lauter, als es dem schwachen Luftzug nach angemessen wäre. Beim Betreten der sauber geputzten Küche fühle ich leichtes Unbehagen. Obwohl mich Michelle zur vollen Benützung berechtigt hat, ist es mir nicht angenehm, in dieses fremde und wohlgeordnete Reich der Wirtin einzudringen. Ich bereite mir eine Kanne Tee und entnehme dem wohlgefüllten Kühlschrank ein Stück Baguette sowie etwas Käse und setze mich damit gemütlich an den Küchentisch.
Das Frühstücksgeschirr ist sorgfältig abgewaschen und auf seinen Platz gestellt, der Tisch sauber abgewischt. Ich starte mit umgehängtem Gewehr einen Rundgang durch den Hof und die angrenzenden Gebäude. Ausgestorben und friedlich breitet sich der Hof zwischen Mauer, Haus und Garage aus. Doch da bewegt sich etwas in der Mitte des freien Platzes. Das Objekt hat die gleiche gelblich – rötliche Farbe wie der Sand rundherum. Die Flinte entsichert in der Hand nähere ich mich vorsichtig dem jetzt reglosen Ding. Ein Kopf hebt sich aus dessen Mitte und züngelt in meine Richtung. Es ist eine gedrungene kurze Hornviper. Mit leichten Sprüngen sucht sie seitwärts zu entkommen. Offensichtlich hat sie sich aus der Hamadawüste in den Hof herein verirrt. Dieses Reptil ist wegen meiner plötzlichen Anwesenheit sicher ebenso erschrocken, wie ich durch den ihres Anblicks. Angst macht diese hochgiftige Schlange unberechenbar und gefährlich. Ein Biss kann tödlich sein. Wenn man nicht rechtzeitig mit dem richtigen Serum spritzt, wirkt das Gift blutzersetzend. Da ich neugierig bin, mache ich vorsichtig und langsam ein paar Schritte auf sie zu. Die Schlange hat mich jetzt im Fokus ihres Blickes, den dicken Körper zusammengerollt bewegt sich die Viper nicht mehr, sondern züngelt warnend in meine Richtung. In der Hoffnung sie vertreiben zu können, wage ich mich auf eine sichere Distanz von etwa zwei Meter Entfernung heran. Die beiden Hörner über den Augen lassen sich leicht erkennen. Wie dieses schöne Tier loswerden, ohne selbst in Gefahr zu geraten? Erschießen wäre das Einfachste. Mit langsamer Bewegung hebe ich das Gewehr. Während ich die Hähne des Ferlacher spanne, hindert mich der Gedanke, einen Mord damit zu begehen, abzudrücken.
Aber aus dem Hof muss ich sie entfernen. Als nächste Option bietet sich die Vier einzufangen. Doch wie? Ich habe anderswo Schlangen mit Gabelstöcken erjagt. Die waren wenigstens meist lang ausgestreckt, sodass der Stock genau hinter ihrem Kopf platziert und so die Tiere ohne Gefahr fixiert wurden. Diese Viper hingegen hat sich eng zusammengerollt und hält ihr Kopfende geschützt zwischen den Windungen ihres Körpers. Außerdem, wo nimmt man in der Wüste eine geeignete Astgabel her? Ich spreche beruhigend mit ihr. Meine ehrlichen Beteuerungen, dass ich nichts Böses vorhabe, stoßen aber bei ihr auf taube Ohren. Sie blinzelt nicht einmal, streckt mir nur immer wieder ihre Zunge heraus.
Hornviper
Daher gehört sie gefangen und nach draußen geschafft, ohne dabei von ihr gebissen zu werden. Ich erinnere mich, in der Werkstatt eine schwere Autoplane eines Pickups gesehen zu haben. Eine Plane, so dick, dass die Giftzähne der Schlange sie keinesfalls zu durchdringen vermögen. Bedächtig langsamen Schrittes hole ich mir das dunkelgrüne Autoverdeck aus der Garage. Die Viper hat sich inzwischen verzogen und ist nicht mehr zu sehen. Eine Giftschlange, die man nicht sieht, die sich überall verstecken kann, ist ein gefährliches Jagdobjekt. Der Boden ist zwar fest, doch lassen sich die unverkennbaren Spuren dieses sich seitwärts fortbewegenden Reptils verfolgen. Vorsichtig gehe ich dieser Fährte bis zu der Mauerseite nach, an der Akamouk gewöhnlich seine Unterkunft aufgebaut hatte.
Die Plane wie die Capa eines Toreros beim Stierkampf ausgespannt vor den Körper haltend lasse ich sie am Boden schleifen, und nähere mich so der Schlange. Bei meinem Herannahen versucht die Viper zu flüchten. Das gelingt ihr nicht so leicht, weil die seitliche Fortbewegung einerseits von der Mauer, andererseits durch das riesige steife Stoffverdeck verhindert wird. Es bleibt der Viper nichts anderes übrig, als vorwärtszustreben. Stets an der Wand entlang bewegen wir uns in Richtung Einfahrt. Die gewichtige Plane hochzuhalten fällt mit der Zeit schwer, denn die in Schulterhöhe ausgestreckten Arme drohen nachzugeben. Aber sie ist mein Schutzschild gegen tödliche Bisse und dient dazu, der Schlange die gewünschte Richtung zu weisen. Sie scheint sich mit der Zeit an das sie bedrängende grüne Objekt zu gewöhnen, denn ich muss sie einige Male zum weiterschlängeln anstupsen. Das gefällt hinwieder ihr gar nicht, sie schnellt hoch und versucht ihre Giftzähne blitzschnell in das sie bedrohende Tuch zu schlagen. Das leistet aber Widerstand und lässt sie abgleiten. Ich erschrecke über diesen plötzlichen Angriff derart, dass ich nach rückwärts springe. Mein gesamter Körper ist auf einmal in Schweiß gebadet. Ich bedaure, dass mich niemand sieht, wie heldenhaft und strategisch durchdacht ich das gefährliche Tier kontinuierlich weiter zum Eingangstor treibe. Die durch das Befahren der Einfahrt entstandenen flachen Spurrinnen unter dem Tor bieten der Schlange Gelegenheit, flugs nach außen in die Freiheit zu gelangen. Erschöpft, aber zufrieden kehre ich in die Gaststube zurück und bereite mir zur Erholung einen ausgiebigen Pastis 51. Meine sonst so ruhige Hand, die mich unter normalen Umständen als zielsicheren Schützen ausweist, zittert beim Einschenken.
Gegen Abend, nach einem beschaulich verbrachten Nachmittag, nütze ich die Abwesenheit meiner Wirtsleute und starte den Fernseher in ihrem Wohnraum. Auf allen erreichbaren Sendern wird medienwirksam über die Ausbreitung des COVID-19, dem Coronavirus berichtet. Im Fernen Osten nimmt die Anzahl der Neuansteckungen langsam ab, China kehrt vorsichtig zur Normalität zurück. Doch die Pandemie wandert schnell nach Westen. Ich bin wieder einmal glücklich, mich hier in einem riesigen Landstrich aufzuhalten, der bis jetzt kaum davon berührt wird. Vom Norden, der Küstenländer am Mittelmeer, wird von derzeit fünftausend Kranken mit nur wenig täglichen Neuinfektionen berichtet. In der lebensfeindlichen Sahara dazwischen kann kein Virus oder Keim ohne Wirt überleben. In den angrenzenden Sahelstaaten Mali, Niger und Tschad gibt es bis heute nur relativ wenige gemeldete Infektionen. Doch bereiten mir die oft widersprüchlichen Nachrichten aus Europa Sorgen. Da leben Verwandte, Freunde und mir lieb gewordene Menschen in Gefahr. Aber es ist unmöglich, von hier aus etwas zu ändern. Den Meldungen zufolge hat Österreich die Krise vorbildlich gemeistert. Spät kehre ich in meinen Turm zurück und stelle das geladene, aber gesicherte Gewehr in Griffweite neben das Bett.
Im Morgengrauen werde ich von ungewohntem Motorenlärm geweckt. Ein kleiner Konvoi bewegt sich von der Hauptpiste auf die Auberge zu. Ein Geländefahrzeug, ein Bus und ein LKW. Ich springe in Hose und Hemd und laufe die Stiegen hinunter, dann durch den Hof und öffne das Einfahrtstor. Der Geländewagen fährt herein. Langsam verzieht sich der durch die Fahrzeuge hochgewirbelte Staub, so sehe ich den Bus und den LKW rechts von der Piste halten. Die Leute bleiben in den Gefährten sitzen und machen keine Anstalten hereinzukommen. Das Tor lasse ich offen und wende mich den neu Angekommenen zu. Mitten im Hof haben sie angehalten. Zwei Männer steigen aus dem Auto, das einem Mercedes G, bis auf die etwas glattere Motorhaube, zum Verwechseln ähnlich ist.
Einer der Ankömmlinge scheint, nach seinem Burnus zu schließen, ein Berber aus dem Norden zu sein, der andere trägt eine Khakihose, darüber eine kurzärmelige Tropenjacke mit überdimensionierten aufgesetzten Taschen, wie man sie von den Uniformen britischer Offiziere im Tropendienst kennt. Beide haben gegen Staub und Hitze ihre Köpfe turbanartig mit Tüchern verhüllt, der größere trägt eine dunkle Pilotenbrille. Wir reichen uns die Hände, wobei sich die Herren mit ihren Namen vorstellen, die ich aber nicht verstehe. Auf meine Frage, ob die anderen aus dem Bus und dem LKW nicht hereinkommen wollen, bedeutet man mir mit einer Handbewegung, dass die draußen bleiben. Ich lade die beiden in die Gaststube ein.
Kaum haben wir den Raum betreten, nehmen sie ihre Verhüllungen ab. Der Große ist unverkennbar chinesischer Herkunft. Er lächelt, weil er meinen erstaunten Gesichtsausdruck sicher als Erschrecken deutet. Es ist ihm bewusst, dass sie wegen der Pandemie im Moment stigmatisiert sind. Aber da kein Mitglied seiner Truppe seit vielen Monaten in China war und die Kommunikation mit der Heimat und den Dienstgebern in Algier nur auf elektronischem Weg stattfindet, könne man die Möglichkeit von Infektionen ausschließen. Ich biete ihnen Kaffee an, den sie gerne annehmen. In der Zeit, in der wir auf das Kochen des Wassers warten, erklärt mir der Asiate, dass er und seine Leute seit zwei Jahren ohne Unterbrechung in einem Wüstenort der nördlichen Sahara, ein Paar Kilometer östlich von Quargla, leben. Er selbst ist Ingenieur, die anderen sind Spezialisten auf verschiedenen technischen Gebieten. Sie sind am Weg zu ihrem neuen Betätigungsfeld im Tschad.
Ich serviere den Kaffee und versuche, mehr Informationen zu erhalten. Die Männer sind auf der Tanezrouft vom Norden gekommen, haben irrtümlich eine Abkürzung genommen und deshalb Bordji Mokhtar in der Nacht verpasst. Es war ursprünglich geplant, dort Wasser aufzutanken, aus diesem Grund sind die Tanks jetzt leer. Ich gehe das Dieselaggregat hochfahren, damit die Wasserpumpe ausreichend mit Strom versorgt wird, und zeige dem Beduinen die Stelle, wo er nachfüllen darf. Auf einen Ruf von ihm steigen die Passagiere aus dem Bus und schleppen Kanister und Gerbas heran. Ich begebe mich wieder in die Gaststube zu dem chinesischen Ingenieur. Auf meine Frage, wie es seine Landsleute in seiner Heimat geschafft haben, die Kette der Ansteckungen zu unterbrechen, meint er, dass man in China neben modernster Medizin auf alte Gepflogenheiten wie Qi-Gong und andere traditionelle Methoden setzt. Mehr ist meinem asiatischen Gegenüber nicht zu entlocken. Da unterbricht der Beduine mit der Meldung, dass man zur Weiterfahrt bereit sei. Ich weigere mich, Geld für Wasser und Kaffee zu nehmen, in der Hoffnung, damit bei den Mouloudjies Verständnis zu finden. Die beiden werden von mir zu ihrem Wagen begleitet. Am Weg dorthin verbirgt der Chinese wieder sein Gesicht unter dem langen Tuch, das er um seinen Kopf wickelt.
Nachdem ich vom Versperren des Tores zurückkomme, liegen auf dem Tisch mit einer Kaffeetasse beschwert, ein paar größere Scheine Francs-CFA. Absolute Stille herrscht wieder. Eine dicke Fliege summt laut durch den Raum, von kurzen Landungen unterbrochen, und nimmt damit der Ruhe ihre Bedrohlichkeit. So lästig solche Brummer sein können, bedeutet doch ihr Geräusch in der sonst toten Umgebung Leben. Mein Plan, in der kühlen Jahreszeit die Rückreise nach Europa anzutreten, ist durch die Coronakrise durchkreuzt. Im Norden Algeriens steigt die Anzahl der Infektionen mit über fünfhundert täglich schlagartig rasant an, wogegen sich in den Sahelstaaten Niger und Tschad der Stand von jeweils insgesamt zehn, bzw. drei gemeldeten Kranken recht stabil hält. Je nach Route durch die Sahara wäre ich gezwungen, durch Frankreich oder Italien zu fahren. Zwei Länder, die von der Pandemie extrem gebeutelt werden. Ich beschließe, etwas zuzuwarten. Die kurze Erklärung meines chinesischen Gastes lässt mich nicht los. Greifen heute noch immer die medizinischen Erfahrungen aus ein paar tausend Jahren? Die europäische Kultur ist zwar nicht annähernd so alt wie die der Asiaten, eigentlich sollten da ebenfalls Erkenntnisse aus vielen Jahrhunderten vorhanden sein und wirken. Mich befallen ketzerische Gedanken. Könnte es sein, dass die Rebellen der Aufklärung in ihrem Bemühen übertrieben haben? Oder ist den Protagonisten der Bewegung die Kontrolle über ihr löbliches Werk entglitten? Haben Eiferer aus der Philosophie der Aufklärer die Berechtigung zu radikaler Eliminierung uralten Volkswissens konstruiert? Wie kann es sonst geschehen, dass China fortschrittlicher und stärker als die gesamte westliche Welt aus dieser Pandemie aussteigt? Das Reich der Mitte hatte sich unter den verächtlichen Blicken Europas gegen die Aufklärung gewehrt und damit das Wissen über die Zusammenhänge in der natürlichen Heilkunst und Esoterik bis heute, trotz Maos Kulturrevolution, bewahrt.
Müdigkeit übermannt mich. Die Überlegungen und Gedanken entwickeln ein Eigenleben, und drehen sich in meinem Kopf im Kreis. So schultere ich das Gewehr und gehe in den Schuppen, um das Stromaggregat abzustellen. Ruhebedürftig erklimme ich wieder den Wohnturm. Vor dem Einschlafen plagt mich das Gewissen, denn ich sollte morgen an den Erinnerungen weiterarbeiten:
Sanddüne
Wir hatten anstrengende, turbulente, aber höchst aufregende Tage in dem Dorf Begouro-Tondo-Kangee mit dem Zauberer Yabila verbracht. Die Ausbeute unserer Arbeit für die Feldforschung hat alle Erwartungen übertroffen. Trotz der in den weiß überzogenen, kühlen Betten im Hotel wunderbar durchgeschlafenen Nacht, machen sich noch immer Symptome von Erschöpfung breit. Unsere Stimmung war labil, schwankte zwischen Euphorie und Schwermut. Einhundert und fünfzig Kilometer Piste waren bis Niamey zu bewältigen. Die führte in einiger Entfernung am Fluss Niger entlang und war eine der Hauptverbindungen von der Provinz Tillabéri nach der Hauptstadt. Von den viele Tonnen schweren LKWs mit übergroßen Rädern zügig befahren, hatten sich betonharte Sandwellen, die bekannten Tôle ondulées gebildet.
In großer Sorge um unser dürftig motorisiertes Auto gab ich Vollgas, das der IFA brav annahm und, trotz schwerer Ladung, nach relativ kurzer Zeit auf siebzig Kmh beschleunigte. Es war angeraten, diese Reisegeschwindigkeit konstant einzuhalten, denn langsamer wurde das Fahrzeug derart durchgebeutelt, dass die Karosserie zu zerfallen drohte, sowie unsere hoch technisierten Geräte gefährdet waren. Um das erforderliche Tempo zu erreichen, benützte ich mit zwei Rädern den äußersten rechten ebenen Rand der Piste, dort wo sich kein LKW hin verirrt. Dieser schmale Streifen ohne Wellblech zwischen Fahrbahn und Savanne barg eine Gefahr, tiefe Querrinnen, entstanden durch abfließendes Regenwasser von der Piste. Die ohnehin schon geschwächten Stoßdämpfer hätten die Fahrt über so einen Graben nicht mehr durchgehalten. Die linken Räder auf der Wellblechpiste, die rechten auf relativ glattem Grund jagte ich den F 9, konzentriert auf Querrinnen achtend, binnen eines Kilometers auf Reisegeschwindigkeit. Erstaunlich, wie brav der IFA lief. Bis zu dem Moment, an dem er kein Gas mehr annahm. Bevor das Auto endgültig stehen blieb, rumpelte es gewaltig. Der Motor verweigerte nach mehrmaligen Startversuchen den Dienst! Er pfiff uns was, im wahrsten Sinne des Wortes, denn er gab bei jeder Umdrehung pfeifende Geräusche von sich.
Da standen wir, verlassen inmitten des afrikanischen Buschs und stellten gemeinsam deprimierte Überlegungen über den Sinn dieser Reise an. Oder darüber, warum wir uns das antaten. Lethargisch und in hoffnungslosen Trübsinn versunken, unternahm niemand etwas zur Rettung der Situation. Banjou, der junge Dolmetscher verstand dieses Gehabe überhaupt nicht. Er war Afrikaner, den solche minimale Probleme nicht aufregten. Entgegen unserer Apathie wurde er aktiv und meinte, ob er nicht nach Tillabéri zurückgehen und Hilfe holen soll. Kraftlos wünschten wir ihm Glück und ließen ihn laufen.
Nachdem wieder Ruhe eingekehrt war, hörten wir rundherum im Busch das unverkennbare Geräusch von Perlhühnern. Mackie schnappte sich ein Schrotgewehr und überprüfte den Inhalt einer Schachtel Munition. Die beinhaltete neben Patronen mit 2,5mm-Schrot zwei mit Posten, das waren Bleipatzen, mit denen man Wildschweine erlegen oder sich gegen Angriffe wilder Tiere effizient zu wehren vermag. Dann begab er sich auf Jagd nach Perlhühnern. Ein Unterfangen, dem wir keinen Erfolg gaben, denn diese Laufvögel bemerken das Herannahen einer möglichen Gefahr auf größere Entfernung und flüchten zu Fuß, oder aufgeregt flatternd fliegend, so zeitgerecht, dass man unmöglich zu einem Treffer kommt.
Kopecky und ich saßen im Schatten einer notdürftig zwischen Auto und zwei Kanistern gespannten Decke. Kettenrauchend, teilnahmslos und schwitzend harrten wir über Stunden der Geschehnisse, die da kommen sollten. Die Gruppe Perlhühner war weitergezogen, es herrschte absolute Stille, untermalt vom beständigen Summen der Fliegen, die, angelockt durch den Geruch von menschlichem Schweiß, in uns Kadaver vermuteten. Wir hörten ein Geräusch kräftiger Schritte und mussten die Augen Richtung Himmel heben, zwei Giraffen stolzierten in wenigen Metern Entfernung vom Lager vorbei. Sie hielten an, um uns von oben herab zu betrachten. Kopecky tastete vorsichtig nach seiner Kamera, da ertönte aus weiterer Distanz ein Schuss, und gleich drauf ein zweiter. Die Giraffen setzten sich erschrocken, mit großer Eleganz in Bewegung und flüchteten.
Giraffen flüchten
Dann herrschte wieder endlos lang Stille, in der wir rätselten, ob Mackie sich selbst entleibt hat? Nach reiflichem Nachdenken schlossen wir diese Möglichkeit aus, denn wie hätte er in so einem Fall einen zweiten Schuss abgeben können? Langsam näherte sich die Sonne dem Horizont, die Farben von Busch und Gras, einiger Blüten, sowie der rote Sand der Straße schienen kräftiger zu leuchten. Sorge um Mackie und Banjou kam auf. Weit entfernt erschien auf der schnurgeraden, vor Hitze flirrenden Piste eine Gestalt, die sich langsam in unsere Richtung bewegte. Durch das Swarovskifernglas blickend erkannten wir Mackie. Es dauerte einige Zeit, bis er bei uns eintraf. Mit seinem australischen Rangerhut, dem Gewehr schräg über der Schulter und einer Machete am Gürtel hängend, erinnerte er an Crocodile-Dundee. Er schleppte zwei Perlhühner daher, die er uns mit sichtbarem Stolz und unnachahmlicher Arroganz vor die Füße warf, und sich selbst gleich auf die Gerba, aus der er lange, ohne abzusetzen trank. Seine Erschöpfung war ihm deutlich anzusehen, denn er hatte sich zur Rückkehr aus dem Busch an der Sonne orientiert, dabei aber deren natürlichen Gang nicht eingerechnet. Was ihm einen Umweg von ein paar Kilometern einbrachte.
Bald darauf sahen wir ein Fahrzeug aus dem Norden herankommen. Banjou hatte in Tillabéri einen Mechaniker gefunden, einen Europäer, der einen Pick-up als Abschleppwagen besaß. Wir packten alles Gepäck aus unserem Auto auf die Ladefläche des Werkstattwagens. Der IFA wurde mit einem Seil angehängt, da jede andere Methode wegen des geringen Bodenabstands unmöglich war. Für mich folgte eine höllische Fahrt im IFA. Der Schlepper konnte mit dem anhängenden Fahrzeug nicht dieses Tempo fahren, das notwendig gewesen wäre, um über die Wellblechpisten hinwegzugleiten. In einer dichten Sandwolke sitzend, die mir Sicht und Atem nahm, bekamen ich und unser geplagter F 9 jede Bodenwelle wie Hammerschläge zu spüren. Das Auto tanzte auf der Straße wie ein Motorboot bei hohem Wellengang von links nach rechts. Auf Lenkeinschläge reagierte es überhaupt nicht mehr.
Bei Dunkelheit erreichten wir unser Ziel. Das bestand aus einem kleinen Wohnhaus, einem großen Hof dahinter und einer gedeckten, zur Platzseite offenen Werkstatt. Diese und der von Mauern begrenzte Platz davor waren notdürftig elektrisch beleuchtet. Völlig durchgebeutelt und Sand zwischen den Zähnen stieg ich von leichtem Schwindel erfasst aus. Der eingeebnete Sandboden des quadratischen Hofes war dunkel mit Motorenöl getränkt und festgetreten. Auf einer Seite lagen traurig ein paar Autowracks. In der Werkstatt setzte sich der ölige Boden fort. Dort war er tiefschwarz, und kleine, mit Öl gefüllte Pfützen verteilten sich über die gesamte Fläche. Im langgestreckten Raum standen eng gedrängt verschiedene größere Werkzeugmaschinen. Ausgebaute Automotoren, Getriebe und deren Teile lagen wahllos verstreut herum. An den Wänden zeugten leere Haken von ehemaliger Ordnung. An diesen hingen einmal griffbereit Schraubenschlüssel, Zangen und anderes Werkzeug.
Monsieur Goll, wie der Mechaniker hieß, schraubte sofort den Zylinderkopf ab und wir sahen die Katastrophe. Die Dichtung war gerissen und zerfiel beim Herunternehmen in einzelne Teile. Unsere Reservedichtung war schon in Kerzaz verbraucht worden. Aber wir wären nicht in Afrika, hätte es nicht eine Lösung für dieses Problem gegeben. Monsieur Goll, ein typischer „Petit blanc“, griff zuerst einmal in den mit schwarzem Öl verschmierten Kühlschrank und reichte jedem eine Flasche kühles Bier. Unsere Stimmungslage besserte sich dadurch entschieden. Aus einer dunklen Ecke holte er eine flache Platte aus biegsamem Asbest, das mit einer dünnen Kupferschicht überzogen war. Er könne daraus eine neue Dichtung schneiden und das Auto wäre morgen früh abzuholen. Wir schenkten ihm die zwei von Mackie geschossenen Perlhühner und marschierten in die uns schon bekannte Herberge.
Der Himmel am folgenden Morgen war bedeckt, die Luftfeuchtigkeit hoch. Trotz der frühen Stunde klebten die Hemden nach wenigen Schritten am Körper. Der Weg zur Werkstatt, wo wir das Auto mit unserem gesamten Hab und Gut zurückgelassen hatten, war deshalb mühsam. Monsieur Goll empfing uns froh gelaunt und ausgeschlafen. Ohne Auftrag hatte er den IFA in der Nacht überholt, und erzählte uns das mit Stolz in der Stimme. Die Zündkerzen waren gewechselt, die Bremsleitung repariert und alle Düsen und Filter gereinigt worden. Selbst die Hecktüre schien wieder besser zu passen. Der F 9 stand abfahrbereit im Hof. Wir hatten den Eindruck, er würde lächeln und sich freuen, seine Quälgeister wiederzusehen. Oder haben wir nur unsere eigenen Gefühle auf den Genesenen projiziert? Der Schreck über die sicher enorme Rechnung blieb aus, es wurden nur die Materialkosten verrechnet. Die Arbeit an dem seltenen Zweitakter hätte dem Meister Freude bereitet, außerdem wären wir ihm sympathisch. Gerne nahmen wir dieses Entgegenkommen an und bedankten uns überschwänglich.
Schon beim Anlassen des Motors, selbst die Batterie schien frisch geladen zu sein, empfand ich ein feines Glücksgefühl, das sich bei den ersten Metern Fahrt verstärkte. Der IFA reagierte wie neu, die Lenkung ging leichter und die Bremsen schlugen minutiös an. Unterwegs beobachtete ich meine Freunde aus den Augenwinkeln. Schon lange hatten sie nicht mehr so heitere und zuversichtliche Gesichter. Die Männer vermittelten Stolz, als hätten sie die Reparaturen selbst geschafft, und die Gewissheit, dass sich die Anstrengungen mit dem Zweitakter doch lohnen würden.
Wir hatten die Fahrt über Glück, denn erst vor Niamey überraschte uns ein Tornado, gewaltige Wassermassen stürzten aus den Wolken. Wenige Kilometer vor der Stadt bekamen wir endlich Asphalt unter die Räder. Die Scheibenwischer vermochten die Mengen Wasser, die vom Himmel fielen, nicht bewältigen, sodass wir stehen blieben und abwarteten, bis das Ärgste vorbei war.
Der Tornado ist vorbei
Binnen weniger Minuten ließ der Regen nach, die Sicht wurde besser, nur die Straße war unter dem entstandenen Sturzbach nicht mehr zu sehen. Ich tastete mich an die Stadtgrenze heran, dann fuhren wir bis zum großen Markt, wo die Sonne wieder schien, als gäbe es keine Regenzeiten. Dort ließen wir Banjou aussteigen, von wo er nicht weit nach Hause hatte. Die Straße dampfte durch die Hitze, und beim Eintreffen im Domizil der Expedition war alles rundherum staubtrocken. Schani und Walter haben in unserer Abwesenheit auf das Haus gut aufgepasst. Die Haupträume waren trotz der Regenstürme trocken geblieben. Schani empfing uns in der Badehose, Walter brutzelte in der „Küche“ im Hof seine bewährten Palatschinken aus Mehl und reinem Wasser.
Walter konnte auch Nudeln kochen.
Die „Küche“ hinterm Haus
Der Kassenwart sparte weiter, obwohl Alkaïdi Touré die erste Rate von den versprochenen 120.000 CFA für Père Ubu bezahlt hatte. Aus Vorsicht wollten wir ihm das Auto aber nur dann geben, nachdem es ausbezahlt war, und das möglichst kurz vor unserer Weiterfahrt nach Süden. Würde er in der Zwischenzeit wild im Busch herumfahren, bestünde die Gefahr eines neuerlichen Achsbruchs. Ein solcher wäre für den Humber letal gewesen. Obwohl, unbeladen hätte er zweifelsfrei mehr ausgehalten. Aber, sicher ist sicher. Wir verspeisten gemeinsam die von Walter hergestellten, etwa einen Zentimeter dicken Mehlfladen, die er Palatschinken nannte. Mit dem Öl aus der Sardinendose bestrichen und mit Sardinen belegt eine Köstlichkeit. Die Unterscheidung, ob der gebackene Teig, oder das Rückgrat und die Gräten der Fischlein zwischen den Zähnen mehr knirschten, war nicht leicht zu finden. Walter hat in einer Anwandlung von Selbstverleugnung einen fünf Liter fassenden Bonbon französischen Kiravi-Rotwein auf den Tisch gestellt, der die Verdauung der Billigsardinen, und die Erzählungen beflügelte.
Nach dem verspäteten Mittagessen gab es die heißersehnte Siesta. Es wurde später Nachmittag und etwas kühler in unserem Gemäuer. Nicht nur ich, ebenso Schani und Walter waren auf die Ausbeute der Reise gespannt. Da Kopecky seine Fotofilme in dieser kurzen Zeit nicht zu entwickeln vermochte, stemmte ich das Magnetophon auf meinen Arbeitstisch und legte das erste Band ein. Herzzerreißendes Jaulen erfüllte den Raum. Selbst wiederholtes Rückspulen und neuerliches Einlegen des Tonbandes, sowie mehrmaliges Starten mit dem Schaltknebel brachte keinen geraden Ton zustande. Nervös nahm ich ein älteres, längst geprüftes Band, erzielte damit aber genau denselben Effekt. Der Belgier Schani meinte trocken, dass das „schlimm“ klänge, Walter blickte schweigend tiefernst, Kopecky grinste unverschämt und Mackie gab mir solch technische Ratschläge, wie sie nur von einem gelernten Kaffeesieder stammen konnten. Ich selbst fühlte mich gar nicht wohl in meiner mit Schweiß überzogenen Haut, der sich mit jedem neuerlichen Startversuch vermehrte. Die vier Herren verzogen sich in ihre eigenen Abteilungen, schweigend, ohne ein Wort des Trostes. Im Geiste sah ich mich kleinlaut in Wien in den heiligen Hallen des Phonogrammarchivs in der Liebiggasse, umringt von Mitgliedern der Akademie, die je nach Temperament böse, ernst oder mitleidig reagierend dem Gejaule aus den Lautsprechern lauschten. Kein Albtraum kann schlimmer sein. Allein gelassen ging ich trüben Sinnes daran, das Gerät zu zerlegen. Nach einigem Suchen fand ich die Ursache meiner Verzweiflung in der ausgeleierten Rutschkupplung. Sie musste gegen eine neue getauscht werden. Ersatz aus Wien schicken zu lassen, würde etwa drei Wochen dauern.
Abends folgte ich in gedrückter Stimmung meinen unbeschwert plaudernden Freunden zu einer Einladung auf einen Drink bei Louis Mouren, dem Apotheker. Irgendeine Fügung brachte es, dass der schadhafte Gummiring in meine Hosentasche gefunden hatte. Nach dem zweiten Whisky zeigte ich diesen dem Hausherrn. Der stieg mit mir in seine Werkstatt hinunter, wo wir einen zumindest ähnlichen Ring aus Gummi fanden. Das war ein zarter Hoffnungsschimmer. Wieder zu Hause angekommen nahm sich unser technisch Begabtester, Hans Kopecky, des Werkstücks an. Mittels einer Rasierklinge fertigte er eine annähernd perfekte Kopie des Originalteiles an. Meine Empfindungen zu diesem Erfolg waren leicht ambivalent, denn dadurch hatte der Fotograf bei mir einen Gutpunkt. War mir in dem Moment auch egal. Ich baute das Teil ein. Damit war der Erfolg der Expedition vorläufig wieder einmal gerettet.
In dieser Situation wurde überlegt, wie wir unsere Arbeit, für die zu diesem Zeitpunkt kein Ende abzusehen war, mit einem Auto und fünf Mann gestalten können. Wir hatten an die sechshundert Kilometer afrikanischer Pisten mit einigen Arbeitsplätzen vor uns. Das Platzangebot im IFA für alle Expeditionsteilnehmer mit gesamtem Arbeitsgepäck war zu gering. Wir beschlossen, unseren Sparmeister Walter, per Flug nach Hause zu schicken, wo er die medienwirksame Rückkehr der Expedition vorbereiten sollte. Nur ungern übergab er den Geldbeutel an Mackie, da er sofortiges Verprassen des Schatzes befürchtete. Eine Sorge, die er gleich, fast beleidigend, offen kundtat.
Die Zeit bis zu unserer Abfahrt nach Süden verbrachten wir nicht untätig. Wir lernten Boubou Hama kennen, einen intellektuellen Schriftsteller sowie Politiker und besuchten ihn in der von den Franzosen geduldeten und beaufsichtigten Assamblé National, in der er eine gewichtige Rolle spielte. Er war Mitglied der großen Volksgruppe der Djerma, deren Sprache ich in einem akustischen Diktionär festhielt. Wir fanden einen aufgeweckten Mittelschüler, perfekt in französischer und seiner Muttersprache. Eine recht langwierige und langweilige Arbeit, an der Mackie schnell die Lust verlor. Wir brachen nach den Buchstaben C ab. Ich hätte diese Übersetzung gerne bis zum Ende des Alphabets gebracht, aber andere Tätigkeiten, wie die Vorbereitungen für die Weiterfahrt, nahmen meine Zeit voll in Anspruch.
Akustische Übersetzung der Djermasprache
Wir gaben Zeitungs- und Radiointerviews, und stellten uns sonst recht wichtig dar. Alles das schon in der Absicht, dieses fabelhafte Land, in dem es Wüste, Gebirge, Steppe, Busch und einen in seinem Umfang eher bescheidenen Urwald gab, unbedingt wieder zu besuchen. Mit den für jeden Landesteil typischen ethnischen Besonderheiten, war dieses Land für unsere Arbeit von hohem Interesse.
Interview in Radio Niger
Der Tag der Abreise kam immer näher, Alkaïdi Touré holte Père Ubu ab und brachte das Restgeld in bar mit. Ich versuchte meine Emotionen durch Geschäftigkeit zu unterdrücken, letztlich war der Humber das allererste eigene Auto in meinem Leben. Walter wurde zum Flugplatz gebracht und mit vielen positiven Wünschen in das Flugzeug der Air France gesetzt. Das persönliche Equipment reduzierten wir auf das Nötigste. Es folgten nicht wenige beachtenswert feuchte Abschiede von unseren neu gewonnenen Freunden in Niamey, und wir verließen alle mit dem ehrlich gemeinten Versprechen, wiederzukommen.
Fotos alle Rechte: H. M. Prasch, Diktionär: Phonogrammarchiv der Akademie der Wissenschaften
Heute ist ein wunderschöner Tag, trotz intensiver Sonneneinstrahlung etwas kühler als die vorhergegangenen. Michelle und François haben zeitig am Morgen aus Tessalit angerufen und ihre voraussichtliche Ankunft gegen Abend mitgeteilt. Ich nütze die Zeit bis zu ihrem Erscheinen und gehe die von mir benützten Räume aufmerksam durch, wobei ich an einigen Stellen angesammelten Sandstaub wegwische. Das Haus soll ihnen makellos übergeben werden. Es wäre möglich, dass ich etwas liegen gelassen, gebrauchtes Geschirr nicht abgewaschen und nicht an seinen Platz gestellt habe. Nach dem Zurechtrücken der Stühle im Gastraum und in der Küche verziehe ich mich zufrieden in mein Turmverlies. Es bleiben ein paar Stunden bis zum Eintreffen der beiden, die ich mit Schreiben von Entwürfen für das nächste Kapitel verbringe.
In der Dämmerung des Abends treffen meine Wirtsleute ein. Müde und verstaubt von der anstrengenden Fahrt, aber gut gelaunt. Verschmitzt lächelnd überreichen sie mir eine Flasche Pastis 51 mit der Anmerkung, damit ich bei der Heimfahrt meine Kehle desinfizieren könne. Sie wissen, dass ich dieses Getränk liebe. Michelle zieht aus ihrer Tasche ein dickes Päckchen Nasen- und Mundschutzmasken und legt es neben die Flasche auf den Tisch. In Europa werde ich das sicher brauchen, meint sie. Bei einigen Fläschchen Bier der Brasserie Kronenbourg erzählen wir in kurzer Form unsere Erlebnisse der letzten Tage. Ich ändere den Plan für meine Abreise. Mich drängt es, vor der Rückkehr nach Europa noch etwas Zeit in der Wüste zu verbringen, um endgültigen Abschied von diesem Stück Erde voll unbegrenzter Wunder zu nehmen. Gleich morgen werde ich das Organisieren dafür angehen.
Nächster Abend in der Dämmerung. Ich werde voraussichtlich einige Tage unterwegs sein, wofür Vorbereitungen notwendig sind. François war so freundlich und hat schon am Morgen meinen Landrover durchgecheckt, wechselte sogar das Motoröl, prüfte die Luft im Reservereifen und das Werkzeug. Vorsorglich schenkt er mir ein Paket Dichtungsmittel für den Kühler. Die Gerba wird mit Wasser angefüllt und auf Flüssigkeitsverlust überprüft, indem sie einige Stunden gefüllt in der Garage hängt. Ich packe das Feldbett zusammen, zwei Decken und anstatt eines Kopfpolsters den Parka ins Auto. Die Sandleitern hängen festgezurrt an den Seiten des Autos, das Navi funktioniert. Michelle füllt in mütterlicher Fürsorge eine Metallkiste mit Lebensmitteln, die sicher für einen Monat reichen würden. Sie stellt die Vorräte in den Rover, denn dort ist es zu dieser Jahreszeit in der Nacht recht kühl. Ich reinige mein Jagdgewehr, die Munition dafür packe ich zu der Wäsche in den handlichen Koffer. Wiederholt fragt mich François, ob er nicht doch mitfahren solle. Ich verstehe seine Besorgnis, denn er kennt die Wüste wie kaum ein anderer Weißer. Aber ich wünsche mir ein paar Tage wieder das Gefühl der absoluten Ruhe und Stille in den einsamen Weiten der Sahara, sowie mittendrin ihre Vertrautheit zu erleben.
Vor dem ersten Morgengrauen versuche ich mich leise aus dem Haus zu bewegen. Doch alle Vorsicht ist vergebens. Im Gastraum, den ich zu durchqueren habe, steht schon Michelle, eine Kanne voll heißen Tees vor sich auf einem Tisch. Dazu hat sie ein Stück Baguette mit Paté de fois vorbereitet. Um sie nicht zu verletzen, nehme ich etwas Tee und ein paar Bissen des liebevoll bestrichenen Brotes. Beim Hinausgehen hält sie mich zurück, und drückt mir auf jede Wange einen Kuss. Eine überraschende Geste, die mich nachdenklich stimmt.
Endlich starte ich meinen Landrover. Im Licht der Scheinwerfer ist Michelle zu erkennen, die das Einfahrtstor öffnet. Im Vorbeifahren winke ich ihr zum Abschied durch das offene Seitenfenster zu. Schnell schließe ich es wieder, denn es ist an diesem Morgen empfindlich kalt. Bei der Hauptpiste angelangt, biege ich in Richtung Westen ab und nehme zügig Fahrt auf. Der Motor des Landrovers läuft gleichmäßig und bringt den Wagen rasch auf die notwendige Geschwindigkeit, die ihn über die harten Wellen der Piste fliegen lässt. Im Rückspiegel sehe ich am Horizont einen schmalen hellblauen Streifen, der den Tag ankündigt, vor mir herrscht tiefe Nacht. Ich darf im Licht der Scheinwerfer die nicht gekennzeichnete Abzweigung nach Norden nicht verpassen, die das Navi nicht anzeigt.
Bei hoher Reisegeschwindigkeit konzentriere ich mich auf die rechte Seite der Piste. Zwei vom Scheinwerferlicht geblendete Gazellen queren in Panik meine Fahrspur. Ich reiße das Lenkrad herum und verfehle nur knapp die erschrockenen Tiere. Gleich darauf taucht die Abzweigung nach Norden auf, erkenntlich an den die Piste markierenden Häufchen aus Sand und Steinen. Die Strecke ist schmal, mehr ein Fahrweg, was den Vorteil hat, dass dort selbst die Laster langsam fahren, wodurch sich das Wellblech nur wenig aufbaut.
Im Osten erhebt sich die Sonne rasch über den Kamm der Berge und in den ersten Strahlen werfen die in der Hamada herumliegenden Steine und trockenen Büsche scharf abgegrenzte Schatten. Ein einsamer Fennek schaut mich voll Interesse aus wenigen Metern Entfernung an, als ich knapp an ihm vorbeirausche, bleibt er ungerührt sitzen. Nur kurz deutet er eine Fluchtbewegung an. Sicher hat er in dem Moment eine Wüstenmaus zu seinem Frühstück im Visier. Es ist die Zeit am Morgen, in der die Tiere der Wüste unterwegs sind, bevor sie sich vor der glühenden Mittagshitze verkriechen. Die Piste wird immer schwächer erkennbar, bis sie nach einer kleineren Sandverwehung überhaupt verschwindet. Ich fahre durch einen abgelegenen Teil der Sahara, weit entfernt von Tourismus oder militärischem Übungsgebiet. Je tiefer ich in dieses, einem Reservat ähnlichem Gebiet eindringe, umso öfter treffe ich auf Gazellen und einige wenige Antilopen. Die äsenden Tiere werfen in der flachen Sonne unrealistisch verzerrte lange Schatten auf den steinigen Boden. Das von meinem Auto verursachte Fahrgeräusch veranlasst stört sie kaum, nur Vereinzelte heben kurz ihre Köpfe.
Gerne würde ich stehen bleiben, um diesen bezaubernden Anblick zu genießen, doch sobald ich anhalte, flüchten sie weit weg in die Wüste. Der Grande Erg macht sich am späten Vormittag, die Sonne steht schon hoch am Himmel, durch unregelmäßig auftretende Sandverwehungen bemerkbar. Meine Glückshormone schlagen förmlich Purzelbäume. Weit weg von politischen Querelen, Pandemie, Konsumwut und finanziellen Sorgen, wird das Gefühl von einer absoluten Freiheit zur Realität. Untermalt von dem verlässlich brummenden Motor des Landrovers, fühle ich mich sicher und geborgen. Ähnliches widerfuhr mir bei den Alleinflügen mit der alten Piper JP3C oder in Perú bei durch LSD-Einfluss beschwingten Fahrten mit meinem Jeep durch die Atacamaberge. Doch diese Erfahrungen dauerten jeweils nur wenige Stunden und waren Zwängen, wie vorgeschriebene Flughöhe und -zeit, beziehungsweise dem Nachlassen der Wirkung der Droge unterworfen. Einschränkungen, die hier durchweg nahezu wegfallen. Die Dauer meines Aufenthaltes in der Wüste bleibt mir allein überlassen und das Berauschende wird durch die Sahara selbst vermittelt.
Trotz der kühleren Jahreszeit brennt tagsüber unbarmherzig die Sonne. Ich beschließe, eine Mittagspause einzulegen. In der von Michelle gefüllten Metallkiste finden sich Lebensmittel, so sorgsam ausgewählt, dass sie dem edelsten Catering zur Ehre gereichen könnten. Zum Schutz gegen die Sonne spanne ich mittels zwei für diesen Zweck mitgeführten Holzstangen eine Zeltplane vom Dach des Rovers und mache es mir darunter bequem. Ich bin versucht zu dem auserlesenen Buffet eine Flasche Rotwein zu öffnen, befürchte aber davon müde zu werden, und trinke lieber kühles Wasser aus einer Gerba zum Essen. Der Sättigung folgt eine ausgiebige Siesta, die ich erst nach der größten Mittagshitze beende.
Die Hamada ist flach und größere Steine, die dem Auto gefährlich werden könnten, liegen gut sichtbar und nur vereinzelt herum. Ich strebe meiner ersten Nacht unter freiem Himmel entgegen und suche einen tauglichen Platz. Davon gibt es unendlich viele in der ebenen Wüste. Rundum nur Horizont. Somit bestimmt die Tageszeit den geeigneten Ort für die Nachtruhe zu finden. Im matten Licht der Dämmerung stelle ich mein Feldbett auf. Der Schlafsack wird gegen die Kälte der Nacht notwendig sein. Jetzt ist die Zeit für das Öffnen der Weinflasche gekommen. Der Korken wird zum Wiederverschließen sorgfältig gehütet. Mit dem Wein gibt es wieder ein paar Bissen von dem köstlichen Proviant und tiefer Friede bemächtigt sich meiner.
Inzwischen ist es schlagartig dunkel geworden. Touareg hätten ein Lagerfeuer angezündet, ich begnüge mich mit einer elektrischen Taschenlampe und der Innenbeleuchtung des Rovers. Das Feldbett steht eng am Auto, das gegebenenfalls vor aufkommenden Wind schützt. In greifbarer Nähe das geladene Jagdgewehr. Da die Luft noch recht warm ist, lege ich mich auf den Schlafsack und blicke in den unendlichen Sternenhimmel. Bis jetzt versteckt sich der Mond hinter dem Horizont, sodass selbst kleine und weit entfernte Sterne hell zur Geltung kommen. Großes Gedränge herrscht da oben bei den funkelnden Lichtern, viele liegen so eng beieinander, als wären sie miteinander verschmolzen. Nach kurzer Zeit zeigt sich der Mond im Geglitzer des Himmels und taucht die Wüste ringsum in unwirklich erscheinendes Licht. Aus weiter Ferne höre ich Schakale durch ihr unverkennbares Jaulen kommunizieren, manchmal durch Kläffen unterbrochen. Solche Raubtiere sind für den Teil der Sahara eher ungewöhnlich. Anscheinend hat sich die Mischung von Wolf und Wildhund vom Süden her in diese Enklave zu dem hier lebenden Wild durchgeschlagen. Ein sichernder Griff zum Jagdgewehr wirkt beruhigend. Das Zusammenspiel von Gestirnen und den Lauten der Tiere wandelt meine Zufriedenheit in selten woanders erfahrenes Glücksgefühl, lässt mich einschlafen. Die Arme lasse ich zur Vorsicht außerhalb des Schlafsacks, weshalb die Kälte mich bald weckt. Da keine Schakale mehr zu hören sind, schlupfe ich vollends in den Daunensack und schlafe tief dem Morgengrauen entgegen. Dass die kleinen Räuber gefährlich nahe im Dunkel der Nacht geräuschlos um mein Lager herumgeschlichen sind, erkenne ich an den zahlreichen Spuren, die sie im Sand hinterlassen haben.
Der Morgen ist kalt, der Himmel im Westen und ober mir schwarz, mit stets weniger werdenden Sternen. Im Osten wird es zügig heller. Das Feldbett und die anderen Habseligkeiten sind schnell im Auto verstaut, die Piste führt mich weiter in Richtung des westlichen großen Ergs. Die Sonne heizt schon heftig, die verdorrten Pflanzen und Büsche in dem Gebiet werden seltener. Gefährliche Steine auf der nicht vorhandenen Straße werden weniger. Ich fühle mich unbeschwert glücklich und steige aufs Gas. Das Navi hängt am Zigarettenanzünder und zeigt mir auf einer gelben Fläche ohne Merkpunkten recht genau die Fahrtrichtung an. Ungebremst fahre ich wie und wo es mir Spaß macht, und so schnell das Auto es vermag. Bis zu einer leichten Bodensenke, die sich von der Umgebung durch hellere Farbe unterschied, war es reiner Fahrspaß. Ach was, bedenkenlos drüber, bei dem Tempo ist das kein Thema! Typischer Fehler, den in der Wüste nur Anfänger machen. Der Wagen wird langsamer, gräbt sich in den losen Flugsand ein, ruckelt ein paarmal, und bleibt stehen. Mitten drin. Kein Problem, der Landrover hat ein Zwischengetriebe, das die volle Motorkraft auf die Räder bringt. Ich schalte es ein, der Motor startet anstandslos und der Wagen bewegt sich. Aber nicht in Fahrtrichtung, sondern auf allen vieren senkrecht in Richtung Erdmittelpunkt. So lange, bis die gesamte Karosserie voll aufsitzt.
Jetzt kommen mir meine Erfahrung der früheren Fahrten durch die Sahara zu Hilfe. Das bedeutet aussteigen, Sandbleche abnehmen, Schaufel in die Hände nehmen und graben. Reine Routine. Der schwere Wagen bewegt sich vorwärts, immer um eine Länge der Bleche von zwei Metern. Und das mehrmals hintereinander. Das steht in keiner Relation zu den einhundertsechzig Kilometern Fahrleistung der letzten Stunden. Geduld ist eine der wichtigsten Tugenden in Afrika, doch angesichts der Ausdehnung des Sandfeldes und der Strecke, die vor mir liegt, wird sie erheblich auf die Probe gestellt. Im Laufe des ungezählten Grabens, die Bleche legen, einsteigen, den Motor starten, zwei Meter fahren, aussteigen, wieder schaufeln, wird es Mittag. Die Sonne steht im Zenit. Sind seit meiner letzten Wüstenfahrt während der Jahre in Europa wichtige Erfahrungen verloren gegangen? Der Rover und ich werfen kaum Schatten, verschwitzt arbeite ich verbissen weiter.
Eben ist das rechte Vorderrad dran, freigeschaufelt zu werden. Da vermeine ich, schlagartig auf einem im Sturm schlingernden Schiff zu sein. Der Schwindel ist so heftig, dass ich am Kotflügel entlang zu Boden gleite und im heißen Sand sitzen bleibe. Ringsum gibt es nur bewegte See vortäuschende Fata Morgana. Benommen verbringe ich hockend eine Weile regungslos, den Kopf fest gegen das Autoblech gedrückt, denn nur dann dreht sich die Wüste nicht wie ein Karussell. Intensiver Durst macht sich immer quälender bemerkbar. Ein Versuch, die hoch oben am Wagen hängende, mit kühlem Wasser gefüllte Gerba zu erreichen, scheitert auf halben Weg. Schnell lasse ich den Halt bietenden Rückspiegel wieder los und falle in die sichere Sitzposition zurück. In der verbleibe ich, damit das Gleichgewicht bewahrend. Der Schweiß verdunstet, das Hemd trocknet in der glühenden Sonne. Langsam regt sich leises Angstgefühl, das ich zu unterdrücken suche. Mittlerweile erscheinen die in Afrika allgegenwärtigen Fliegen. Sie sind lästig und lassen sich nur für Sekunden vertreiben. Frech versuchen einige, etwas von der Flüssigkeit meiner Augen zu ergattern. Diese Insekten sind es, welche Infektionen übertragen, die bei vielen Kindern in Afrika zur Blindheit führen. Zwinkern der Augenlider stört sie nicht, ich scheuche sie mit den Händen, auf deren verschwitzten Rücken Sand vom Graben klebt. Eine Fliege sitzt auf meinem angewinkelten Knie und putzt sich, indem sie ihre Vordergliedmaßen, die Organe für ihren Geschmackssinn, verschränkt bewegt. So wie ein seiner Verantwortung bewusster Bürger gründlich die Hände wäscht, um sich vor Krankheiten zu schützen. Dieser Gedanke wird immer zwingender und erhält eine Wichtigkeit, die sämtliche anderen möglichen Einfälle ausschließt. Händewaschen, es wiederholt sich endlos, wie ein Mantra, Händewaschen, Händewaschen klingt es ausschließlich, allen verfügbaren Platz weiteren Denkens für sich einnehmend. Endlich wird es sogar den Fliegen in der prallen Sonne zu heiß und sie verstecken sich an irgendeinem Ort im spärlichen Schatten eines Spenders, den es gar nicht geben kann. Dafür rasen rötliche Silberameisen in unerhörter Geschwindigkeit um mich herum, die einzigen Tiere, welche die Mittagssonne in der Sahara zum Futter sammeln nützen, weil sie da vor Fressfeinden sicher sind. Hochbeinig, um den Körper vor Verbrennungen durch den glühend heißen Sand zu schützen, jagen sie scheinbar sinnlos Haken schlagend durch die Gegend. Nur meinen Kopf nicht bewegen. Überhaupt alles stillhalten und Kraft sparen. Die in der Wüste lebenden Touareg stellen in solchen Situationen möglichst viele Körperfunktionen ein, damit sie ja keine Flüssigkeit verbrauchen, und so Chancen haben zu überleben.
Wie ich so dahin döse, fällt mir mein vor vielen Jahren verstorbener Freund Max (Mackie) Lersch ein, dessen Asche im l‘Aïr ausgestreut wurde. Etwa tausend Kilometer Luftlinie liegen dazwischen, aber hier in der Hamada, herrscht die gleiche Ruhe und Einsamkeit, wie dort im Gebirge. Somit würde ebenfalls ich die enge Verbundenheit zur Sahara mit den Überresten meines Körpers dokumentieren, sollte ich das Leben an dieser Stelle hier aushauchen. Ich versuche Schatten unter dem Auto zu finden, doch da ist kein Platz zwischen Sand und Karosserie. Es scheint mir bestimmtes Schicksal zu sein, hier mit geschlossenen Augen in der Sonne zu verdorren. Händewaschen halluziniert es in mir, immer wieder Hände waschen. Spitze Schmerzen in meinem Fußgelenk bringen mich etwas in die Wirklichkeit zurück. Verursacht durch Schrauben, Platten und Nägel, die man mir vor vielen Jahren wegen eines Drehbruches auf und in die gesplitterten Knochen montiert hat. Die dehnen sich in der Hitze aus. Merkwürdig, der Schmerz bereitet mir Freude, denn er beweist, dass ich lebe. Der nächste Versuch, mich zu erheben, scheitert schon im Ansatz. So sinke ich zurück in eine tiefe Agonie.
Langsam wieder zu Bewusstsein kommend, vermeine ich, kühlendes Wasser an den Handgelenken und -flächen zu spüren. Ich brauche es aber im Gesicht! Bevor sich die Hände reflexartig heben, rinnt es schon kalt auf meinen Kopf, den Hals und unter das Hemd. Erschrocken öffne ich die Augen und erblicke nahe bei mir eine junge Frau, Wasser aus einer Kalebasse über mich leerend. Ihr zauberhaftes Antlitz gleicht dem der Carità des antiken Malers Guido Reni. Diese Targia ist geschminkt, auf die Art, wie es nur bei den Imohar, den Adeligen der Touareg, üblich ist. An meiner anderen Seite bemerke ich einen hochgewachsenen Targi, der mir mit seiner blauen Gandura (Überwurf) Schatten spendet. Er ist mit einem Litham (weißes Tuch) unter seinem prächtigen Tegelmust (geschlungener Turban) verschleiert. Einige Stunden dürften seit den Schwindelanfällen und meiner Ohnmacht vergangen sein, denn die Sonne steht nicht mehr im Zenit. Ein zartes Lächeln ziert das Gesicht der Targia, da sie Lebenszeichen bei mir bemerkt. Die beiden wechseln ein paar Worte in ihrer Sprache Tamaschek. Ich richte mich etwas auf und sie reicht mir die Kalebasse, in der eine bescheidene Menge kühles Wasser schwappt.
Trotz des höllischen Durstes vermag ich nur in kleinen Schlucken zu trinken. Da ich ein Roumi, ein Fremder bin, spricht sie mich auf Französisch an. Ob sie von der Gerba am Auto nachfüllen darf, fragt sie, ich nicke kurz. Sie füllt die Kalebasse halbvoll, ohne nur einen Tropfen zu verschütten. Das Wasser ist nicht so kalt wie das von vorhin, trotzdem angenehm kühl. Es wundert mich, dass der Umhang des Targi ausreichend Schatten wirft. Sicher war ich ein paar Stunden in der Sonne gelegen. Der Versuch aufzustehen, missglückt wieder. Zumindest das Schwindelgefühl ist verschwunden. Die besorgte Frage der Targia, ob ich verletzt sei, kann ich verneinen. In einiger Entfernung lagern Kamele in der Ebene und dazwischen laufen geschäftig Menschen. Einer von ihnen kommt mit langen Holzstangen und einer großen gebündelten Wolldecke auf uns zu. Der Targi sagt ihm irgendetwas auf Tamaschek und die beiden bauen eine Art Sonnendach über den Platz, wo ich liege.
DTrotz des höllischen Durstes vermag ich nur in kleinen Schlucken zu trinken. Da ich ein Roumi, ein Fremder bin, spricht sie mich auf Französisch an. Ob sie von der Gerba am Auto nachfüllen darf, fragt sie, ich nicke kurz. Sie füllt die Kalebasse halbvoll, ohne nur einen Tropfen zu verschütten. Das Wasser ist nicht so kalt wie das von vorhin, trotzdem angenehm kühl. Es wundert mich, dass der Umhang des Targi ausreichend Schatten wirft. Sicher war ich ein paar Stunden in der Sonne gelegen. Der Versuch aufzustehen, missglückt wieder. Zumindest das Schwindelgefühl ist verschwunden. Die besorgte Frage der Targia, ob ich verletzt sei, kann ich verneinen. In einiger Entfernung lagern Kamele in der Ebene und dazwischen laufen geschäftig Menschen. Einer von ihnen kommt mit langen Holzstangen und einer großen gebündelten Wolldecke auf uns zu. Der Targi sagt ihm irgendetwas auf Tamaschek und die beiden bauen eine Art Sonnendach über den Platz, wo ich liege.
In dieser unvergleichlichen Stimmung verliere ich mich in Gedanken für das anschließende Kapitel des Buches. Dieser vorletzte Abschnitt meiner ersten größeren Afrikaexpedition gilt hauptsächlich dem Bemühen, das uns verbliebene Auto möglichst vollständig nach Hause zu bringen.
Targia
Oh ja, wir hatten genug vom Standort Niamey und wünschten uns sehnlichst, weiterzufahren. Endlich waren alle Vorbereitungen für die Abfahrt getroffen. Wir hatten in der Werkstatt eines Franzosen einen Dachträger aufs Auto montieren lassen. Das gesamte Gepäck für die zukünftige Reise war zusammengestellt und harrte darauf, in oder auf das Fahrzeug geladen zu werden. Aber wir haben nicht mit dem Eigenleben des IFA gerechnet. Sein Vergaser begann ohne sichtbaren Grund zu rinnen und der Motor starb bei jedem Mal Gas geben ab. Anstatt vergnügt die Piste nach Südosten unter die Räder zu nehmen, schoben wir das Auto im Kreis herum, da folgerichtig durch die vielen Versuche die Starterbatterie leer war. Mackie und Schani trieben ein Ladegerät auf. Die Stimmung hatte die Minusgrade eines kalten Wintertages an der Spitze des Nordpols erreicht. Mit irgendeiner erfundenen Ausrede spazierten die drei Freunde nochmals in die Stadt. Ich blieb mit dem kranken Auto und dem Äffchen Joko allein. Es brauchte Stunden, bis ich den Motor zumindest zu stotterndem Laufen brachte. So konnte ich das Fahrzeug in die nahe gelegene Werkstatt des Franzosen bringen. Drei Mechaniker kümmerten sich dort um den Vergaser. Gegen Abend lief der Wagen wieder und ich begab mich zufrieden und glücklich auf den Heimweg. Im Quartier angekommen, waren die drei Expeditionsteilnehmer schon zurückgekehrt und saßen in engem Kreis, in philosophische Gespräche verstrickt. Weil der mildtätige Apotheker Louis Mouren ihren Frust mit zahlreichen Whiskys zu verringern geholfen hatte, waren sie stockbesoffen. Für meine aufopferungsvolle Arbeit erhielt ich freilich kein Wort des Lobes, nur den Auftrag, etwas Sättigendes herbeizuschaffen. Zumindest brachten sie von der Post eine Sendung der AEG aus Wien mit der Kupplung für das Tonbandgerät KL 25 mit. Was mich daran erinnerte, wozu ich genau genommen nach Afrika aufgebrochen war.
Einer Abfahrt am nächsten Morgen stand nichts mehr im Wege. Frühzeitig beluden wir frohgemut und fachgerecht nochmals das Fahrzeug. Bis sich die Federn so weit durchgebogen hatten, dass die Karosserie auf den Achsen aufsaß und das Heck den afrikanischen Sandboden nur um Millimeter verfehlte. Das aber ohne Passagiere mit an die 350 Kilogramm Lebendgewicht. So fuhren wir zu den drei Mechanikern, dem nächstgelegenen vertrauten Ort, und deponierten alles, was an letztem Privatem übriggeblieben war, in ihrem Büro. Sie versprachen uns die verlässliche Nachsendung nach Cotonou. Endlich war der IFA mit Arbeitsgepäck und Insassen abfahrbereit. Schwer fiel der Abschied von unserem Boy Kindo, den wir, ob seiner Intelligenz und seinem Fleiß, mit nach Wien nehmen wollten. Aber der IFA war zu klein für diesen zusätzlichen Fahrgast. Das Heck des Autos hatte keine Berührung mehr mit der Straße, die Watfähigkeit betrug etwas über einen Zentimeter. Eine hoffnungsvolle Ausgangsposition für die Bewältigung der folgenden tausend Kilometer afrikanischer Piste in Richtung Süden zur Küste. Ganzkörpergepflegt, angetan mit nach Waschmittel duftender Kleidung und frischer Unterwäsche, selbst Joko, der Affenjunge war sauber gebadet, entschlossen wir uns zu einem Abschiedsessen. Das waren geeignete Voraussetzungen für einen Besuch des vornehmen Restaurants „Relais“ am Flugplatz von Niamey. Dieses Lokal bisher ungestillter Sehnsüchte aller Expeditionsteilnehmer, in das wir in den Wochen des Aufenthaltes nie einkehren durften. Aus Kostengründen und wegen unseres Kassenwartes unergründlicher Abneigung gegen Ernährung, die über Ölsardinen und einem Mehl/Wassergemisch, das er Palatschinke nannte, hinausging. Praktischerweise lag der Flughafen gleich neben der geplanten Strecke, die wir zur Weiterfahrt nehmen mussten. Außerdem wurde seit dem Abflug Walters unsere Barschaft vom Expeditionsleiter verwaltet. Das Mahl war opulent, fünf Gänge in klimatisiertem Ambiente, auf mit weißen Tüchern gedeckten Tischen auf Porzellan serviert. Selbst Joko benahm sich, von der außerordentlichen Atmosphäre beeindruckt, äußerst gesittet.
Gegen Mitternacht kehrten wir gesättigt und zufrieden unter den dicht herabstürzenden Wassermassen eines heftigen Tornados der Stadt Niamey und damit jedwedem Luxus den Rücken. Schani, unser Ältester, saß am Steuer. Eine Fahrt ins Ungewisse, denn die gebündelten Lichtstrahlen der Scheinwerfer beleuchteten nur eine undurchsichtige Regenwand. Die Scheibenwischer arbeiteten ohne sichtbaren Nutzen mit Höchstgeschwindigkeit, feiner Sprühregen drang durch die Spalten der abgenützten Fensterdichtungen. Joko kuschelte sich bei demjenigen an, bei dem es im Moment am wenigsten nass war. Doch niemand von uns zog einen neuerlichen Aufenthalt durch Abwarten der Wetterbedingungen in Betracht. Im Schritttempo tastete sich unser Belgier weiter. Wie er es geschafft hat, auf der Straße zu bleiben, war sicher dem vorher genossenen vortrefflichen Essen und Trinken zu verdanken. Nach einigen Kilometern endete der Asphalt und die Wellblechpiste bestimmte das Fahrtempo. Wir hatten Glück, der Regen hörte ebenso schnell wieder auf, wie er begonnen hatte, denn langsames Fahren über die Wellen der Sandpiste hätte das Auto zerrissen. Wir kamen bis Dosso und fielen todmüde in die frisch überzogenen Betten eines Campement de chasse, einem Jagdlager. Bis Mittag verbrachten wir dort die Zeit mit diversen kleineren Reparaturen. Diese angenehme Pause nützte Kopecky, um ein Perlhuhn zu erjagen.
Im Jagdlager
Die dreihundert Kilometer bis Gaya, der Grenze zu Dahomey, jetzt Benin genannt, bewältigten wir in der Rekordzeit von fünf Tagen. Es gab einige Strecken, in der die Zündung des Autos nicht streikte. Sicher waren es der eintretende Gewöhnungseffekt und die Gewissheit, uns in Richtung Meer zu bewegen, welche die Nerven in Zaum hielten. Schani und ich versuchten, das Auto immer wieder in Gang zu bringen, die anderen begaben sich lieber zur Jagd. Das änderte für einige Zeit entschieden die Gewohnheiten unserer Ernährung. Zu jedem Frühstück wurden ein oder zwei Perlhühner verzehrt. Wir durchquerten ein Gebiet mit einer bedeutenden Population an Löwen, trotzdem übernachteten wir meistens im Freien, in großer Feuchtigkeit, umschwirrt von Moskitos und mit etwas mulmigen Gefühlen. Doch die Geräusche der Wildtiere, die aus fern oder nah vor dem Einschlafen an die Ohren drangen, haben sich unvergesslich in unser Bewusstsein eingebrannt.
Knapp vor der eigentlichen Grenzstation hatte der Regen wieder sintflutartig eingesetzt. Wir fuhren immer dann, sobald sich das Auto entschloss, zu funktionieren. Kein Wunder, bei mit Wasser getränkten Luft. In der Zeit, in der die anderen schliefen, legte im Turnus einer von uns den Verteiler trocken. Das brachte zwar den jeweiligen Biorhythmus in Unordnung, war aber dem Weiterkommen zuträglich.
Die Administrationen der Gebiete, die wir zu durchqueren hatten, waren in der Regenzeit dazu angehalten, Straßensperren zu errichten. Sie sollten Autos davon abhalten, die mühsam hergerichteten Pisten zu zerstören oder im Morast zu versinken. Da außer uns kein vernünftiger Mensch bei Nacht und Regen die Straßen benützte, waren die Regenbarrieren nicht beleuchtet. Was fast ein unrühmliches Ende der Expedition herbeiführte. Zu spät sah Schani bei hohem Tempo das Bollwerk, die abgenützten Bremsen griffen kaum, der Wagen rutschte seitwärts in den frisch ausgehobenen Straßengraben. Mackies Kopf knallte gegen die Windschutzscheibe, Kopecky und ich wurden an die Vordersitze geschleudert. Es herrschte absolute Dunkelheit in und um das Auto. Niemand kannte unseren Standort und wo sich diese Barrière de pluie befand. Nur die aufgeregten Schreie des hyperaktiven Joko unterbrachen die Stille. Zu allgemeinem Missvergnügen bekam er darüber hinaus heftigen Durchfall. Der dadurch entstandene Gestank trieb uns aus dem Auto, wo wir in knöchelhohem Wasser landeten.
Keiner von uns war verletzt, nur Mackie hatte eine kleine Beule. In ungewohnter Gefasstheit hob der Expeditionsleiter zu fluchen an. Selbst der ihm bei solchen Gelegenheiten eigene Einfallsreichtum war ihm in dieser Situation abhandengekommen. Er wiederholte in Endlosschleife nur ein Fäkalwort in oftmals geübtem Crescendo. Der Himmel war von tiefen Wolken verhangen, die Luftfeuchtigkeit betrug bei hoher Temperatur geschätzte hundert Prozent.
Gegen Morgen zeigte sich am Horizont ein heller Streifen. Das Ausmaß der Katastrophe wurde sichtbar. Der IFA steckte tief im Schlamm, der die Kühlerhaube halb bedeckte. Es sah hoffnungslos aus. Das Versprechen, den Wagen auf jeden Fall nach Hause zu bringen, war nicht mehr einzuhalten. Im Morgengrauen machten wir uns daran, das Auto zu entladen und das Material auf der Piste aufzutürmen. Das musste auf jeden Fall gerettet werden. Aber wie? Da die Straßensperre bei den Einheimischen bekannt war, gab es keinen Verkehr. Wir bereiteten uns auf einen längeren Gepäckmarsch vor. In einer rational nicht zu begründenden Anwandlung kletterte ich zurück in den IFA und drehte den Zündschlüssel. Der Motor sprang bei der ersten Umdrehung des Anlassers an und reagierte auf das Gaspedal! In schweißtreibender Arbeit brachten wir mit Motorkraft und Manpower das Fahrzeug wieder auf die Piste. Mackie und Kopecky erkundeten die Umgebung und fanden kurz vor der Barriere eine Abzweigung, die in den Busch führte und bei Dunkelheit nicht zu erkennen war. Die könnte unsere Rettung sein. Autofahrer in Afrika suchen Hindernisse und Absperrungen zu umfahren und legen dabei eigene Fahrspuren an. Kopecky zauberte aus einem seiner Gepäckstücke die lange vermisste Flasche Rossbacher Magenbitter hervor, die reihum ging. Niemand war ihm böse.
Das Beladen des Expeditionsfahrzeuges war schnell erledigt. Die Vorderachsen schienen nichts abbekommen zu haben, der Wagen spurte exakt bis zu der Abzweigung, die wir vertrauensvoll unter die Räder nahmen. Sie war zwar voraussichtlich sicherer als der abgesperrte Abschnitt der Hauptpiste, hatte aber den Nachteil, dass sie nicht existierte. Viele Stunden verbrachten wir mit schieben und dem Bau von Knüppeldämmen auf tiefen Morast. Einen Tag später erreichten wir Kandi und besuchten in stolzem Bewusstsein über das Geleistete, umgehend den Commandant-Cercle. Der aber wollte uns überhaupt nicht. Nicht einmal sein Haus durften wir betreten. Neben unserer abstoßenden, verdreckten und verschwitzten Adjustierung, die dem Franzosen offensichtlich missfiel, war er sicher sauer, weil wir seine Straßensperre missachtet hatten. In seiner Respekt gebietenden sauberen Uniform mit messerscharfen Bügelfalten und glatt rasiertem Kinn wies er uns, damit die inneren Werte der Expeditionsteilnehmer missachtend, die Türe.
Müde und zornig ob der ungewohnten Abfuhr zogen wir ab und fanden die Missionsstation irgendeiner amerikanischen protestantischen Glaubensrichtung. Dort lebten drei Missionare, welche davon überzeugt waren, dass sie die schwarzen Schäfchen eher bekehren könnten, indem sie sich dem Lebensstil der autochthonen Bevölkerung anpassten. Ungeachtet unseres Äußeren wurden wir freundlich aufgenommen. Geduscht und mit der zweiten Garnitur bekleidet, holte man uns zum Essen. Es gab panierte Zwiebelscheiben in einer mit Honig gesüßten Soße und eine kleine Auswahl anderer Gemüse, ebenfalls mit gezuckertem Sirup gewürzt. Dazu bekamen wir glasklares gefiltertes Wasser, das seine Herkunft aus einem lehmigen Brunnen nicht verleugnete. Ob wir einen Sohn des Königs von Abomey, einen Prinzen, kennenlernen möchten? Begeistert bejahten wir, denn man war ja nicht nur zum Autobewegen nach Afrika gefahren. Die lange Pause hat unsere Arbeitsmoral keineswegs vermindert. Mich juckte es in den Fingern, beziehungsweise in den Ohren. Wir erwarteten ein in höchstem Maße erhellendes Interview mit einem echten afrikanischen Prinzen. Ich durfte in der Mission über Nacht meine Zwölfvoltbatterie aufladen und überprüfte die Betriebsbereitschaft des Tonbandgerätes.
Der Morgen brachte Sonnenschein und eine Art Müsli zum Frühstück. Eine gute Seele hatte in der Nacht unsere verschmutzte Kleidung gewaschen und im Hinterhof zum Trocknen aufgehängt. In Erwartung des Prinzen und der kommenden Aufnahme holte ich einige Stühle für den Hofstaat, schraubte das Mikrofon auf ein Stativ und platzierte daneben die Geräte. Wir warteten gespannt auf das höfische Ereignis. Dann erschien einer der Missionare mit einem eher kleinwüchsigen Mann und stellte uns diesen als eben den Prinzen vor. Es wurde ein kurzes Gespräch. Er erzählte uns, dass er, verstreut im gesamten Gebiet von Dahomey einige Geschwister hat. Alles direkte Nachkommen des mächtigen Königs des Volkes der Dan, Aho. Er selbst sei Fahrer eines Lastwagens, der vom Hafen Cotonou Waren in den Norden des Landes, ja bis Niamey liefere. Das war es auch schon.
Die Missionare, die durch unsere Erzählungen die Anliegen des Unternehmens kannten, erzählten uns von einer weiteren Missionsstation in Sinendé, die Interessantes für uns bieten könnte. Spät am gleichen Tag fuhren wir los. Die Strecke war recht gut befahrbar, bis zu dem Moment, an dem sich ein unvorstellbares Gewitter über uns entlud. Bis sich das verzogen hatte, war finstere Nacht hereingebrochen, und wir beschlossen diese an Ort und Stelle zu verbringen. Logischerweise unter freiem Himmel. Was sich Minuten nach diesem Entschluss als Fehlentscheidung erwies. Da unsere Moskitonetze dem Übergewicht geopfert wurden, waren wir den Myriaden von Moskitos schutzlos ausgeliefert. Wir flüchteten in das Innere des IFA. Man stelle sich die Luft in einem Auto der unteren Mittelklasse, eine ganze Nacht von vier Männern und einem Äffchen besetzt, bei einer Außentemperatur von etwa dreißig Grad Celsius und geschlossenen Fenstern vor. Wir vertrieben uns die Zeit bis zum Morgengrauen mit Abwehren von geschätzten hundertfünfzig von draußen mitgebrachten Moskitos, die selbst Joko fast zum Wahnsinn brachten.
Unter schieben, graben und Brückenbauen kamen wir unserem Ziel näher. Die Zündkerzen wollten wieder einmal gereinigt werden. Bei diesem Halt erschienen zwei weißhäutige Damen wie Engel in einem riesigen Power-Wagon und brachten uns Tee in einer Thermoskanne. Sie hätten erfahren, dass eine Gruppe Europäer auf der Piste feststeckte, und waren sofort aufgebrochen uns zu suchen. Der Buschtelegraph schien vortrefflich zu funktionieren, obwohl weit und breit keine Menschenseele zu sehen war. Wir sagten ihnen, dass die Mission von Sinendé unser Ziel war. Die zwei netten Damen boten an, uns dorthin leiten, wir brauchten nur ihrem Wagen zu folgen. Einige Kilometer fuhren wir durch landwirtschaftlich genutztes Gebiet, Bauern bearbeiteten ihre kleinen Felder, dann erreichten wir das Dorf.
Die Mission, das größte Haus am Platz, war aus rotbraunem Lehm gebaut und vermittelte einen gepflegten Eindruck. Es stellte sich heraus, dass die jungen Damen die gesuchten Missionare waren. Nach einem Aperitif wurden wir zum Essen eingeladen und waren heilfroh, nicht vegetarisch ernährt zu werden. Wir aßen gerne und ausgiebig, und das umso lieber, bei ausnehmend gebildeten und charmanten Gastgeberinnen. Voll Interesse hörten sie den Erzählungen zu, nur unseren Zugang zu den Fetischglauben vermochten sie nicht nachzuvollziehen. Sie wurden wahrhaftig zornig. Es stellte sich heraus, dass der hiesige Zauberer sie schikanierte und ihrer Arbeit alle erdenklichen Hindernisse in den Weg warf. Das wäre etwas für uns, und wir besprachen, dem Feticheur gemeinsam mit den Damen einen Besuch abzustatten. Wir waren vollzählig bei Tisch, bis auf Joko, der verschwunden war. Schani, kein großer Tierfreund, meinte zwar, der Affe würde schon wiederkommen, stieß damit aber bei den anderen, inklusive den Missionarinnen, auf Unverständnis. Nachdem er im Haus nicht zu finden war, schwärmten wir aus, um ihn zu suchen. Da ich wusste, dass Joko Märkte liebte, zog es mich dorthin. Und dort war der Ausreißer, umringt von Kindern, Halbwüchsigen und Erwachsenen produzierte er sich, zeigte Kunststücke, genoss den Applaus und kleine Happen, die man ihm reichte. Die Menschenmenge öffnete sich bei meinem Näherkommen, Joko sah mich, quietschte laut und sprang mir auf die Schulter. Aus schlechtem Gewissen zitternd klammerte er sich an meinen Hals und ließ ihn über den gesamten Weg bis zur Missionsstation nicht mehr aus. Fast gleichzeitig trafen alle Affensuchenden dort ein.
Wir schliefen die Nacht durch herrlich, geschützt unter Moskitonetzen. Nach dem Frühstück fuhren wir auf der Ladefläche des Wagens der Damen zum Zauberer. Der wohnte in einer Hütte, die sich von den anderen des Dorfes nicht unterschied. Ein missmutiger alter Mann saß davor. Beim Anblick der Konkurrenz wurde er passiv freundlich, vermittelte aber weiterhin einen grantigen Eindruck. Er war ein Feticheur, der im Krokodil den Meister der Fruchtbarkeit und des Lebens überhaupt sah. Dem Dorf nahe sollte es einen unterirdischen See geben, in dem ein bemerkenswert großes Exemplar dieser Exen lebte. Manche gaben ihm ein Alter von über dreihundert Jahren. Der Zauberer hatte die Pflicht, diesem lebenden Fabelwesen regelmäßig Opfer darzubringen, was er unter reger Beteiligung der Dorfbewohner zelebrierte. Wir hatten vor dabei zusehen, wie er das Krokodil an die Oberfläche lockt und füttert. Doch er blieb absolut unzugänglich und lehnte den Wunsch entschieden ab. Er war einer der wenigen Menschen, die wir uns nicht zum Freund machen konnten. Ohne Anwesenheit der Missionarinnen hätte er vermutlich zugestimmt. So wurde darüber beratschlagt, ob wir zu einem späteren Termin nochmals allein kommen sollten. Doch verwarfen wir dieses Vorhaben, weil im Süden des Landes einige konkrete Aufgaben auf uns warteten. Wir mussten unbedingt weiter.
Von Sinendé bohrte sich der Kombi durch den weichen Boden nach Westen. Unser Ziel war Savalou, das abseits der ausgebauten Nord-Südhauptverbindung lag. Auf der Michelin-Karte war diese Strecke zwar kürzer, aber als Nebenstraße eingezeichnet. Bei Kilometer vierzig ging dem IFA buchstäblich die Luft aus. Zwei Reifen waren zugleich platt. Wir hatten für die Schläuche Klebezeug mit. Um zu diesem zu gelangen, war es erforderlich, das Fahrzeug teilweise zu entladen. Ich fand die beiden Tuben Klebstoff, doch ihr Inhalt war in den Monaten seit Wien steinhart geworden. Mackie begab sich auf den Weg, einen solchen aufzutreiben, die Piste entlang. Er traf einen Jungen, der ihn angesichts des Vollbartes für einen Missionar hielt. Der Expeditionsleiter nützte seine neue Würde und sandte den Buben die vierzig Kilometer zurück zum Kommandanten von Sinendé. Der durfte Hilfe nicht verweigern, selbst wenn er uns gar nicht lieb hatte. Der Bote war flott unterwegs, er bewältigte die Marathonstrecke bis zum Abend. Es war schon finstere Nacht, da zeigten sich in der Ferne die Scheinwerfer eines herankommenden Autos. Das war der Materialwagen des Commandant cércle mit dem Jungen, der mit fürstlichen zehn CFA entlohnt wurde und damit in der Dunkelheit verschwand. Wir entnahmen dem reichhaltigen Werkzeug eine Tube Paragummi und schickten den Rest mit Dank zurück.
In der Umgebung hat sich unser Doppelpatschen schnell herumgesprochen, und autochthone Bewohner hielten um die Unglücksstätte eine Versammlung ab. Die Seelen der Reifen hatten wir frühmorgens luftdicht geflickt. Dieselben mit der Fußpumpe aufzublasen luden wir die Umstehenden der Reihe nach ein. Mit dem ihnen angeborenen Gefühl für Rhythmus pumpten sie die Reifen unter Lachen und Geschnatter bewundernswert schnell voll. Joko hatte im herumliegenden Gepäck den Rest Rossbacher Magenbitter in der Flasche entdeckt und das süße Getränk begeistert genossen. Dann raste er wie gesengt umher. Er wollte unbedingt alle Erreichbaren küssen. Doch seine gezielten Sprünge waren jedes Mal um ein Weniges zu kurz. Es wurde recht lustig im Auto, denn er sprang völlig unkontrolliert herum, wobei er regelmäßig umfiel. Den nächsten Tag über verhielt er sich auffällig still.
Am Straßenrand tauchten die ersten Mitglieder des Volkes der Somba auf. Herausragende Aufmerksamkeit erregten die Männer. Nicht nur, dass sie völlig nackt daherkamen, hatten sie für alles, was Europäer aus Gründen der Schicklichkeit zu verbergen trachten, wohlgeformte und weithin sichtbare Futterale. Deren Größe und Länge richtete sich dabei weniger nach den biologischen Notwendigkeiten, sondern zeugten von des Trägers Reichtum und Bedeutung. Diese Gebilde aus Holz oder Leder trugen sie mit Stolz. Auf dem von ihnen besiedelten Hochplateau haben Sie sich ihre Eigenständigkeit bewahrt, entgegen den Bemühungen der französischen Kolonialmacht und Missionaren aller Glaubensrichtungen. Sonst gab es kaum ein größeres afrikanisches Volk, das nicht in Hemd und Hose europäischen Zuschnitts gezwängt wurde.
Auf der Fahrt durch die Berge zogen Rinderherden an uns vorbei. Rinderzucht auf den höher gelegenen Weiden war hier möglich, gab es doch in diesem Klima keine Tsetsefliegen. Weil wir über diesen für Ethnologen interessanten Volksstamm schon beachtliches Material gesammelt hatten, führte uns der Weg durch das Land der Somba direkt bis Natitingou, einer anmutigen Kleinstadt. Beim dort stationierten Kommandanten trafen wir eine Gruppe deutscher Touristen. Darüber freute sich hauptsächlich Kopecky, unserem für Fremdsprachen untalentierten Fotografen, weil er mit ihnen einige Worte zu wechseln vermochte. Doch war wegen des verwilderten Aussehens der österreichischen Expeditionsteilnehmer ein gewisses Misstrauen uns gegenüber festzustellen. Für den tropengeeichten Commadant du cercle war so ein Outfit nichts Ungewohntes. Von seinen eigenen Jagdausflügen kannte er die Gegebenheiten im Busch und die Sitten der Eingeborenen seines Distrikts. Inmitten der Stadt traf man Männer der Somba, die in natürlicher Nacktheit, allein mit Penisfutteralen ausgerüstet, völlig ungeniert durch die belebten Straßen stolzierten.
Im vornehmen Hotel der Stadt hatte man für die Touristen ein „Tamtam“, eine Vorführung afrikanischer Folklore bestellt. Hierzu wurden Einwohner aus der nächsten Umgebung beordert, die gegen etwas Geld Tänze aus dem Urwald zeigten. Ohne Choreographie und Rücksichtnahme auf echte landesbezogene Volksmusik fabrizierten sie mit ihren Trommeln ungeheuren Lärm. Dazu tanzten und sprangen sie zwischen rosa gedeckten Frühstückstischen wild herum und beeindruckten damit die enthusiastisch fotografierenden und mit 8mm-Kameras filmenden Globetrotter. Das Trinkgeld fiel dem Augenschein nach reichlich aus, denn es gab Zugaben. Wir aber wünschten gute Unterhaltung und verließen den Ort schleunigst in Richtung Süden, die Stadt Savalou zum Ziel.
Eine ausgezeichnet gepflegte breite Piste ließ den IFA-Kombi anstandslos einige Kilometer fressen. Bis wir eines Nachts eine Abzweigung übersahen. Die Fahrspur wurde immer weniger, und als wir sie im hohen Elefantengras zeitweise überhaupt aus den Augen verloren, wurde es zur Gewissheit, wir haben uns verfahren! Eine erzwungene Pause wurde eingelegt. Das Auto war von der vorderen Stoßstange und den Rädern bis zur Kühlerhaube ein einziger Lehmklumpen. Die Nerven bis zum Zerreißen angespannt war die Stimmung unter den Expeditionsteilnehmern höchst aggressiv. Der ewig hungrige Kopecky rettete die Situation, indem er ein Baguette aufschnitt und genüsslich eine Konserve mit Sardinen öffnete. Ein versöhnliches Zeichen, das Frühstück einzunehmen. In Anbetracht der erbrachten physischen Leistungen, leisteten wir uns jeder eine Dose Ölsardinen. Behände schnappte sich Joko eine der eben geöffneten Konserven und verschwand unter Gekreisch damit hinter einem Busch. Niemand hatte Lust und die Energie dem Affen die Menschennahrung abzujagen.
An ein Zurückfahren auf der bisher bewältigten Strecke war nicht zu denken. Nachdem Joko ins Auto gefunden hatte, ging es nach dieser kurzen Ruhepause im Schritttempo weiter. Mit ölverschmierten Pfoten und fettigem Fell klammerte sich das Affentier voll des schlechten Gewissens an mich, was mir zusätzlich zu meinen natürlichen Ausdünstungen eine hauchzarte Note nach Fisch bescherte.
Da es zu gefährlich war, in der Nacht zu fahren, folgten wir der angedeuteten Fahrspur bei Tageslicht. Der IFA reagierte darauf mit ständiger Überhitzung, was bei der hohen Luftfeuchtigkeit und vierzig Grad im Schatten keineswegs verwunderlich war. Wir zollten dem VEB-Sachsenring höchstes Lob für die Qualität des Materials, welches das Auto nicht in kleine Stücke zerfallen ließ. Über Stellen, an denen sich Wasserläufe quer zum Weg Abflüsse gegraben hatten, bauten wir Brücken. Mit oftmaligem, kraftraubendem Schieben vermochten wir eine große Strecke zurückzulegen. Die Nächte wurden immer heißer, die Stechmücken unerträglicher. Die Tropen rückten näher. Da wir nicht mehr im Besitz von Moskitonetzen waren, verdoppelten wir die tägliche Ration an Resochin, in der Hoffnung, damit der Malaria zu entgehen. Egal wie erreichten wir abermals die Hauptpiste. In Savalou eingetroffen, glichen wir nicht mehr menschlichen Wesen. Weder optisch, noch olfaktorisch. Im Hof des Campements mit seinen sauberen, in weiß gehaltenen Mauern, ließen wir das Auto stehen, wie es war. Zimmer mieten, Klimaanlage abdrehen und in voller Adjustierung unter die Dusche stellen, war eins. Das Wasser aus dem Metallbehälter am Dach war durch die Sonne heiß aufgeheizt, aber dennoch erfrischend. Nach dem raschen Genuss einiger Flaschen Bier verzichteten wir auf essen, ebenso auf den Pflichtbesuch bei der Kommandantur, und begaben uns umgehend in die Doppelzimmer. Sorgfältig wurden die Moskitonetze auf kleinste Löcher geprüft und über uns geschlossen. Wir schliefen einen halben Tag und eine Nacht durch.
Savalou wäre an sich für unsere Arbeit wichtig gewesen, wenn wir nur mehr Zeit gehabt hätten. Aber sich aufzuhalten, bedeutete zu riskieren, dass in der Regenzeit der Schlamm grundloser geworden wäre. Wir besuchten dennoch den Kommandanten, der uns, nachdem er erfahren hatte, wozu wir hierher gekommen waren, bei geeistem Tee über die Region informierte. Savalou war das Zentrum eines der wesentlichsten Königreiche Dahomeys. Bis zum Jahr 1894, in dem Capitaine Horaz Pentel für das französische Expeditionschor einen Schutzvertrag mit dem damaligen König dieses Gebietes unterzeichnete. Von da an war das Reich ein Kanton und der Herrscher Chef de Canton. Ähnlich erging es in nämlicher Zeit dem im Süden gelegenen Königtum von Abomey. Darüber hinaus erzählte er von einer Spezialität der Gegend. Es gab im Land richtige Klöster, in welchen Fetischpriester ausgebildet wurden. Das durften wir uns nicht entgehen lassen.
An diesem Morgen regnete es auf der Weiterfahrt. Nicht zu heftig, aber doch so, dass unsere Fröhlichkeit darunter litt. Von einer Buschlandschaft war keine Rede mehr, denn die Baumgruppen waren schon vor Savalou enger zusammengerückt. Stellenweise fuhren wir durch herrlichsten Urwald, Bäume von ungewohnter Höhe mit dichtem Blätterdach säumten die Piste. Hitze und enorme Luftfeuchtigkeit erschwerten das Atmen. Nicht lange nach einem Dorf trafen wir auf eine Lichtung, in deren Mitte eine Art Vierkanthof stand. Eine über mannshohe Mauer schützte einen Platz, der von außen nicht einsehbar war. Gekrönt wurde sie von unheimlichen Symbolen aus Metall. Das waren Figuren auf kleinen Türmchen, die dieses Fetischkloster bewachten.
Wächter des Fetischklosters
Hinter dem Gebäude erhob sich ein steiler, zerklüfteter Berg, auf dem, wie wir später erfuhren, Geister zu Hause waren. Er sah aus, wie wenn man riesige Felsen auf einen Haufen geworfen hätte. Das Tor zum Kloster wurde von zwei großen Männern bewacht. Sie trugen weiße Boubous, das waren lange Gewänder mit kostbaren Stickmustern und vermittelten einen unnahbaren Eindruck. Mackie strebte da hinein, mich selbst drängte es, endlich wieder etwas anderes zu leisten, als ein Auto über Distanz zu bringen. Wir hatten für hier keine speziellen Empfehlungen, außer der mit Befürwortungsschreiben wissenschaftlicher Institute aus Österreich gefüllten Mappe. Die meisten davon in Deutsch gehalten. Mackie holte unter dem wallenden roten Bart seinen unwiderstehlichsten Charme heraus und marschierte forsch auf die Wächter zu. Was und in welcher Sprache er mit ihnen geredet hatte, war auf die Entfernung nicht zu erkennen. Gleichwohl öffnete einer der beiden das Tor und verschwand mit unserem Expeditionsleiter in den Hof. Die Türe wurde wieder zugezogen. Es verging etwa eine halbe Stunde, bis sich das Tor von Neuem auftat und Mackie beschwingten Schrittes und grinsend herauskam. Der Buschtelegraph hatte schon wieder bestens funktioniert. Zugegeben, mit einem leistungsstark motorisierten Geländewagen wären wir flotter unterwegs gewesen, aber keinesfalls so rasch, wie es Nachrichten in Afrika waren. Obwohl die Priester Bescheid wussten, waren sie dennoch misstrauisch. Mackie erzählte ihnen von unserer Arbeit und erwähnte so nebenher, dass wir die Geschichte ihrer Könige und deren über lange Zeit erfolgreichen kriegerischen Widerstand gegen die Kolonialtruppen kannten. Dank der endlosen Gespräche mit Dozent Hirschberg vom Institut für Völkerkunde der Universität Wien, konnte Mackie den Fetischeuren sein Wissen über Dahomeys Nationalhelden mitteilen. Das war nicht ungefährlich, denn die Franzosen hörten das naturgemäß nicht gerne. Wir durften das Innere des Klosters betreten, und die Opferfetische fotografieren.
Götter des Fetischklosters
So lud man uns ein, an einem kleinen religiösen Fest auf dem Berg der schwarzen Geister teilzunehmen. Es werde ein Opferfest zu Ehren des Prinzen Hinougan geben, der vor langer Zeit aus den unzähligen anderen Königssöhnen von Savalou eine machtvolle profane und spirituelle Kaste gründete. Da jeder König zahlreiche Frauen hatte, gab es adelige Kinder in großer Zahl, die, bis auf wenige Auserwählte, alle zu Statistenrollen verurteilt waren. Hinougan war der oberste Fetischpriester und ausschließlich er hatte die Berechtigung, Orakel zu werfen und zu lesen. Er erfuhr dieselbe Wertschätzung wie die Könige, die nach ihrem Tod auf den Geisterberg gebracht wurden. Dort zerschlug man ihre Knochen, nahm die größten aus dem Körper und was überblieb, wurde geräuchert. Man hängte das Übriggebliebene über eine Flamme und ließ es dort auf Kindergröße schrumpfen. Eine kleine wesentliche Verbrämung der Zeremonie bestand darin, dass man die guten Könige an den Händen aufhing, die schlechten aber an den Füßen. Sobald der Tote derart mumifiziert war und die vorgeschriebene Größe erreicht hatte, wurde er in einen kleinen Holzsarg gelegt. Man bestattete ihn in der Erde und grub nach Schluss der Zeremonien rund um das Grab labyrinthartige Gänge. Die Geister der toten Könige werden durch die verwirrten Wege daran gehindert, ihre Grabstätten zu verlassen. Man hatte große Angst vor ihnen und schob die meisten Unglücksfälle auf Königsgeister, die sich freimachten. An der Grabstelle des Hinougan waren die Feierlichkeiten geplant. Aber wir hätten eine Woche darauf warten müssen, was weder unseren Nerven, noch den Finanzen zuträglich gewesen wäre. Mit dem Versprechen wiederzukommen, verabschiedeten wir uns.
So lud man uns ein, an einem kleinen religiösen Fest auf dem Berg der schwarzen Geister teilzunehmen. Es werde ein Opferfest zu Ehren des Prinzen Hinougan geben, der vor langer Zeit aus den unzähligen anderen Königssöhnen von Savalou eine machtvolle profane und spirituelle Kaste gründete. Da jeder König zahlreiche Frauen hatte, gab es adelige Kinder in großer Zahl, die, bis auf wenige Auserwählte, alle zu Statistenrollen verurteilt waren. Hinougan war der oberste Fetischpriester und ausschließlich er hatte die Berechtigung, Orakel zu werfen und zu lesen. Er erfuhr dieselbe Wertschätzung wie die Könige, die nach ihrem Tod auf den Geisterberg gebracht wurden. Dort zerschlug man ihre Knochen, nahm die größten aus dem Körper und was überblieb, wurde geräuchert. Man hängte das Übriggebliebene über eine Flamme und ließ es dort auf Kindergröße schrumpfen. Eine kleine wesentliche Verbrämung der Zeremonie bestand darin, dass man die guten Könige an den Händen aufhing, die schlechten aber an den Füßen. Sobald der Tote derart mumifiziert war und die vorgeschriebene Größe erreicht hatte, wurde er in einen kleinen Holzsarg gelegt. Man bestattete ihn in der Erde und grub nach Schluss der Zeremonien rund um das Grab labyrinthartige Gänge. Die Geister der toten Könige werden durch die verwirrten Wege daran gehindert, ihre Grabstätten zu verlassen. Man hatte große Angst vor ihnen und schob die meisten Unglücksfälle auf Königsgeister, die sich freimachten. An der Grabstelle des Hinougan waren die Feierlichkeiten geplant. Aber wir hätten eine Woche darauf warten müssen, was weder unseren Nerven, noch den Finanzen zuträglich gewesen wäre. Mit dem Versprechen wiederzukommen, verabschiedeten wir uns.
Da es sich um Fruchtbarkeitsfetische handelte, hatten die Künstler sie mit unnatürlich großen Geschlechtsmerkmalen ausgestattet. Da waren sowohl Nachbildungen schlanker Menschenfiguren neben fast kugeligen, unförmigen Gebilden, denen man nur schwer ansah, was sie darstellen sollten. Diese Abbildungen schützten jede Familie vor Witterungseinflüssen. So wurden auf rohen, senkrecht in die Erde getriebenen Ästen Grasdächer über sie errichtet. Begüterte bauten kleine Häuschen um die Fetische. Und immer wieder wurde ihnen geopfert. Am Weg nach Abomey trafen wir viele dieser Opfer- bzw. Anbetungsstätten.
Hausfetische in Benin
Auf den vierhundert Kilometern gepflegter Piste, für deren Bewältigung nur eine Woche benötigt wurde, hörten wir immer wieder Sagenhaftes über Aho, dem König von Abomey. Das stachelte die langsam erlahmende wissenschaftliche Neugierde der Teilnehmer der Expedition nochmals an und vertrieb die aufkommende Reisemüdigkeit. Daran änderte auch nicht das durch Unachtsamkeit herbeigeführte Bersten der Heckscheibe des Kombis, die kurzerhand durch eine Decke ersetzt wurde.
F9 erschöpft, aber fahrbereit
Abomey empfing uns mit strahlend schönem Wetter. Wir hatten kurz vor der Stadt, die eher ein größeres Dorf war, angehalten, um uns ein wenig zu restaurieren. Schani hatte gestreikt. Er erklärte kategorisch, dass er sich in solch desolatem Aufzug nie im Leben zu einem Monarchen begeben wolle. Wir sahen es ein, so schauerlich verdreckt und zerlumpt, durfte man nicht zu einer Audienz. Dem Hof einen Besuch abzustatten, hat sich zur Pflicht ausgebildet. Die Erzählungen über den König Aho waren allgegenwärtig. Vor allem deswegen, weil es in Dahomey sicher nur wenige Menschen gab, die nicht adeligen Geblütes waren. Schließlich besaß der Herrscher einen bedeutenden Harem. Da nur der älteste Sohn ein Anrecht auf den Thron hatte, galten alle weiteren Nachkommen des Königs nicht mehr als jeder andere Untertan.
Vor dem Palast hielten wir, parkten an der Mauer und verließen in Gestalt blütenweiß gekleideter Beaus unseren zerschundenen, aber liebgewonnenen Metallhaufen. Der Königspalast war überwältigend romantisch. Das Gebäude erinnerte lebhaft an ein abgebranntes Dorfgasthaus. Ein Lehmbau, ohne Türen. Wir waren doch recht enttäuscht, obwohl bekannt war, dass der König seinen Titel ablegen musste, nachdem er den Schutzvertrag unterschrieben hatte. Frankreich hatte ihn zu einem Chef de Canton gemacht. Aber so einen Abstieg hatten wir nicht vermutet.
Wir betraten das Haus und wurden sofort von einem Pförtner gemeldet. Nicht etwa seiner Majestät, sondern dem Sekretär. Ein junger Schwarzer empfing uns und stellte sich als der älteste Prinz von Dahomey vor. Er würde einmal der Nachfolger seines Vaters werden. Sympathisch und äußerst liebenswürdig begrüßte er uns und nahm die Bitte um eine Audienz bei seiner Majestät freundlich auf. Er würde uns melden. Ein Gespräch im Moment sei sicher nicht möglich, doch wenn wir warten könnten? Keinesfalls ginge es am Vormittag. Wir waren sprachlos über die Etikette in diesem Saal, beschlossen aber, mangels einer anderen Option, ebenso freundlich zu akzeptieren. So trieben wir uns in der Umgebung des Palastes herum, besuchten den Kommandanten und erfuhren, dass es ein Museum hier gab. Mitten in der Besichtigung kam ein keuchender Boy angelaufen, der uns mitteilte, ihre Majestät wären jetzt bereit.
König Aho
In größeren Ortschaften waren wir gezwungen, Joko an die Leine zu nehmen, denn er plünderte, was nicht niet- und nagelfest war. Er stahl aus Liebe zur Sache, verwüstete die Beute und sah sich dann nach etwas anderem um. Dieses Mal aber zeterte er derart, dass wir beschlossen, ihn in Gottesnamen seine Verbeugung machen zu lassen. Der Prinz führte uns sofort durch das leicht verfallene Gebäude, und wir erreichten einen Hof, der uns schon den Atem nahm.
Hof des Königspalastes
Die Wände waren mit farbigen Reliefs geschmückt. Gegenüber lag erst der eigentliche Palast. Die Bogengänge, reich in der ursprünglichen Tradition der Afrikaner verziert, durchschritten wir rasch und hatten leider keine Zeit, die Kostbarkeiten zu betrachten. Durch zwei geräumige Hallen hindurch gelangten wir hinter dem Prinzen in das Gemach des Königs. Beim Eintritt fiel der Thronfolger vornüber auf den Bauch, schlängelte sich einige Meter weiter und meldete seinem Vater den Besuch. Der, ein netter älterer Herr, saß auf einem geschnitzten Thron. In erfreulich einwandfreiem Französisch forderte er uns zum Näherkommen auf. Er beteuerte, dass das Hofzeremoniell zwar vorschrieb, niemand dürfe sich dem König aufrecht annähern, wir aber von dieser Regel ausgenommen wären. Das alles sagte er fast lustig, mit Schalk in den Augen. Sein Gesicht strahlte, weil wir ihn mit Majestät ansprachen. Er schien offenkundig von der französischen Administration anderes gewöhnt zu sein. Nachdem er erfahren hatte, dass wir aus Österreich kamen, freute er sich erneut. Er hatte auf einer Tagung in Paris einige Regierungsmitglieder unseres Landes persönlich kennengelernt und war entzückt von ihnen.
Audienz beim König Aho
Vor dem Thron nahmen wir auf bestickten Matten Platz und es entspann sich ein faszinierendes Gespräch. Der König erzählte uns, dass er wahnsinnig an Ischias zu leiden habe. Wir versuchten alles, ihm eine Kur in Bad Gastein einzureden. Eingehend erkundigte er sich nach unserer Arbeit und langsam drehte sich das Thema. Der Fetischkult wurde berührt und es stellte sich heraus, dass seine Majestät AHO ein fanatischer Fetischanhänger war. Im Geisterglauben erzogen, hatte er nie im Traum daran gedacht, diesen abzulegen. Sein Bruder war der Hauptfetischeur, der größte Fetischpriester in seinem Land. In ihm hatte sich etwas verzerrt die HINOUGAN-Tradition fortgesetzt. Der König war begeistert von unserem Wissen über den Kult. Während des prächtig französisch gekochten Mahls, dessen mehrere Gänge wir auf der Matte hockend genossen, wurde er immer aufgeräumter. Wir lernten, dass seine Dynastie bis ins vierzehnte Jahrhundert zurückreichte, und waren begierig, etwas über die Geschichte des Reichs zu erfahren. Er sagte uns darauf, dass wir alles an den Reliefs im Hof ablesen könnten, die er uns später persönlich zeigen würde. Der Raum war angefüllt mit den prächtigsten Schnitzereien, die das Gebiet von Dahomey aufzuweisen hatte. An den Wänden hingen Schwerter.
Wir befragten ihn über diese Waffen. Der König lächelte bei seinen Erklärungen. Es waren Amazonenschwerter. Wir glaubten, nicht richtig verstanden zu haben. Doch, die Herrscher von Abomey hatten früher bis zu vierhundert Frauen – er selbst hätte nur mehr vierzig, meinte er bescheiden. Wenn Kriege ausbrachen, sei es gegen die Europäer oder die Yoruba im Norden, dann stellten diese Frauen eine physische Kapazität dar, die unmöglich brach liegengelassen werden durfte. Man beschloss, ihnen Waffen in die Händchen zu geben und sie im Kriegshandwerk zu schulen. Anfangs waren manche dagegen, weil doch die Frauen unbedingt an Gewicht verlieren, wenn sie aus dem beschaulichen Dasein im Harem gerissen würden. Das bedeutete eine Wertminderung des herrschenden Schönheitsideals. Aber das genaue Gegenteil trat ein. Die Damen gediehen bei der ungewohnten Tätigkeit prächtig. Es war wie ein Ausgleichssport fürs Kinderkriegen. Bald entwickelten sie sich zu gefürchteten Halsabschneiderinnen und das Reich konnte mit dieser Truppe zufrieden sein. In unzähligen Schlachten bewährte sich diese Frauenarmee. Sie waren ausgezeichnete Speer- und Einzelkämpferinnen im Busch. Unbarmherzig und grausam, todesverachtend und zäh. Bei keinem Krieg fehlten sie und kämpften in vorderster Linie. Sie waren stolz auf ihren Kriegerinnenstand und schufen sich ihre eigenen Kampfgesänge. Immer mehr traten ihre Frauenpflichten in den Hintergrund. Kampfspiele und kriegerische Ertüchtigung wurden zu ihrer Hauptbeschäftigung. Daraus resultierte, dass ihr Äußeres weibliche Züge verlor. Sie entwickelten sich zu Riesinnen mit stählernen Muskeln, die ihrem König so treu ergeben waren, wie keine andere Truppe.
Abordnung der 40 Königsfrauen
Das alles gehörte seit Jahrzehnten der Vergangenheit an. Doch die Kriegsgesänge, die Kampflieder der Amazonen haben sich erhalten. Sie werden heute genauso gesungen und Aho bot uns an, seine Frauen für uns singen zu lassen. Nach dem Essen, zum Kaffee, entwickelten sich Gespräche, die des Königs Bildung und Weltoffenheit bewiesen. Er hatte den Zweiten Weltkrieg in relativer Sicherheit von hier mitverfolgt. Sogar über die Rolle, die Österreich dabei spielte, hatte er eine eigene Meinung. In Dahomey selbst war der Krieg hauptsächlich dadurch bemerkbar, dass die Franzosen den Ausbau der Infrastruktur, wie breitere und neu errichtete Pisten und Straßen vorantrieben.
Gegen zwei Uhr erhob sich seine Majestät und erklärte, dass er uns rasch die Reliefs zeigen und erklären wolle, damit er dann zu seiner Mittagsruhe käme. Diese plastischen Wandbilder stellten nicht etwa eine fortlaufende Geschichte des Hauses dar, sondern einzelne Ausschnitte und Begebenheiten sowie symbolhafte Figuren. Vor einem Bild verharrte der König länger. Es zeigte den Kopf eines schwarzen Mannes, der anscheinend einen hohen spitzen Hut trug. In Wirklichkeit verhielt sich die Geschichte aber so: Einmal hatte ein prahlerischer Krieger der Yoruba überall ausposaunt, dass er den König von Abomey fangen wolle. Und er hatte geschildert, was er mit dem Gefangenen anfangen werde. Zuerst einmal den Kopf abschlagen. Dann werde dieser in einen Hirsemörser gelegt und zu Brei zerstampft. Der König erfuhr von den Prahlereien dieses Yoruba. Majestät waren empört und sandte Krieger aus, besagten Mann lebendig vor den Thron zu führen. Wochen später war der Auftrag erfüllt. Der König sprach ein salomonisches Urteil: „Wie du mir, so ich dir.“ Man zerstieß seinen Kopf in einem Mörser, ohne ihn vorher abgeschlagen zu haben. Der spitze Hut auf dem Relief stellte den Hirsestößel dar. Aber nicht alles, was die Palastmauern schmückte, war so blutrünstig. Da waren die schönsten Symbolfiguren. Es gab ein Bild, das ohne Zweifel einen Büffel darstellte. Unerklärlicherweise aber hatte dieses Tier ein rotes Beinkleid an. Der König erklärte das so: Es ist genauso unmöglich, einem Büffel eine Hose auszuziehen, wie den Herrscher seiner Macht und Würde zu entkleiden.
Reliefs im Königspalast
Die Einladung des Königs für den Abend haben wir gerne angenommen. Joko schien sich ebenso darüber zu freuen, er merkte offenbar die majestätische Zuneigung. Die Leckerbissen und die Ration Rotwein, die ihm zu Mittag freundlich zugeteilt wurden, hatten ihre Wirkung getan. Ich schleppte Tongerät, Kabel und Mikrofon vom Auto in den Palast. AHO kam uns erfreut bis an die Tür entgegen. Dieses Abendessen fand nicht im Audienzsaal, sondern in einem etwas kleinerem Raum statt. Hier standen Stühle um einen makellos gedeckten Tisch. Wir waren erfreulicherweise nicht mehr wie zu Mittag gezwungen, uns auf die Erde niederzulassen. Ein Requisit, das der Europäer am meisten im Busch vermisst, ist ein Stuhl. Von AHO war es eine Geste größter Liebenswürdigkeit, dass er an diese Sitzgelegenheiten gedacht hatte.
Es gab gebratenen Hammel, den man sicher viele Stunden neben den Flammen am Spieß gedreht hatte, so zart und gar waren die Stücke. Dazu Salat und Weißbrot. Rotwein stand in großen Karaffen überall, wohin man blickte. Im Laufe des Essens befragte Mackie den König über die Gebräuche des Fetischkults in seinem Reich. Zum Aufwärmen gab er mit unseren im Niger erworbenen diesbezüglichen Erkenntnissen schrecklich an. AHO lud uns daraufhin ein, für ein halbes Jahr seine Gäste zu sein. Ein Haus wolle er für uns bauen lassen, darin sollte es an nichts mangeln. Schweren Herzens schlugen wir das Angebot aus, denn die Zeit drängte. Aber wir versprachen, im nächsten Jahr wiederzukommen. AHO war erkennbar traurig. Er hatte uns ins Herz geschlossen und wollte wenigstens unsere Namen und Adressen haben. Schallend klatschte er in die Hände. Augenblicklich erschien sein Sohn auf dem Bauch, empfing eine Order, robbte hinaus und kam auf dieselbe Art wieder herein. Er brachte einen Notizblock und einen Bleistift mit.
Wir wurden gebeten, ihm unsere Adressen zu diktieren. Der Prinz aber zeigte vor uns einen derartigen Respekt, dass wir ihm die Angaben auf etliche Meter zuzurufen hatten. Das Buchstabieren über die Entfernung war mühsam, so klärte Schani die Situation, indem er freundlich bat: “Wollten Eure Hoheit nicht ein wenig näher rutschen?“ (Ein Satz, den wir bis zu unserer endgültigen Heimkehr oft als erheiternden running gag gebrauchten.) Seine Prinzenhoheit schlich heran und wir nahmen die Eintragungen selber vor. Unterdessen gab König Aho einige Befehle, die wir nicht verstanden. Kaum war der Prinz verschwunden, öffnete sich der Türvorhang und etwas verschämt zögernd, erschienen die 40 Schönen des Palastes. Auf einen Wink AHO’s platzierten sie sich hinter seinem Sessel.
Kniefall der Königsfrauen
Eiligst bereitete ich die technischen Voraussetzungen für die Aufnahme vor. Zwar gab es im Palast elektrischen Strom in geeigneter Spannung, der schwankte aber so stark, dass ein Gleichlauf des Tonbandes nicht mehr gegeben war. Ich holte Umformer und Batterie aus dem Auto, wobei Kopezky mir schleppen half. Er verstand ohnehin kein Wort von dem, was gesprochen wurde. König AHO hatte das Fehlen von Joko während des Essens bemerkt. Wir holten ihn bei der Gelegenheit herein. Sein erstes Werk war die Vernichtung einer Rotweinkaraffe, in dessen am Boden verschütteten Inhalt er ausgiebig plantschte. Das war uns peinlich, aber der König lachte herzlich darüber. Joko wurde mit Kopezky in einen Nebenraum verbannt, denn die Darbietungen der Amazonen begannen.
Singende Königsfrauen
Es waren teils blutrünstige Texte, wie man uns später übersetzte. Feinde wurden gequält oder getötet, Heldinnen verherrlicht und zu Krieg und Kampf aufgeputscht. AHO war stolz auf seinen Harem. Wenn es seine Finanzen erlaubt hätten, dann wäre er sicher auf die vierhundert Gattinnen seiner Vorfahren gekommen. Aber die Zeiten waren schwer für einen König von Frankreichs Gnaden. Und offiziell war er es nicht einmal, sondern Chef de canton.
Wie es am Hofe weitergeht folgt im nächsten Kapitel 23.
Fotos alle Rechte: H. M. Prasch, Ton: herbert M. Prasch
Verwertungsrechte Tonaufnahme: Phonogrammarchiv der Akademie der WissenschaftenT
Obwohl es nicht spät ist, bricht die Dunkelheit schnell herein. Die außerordentliche Hitze dieses Tages bleibt verebbend eine Zeit lang spürbar. Angenehm ist die Nähe der Touaregfamilie, sie wirkt allein durch ihre Anwesenheit beschützend und entspannend. Niemals vorher hatte ich das Gefühl, den Schutz einer Gruppe Touareg zu benötigen. Das gibt mir Gelegenheit zu reflektieren. Ich überlege mir den Schluss dieses ersten Buches und die Schilderung der folgenden Jahre meiner Tätigkeiten in Europa, Afrika, Peru und wieder zurück. Bei Reisen prägen sich die primären Eindrücke stärker als die nachfolgenden ein. Glasklar erinnere ich mich an die ersten Forschungsreisen in Afrika aus den Jahren 1954 bis – 63 und die dabei gewonnenen Erfahrungen. Wobei die Grenzen zwischen der zweiten und dritten Expedition schon recht unscharf geworden sind. Faszinierend finde ich die großen Unterschiede der zahlreichen religiösen Kulte Afrikas, die von uns entdeckt und teilweise dokumentiert wurden. Doch die rasante politische Entwicklung seit 1960, das Jahr, in dem die Kolonialmächte sich offiziell aus Afrika zurückzuziehen begannen, hatten diese tief in den Völkern verwurzelten Glauben und Bräuche marginalisiert. Vor allem die jeweiligen religiösen Traditionen wurden entweder kommerzialisiert, wie Voodoo, oder zogen sich in schwer erreichbare Gegenden zurück, wozu der radikale Islamismus mit seinen salafistischen Idealen maßgeblich beigetragen hat. Seit vielen Jahrzehnte eroberte friedlicher Islam aus dem Norden des Kontinents große Gebiete Afrikas. Er lebte gleichberechtigt neben uralten afrikanischen Kulten, sowie importierten oder autochthonen Religionen.
Es wird kühl, und ich ziehe mich in den wärmenden Schlafsack zurück. Die politischen Einflussnahmen, vornehmlich durch streng islamische Länder, vermindern das Gefühl relativer Sicherheit der Jahre meiner ersten Expeditionen. Das Vorgehen Chinas zur Wahrung seiner wirtschaftlichen Interessen lässt Vergleiche mit den kolonialistischen Bestrebungen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts absolut zu. Gewiss mit dem Unterschied, dass diese chinesischen Investitionen, vor allem diejenigen in die jeweilige Infrastruktur der Länder, ausschließlich populistischen Zwecken dienen. Ich schätze mich glücklich, meinen Aufenthalt in einem wegen seiner Abgelegenheit sicheren Gebiet gewählt zu haben. Obwohl es ohne Zweifel anderswo in Afrika ebenso geschützte Möglichkeiten gibt; die Qualität der Sahara ist kaum zu ersetzen. Erschöpft von den heutigen Erlebnissen werden die Gedanken langsamer und undeutlicher. Im Abtauchen in einen erholsamen Schlaf nehme ich noch den Mond wahr, der sich, für diese Gegend ein ungewöhnlicher Anblick, einen großen Hof zugelegt hat.
Das Gefühl, beobachtet zu werden, wirkt wie ein Weckruf. In respektvoller Entfernung stehend, sehen mich Dayak Aïscha und seine Tochter an. Ich bin mir zwar nicht sicher, ob sie miteinander verwandt sind, aber es wäre so passend. Wie sie bemerken, dass ich die Augen öffne, kommen beide näher. Sie fragt mich, wie es mir geht und ob etwas benötigt würde. Ich schlüpfe umständlich aus dem Schlafsack, begrüße die Besucher und verneine die Frage. Wir wechseln einige belanglose Worte über den seltsamen Mond heute Nacht. Die Familie wird jetzt weiterreisen, sie würden aber zwei Männer zurücklassen, um mir behilflich zu sein. Ein Angebot, das ich dankend ablehne. Im Hintergrund bewegen sich Menschen und Tiere, die Zelte sind längst abgebaut und mit den Holzstangen auf die Kamele geladen. Was haben sie mit den Wüstenschiffen angestellt, das sie beim Beladen nicht dazu bringt, gurgelnd zu brüllen. Diese Geräusche hätten mich unweigerlich geweckt. Meine Verlegenheit ist groß, weil ich habe nichts bei mir, was ein würdiges Abschiedsgeschenk für die Lebensretter wäre. Schnell räume ich die Lebensmittel aus der Aluminiumkiste lose in den Rover. Mit der Bemerkung, dass dies ein Andenken sei, stelle ich diese vor ihre Füße. Damit habe ich offensichtlich ins Schwarze getroffen, denn nach einigen Abschiedsfloskeln eilten sie in ihren wallenden Gewändern mit der Kiste zur Karawane zurück. Vermutlich werden sie darin den für sie wichtigen Kamelmist transportieren.
Die letzten Nachzügler, ein paar Kinder, die Ziegen führen, verschwinden hinter dem Horizont, die absolute Stille der Sahara lässt mich alle Aufregung vergessen. Eine juckende Stelle an der Stirne will ich im Rückspiegel des Landrovers betrachten. Aus dem Glas blickt mir ein Greis entgegen. Die grauen Haare am Kopf und der Bart wirken auf der von der Sonne hoch geröteten Haut schneeweiß, die Falten darin haben sich in der Nacht vertieft und zerklüften scharfkantig mein Gesicht. Es gleicht dem eines lebenslang von Witterungen gegerbten, weit über hundert Jahre alt gewordenen Targi. Verstärkt wird der Eindruck biblischen Alters durch den darauf klebenden Wüstensand. Es ist ein Sakrileg, aber ich wasche mir mit kaltem Wasser aus der Gerba den Sand von der verbrannten Haut. Ein neuerlicher Blick in den Spiegel zeigt jetzt eine leichte Verjüngung des Aussehens. Ich beschließe, den heutigen Tag in aller Ruhe anzugehen. Das Feldbett ist mit dem zusammengerollten Schlafsack darauf bequem zum Sitzen geeignet. Das nütze ich jetzt aus und nehme dort das Frühstück zu mir. Etwas Wind kommt in kleinen Böen auf. Sie sind kurz und weich, aber in deutlichem Gegensatz zur Stille der Umgebung an den Ohren doch recht laut. Die Bemerkung des zukünftigen Amenokal, dem gewählten Oberhaupt aller Touareg, den merkwürdigen Mond betreffend, beschäftigt mich. Es gibt eine Weissagung, dass wenn Derartiges geschieht, sich die Mächtigen der Welt uneins sind und gegeneinander kämpfen. Ähnliches habe ich früher im Sudan über das Erscheinen eines Hofes um den Mond gehört.
Trotz leichten Unwohlseins beschließe ich, bis zum „Grand Erg“ zu fahren. Nach ein paar Kilometern schneller Fahrt steigt Unlust in mir hoch, außerdem erfasst mich ein Gefühl der Schwäche. In großem Bogen drehe ich in der scheinbar endlosen Weite der Hamada den Kühler des Rovers auf Süd-Ost. Der Motor brummt brav und gleichmäßig. Da es keine Vorratskiste mehr gibt, haben sich ein paar Konservendosen selbständig gemacht. Ihr geräuschvolles Hin- und herrollen auf der Ladefläche nervt ordentlich, doch deshalb stehen zu bleiben kommt nicht infrage. Ich strebe nach Hause in die Auberge. In nicht zu weiter Entfernung taucht eine Gruppe Gazellen auf. Das wäre ein nettes Mitbringsel für Michelle und François. Leider äsen die Tiere rechts von meiner Fahrtrichtung, zwischen der untergehenden Sonne und mir. Ich gelange deshalb nicht unentdeckt in ihre Nähe. Sie würden außerhalb sicherer Schussentfernung flüchten. Aber es gibt morgen früh in der Dämmerung eine weitere Chance. So schlage ich in einem mit wenigen Büschen bewachsenen Gebiet das Nachtlager auf. Ein inzwischen beinhart gewordenes Stück Baguette, mit dem Inhalt einer der herumrollenden Dosen Paté bestrichen stillt meinen Hunger. Damit das Essen besser rutscht, trinke ich dazu eine halbe Flasche extrem erwärmten Rotwein. Der Schlafsack lockt. Neben dem effizienten Schutz vor nächtlicher Kälte vermittelt er ein trügerisches Gefühl der Geborgenheit.
Der Gedanke, mit einer frisch erlegten Gazelle meinen Wirtsleuten Freude zu bereiten, hat von mir voll Besitz ergriffen. Die erste Dämmerung lässt mich hochfahren und hellwach packe ich schnell zusammen. Leider erweist sich die Gegend, in der ich die Nacht verbrachte, zum Jagen für absolut unergiebig. Ungeordnet werfe ich die Schlafsachen ins Auto und fahre sofort los. Da meine Rückreiseroute anders liegt, als die der Anreise, wende ich den Rover direkt nach Osten. Das funktioniert problemlos, denn in der flachen Hamada benötigt man in dieser Jahreszeit keine vorgezeichneten Pisten. Solch bedenkenloses Herumkurven in unendlicher Einsamkeit lässt lang vermisstes Gefühl von Freiheit hochkommen. Ich erinnere mich an die frühere Durchquerung einer leichten, zart begrünten Senke, in der ich eine Anzahl Gazellen nebst Antilopen gesehen hatte. Dorthin trachte ich. Nach kurzer, schneller Fahrt liegt eben diese paradiesische Tiefebene vor mir. Die Sonne steigt über den Horizont. Aber leider komme ich von der falschen Seite, denn mich hat die Erfahrung gelehrt, bei Jagden das Tagesgestirn möglichst hinter sich zu haben. In respektvollem Abstand von den scheuen Tieren umrunde ich diese. Nur einige von ihnen äugen reaktionslos zu mir herüber. Solange ich fahre, besteht aus ihrer Sicht keine Gefahr für sie. Sie scheinen sich an fahrende Autos gewöhnt zu haben, denn allgemein flüchten diese Tiere vor bewegten Objekten. Die Fenster des Fahrzeugs sind alle geöffnet, kühler Luftzug lässt Kopfhaar und Hemd flattern. Der Drilling liegt, provisorisch vor einem Sturz gesichert, griffbereit am Beifahrersitz. Endlich habe ich die Sonne exakt im Rücken und das Anpirschen im Auto beginnt. Spätestens jetzt stellen sich ehrlichen Jägern, die auf europäische Jagdgesetze und deren Ethik geschult sind, die Haare zu Berge. Doch in Afrika herrschen andere Gesetze. Hier schießt man nicht, um Trophäen zu erhalten, sondern zur Nahrungsbeschaffung. Außerdem würde es Tage brauchen, um sich dem Wild auf erfolgversprechende Schussentfernung zu Fuß anzunähern. Es gibt keine Bäume oder größere Steine, um dahinter Deckung zu finden.
Es folgt Routine. Äußerst vorsichtig an die Gruppe Gazellen heranfahren, das Auto in Schussposition bringen, sich währenddem trotz weit überhöhter Pulsfrequenz nur in Zeitlupe bewegend. Dabei wird einem nicht bewusst, dass man zu atmen aufgehört hat. Das Zielfernrohr hat den ausgewählten Bock längst erfasst, der Finger liegt am Druckpunkt des Abzugs ……, das mit eingelegtem Gang langsam dahinrollende Fahrzeug ruckelt zweimal, nach einer Fehlzündung bewegt es sich nicht mehr. Diese Geräusche lösen bei der Herde eine kurze Fluchtbewegung aus, der Bock gerät aus dem Schussbereich. Verwundert, aber keineswegs alarmiert spannen ein paar Prachtexemplare mit aufgestellten Lauschern zu mir herüber, um dann gemütlich weiter zu äsen. Das Warnlicht der Tankuhr blinkt aufgeregt. Um die Benzinkanister zu erreichen, muss ich aussteigen. Mit äußerst langsamen Bewegungen Geräusch vermeidend öffne ich die Wagentüre – mit einem bellenden Ruf warnt ein Bock die Herde, die sofort flüchtet. Wie zum Hohn bleiben die Tiere nach wenigen Metern erwartungsvoll stehen und beäugen mich voll Interesse. Kaum setze ich einen Fuß auf den Wüstenboden, jagen sie mit gewaltigen Sprüngen in die Weite. Ihre weißen Spiegel leuchten im Morgendunst verschwindend.
Schwer verärgert und enttäuscht wegen dieser verpassten Gelegenheit fülle ich Benzin in den Tank. Nach einigen Startversuchen geht es wieder Richtung Süden. Ich schiebe die Ursache an meinem Versagen bedenkenlos verschiedenen Fremdverschulden zu, deren Richtigkeit hier ohnehin niemand überprüft: Dem durch die Sonne verursachten mangelhaften Körperzustand, der Firma Landrover – weil sie keine größeren Tanks in ihre Autos einbauen – dem minderwertigen Benzin, den nachlässigen Schutzengeln und der mangelnden Erziehung durch die Eltern, bis hin zu den unfähigen Lehrern meiner Volksschulzeit.
Etwas Trauer umfängt mich, denn ich möchte einmal noch in die Schönheit der Wüste eintauchen. Ich hole mir eine Kleinigkeit zu essen, die halb geleerte Flasche Rotwein und nehme damit, die Beine baumeln lassend, auf der Ladefläche des Autos Platz. Ohne Mühe wandeln sich Ärger und Trübsal in Glücksgefühle. Ich lasse die absolute Stille und unendliche Weite auf die verwundete Seele wirken. Die Ewigkeit darf jetzt beginnen, und ich wäre damit zufrieden. In solch gehobener Stimmung setze ich die Reise fort. Spuren anderer Fahrzeuge kreuzen meinen Weg oder laufen parallel dazu. Nach einiger Zeit wird die schmale Piste durch unregelmäßig gesetzte Steinhäufchen erkennbar, die sie begrenzen. Bis zum Abend wird die Strecke zur Auberge geschafft sein. Ich bin kürzer als geplant unterwegs, irgendein unbestimmtes Gefühl drängt mich zu vorzeitiger Rückkehr.
Offenkundig habe ich zu lange beglückt in die Wüste gestarrt, denn ohne Überleitung bricht die Dunkelheit herein. Die Häufchen aus Steinen, von vorsorglichen Menschen am Rande der Piste aufgebaut, werden stetig größer und zeigen den Verlauf der Strecke an. Im Licht der Scheinwerfer erreiche ich endlich das breite Band der Wellblechpiste, die an der Auberge vorbeiführt. Der leistungsstarke Motor des Landrovers lässt zügiges Tempo zu. Bald sehe ich am Horizont Lichtschein. Der kann nur von der Beleuchtung des Hauses der Mouloudjis sein. Kurz vor der Abzweigung in den Weg zum Ziel queren drei Gazellen gemütlich die Straße. Ich fühle mich verhöhnt. Hier, in dieser Gegend, dürften gar keine sein. Man hat im Haus mein Kommen schon längst gehört und gesehen. Wie von Geisterhand öffnet sich das Tor der Einfahrt, François winkt freundlich, was mir ein Gefühl des Geborgenseins in einer Familie gibt. Im weiträumigen Hof parkt ein grau lackierter Toyota, ein Auto der algerischen Polizei. Die Anwesenheit solcher Beamten, weit entfernt jeder Zivilisation, löst stets Unbehagen aus. Ich stelle den Motor ab, lösche die Lichter und steige aus. François schließt das Tor und kommt schnellen Schrittes herbei. Nach der herzlichen Begrüßung sagt er mir mit einer Wendung seines Kopfes in Richtung Toyota, die wären wegen mir hier. Sie sind schon gestern frühmorgens aufgetaucht und wollten unbedingt auf mich warten. Damit erklärt sich ebenfalls der nicht gewöhnliche Aufwand an Licht im und um das Haus. Merde, denke ich, was haben die vor, weil sie sogar Tage von ihrer Zeit opfern?
Obwohl keiner Schuld bewusst, betrete ich mit mulmigem Gefühl die Gaststube. Da sitzen, Kaffeetassen vor sich, alte Bekannte. Es sind drei der Polizisten, die vor einigen Wochen hier waren. Sie sind diesmal erstaunlich freundlich, der Anführer steht auf und reicht mir die Hand. Der Offizier trägt eine adrette Uniform, ein Überbleibsel aus der französischen Zeit Algeriens. Es gab Überfälle in seinem Distrikt, meint er, weshalb er die Pflicht habe, mit mir darüber zu reden. Michelle umarmt mich kurz, aber demonstrativ. Angewandter Mutterinstinkt: „tue ihm nichts, sonst bekommst du es mit mir zu tun“. Der Polizeioffizier und ich setzen uns an einen Tisch. Er bekommt eine Tasse Kaffee hingestellt, die Wirtin bringt mir augenzwinkernd einen Whisky mit Eis. Er fragt, wo ich mich die letzten Tage aufgehalten hätte und ob meine Waffe vorhanden wäre. Ich bitte Françoise, das Gewehr aus dem Landrover zu holen. Währenddem erzähle ich dem Algerier, etwas ausgeschmückt das Abenteuer der vergangenen Tage. Wichtigtuerisch betrachtet er die Waffe, vergewissert sich, indem er sie aufklappt, dass sie ungeladen ist. Zufrieden mit den Ergebnissen seiner Inspektion gibt er sie mir wieder zurück. Ich danke meinem Schutzengel für das Pech bei der Gazellenjagd. Wäre ich mit Beute heimgekommen, hätte das peinlich werden können. Algerien hat verschiedene Gebiete zu Reservaten erklärt, bei denen man nicht so genau erkennt, wo deren Grenzen sind. Der deutlich edel bemessene Whisky wirkt, die Augen brennen vor Müdigkeit. Beruhigt über den Ausgang des Gesprächs verabschiede ich mich allgemein und strebe meinem Turmgemach entgegen. Oben angekommen versperre ich vorsorglich die Türe, stelle das Gewehr in die Ecke. Angezogen aufs Bett fallen und sofort einschlafen ist eins.
Arabische Laute, die vom unteren Stockwerk heraufklingende, holen mich aus tiefem Schlaf. Geräuschvoll fährt das Polizeiauto ab. Jetzt aber duschen und frühstücken. Das Wasser hat in der Nacht beachtliche Kälte gespeichert, sodass ich beschließe, mich nur notdürftig zu waschen. Mit frischer Kleidung am provisorisch gewaschenen Körper steige ich in die Gaststube hinunter. Der Frühstücksplatz ist wie gewohnt vorbereitet. Ich rücke den Stuhl hörbar zurecht. Aus der Küche klingen klappernde Geräusche und die Stimme Michelles, die fragend meinen Namen ruft. Dank ihrer arabischen Abstammung, kann sie den Anfangsbuchstaben „H“, von Herbert aussprechen, was bei François, dem gebürtigen Franzosen, stets wie “ärbär“ klingt. Ich antworte mit einem gerufenen oui und guten Morgen. Sie erscheint mit einem voll beladenen Tablett. Obwohl ich kein großer Frühstücker bin, freue ich mich diesmal darauf. Das scheint die Gute erraten zu haben, denn es ist üppig, was sie mir da auf den Tisch stellt. Sie schenkt den Tee in die Tasse und meint dabei: ils font la guerre en Europe. Ja, sie sagt es tatsächlich so: Sie machen Krieg in Europa! Da diese Idee nach so vielen Jahrzehnten Frieden derart absurd ist, denke ich kurz an einen Scherz. Oder möchte sie mir damit andeuten, dass ich doch lieber hier in der Wüste bleiben soll? Sie bestätigt es aber nochmals und erzählt mir Details. Russland fiel mit einer Übermacht in die Ukraine ein. Doch diese wehrt sich mit Unterstützung des Westens erfolgreich. Jetzt erklärt sich der unvorhergesehene Besuch der Polizei. Die angeblichen Überfälle waren nur ein Vorwand. Ich kann und mag es nicht glauben, dass es im einundzwanzigsten Jahrhundert zivilisierte Menschen gibt, die einen dritten Weltkrieg heraufbeschwören. Dessen ungeachtet steht mein Entschluss fest, mich nach dem opulenten Frühstück konzentriert dem Schreiben zu widmen.
An diesem Abend frage ich um die Erlaubnis, mit fernsehen zu dürfen. In dem Raum, in dem sich das Fernsehgerät befindet stehen zwei Lehnsessel, fast unverrückbar schwer aus massivem Holz gefertigt. Man findet diese gleich aussehenden, mit weichen Polstern ausgelegten Möbelstücke überall in Afrika. Die breiten Armlehnen wären ideal zum Abstellen von Gläsern geeignet, wenn sie nicht schräg nach hinten zur Lehne steil abfielen. Die Szene ist gespenstisch. Ich sitze, bequem angelehnt, in der Hand ein Glas mit Pastis, worin die frischen Eiswürfel knackend in Stücke springen. Ein Ambiente des Wohlfühlens, während Fernsehbilder das Grauen des Krieges in Europa zeigen. Kaum siebenhundert Kilometer von Wien entfernt, das ist in etwa die Fahrtstrecke von Wien nach Berlin, töten Menschen auf Geheiß von Politikern andere Menschen zu Tausenden. Jeden Abend treffen wir uns jetzt zu den Nachrichten. Täglich zeigen die Bilder brutale Zerstörungen, Leid und Gewalt. Stunden- und tagelang in moderigen Kellern ausharren, am näherkommenden Geräusch der explodierenden Bomben die Entfernung abschätzen. Ich habe es selbst erlebt. Es war qualvoll, bei Treffern in der Nachbarschaft im flackernden Licht der nackten Glühbirne den durch die undichten Türen eindringenden Staub einzuatmen. Das alles ist in Europa wieder eingekehrt. Von den Leuten einer Generation verursacht, die das Glück hatten, in eine siebenundsiebzig Jahre dauernde Zeit des Wohlstands durch prosperierende Wirtschaft geboren worden zu sein. Sie lebten in dem Luxus, den ihre Eltern oder Großeltern aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs geschaffen haben. Ähnlich wie die Covid-Pandemie erschüttert dieser Krieg alle Länder dieser Erde und wir sehen voraussichtlich großen globalen Veränderungen entgegen.
Diese Gedanken beschäftigen mich so ausschließlich, dass ein konzentriertes Weiterschreiben nicht mehr möglich scheint. Binnen Stunden fällt mein Entschluss, hier abzubrechen und nach Hause zu fahren. Der fehlende Schluss des ersten Teiles der Zeitgeister kann daheim geschrieben werden. Ich setze ihn umgehend in die Tat um. Der Abschied von Michelle und François gestaltet sich etwas sentimental, doch der Hinweis auf die Länge der zurückzulegenden Strecke, lässt weitere Peinlichkeiten nicht aufkommen. Die Fahrt wird zehn Tage dauern und ich verspreche, mich sofort nach meiner Ankunft in Wien zu melden.
Sahara Dünen
König Aho, Herrscher über das Volk der Fon in Dahomey, blickte nach den gesanglichen Darbietungen eines Teiles seines Harems, stolz in die Runde. Wir kannten uns nicht so recht aus, ob Applaus angebracht wäre. Doch Mackie rettete die Situation, indem er sich mit höflichen Worten bedankte. Es war erstaunlich, dass Aho, dieser weitgereiste Mann, der alles über Europa und die Welt wusste, der die etwas veralteten Zeitungen las, sobald sie hier in Abomey eintrafen, dass er inbrünstig an Geister glaubte. Knapp vor Mitternacht erhob sich Aho abrupt. Er werde jetzt zu seinem Bruder, dem berühmtesten Fetischpriester des Landes fahren. Der würde in ein paar Stunden DAN, die große Regenbogenschlange befragen, wann sie zu essen gedenkt, somit Opfer annimmt. Ob wir mitkommen wollen? Spontan stimmten wir zu. Ich hatte Sorgen, denn der Akkumulator war durch die vergangenen Aufnahmen fast leer. Standesgemäß besaß der König eine blitzsaubere Peugeot 203 Limousine.
Er wartete, bis wir unser Gefährt beladen und bestiegen hatten. Aho fuhr nicht selbst, aber ließ seinen Fahrer forsches Tempo halten. Damit wir den Vordermann nicht verloren, forderte ich die 28 PS des IFA bis zum Letzten. Mehrmals musste der König warten, bis wir ihn einholten. Irgendwann einmal waren seine Hecklichter nicht mehr zu sehen. Im Lichte der völlig verstellten Scheinwerfer tastete ich mich weiter, bis wir das Staatsgefährt wieder sahen. Oft stellten sich uns nachtaktive Tiere in den Weg, die zu umfahren mir knapp gelang. Bei einer Abzweigung hatte er gewartet, fuhr aber sofort los, als unsere Lichter für ihn zu sehen waren. Glücklicherweise fanden wir in der Dunkelheit die richtige Weggabelung.
Auf einer Lichtung vor uns brannten die Feuer eines kleinen Dorfes. Dort stand der Wagen des Königs. Er war umgeben von einer großen Menschenmenge, die sich bei unserem Näherkommen teilte. Aho hatte im Auto auf uns gewartet. Sein Sinn für dramatische Effekte war recht ausgeprägt, denn er wollte uns das Schauspiel seines Aussteigens bieten. Der Wagenschlag öffnete sich und wir hörten ein gewaltiges Rauschen. Es waren die Boubous, die bodenlangen Gewänder der Umstehenden. Wie von einem Orkan hingestreckt, fielen hunderte Menschen im Umkreis in sich zusammen. Das ergab eine gespenstische Szene. Der Herrscher stand aufrecht inmitten dieser sich auf dem Boden windenden Masse. Niemand erhob sich. Ein Mann, geschätzte vierzig Jahre alt, kroch durch die Liegenden auf den König zu. Er erweckte einen muskulösen und gedrungenen Eindruck. Es war der Bruder Ahos, der große Medizinmann. Kniend küsste er dem Herrscher die Hand. Es schien aber Unstimmigkeiten zu geben. Es gab Rede und Widerrede, bis Aho’s Stimme lauter wurde. Seine Worte klangen wie ein Befehl. Er wandte sich uns zu und berichtete kurz, dass wir jetzt die Erlaubnis hätten, am Fest teilzunehmen. Hier war er König. Der große allmächtige Herrscher, dessen Wille für alle Gesetz war. Unvorstellbar, dass er in Abomey in seinem Palast Hof hielt, aber jeder französische Beamte durfte ihm diktieren, was erlaubt ist. Seit Jahrzehnten bemühte sich die Kolonialmacht Frankreich vergeblich, Maßnahmen und Neuerungen durchzudrücken. Vor allem im Gesundheitssystem und agrarpolitisch. Überall stießen sie auf unüberwindliche Schwierigkeiten, die dann letztlich dazu führten, dass man laufen ließ, wie es eben läuft. Ein einziger Wink mit dem kleinen Finger von diesem König, und der Dschungel lag ihm zu Füssen. Die Franzosen nahmen an, dem Monarchen alle Machtbefugnisse genommen zu haben. Hier sahen wir das Volk vor ihrem wirklichen Herrscher liegen, obwohl sein Reich seit einem Jahrhundert nicht mehr bestand. Wir schrieben es seiner politischen Umsicht und internationalen Erfahrung zu, dass es in diesem Land nicht zu blutigen Aufständen gegen die Kolonialmacht gekommen war.
Wir hatten uns mit Aho auf dem Dorfplatz niedergelassen. Kopezky fotografierte und ich schleppte meine etwa sechzig Kilo an Geräten herbei. In einer Ecke des Platzes stand etwas erhöht der Fetisch. Diese Figur war wie der Klosterfetisch von getrocknetem Blut überkrustet, ihre Form aber weniger zu erkennen. Immer mehr Menschen kamen aus dem Busch. Die vom aufgewirbelten Staub gesättigte Luft durchströmte der nur Afrikanern eigene Schweißgeruch. Ich habe diesen ausschließlich in Afrika bemerkt. Ein Phänomen, das durch die spezifische Ernährung der Schwarzen zu entstehen schien. Er wirkte keineswegs unangenehm, gehörte zum Ambiente. Nach kurzer Wartezeit erschien der Feticheur, umringt von Gehilfen. Ohne uns nur eines Blickes zu würdigen, setzte er sich vor den Fetisch. Sofort verstummte in der versammelten Menge jedes Gespräch, gespannte Ruhe kehrte ein. Unterstützt von seinem Gefolge, Beschwörungsformeln murmelnd stellte er ein Holztablett vor sich auf den Boden. Er griff in die Tasche seines Gewandes und holte drei Kolanüsse heraus. Unter weiteren Beschwörungen brach er die Nüsse an deren Nähten auseinander, hielt sie einen Augenblick über seinen Kopf und ließ sie dann zusammen auf das Brett fallen. Tief beugte er sich darüber, murmelnd betrachtete er das Tablett, um gleich bedächtig aufzustehen. Er übergoss den Fetisch aus einer Kalebasse mit Palmöl, wendete sich ab und schritt wieder an uns vorbei, bis zu einer erhöhten Stelle. Dann sprach er zu der atemlos lauschenden Menge. Es waren nur einige Worte. Das Publikum brach in Freudengeheul aus und gebärdete sich wie eine Schar glücklicher Kinder. Er hat ihnen mitgeteilt, dass Dan, die große Regenbogenschlange zufrieden sei und demnächst zu essen wünsche.
Diese Orakelzeremonie, die wir Europäer ausnahmsweise beobachten durften, diente dazu, die Wudu nicht zu erzürnen. Das ist das Wort für Geister. Kam uns bekannt vor. Das klang doch so ähnlich wie Voodoo? Ja, diese zwei Kulte sind miteinander verwandt. Die Sklaven, die von Westafrika nach Südamerika gebracht wurden, haben die Rituale mitgenommen und dort wieder aufleben lassen. Ebenso stammen die grundlegenden Rhythmen der afrobrasilianischen Musik von hier. Der Priester kam zurück, hinter ihm drei weitere Männer in gleichen Gewändern, die Unterpriester. Sie waren beauftragt, die Gebete zu unterstützen, welche eine Gruppe Frauen sangen. Normal sind es elf Strophen, doch das Orakel hat diesmal einundvierzig verlangt. Nur äußerst selten werden alle gesungen, ein ausgesprochener Glücksfall für uns. In dem Wissen, eine fast leer gefahrene Batterie zu haben, fuhr ich den Umformer hoch und schaltete das Tonbandgerät ein. Es gelang mir, schnell das Mikrofon an einem geeigneten Platz aufzustellen, da erklang schon der erste Gesang. Der Frequenzmesser zeigte stabil 50 Hertz, das Instrument zur Aussteuerung der Tonaufnahme, ein magisches Auge, zuckte grün, das Band drehte sich, und wider Erwarten konnte ich zumindest den Beginn dieser einmaligen Aufführung aufnehmen. Eingekrampft und in Schweiß gebadet starrte ich ausschließlich auf die Messinstrumente, um bei einem etwaigen Abfall der Spannung gleich zu reagieren. Ich verwendete zwar Kopfhörer, war aber so auf die Technik konzentriert, dass ich akustisch faktisch nichts wahrnahm. Unvermittelt hielt das Band an, das Leuchten der Anzeige erlosch, der Umformer schwieg …. die Batterie war leer. Mein ohnehin nicht ungeheuer ausgeprägtes Selbstbewusstsein schmolz mit dem Sterben der Autobatterie dahin. Geschockt und wie paralysiert kniete ich vor den jetzt nutzlosen Geräten. Bis mir Mackie auf die Schulter klopfte und fragte, was ich denn hier weiterhin machen wolle, die Gesänge seien schon lange vorbei. Das war natürlich übertrieben, aber ich hatte alle Strophen auf Band und dankte den Geistern für die unwirkliche Kapazitätssteigerung der Batterie.
Chor der Frauen
Inzwischen wurden die Feuer neu geschürt. Übermannshohe Flammen schossen empor und beleuchteten die umliegenden Hütten. An einer Feuerstelle versammelten sich die Musiker, die Tamtamiers. Mit größter Begeisterung schlugen sie rhythmisch auf ihre umgekehrten Kalebassen ein. Mit gemischten Gefühlen, weil ungewohnt untätig, hörte ich der Musik zu. Es war ein intensives Erlebnis, da ich mich erstmals voll auf Rhythmus und Klang dieser einfachen Instrumente konzentrieren konnte, ohne Ablenkung durch die Aufnahmetechnik. Auf dem gesamten Platz wurde getanzt, Männer wie Frauen. Wir verbrachten noch eine Zeit lang im Dorf, während der unsere Gläser, sobald sie leer waren, stets mit Kognak nachgefüllt wurden. Aber da uns zuschauen alleine nicht genügte, baten wir Aho, nach Hause fahren zu dürfen. Er bot uns sein Geleit an und wir folgten ihm. Vor Tagesanbruch erreichte der kleine Konvoi Abomey. Im Campement schloss ich die Batterie ans Ladegerät an, dann kroch ich, wie die anderen vor mir, in meinen Schlafsack und schlief etliche Stunden.
Am kommenden Tag gab es einen herzlichen Abschied von seiner Majestät König Justin Aho, Chef de Canton von Abomey. Nochmals wiederholte er seine Einladung und wir mussten ihm versprechen, dass wir bei einer neuerlichen Expedition unbedingt auf einen Sprung vorbeikommen werden. Joko erhielt zum Abschied eine Flasche Cognac überreicht, über die er vor Freude außer sich geriet. Wir nahmen sie ihm sofort ab, um sie bis zu seiner Großjährigkeit zu verwalten.
Nur 130 Kilometer trennten uns von den Gestaden des Atlantiks. Nichts hielt uns mehr. Nach zwei Tagen erreichten wir Cotonou. Es war Nacht, als wir das Wasser erblickten. Der Geruch des Meeres, die Sterne, die sich in den dunklen Wellen spiegelten, setzten unaussprechliche Gefühle in jedem von uns frei. Achteinhalb Monate Arbeit und Strapazen haben wir hinter uns gebracht. Wenig bekleidet rannten wir zum Wasser. Es war genauso warm wie die uns umgebende Lufttemperatur. Dessen ungeachtet planschten wir lange darin, wie vergnügte Kinder. Unsere Luftmatratzen lagen eng beieinander, die Regelmäßigkeit der Brandung rauschte uns in glücklichen Schlaf. Am Morgen brachen wir zeitig auf, da sich, zwar in respektvollem Abstand, Neugierige um uns versammelt hatten. Schwere graue Wolken lagen über Meer und Strand. Die große Regenzeit hielt sich eben nicht strikt an den gregorianischen Kalender. Bei extrem hoher Luftfeuchtigkeit und tropischer Temperatur fuhren wir in das Stadtgebiet. Beim Erreichen des Zentrums klebte die vom Schweiß getränkte Kleidung am Körper. Der französische Automechaniker in Niamey hatte eine Adresse in Cotonou angegeben, wohin er unsere Sachen schicken wollte. Nach einigen Irrfahrten fanden wir die Stelle. Da die Straßen asphaltiert waren, wagten wir es, den IFA zusätzlich mit Gepäck zu beladen. Er tat zwar wie ein Kamel seinen Unmut darüber kund, indem er in seinen strapazierten Blattfedern ächzte, aber er schluckte brav die hinzugekommene Last.
Mehrfach haben wir an Häusern der Vororte Nischen und kleine Vorbauten mit Figuren darin gesehen. Nicht erlahmender Forschergeist drängte uns, diese zu untersuchen. Was wir fanden, war höchst erstaunlich. Offensichtlich waren es Fruchtbarkeitsfetische. Menschenfiguren stellten den Zeugungsvorgang und die dazugehörenden Präliminarien beachtenswert eindeutig, ideenreich und in vielen möglichen Varianten dar.
Fruchtbarkeitsfetisch
Hier genauer nachzufragen wäre sicher unterhaltsam und wichtig gewesen. Doch die Vorfreude auf die Heimfahrt ließ unsere berufliche Neugier auf die nachfolgende, längst geplante Expedition verschieben. So fuhren wir gegen Westen, der Grenze zum englischen Kolonialgebiet Goldküste entgegen. Der Zustand der Straßen war erfreulich und unser Wagen, der nach der Schinderei in Wüste, Busch und Urwald wieder Asphalt unter seinen Sohlen merkte, zeigte sich von seiner bestgelaunten Seite.
Unsere Ernährung während der Strecke von Abomey bis zur Küste bestand ausschließlich aus Fleisch und wenigen Früchten. Letztere hatten wir in den Trockengebieten des Niger und im nördlichen Dahomey merklich vermisst. Hier aber vertilgten wir Kokosnüsse, Ananas und Wassermelonen in solchen Mengen, dass Eingeborene bedenklich die Köpfe schüttelten. Über lange Strecken der Fahrt an der Küste entlang herrschte Schweigen im IFA. Langsam wurden uns die Erlebnisse und das Ausmaß dessen, was wir geleistet haben, bewusst. Fünfzigtausend Meter bespieltes Tonband schleppten wir mit und Tausende Fotos. Ausreichend Material, um das Phonogrammarchiv der Akademie der Wissenschaften, die Universität und das Museum für Völkerkunde über längere Zeit damit zu beschäftigen. Jetzt bereuten wir es, dass niemand daran gedacht hatte, eine Filmkamera mitzunehmen. Die intensiven Vorbereitungen und Organisationsarbeiten, sowie der Zeitaufwand zum Beschaffen von Geräten für die Tonaufnahmen, hatten mich voll ausgelastet. Da kam Film überhaupt nicht infrage. Jetzt, am Ende der Expedition, waren wir zwar gescheiter, aber auch ohne professioneller Filmkamera zufrieden. Wir waren in höchstem Maße müde, dennoch ein bisschen stolz auf unser Kollektiv.
Am Meer entlang, auf gepflegtem Asphalt, ging es zügig nach Westen. Durch die ehemals deutsche Kolonie Togo und deren Hauptstadt Lomé zum Übergang in die britisch dominierte Goldküste. An der Grenze, nur wenige Kilometer nach der Stadt, wurden wir äußerst liebenswürdig empfangen. Unser Eintreffen war, wie üblich, telegrafisch angekündigt worden, und der französische Posten verabschiedete uns freundlich. Eingetroffen auf der anderen Seite grinste der schwarze Zöllner so lange, bis er die Gewehre sah. Jetzt wurde er amtlich und nahm eine Haltung ein, die Autorität vermitteln sollte. Für die Einfuhr von Waffen bedürfe es einer Erlaubnis aus Accra, erklärte er. Alle Versuche, ihm klarzumachen, dass wir nur durchfahren und es international üblich wäre, ohne Aufwand die Gewehre in das Carnet einzutragen, prallten an seiner Wichtigkeit ab. Dem gewohnten, eher jovialen Umgang der französischen Kolonialbeamten standen hier angelsächsische Disziplin und Sturheit gegenüber. Nur wenige Meter trennten uns vom blauweißroten Zollhaus. Die Regierung und alle offizielle Macht der Goldküste lagen in den Händen von Schwarzen. So war es ebenfalls mit dem Zoll.
Einen derart konsequenten Widerspruch gegen das Verlangen eines Europäers gab es in den von Franzosen verwalteten Gebieten nicht. Wir erwarteten und hofften, dass jede Sekunde der weiße Chef des Postens auftauchen müsse, mit dem man normal und logisch sprechen könne. Einen solchen gab es aber nicht. Die Debatte lief sich heiß. Wir hatten Glück, denn zufällig war ein Beamter der britischen Kolonialbehörden anwesend. Unter der Oberhoheit der Afrikaner führten Engländer die Administration dort weiter, wo sie wegen ihrer Erfahrung in Schlüsselpositionen gebraucht wurden. Wir erklärten ihm die Situation und er sprach mit dem Zöllner. Daraufhin trug dieser die Waffen mit allen Nummern und Merkmalen in das Carnet ein. Das beanspruchte ihn so umfänglich, dass er vergaß, die Visa zu verlangen. Ein wenig Glück gehört zu so einer Expedition dazu, denn wir hatten keine.
Das zügige Tempo auf ungewohnt glattem Asphalt ließ etliche Meilen vor Accra einem Reifen die Luft ausgehen. Nicht lange nach dem Radwechsel, zeigte sich ein weiterer Pneu mit ihm solidarisch und wurde ebenfalls platt. Da aber keine Reserve mehr da war, auf die wir zurückgreifen hätten können, entlud sich die aufkeimende Erbitterung über Mackie. Zu Recht, denn er hatte sich in Abomey geweigert, einen Reservereifen zu kaufen. Max stellte sich an den Urwaldrand und hielt den nächsten Wagen auf, der uns passierte. Es war ein luxuriöser Amerikaner, der ihn bis Accra mitnahm. Voll Neid sahen wir hinterher. Der freundliche Fahrer war der Neffe des Finanzministers der Goldküste, und Mackie begeisterte ihn auf der vierstündigen Fahrt in die Hauptstadt für unsere Arbeit. Das bewirkte, dass dem Forscher üppige afrikanische Gastfreundschaft zuteil wurde. Zwei Tage, in denen er auserlesenen Mahlzeiten und ebensolchem Trinken eifrig zusprach, brauchte Max, bis er mit einem Pneu wieder auftauchte. Wir hatten eben das Essen für den Abend fertig, aber Max lehnte freundlich dankend ab. Wir bissen in die gewohnten Sardinenbrote, die so hart waren, dass wir um unsere Zähne bangten. Selbst Joko küsste Max andauernd und schlief dann Nase an Nase mit ihm ein, sorglich umhüllt von der Whiskyfahne des Expeditionsleiters.
Gegen Mittag fuhren wir in die Hauptstadt ein. Die Wellblechhütten der Slums hinter uns lassend, glaubten wir auf ein Filmset in Hollywood geraten zu sein. Die Stadt Accra beeindruckte durch ihr getreues Abbild einer typischen Goldgräberstadt, wie aus dem wilden Westen Amerikas. Mit ihren „Saloons“, den Fassaden aus Holzplanken und Balken zum Anbinden von Pferden, erwarteten wir jeden Augenblick John Wayne mit rauchenden Colts aus den Pendeltüren treten zu sehen. Störend an diesem Idyll war nur die gedrängte Menge von amerikanischen Straßenkreuzern. Im geschundenen IFA-Zweitakter knatterten wir, die Sechs- und Achtzylinder um uns nicht beachtend, durch das Wohnviertel. Zartblaue, nach verbranntem Öl riechende blaue Wölkchen hinterlassend, näherten wir uns dem Zentrum der Stadt. Mackie kannte sich hier aus und lotste uns zu einem Hotel, bei dessen Anblick wir zu träumen meinten. Ein eifriger, in weiße Livree gezwängter Boy eilte herbei und versuchte beflissen den verzogenen Wagenschlag zu öffnen. Verzweifelt zog er an der Schnalle, erst kräftiger Druck von innen brachte den gewünschten Erfolg. Eher unvorteilhaft gekleidet und nach Dschungel riechend entstiegen wir dem Fahrzeug. Für Sekunden wurde abrupt die dezente Unterhaltung der Gäste auf der Terrasse unterbrochen. Herren im Tropensmoking und Damen in tief dekolletierten Kleidern saßen im kühlen Schatten üppiger, gepflegter Urwaldgewächse, starr in ihren Rohrstühlen.
Es war ein Auftritt, wie ihn weiland Attila nicht besser hätte erleben können. Dessen ungeachtet schob sich unsere Kompanie überzeugend verdreckt an den Erstarrten vorüber ins weiße Gebäude. Die Formalitäten an der Rezeption verschob man auf später. Der Geschäftsführer verschwand flugs durch eine Türe, die Dame hinter dem Tresen reichte uns mit spitzen Fingern die Zimmerschlüssel, und zog sich gleich bis an die Wand zurück. Der Boy draußen stand verzweifelt vor dem Berg an unansehnlichem Gepäck. In den jeweiligen Zimmern angekommen, widmeten wir uns sofort intensiver Körperpflege und kleideten uns so sauber wie möglich aus den von Niamey nachgesandten Koffern. Der Besuch beim hauseigenen Hairdresser bescherte uns eine Einheitsfrisur. Wir sahen aus wie Brüder. Mackie, der Expeditionsleiter, hob sich durch seinen knallroten Bart von uns ab. Am Nachmittag verließen wir das Hotel und begaben uns auf einen Anstandsbesuch zum österreichischen Honorarkonsul. Nach reiflicher Überlegung legten wir die kurze Strecke zu Fuß zurück. Mit unserem Auto konnte man nirgends mehr vorfahren. In frisches Gewand gekleidet, rasiert und mit gestylten Haaren, wurde uns wärmstes Willkommen zuteil. Die Einladung zum Dinner schlugen wir nicht aus.
Kopezky, ich, Schani u. Mackie mit Einheitsfrisur und zivilisiert,
Der Koch des aus Londonderry gebürtigen Konsuls brachte vorzügliche, von uns lange vermisste Speisen auf den Tisch. Mag sein, dass Mackies gepflegter roter Bart ausschlaggebend für dieses Festessen war. Es wurde ein harmonischer Abend, in dessen Verlauf die Sprache auf unsere Weiterfahrt kam. Der Herr Konsul, er war hauptberuflich Geschäftsmann, wusste von einem Frachtschiff, das demnächst mit Waren nach Hamburg ablegen würde. Am Morgen des nächsten Tages klärte sein Büro mit dem Kapitän der „Lucy Essberger“ die Überfahrt zu einem vorteilhaften Preis. Wir bezahlten diesen aus der von IFA überwiesenen Kasse. Nach Abzug der Kosten für das Hotel blieben uns vierzig englische Pfund. Das Schiff sollte in zwei Tagen ablegen. Um Hotelkosten zu sparen, schifften wir uns umgehend ein.
Es war ein erhebender Augenblick, wie unsere 27 PS afrikanischen Boden verließen. Von kräftigen Gurten getragen und einem Kran gehoben, schwebte der Kombi an Deck des Frachters, wo er fest vertäut wurde. Wir bezogen unsere die für jeweils zwei Personen festgelegten, geräumigen Kajüten. Das Schiff war für die Mitnahme von Passagieren eingerichtet. Die Zivilisation hat uns wieder. Die Stille der Nächte in der Wüste, im Busch und im Urwald waren Vergangenheit. In so einem großen Schiff sind immer irgendwelche Motoren oder Lüftungen zu hören. Erinnerungen an meine erste Hochseeschifffahrt stiegen hoch.
Kaum an Bord, hob Mackie an zu husten und sich zu übergeben. Bei einem schnell arrangierten Arztbesuch in der Stadt diagnostizierte man Gelbsucht. Zusätzlich war bei ihm die Malariaprobe positiv ausgefallen. Ich selbst litt an einer schmerzhaften Stirnhöhlenentzündung. Kopezky hatte ebenfalls Gesundheitsprobleme. Nur Jean-Pierre, von uns Schani genannt, zeigte keinerlei Krankheitssymptome. Mit dem Verlassen des Hafens besserten sich die Symptome der Patienten schlagartig. Die täglichen Mahlzeiten nahmen wir in Gesellschaft des Kapitäns und seiner Offiziere ein und unterhielten sie mit den abenteuerlichsten Erlebnissen der Expedition. Wir taten unser Möglichstes, um die Schiffsvorräte zu reduzieren. Eine akute Zunahme des Gewichtes aller Expeditionsteilnehmer im Verlauf der vierzehntägigen Reise war deshalb nicht zu übersehen. Ausgeruht und die Köpfe voll mit Plänen erreichten wir am 8. September 1956 Wien.
Schon am 13. September dieses Jahres erschien im „NEUEN KURIER“ ein Artikel über diese erste größere erfolgreiche österreichische Expedition nach dem Kriegsende. Unter dem reißerischen Titel „Wir sind Tiroler Fetischmänner“ wurden unsere Erlebnisse journalistisch aufbereitet. Unverzüglich wurde das erarbeitete Material bei den damit zufriedenen wissenschaftlichen Institutionen abgeliefert. Wobei das Phonogrammarchiv der Akademie der Wissenschaften den Großteil erhielten. Wir gönnten uns keine Pause. Umgehend machten wir uns an die Vorbereitungen für die nächste Expedition, die uns über eine Zeit von annähernd zwei Jahren durch die anglophonen und frankophonen des afrikanischen Kontinents führen sollte. Doch darüber werde ich in einem zweiten Teil der „Zeitgeister“ berichten.
(Die Musikaufnahmen zu diesem Kapitel sind im Katalog des Phonogrammarchivs der Akademie der Wissenschaften zu finden)