Über sich selbst zu schreiben gehört zweifellos zu den schwierigsten Herausforderungen, denen man sich stellen kann. Ein ganzes Leben lang habe ich versucht, große Visionen zu verwirklichen. Träume, die im Laufe der Zeit kleiner, doch realistischer wurden. Auf dem Weg zum Ziel wurde die Gangart nicht immer hinterfragt, und so tauchen in der Erinnerung Episoden auf, die peinlich zuzugeben, aber unmöglich zu verschweigen sind.
Dieses Buch ist der Versuch, den eigenen Lebensweg ehrlich und nachvollziehbar darzustellen – selbst wenn nicht alle Erlebnisse nach so vielen Jahren vollständig verarbeitet sind. Um die Erzählungen lebendig zu halten, wurden Realität und erzählerische Freiheit bewusst getrennt: Die frei erfundenen Geschichten erscheinen in der Gegenwartsform, in blauer Schrift, während die tatsächlich erlebten Ereignisse in der Vergangenheitsform und im klassischen schwarzen Stil geschrieben sind.
Warum diese Arbeit? Übersteigerter Ehrgeiz oder Eitelkeit sind es nicht. Mein Leben, wenngleich ungewöhnlich, war nicht einzigartig genug, um allein deshalb festgehalten zu werden. Doch die beschriebenen Erlebnisse fanden in einer Zeit außergewöhnlich schnell ablaufender gesellschaftlicher Umbrüche statt. Einer Ära, die heute für viele, besonders junge Menschen, wie ferne graue Vorzeit erscheint.
Erlebnisse aus über vier Jahrzehnten Arbeit bei Film und Fernsehen, lange Aufenthalte im Ausland, mehrere Reisen durch Afrika und Begegnungen mit bemerkenswerten Persönlichkeiten bilden den Kern dieses Blogs. Sie verleihen den Erinnerungen eine Daseinsberechtigung, die über das rein Persönliche hinausgeht. Mein Ziel ist es, mit dieser Arbeit Interessantes, Heiteres und Geschichtliches in einem abwechslungsreichen Lesevergnügen zu verbinden.
Da sich diese Aufzeichnungen auf viele Kontinente und Lebensstationen erstrecken, erspare ich mir an dieser Stelle eine ausführliche Vorstellung meiner Person. Stattdessen beginne ich mit einem Symbol der frühesten Tage, dem Taufkissen. Dieses meisterhaft gestaltete Stück hat, wie ich glaube, mein Leben auf eine eigene Weise geprägt:
Dazu anzumerken wäre, dass dieses Elaborat weder Anspruch auf Vollständigkeit, noch auf literarische Reife erhebt.
Mit etwas mulmigen Gefühlen, doch mit Vorfreude erfüllt, bin ich vor sechs Tagen allein im fast neuen Landrover zur Durchquerung der Sahara über die Tanezrouft-Linie, der Route National Nr. 6 gestartet. Vor etwa sechzig Jahren kannte ich die Strecke „wie meine Hosentasche“. Diese Piste hatte ich fünfmal befahren, sowohl vom Norden nach Süden als auch umgekehrt. Die Orientierung war damals vermittels von Anhöhen, Sanddünen oder abgestellten „Bidons“ (Benzinfässern) problemlos. Eine genaue Standortbestimmung war mit Hilfe einer Landkarte ebenso präzise möglich, wie heute mit GPS. Aber Beträchtliches hat sich seit meiner letzten Fahrt durch die Sahara verändert, als es strenge Sicherheitsregeln gab. Niemand verwehrt mir als Einzelperson die Einfahrt, die Piste ist fast durchweg asphaltiert, allerdings ungepflegt und streckenweise von Sand verweht. Genau genommen eine langweilige Fahrt.
An vielen Plätzen ist das Vordringen von Zivilisation mit all ihren Vor- und Nachteilen zu bemerken. So paradox es klingt, selbst in der Wüste schreitet die Zerstörung der Umwelt durch den Menschen voran. Ein Vorteil dieser Strecke ist, dass genügend Plätze zur Wasserentnahme angelegt worden sind. So bin ich nicht gezwungen, auf meinen vorsorglich mitgeführten Vorrat an Trinkwasser zurückzugreifen. Ohne Schwierigkeiten erreiche ich die Grenze von Algerien zu Mali.
Erinnerungen werden lebendig. In den frühen sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts fuhren die Wagen unserer Expedition in die französische Grenzstation Bordj Perez ein. Die wenigen Grenzpolizisten, die hier inmitten der Einsamkeit stationiert waren, empfingen uns überaus freundlich. Kein Wunder, dass wir – erschöpft und durstig nach der entbehrungsreichen Durchquerung des schwierigsten Teils der Sahara – ihr Weinkontingent mit ihnen gemeinsam bis zum letzten Tropfen leerten. Die Station war auf einem Hügel am Rande der blühenden Oasenstadt gelegen. Den Polizisten war bewusst, dass sie diesen Posten bald an Algerien übergeben müssten. Doch genau deshalb war die Stimmung ausgelassen, ja heiter.
Nach der Übernahme benannten die Algerier den Ort in Bordj Mokhtar um. Bei Sonnenaufgang verlasse ich ihn auf der Route National 6 und nehme die Piste, die nach Tamanrasset führt. Gleich nördlich der Straße liegt ein etwa zwei Quadratkilometer großes, eingezäuntes rechteckiges Gebiet. Einst war es ein blühender Gemüsegarten der Region, doch seit Jahren wird es nicht mehr bewässert und versandet zunehmend. Nur die Spitzen der Steine, die aus dem Treibsand herausragen und einst die Beete begrenzten, zeugen von vergangener Fruchtbarkeit.
Am Ende der Gartenmauer beginnt die schnurgerade Piste Richtung Osten. Das dürfte die Hauptroute sein, auf der Kanga Moussa, der Herrscher Malis im 16. Jahrhundert, mit riesigen Karawanen Gold und Handelswaren nach Libyen und Ägypten transportierte. Ich muss dem Landrover ordentlich Gas geben, um halbwegs gleichmäßig über die dolondulé zu kommen, die wellenförmigen Querrillen auf der Sandstraße, die an ein überdimenionales Wellblech erinnern. Die endlosen Weiten der Hamada, der Steinwüste, scheinen den Horizont zu verschlucken. Die Piste verliert sich flirrend in der Unendlichkeit. Die Temperaturanzeige des Landrovers verharrt seit Stunden bei 41 Grad Celsius Außentemperatur. Trotz eines gewissen Glücksgefühls sehne ich mich nach Ruhe und Einsamkeit. Aber noch ist es nicht so weit. Im Wagen selbst herrscht Höllenlärm. Aufgewirbelte Steine schlagen gegen Kotflügel und Spritzwände. Hin und wieder wird die eintönige Landschaft von dunklen Erhebungen unterbrochen, hinter denen die von der Sonne beleuchteten, scharf abgegrenzten Höhenzüge der Sanddünen aufragen. Der Himmel ist von einem leichten Schleier bedeckt, der die Intensität der Sonnenstrahlen und die Lufttemperatur keineswegs mindert.
Nach stundenlanger Fahrt über die Autos mordende Wellblechpiste entdecke ich linker Hand ein angerostetes Schild mit fast unleserlich gewordenen Aufschriften in Französisch und Arabisch. Zwischen Einschusslöchern entziffere ich: „Auberge du soleil et genie“, die Herberge zur Sonne und Werkstatt. Es weist auf ein etwa zwei Kilometer abseits der Hauptstrecke gelegenes, recht umfangreiches Bauwerk hin. Da ich wegen der harten Piste schneller als geplant unterwegs war, habe ich mein Ziel früher als erwartet erreicht. Bis zum Sonnenuntergang bleiben ein paar Stunden, und so beschließe ich, zu einem Aussichtspunkt zu fahren, den mir Einheimische in Bordj Mokhtar empfohlen hatten.
Seit den frühen Morgenstunden bin ich völlig allein auf der Piste unterwegs gewesen. Jetzt begegne ich einem einsamen Targi mit zwei Kamelen, der mir aus östlicher Richtung entgegen kommt. Um ihm die von mir aufgewirbelte Staubwolke und Steinschlag zu ersparen, lenke ich den Landrover von der Piste weg und wechsle in die flache Wüste, wo langsameres Tempo möglich ist. Wieder zurück auf der Hauptstrecke erreiche ich den Aussichtspunkt. Doch dieser bietet nichts Außergewöhnliches.
Mit spielerischer Lust fahre ich den Landrover in unnötig großer Kurve durch den unberührten Sand und hinterlasse bleibende Spuren, bevor ich mich zurück auf die Wellblechpiste begebe. Jetzt ist mein Ziel die „Auberge du soleil“. Kurz darauf entdecke ich den Kamelreiter wieder, nur wenige Meter rechts von der Strecke. Ich umkurve ihn erneut rücksichtsvoll, winke ihm grüßend aus dem Fenster – doch der vermummte Targi reagiert nicht. Kerzengerade im Sattel sitzend, setzt er ungerührt seine Reise fort.
Am Ziel angekommen, führt eine schmale Zufahrt von der Piste weg zu einer kleinen Ansammlung von Gebäuden. Diese sind von einer Lehmmauer umgeben, die den Platz vor dem größten Haus von der Wüste trennt. Zwei Palmen und einige dornige Akazienbäume in dem Hof deuten darauf hin, dass hier Wasser verfügbar ist. Das Haupthaus ist einstöckig, hat einen breiten, quadratischen Turm mit Fenstern und Zinnen, einer kleinen mittelalterlichen Burg ähnlich. Links und rechts vom Eingang, den man über drei Stufen erreicht, befinden sich symmetrisch angeordnete Fenster mit Klappjalousien. Auf dem Turmdach erkenne ich eine Satellitenschüssel für den TV-Empfang, eine lange Kurzwellenantenne und einen runden Wasserbehälter. Einige Meter daneben steht ein weiteres Gebäude mit Sonnenkollektoren auf dem Flachdach. Ein großes Tor, breit genug für die riesigen Sahara-LKWs, führt vermutlich in eine Garage oder Werkstatt. An einer der Mauern entdecke ich zwei altmodische Zapfsäulen: eine für Benzin, die andere für Diesel.
Ich parke den Landrover vor dem Haupteingang und betrete das Gebäude. Mehrmals klatsche ich in die Hände, bis aus der Dunkelheit ein Mann gesetzten Alters erscheint, gekleidet in weite, schwarze Saharahosen mit weißer Stickerei an den Seiten, Sandalen und ein Unterhemd, das dringend einer Wäsche bedarf. Oder ist es gewaschen, nur durch das lehmhaltige Wasser gelb verfärbt? Er begrüßt mich in akzentfreiem Französisch. Meine Frage nach einer Unterkunft für ein paar Tage beantwortet er ebenso freundlich mit einem klaren „Oui“.
Der Wirt führt mich in den Gastraum, der mit vier weiteren Tischen und Stühlen aus gepresstem Metall ausgestattet ist. Das sind Möbel, wie man sie in allen ehemaligen französischen Kolonien findet, identisch in Form und Lackierung. An vielen Stellen ist die Beschichtung so abgesplittert, sodass die ursprüngliche Farbe kaum zu definieren ist. Die Decke zieren drei große Ventilatoren mit jeweils vier Blättern, die aber stillstehen. Für die Belüftung sorgen gegenüberliegende Fensteröffnungen, die in über Mannshöhe eingelassen sind und mit hölzernen Jalousien verschlossen werden können. Der Raum ist angenehm kühl und still, mit einem kaum merklichen Luftzug, der durch diese Öffnungen zieht. Die Tische und Stühle fühlen sich wärmer an, als die leise bewegte Luft an, die nur zart zu einem der Fenster herein und aus dem gegenüber auf der anderen Seite wieder hinauszieht. Dieser zarte Windhauch bewirkt das Verdunsten des Köperschweißes und damit angenehme Kühlung und Erholung. Obwohl draußen die pralle Sonne scheint, herrscht im Gastraum gerade genug Licht, um das vor mir liegende Anmeldeformular zu entziffern. Mein Kugelschreiber weigert sich zunächst, aber nach ein paar Strichen kann ich die persönlichen Daten eintragen. Es ist kaum vorstellbar, dass jemand in dieser abgeschiedenen Gegend Interesse an diesen Informationen hätte. Nach der rumpeligen und lauten Fahrt wirkt die herrschende Stille hier fast wie heilender Balsam. Innerhalb weniger Minuten spüre ich, wie sich ein dicker Knoten der angespannten Nerven in meiner Brust löst.
Die Frau des Wirtes, bei dem ich ihn bestellt hatte, bringt mir, einen Pernod 45. Mit Eis und Wasser verdünnt hat er die fluoreszierende Farbe und Transparenz von Perlmutt angenommen und verströmt einen herrlichen Duft nach Anis, der alte Erinnerungen weckt. Den von mir bevorzugten Pastis 51 gibt es hier offenbar nicht. Die Frau, eindeutig arabischer Herkunft, scheint aus Nordalgerien zu stammen: Ihre Haut ist hell wie die einer Europäerin, und sie hält ihr Haar unbedeckt, was vermuten lässt, dass sie Christin ist. Ihr Auftreten verrät Selbstbewusstsein, was mir sagt, wer hier im Hause das Sagen hat. Sie trägt ein schlichtes Kleid, das sowohl europäisch als auch beduinisch inspiriert sein könnte. Unter altersbedingt leicht hängenden Lidern blitzen wachsame Augen hervor, die mein Äußeres flink abschätzen. Ihre Figur ist etwas rundlich, aber nicht unförmig, wie man sie oft bei südländischen Frauen dieses Alters findet. Nachdem sie mich gemustert hat, verschwindet sie in Richtung des dunklen Vorraums. Ich bleibe allein sitzen und genieße den Pernod, zufrieden in die Stille lauschend. Hier gefällt es mir.
Kurze Zeit später kehrt der Wirt zurück, nimmt ohne es zu prüfen das ausgefüllte Formular an sich und fragt, ob ich mein Zimmer sehen möchte. Schnell trinke ich den inzwischen lauwarm gewordenen Aperitif aus und folge ihm durch einen angenehm kühlen, dunklen Korridor, der zu einer Treppe führt.
Oben angekommen, enden die Stufen vor einer hölzernen Tür, durch deren feine Ritzen Tageslicht dringt. Beim Eintreten fällt mir sofort die durchdachte Ausrichtung des Zimmers auf: Die fensterlose Wand zeigt in Richtung Süden, was die Sonneneinstrahlung und damit die Hitze auf ein Minimum reduziert. Der Raum besitzt an zwei Seiten Fenster mit eingesetzten Fliegengittern. Unter dem nach Osten gerichteten rostet eine Klimaanlage still vor ich hin – ein Relikt vergangener Tage, das längst seinen Dienst quittiert hat. Das Fenster nach Westen ist verschlossen. Durch das Glas sehe ich hinaus auf den Hof, dessen Begrenzungsmauer sich in die Hamadawüste schmiegt. Im Hintergrund, weit entfernt, leuchten die Dünen des großen Erg in dem tief glühendem Orange, das nur der Sahara eigen ist. Das Bett ist schlicht, aber ordentlich mit weißen Laken bezogen. Die gekachelte Dusche in der Ecke zeigt Spuren rostigen Tropfwassers, die sich so eingeätzt haben, dass sie selbst chemische Bleichmittel nicht mehr entfernen könnten. Ein wenig rötlicher Saharasand hat sich um den Abfluss gesammelt, aber er stört mich nicht – dieser Sand ist sicher das reinste und hygienischste, was diese Region zu bieten hat. Leider ist keiner, der von mir so geliebten Deckenventilatoren vorhanden, neben einer funktionierenden Klimaanlage wäre er ja überflüssig. Dafür finde ich einen kleinen Schreibtisch mit passender Stehlampe und zwei Holzstühlen. Trotz der schlichten Ausstattung wirkt alles angenehm funktional. Ich fühle mich äußerst luxuriös bedient und äußere dem Wirt meine Zufriedenheit. Dieser ist deutlich erleichtert darüber, dass ich die defekte Klimaanlage nicht moniert habe, und zieht sich wieder zurück. Beim Hinausgehen murmelt er etwas von der Freude, einen angenehmen Gast zu beherbergen.
Kaum alleingelassen untersuche ich den aus Blech gefertigten Spind, fabriqué en france, ein Überbleibsel französischer Kolonialzeiten. Neben dem Schrank entdecke ich hinter einer kleinen Türe aus Metall verborgen die Toilette, wenn man diese in den Boden eingelassene Spezialschlüssel so nennen mag. Werden Mann oder Frau älter, steigern sich bei dieser Art WCs die Schwierigkeiten den Stoffwechsel anstandslos und schmerzlos durchzuführen. Ich beschließe dieser technischen Herausforderung später auf den Grund zu gehen, und mich vorerst dem Entladen des Autos und dem Transport des Gepäcks ins Schlafgemach zu widmen.
Beschwingten Schrittes gehe ich zum Landrover zurück, um meine Habseligkeiten zu holen. Die sind überschaubar; ich habe nur das Nötigste mitgenommen. Schließlich war es nicht geplant, den Rest meines Lebens in der Wüste zu verbringen. Nachdem ich die Taschen verstaut und alles notdürftig sortiert habe, gönne ich mir eine ausgiebige Dusche.
Erfrischt und hungrig mache ich mich auf den Weg zurück in den Gastraum. Ich strebe den gleichen Tisch an, an dem ich vorhin saß und wünsche mir ein kühles Bier. Doch der Wirt hat mir einen anderen Platz zugewiesen, diesmal unter einer Glühlampe, die sich nach Sonnenuntergang als einzige Lichtquelle im Raum erweist. Während die Sonne am Horizont versinkt und das Licht langsam schwindet, setzen sich die Deckenventilatoren in Bewegung. Sanft drehen sich ihre Flügel, und die Luft im Raum kühlt spürbar ab. In diesen Breitengraden findet der Wechsel vom Tag zur Nacht vergleichsweise abrupt statt. Es wird schnell finster und der Tisch, an dem ich nunmehr sitze, wird als einziger von einer nackten elektrischen Glühlampe beleuchtet. Jetzt verstehe ich dien Platzwechsel.
Das Abendessen wird serviert: ein einfaches Cous-Cous mit Gemüsesauce. Dazu schenkt mir der Wirt ein Glas Rotwein ein, dessen Herkunft er stolz mit „von den Hügeln um Mascara“ angibt. Es ist ein vollmundiger, erstaunlich guter Tropfen, der meine müden Sinne belebt. Die von den französischen Winzern erlernte Kunst des Weinkelterns wird hier deutlich.
Nach dem Abendessen schenke ich mir ein weiteres Glas des ausgezeichneten Rotweins aus algerischen Rieden ein und gedenke diesen anstrengenden Tag genüsslich und reinen Gewissens mit einem duftenden Zigarillo zu beenden. Animiert durch den wohlschmeckenden Rauch drängen sich mir Ideen für die geplante Arbeit, das Aufzeichnen von Erinnerungen aus meinem recht langen Leben auf. Die Ruhe des Ortes, gepaart mit dem warmen Licht der Lampe und dem Duft von Tabak, gibt mir das Gefühl vollkommener Zufriedenheit.
Während meine Schreibpläne langsam Form annehmen, ertönt aus dem Hof vor dem Fenster das laute unwirsche Gurgeln von Kamelen, die zum Hinlegen gezwungen werden. Durch die halb offene Eingangstüre kann ich hinaussehen. Im trüben Licht der Laterne vor dem Haus gleitet der reisende Targi, den ich auf der Piste überholt hatte, elegant aus dem Sattel. Unser Wirt kommt ihm entgegen und die zwei begrüßen sich wie alte Bekannte. Der Hausherr verharrt eingedenk seiner Körpergröße auf der untersten Stufe der Vortreppe und erreicht damit nur knapp die Augenhöhe des hochgewachsenen Targi. Sie unterhalten sich in Tamaschek, der Sprache der Tuareg. Trotz der böhmischen Anmutung dieser Bezeichnung ist das eine rein autochthone Sprache, die international in den von Tuareg benützten Gebieten: Algerien, Mali, Mauretanien, Burkina Faso, dem Süden Lybiens und im Niger verbreitet ist. Mir gefällt ihre Unterhaltung, obwohl ich kein Wort davon verstehe, sie klingt melodisch, fast wie ein sanftes Lied.Nach diesem kurzen Gespräch zieht sich der Targi mit seinen beiden Kamelen in die Dunkelheit des Hofes zurück.
Der Wirt betritt wieder das Haus und fragt mich, ob ich weitere Wünsche habe. Es ist ausreichend Rotwein in der Karaffe vorhanden, so bitte ich ihn zu mir an den Tisch und biete ihm davon an. Er nimmt mein Angebot an und holt schnell ein neues Glas. Wir beginnen ein Gespräch, das sich schon bald zu einer lebhaften Unterhaltung entwickelt, in deren Verlauf wir die zweite Flasche Mascara leeren.
Monsieur Mouloudij, so nennt sich der Wirt, hat schon die dritte Bouteille geöffnet. Bei deren Konsum tauschen wir einige unserer Lebenserinnerungen aus. Als ich François, so sein Vorname, heute das erste Mal sah, taxierte ich ihn vorschnell als „petit blanc“ ein, obwohl er seinem Namen nach Algerier sein müsste. Einen Petit blanc bezeichnet man in Afrika den vergammelten Weißen, der sich hier, in Europa meistens gescheitert, im Outfit und Lebensstil eines heruntergekommenen Afrikaners mit Mechaniker- oder Hilfsdiensten sein Auskommen schafft. Anfänglich versicherte er mir, dass er eben ein hellhäutiger Algerier sei und aus Oran stamme. Moslem ist er sicher nicht und sein Alter ist schwer zu schätzen, da sein Gesicht durch Sonne und Tabakgenuss gegerbt ist und viele Falten aufweist. Bei dem Gespräch stellt sich heraus, er ist ein „pied noir“, ein in Afrika geborener Franzose. Er war Soldat der französischen Armee und diente in Algerien während des Krieges in einer motorisierten Kompanie. Im Chaos des Rückzugs der Franzosen desertierte er, denn er wollte seine Heimat nicht verlassen. Einige Zeit lebte er im Untergrund. Nachdem etwas Ruhe im Land eingekehrt war, zog er zu seiner algerischen Frau Fatima auf einen kleinen landwirtschaftlichen Betrieb im Departement Oran. Es gab einen bekannten Chansonnier namens Mouloudij, dessen Vater Berber und die Mutter Französin waren. Er wurde 1954 mit dem Lied „Le Deserteur“ berühmt und von Frankreich deshalb verfolgt. Nach diesem Sänger nahm er den Decknamen Mouloudij an.
Bald wurde ihm aber der Boden im Norden zu heiß. Freunde hatten sie gewarnt, dass er als ehemaliger französischer Soldat an die neuen algerischen Machthaber verraten worden sei, so dass er und Fatima bei Nacht und Nebel flüchteten. Sie durchquerten auf abenteuerlichen Wegen die Sahara und landeten unerkannt in Bordj Mokhtar, viele Kilometer entfernt von politischer Willkür und Rachegelüsten im Norden Algeriens. Hier erfuhren die beiden, dass diese Station der französischen SATT (Société Africaine des Transport Tropicaux), in der wir uns eben befinden, verwaist war und jemand gesucht wurde, der sie übernehmen und weiterführen könne.
Die beiden ergriffen diese Chance und leben hier nunmehr seit Jahrzehnten und wurden zu angesehenen Einwohnern dieser Region. Fatima, erzählt er mit einem liebevollen Lächeln, sei die eigentliche Seele des Hauses. Sie habe den Betrieb aufgebaut, während er sich um die Gäste kümmerte. „Ohne sie wäre ich nie hier angekommen“, meint er mit einem Anflug von Stolz. Bei einem Zeitvergleich stellt sich unser gleiches Geburtsjahr heraus, was dazu führt, dass wir uns von dieser Stunde an mit dem freundschaftlichen „Du“ ansprechen. Es wäre jedenfalls möglich, dass wir uns schon früher einmal getroffen haben, und zwar im Norden Algeriens in der Zeit des Aufstandes der FLN (Front de Libération Nationale), der nationalen Befreiungsfront gegen Frankreich. So erzähle ich ihm ein bisschen aus meinem Leben und dass ich hierher gekommen sei, um in Ruhe an einem Buch zu arbeiten. Es scheint, dass er jetzt annimmt, einen zweiten Hemingway oder einen Schriftsteller gleichen Kalibers in seinem Haus zu haben. Ich lasse ihm seinen Glauben, er kann meine Ergüsse ohnehin nicht lesen. Die Anstrengungen der Reise und der Wein haben mich ermüdet. So klettere ich über die Stiegen hinauf in die Dachstube.
Ich lege mich auf das Bett, das überraschend bequem ist, und lasse den Tag Revue passieren. Die Begegnungen, die Eindrücke der unendlichen Landschaft, das Gefühl von Freiheit und zeitloser Ruhe. Ein angenehmes Schwindelgefühl, verstärkt durch den Wein, lullt mich langsam in den Schlaf. Zufrieden träume ich von der Wüste. Nicht von der kargen, trockenen Einöde, wie sie dem Durchreisenden erscheint, sondern von einer lebendigen, pulsierenden Welt. Ich sehe grüne Oasen mit schlanken Dattelpalmen, Karawanen, die sich wie endlose Schlangen durch goldenen Sand winden, und einen sternenübersäten Himmel, der die Erde wie eine schützende Decke bedeckt. Die Bilder sind so intensiv, dass sie sich wie real anfühlen.
Kälte, die bis unter meine Bettdecke dringt, reißt mich aus dem Schlaf. Die herrschende Dunkelheit lässt nur Konturen des Raumes erahnen. Durch das offene Fenster erkenne ich den atemberaubend klaren Sternenhimmel, aber es zieht die kühle Nachtluft der Sahara herein. Ich ziehe eine Jacke über, klappe den Fensterflügel zu und beschließe, bis zum Tagesanbruch weiterzuschlafen. Mit den ersten Sonnenstrahlen steige ich aus dem Bett, erfüllt von einem tiefen Gefühl der Zufriedenheit mit dem Status quo. Da ergreift mich eine überwältigende Lust zu schreiben. Obwohl ich ursprünglich plante, zunächst die Umgebung zu erkunden, packe ich den Laptop aus. Trotz der tagelangen, rüttelnden Transporte über Wellblechpisten startet er problemlos, ebenso das Schreibprogramm. Und so beginne ich, dieses Kapitel in die Tasten zu hacken.
Da die Geschichten, von denen ich erzählen will, mit meiner Person eng verwoben sind, erscheint es notwendig, die Leser über mich zu informieren. Man möge mir dabei das Fortlassen von Binnen-I, Sternchen und anderen feministischen Manifestationen verzeihen. Das generische Maskulinum ist dem Lesefluss der deutschen Sprache zuträglicher. Ich benütze traditionelle Methoden, um meine grundlegende Hochachtung und Verehrung des weiblichen Geschlechts zu dokumentieren. Zur Stabilisierung mühsam errungener Emanzipation waren solche Gleichstellungskennzeichen anfänglich sicher wichtig, die junge Generation unserer Kulturen hat die Gleichberechtigung längst verstanden und übernommen. Und in vielen Ländern, die einsichtslos patriarchalen Gesetze folgen, ist die Befreiung der Frauen nicht mehr aufzuhalten.
Die Sterne und meine Eltern haben mir einen unbändigen Gerechtigkeitssinn und eine ausgeprägte Freiheitsliebe in die Wiege gelegt. Leider gab es ein Hindernis, diese noblen Qualitäten zu entfalten: ständige Machtkämpfe mit meiner älteren, dominanten Schwester. Meine hochanständigen und braven Erzeuger hatten weder die Zeit noch den Nerv, sich mit den diversen Herausforderungen ihres jüngsten Familienmitglieds auseinanderzusetzen. Oder, um fair zu sein, sie verstanden sie schlicht nicht, geprägt von ihrer eigenen strengen Erziehung. In aller elterlichen Fürsorge glaubten sie, dass geschulte Autoritäten den geliebten, aber widerspenstigen Sprössling in geordnete Bahnen lenken könnten. Lehrer, Professoren und Präfekten wurden entsprechend instruiert und handelten pflichtbewusst autoritär. Prompt verfehlten sie damit das angestrebte Ziel.
War ich deshalb missraten? Sicher nicht. Etwas mehr Empathie von Seiten der diversen Lehrkörper hätte deutlich bessere Erfolge erzielt. Ein Beispiel? Da war einmal ein Physiklehrer. Obwohl meine Leistungen in Mathematik immer bescheiden waren, zählte ich im Fach Physik eine Zeitlang zu den Besten der Klasse. Dieser Mann hatte es verstanden, Ehrgeiz und Freude am Lernen bei mir zu wecken. Eine Seltenheit, die mir nachhaltig in Erinnerung blieb.
Niemand kann behaupten, ich sei ein unbelehrbarer Schüler gewesen. Schließlich hatte ich innerhalb kürzester Zeit die Chance, etliche Gymnasien kennenzulernen. Der rasante Wechsel zwischen diesen Einrichtungen war für meine schulische Weiterbildung nicht unbedingt förderlich. Mein Unverständnis für die seinerzeit üblichen Lehrmethoden führte dazu, dass ich mich lieber in Lichtspieltheatern bildete. Im Schäffer-Kino etwa mit Western wie „Gentlemen with Guns“, oder im Opernkino, wo ich mehrfach die „Badende Venus“ mit Esther Williams, Red Skelton, Harry James und Xavier Cugat genoss. Ein unrühmliches Ende nahm mein Gastspiel bei den Piaristen. Nicht nur wurde ich fälschlicherweise des Verbreitens pornografischer Zeitschriften bezichtigt, sprengte ich in der Zeichenstunde das Kanonenöfchen des Klassenzimmers in die Luft. Das Ausmaß der Explosion war nicht geplant, eine Frage der Schwarzpulvermenge. Trotz anfänglich begeisterter Zustimmung der Klassenkameraden für dieses Experiment, kippten sie vom Lehrpersonal unter Druck unisono um und verrieten mich als Täter. Ich vermute, der erste und einzige Gymnasiast gewesen zu sein, der ein Nichtgenügend in „Betragen“ seines Zeugnisses vorfand.
Die unausweichliche Disziplinierungsmaßnahme darauf war das Vollinternat der Schulbrüder in Strebersdorf bei Wien. Dort fand ich mich wieder zwischen wohlgenährten, aber freundlichen Bauernsöhnen aus der Umgebung. Einige Tage vor Weihnachten lud mich einer dieser liebenswerten Kameraden in sein Elternhaus ein. Nach dem Abendessen im Internat brachen wir zu einem Fußmarsch auf, der sich über vier Stunden durch eine tief verschneite, stockfinstere Landschaft erstreckte. Auf dem Weg passierten wir tote Pferde, die vermutlich beim Ziehen russischer Panjewagen zusammengebrochen waren. Die steif gefrorenen Kadaver lagen am Straßenrand, die Bäuche grotesk aufgebläht. Ein surrealer Anblick, der sich mir unauslöschlich einprägte.
Im schummrigen Licht einer Petroleumlampe sass ich an einem langen Holztisch, der sich unter dem Gewicht von dampfenden Schüsseln und Brotlaiben bog. Der Bauer und seine Frau, schlicht, aber herzlich, hatten keine Mühen gescheut, den Buben aus der Stadt zu bewirten. Es gab Kartoffelsuppe, dick mit Speck angereichert, dazu fische Milch. Nach der Mahlzeit wurde mir ein Platz auf dem Ofenbrett zugewiesen, wo ich, eingehüllt in eine weiche Decke, sofort einschlief.
Nach zwei Stunden, um Mitternacht wurde ich geweckt. Der Plan war klar: ein Transport in die Stadt stand bevor, und ich war ein Teil davon. Man schenkte mir für zu Hause ein Tannenbäumchen, das mich in der Länge um Wesentliches überragte. Vor dem Stall stand ein turmhoch mit Heu beladener, von zwei Pferden gezogener Leiterwagen bereit. Hoch oben auf der Ladung sollte mein Platz sein. Mittels angelegter Leiter kletterte ich hinauf und machte es mir in dem duftenden Heu mit einer Decke so gemütlich wie möglich. Es ist anzunehmen, dass sich tief unter mir im Heu vergraben Schmuggelwaren wie Speck, Würste und Honig befanden, die für den Schwarzmarkt in der Stadt bestimmt waren. Womöglich diente ich als Schutzschild bei Kontrollen oder räuberischen Handlungen durch Angehörige der sowjetischen Besatzungsmacht, da es bekannt war, dass sich die rauen Rotarmisten zu Kindern äußerst freundlich verhielten.
Das gleichmäßige Knirschen der Räder sowie das regelmäßige Klappern der Pferdehufe ließen mich trotz Eiseskälte bald einschlafen. Bei Tagesanbruch hielt der Bauer vor dem Parlament, wo ich in eine der ersten morgendlichen Straßenbahnen der Linie 49 stieg. Mich fror es erbärmlich, da ich bei der langen Fahrt auf dem Pferdewagen bei Minusgraden in die Hose genässt hatte. Zu Hause wurde ich von meinen Eltern, Vater war kurz vorher aus der Kriegsgefangenschaft heimgekommen, mit großer Liebe aufgenommen. Zur allgemeinen Enttäuschung hatten wir jetzt zwei Christbäume.
In den Wochen nach den Feiertagen kehrte langsam der Alltag ins Internat der katholischen Schulbrüder zurück. Die Bauernbuben hatten reichlich Proviant von zu Hause mitgebracht: Schmalz, Speck, Backwaren und all die anderen Köstlichkeiten, die nur eine Mutterliebe in Vorratsdosen packen kann. Sogar ich hatte ein paar von Weihnachten übrig gebliebene Kekse im Gepäck.
Die siegreiche Sowjetunion hatte uns Österreicher nach Kriegsende mit eiweißhaltigen, getrockneten Erbsen in großer Menge versorgt. Und so saß ich eines Tages hungrig im Speisesaal vor einem dampfenden Erbsengericht. Für Abwechslung war gesorgt, zumindest farblich. Neben den bekannten gelben Erbsen schwammen da sehr dunkle Exemplare in der Masse. „Exotisch,“ war mein erster Gedanke und wurde neugierig, denn ich hatte noch nie schwarze Erbsen gesehen. Doch nach einigen Löffeln untersuchte ich eine von den kohlrabenschwarzen genauer, und siehe da, sie hatte Beinchen. Sechs an der Zahl. Mein biologisches Verständnis sgte mir, dass Pflanzenprodukte niemals Beine haben. Obwohl ich kein Vegetarier war, zog ich Schlüsse daraus und transferierte die restliche Portion dieser kulinarischen Überraschung in ein leeres Einmachglas. Dieses deponierte ich in der Schublade unter meinem Essplatz. Leider entging diese meisterliche Aktion nicht dem strengen Blick des Präfekten. Ohne jede Gnade zwang er mich, den inzwischen kalten Eintopf samt Proteinzugabe zu verspeisen. Ich würgte das zwischenzeitlich kalt gewordene Gericht hinunter und lief bei nächster Gelegenheit nach Hause.
Ein paar Jahre zuvor, in der dritten Klasse Volksschule, erlebte ich einen anderen denkwürdigen Tag. Während des Unterrichts betraten drei Herren das Klassenzimmer. Zwei trugen hellbraune Uniformen, dekoriert mit den Symbolen der NS-Partei, der dritte erschien in Zivil, glänzendem Parteiabzeichen inklusive. Trotz meines intelligenten und aufgeweckten Wesens war mir die ausgeprägte Abneigung gegen Leibeserziehung, Turnen, wie es damals hieß, mein Retter in der Not. Dank ihr blieb mir das Internat der NAPOLA, der nationalsozialistischen politischen Erziehungsanstalt, und somit ein Leben als stramm disziplinierter Parteikader erspart.
Die Volksschule hat mich trotzdem nachhaltig geprägt – und das nicht nur intellektuell. Wie alle Jungen jener Zeit trug ich kurze Hosen. Diese praktische Mode ermöglichte es unserem Herrn Oberlehrer W., eine spezielle Form der „Qualitätskontrolle“ durchzuführen. Einmal schob er seine Hand von unten in die Hosenbeine, um meine damals zarten Hinterbacken zu inspizieren. Nach diesem Erlebnis zog ich einen klaren Schlussstrich: Kurze Hosen – nie wieder. Nicht einmal später, als ich freiwillig dem Fanfarenzug dvom Bann 501 des deutschen Jungvolks beitrat, beugte ich mich der Norm. Entgegen allen Erwartungen trug ich beharrlich lange Uniformhosen, ähnlich denen der Gebirgsjäger, nur eben schwarz.
Ja, ich war ein „Pimpf“ – mit allem, was dazugehört. Schwarze Hosen, braunes Hemd, dazu eine Koppel mit Schulterriemen und ein HJ-Fahrtenmesser – stilecht und definitiv übertrieben für mein jugendliches Alter. Eigentlich war das Zubehör für gestandene Hitlerjungen ab vierzehn Jahren vorgesehen, aber meine Erscheinung schien niemanden zu stören. Ein weiteres Accessoire war das schwarze Halstuch, vorne zusammengehalten von einem kunstvoll geflochtenen Ring aus hellbraunem Leder. Ich lebte in einer eigenen kleinen Welt, was die Erwachsenen taten und sagten, war mir egal, solange sie mich nicht unsittlich berührten. Eines Tages bekam ich eine hellblaue Armbinde mit einem weißen „M“. Jetzt war es offiziell, ich war „Melder“, freiwillig und eindeutig zu jung. Die Aufgabe war, bei Fliegeralarm auf den Straßen zu patrouillieren oder Dachböden zu erklimmen, um von dort eventuell auftretende Brände zu sichten und die Feuerwehr davon in Kenntnis zu setzen. Krönung meiner Ausstattung war ein glänzend verchromter Feuerwehrhelm, der so überdimensioniert war, dass ich aussah wie eine kindliche Vorahnung von Darth Vader.
Meine einzige echte Auszeichnung war eine grünweiße Kordel, liebevoll „Affenschaukel“ genannt. Die bekam ich, nachdem ich nach der Bombardierung des Floridsdorfer Marktes eine Blindgängerbombe entdeckt und gemeldet hatte. Der Lohn war der Rang eines Jungenschaftsführeranwärters. Selbstverständlich beeindruckend, zumindest theoretisch. Doch das war Anfang 1945, und der Krieg neigte sich dem Ende zu. In diesen chaotischen Zeiten wurden sogar Knaben unter vierzehn Jahren in improvisierte Uniformen gesteckt und an die Front geschickt. Die Beförderung kam daher formlos und ohne großes Tamtam. Doch das tat meinem Stolz keinen Abbruch.
Es war gegen Kriegsende, bei einem Besuch bei den Großeltern am Wiedner Gürtel, da gab es wieder einmal Fliegeralarm. Alle Hausbewohner begaben sich eiligst in den Keller, wo wir uns mit einem Greis und mehreren aufgeregten Damen zusammenfanden. Der Südbahnhof, direkt gegenüber, war ein Hauptziel der Angriffe, und meine Mutter verbot mir nur daran zu denken, oben zu bleiben. Doch der Luftschutzraum, im Souterrain gelegen, bot bei einem direkten Treffer kaum Schutz. Ein enormer Knall löste eine Staublawine in unserem Keller aus, die frei an ihren Drähten hängenden Glühbirnen wackelten heftig und das Licht flackerte beängstigend. Dies brachte die Damen zu einem synchronisierten Quietschen, so dass ich, mich meiner verdienstvollen Aufgabe als Melder erinnernd, aus dem Keller lief. Auf der Straße angekommen, sah ich, dass das angrenzende Gründerzeithaus, das Hotel Savoy, in einen gigantischen rauchenden Schutthaufen verwandelt worden war. Volltreffer. In unserem Haus hingegen war das Treppenhaus unbeschädigt, aber alle Fenster geborsten und einige Türen aus den Angeln gerissen. Nichts brannte, die Einrichtung war intakt, nur die Bücher im Regal hatten durch Bombensplitter Löcher abbekommen. Mit diesen doch verhältnismäßig positiven Mitteilungen kehrte ich in den Keller zu den Damen mit Greis zurück. Die beruhigende Wirkung auf die Damen war erstaunlich, vielleicht lag es daran, dass ich wie ein Held erschien, der die Apokalypse mit einem Schulterzucken abtat.
Meine neun Jahre ältere Schwester Erika war eine Pferdenärrin, wie es viele pubertierende Mädchen irgendwann einmal sind, eine Phase, die bei manchen schnell verfliegt, bei anderen aber ein Leben lang anhält. Schwesterchen hatte eine wunderhübsche Freundin aus adeligem Geschlecht, die Pferde genauso vergötterte wie sie selbst. Gemeinsam betreuten sie die Rösser der SS-Reiterstandarte 18 in der Wiener Barmherzigenstraße 17, sowie die edlen Tiere eines Gestüts in einem privaten Stall in der Rasumovskygasse. Baronin Liesl Wimmersperg, eine elegante Erscheinung und begnadete Springreiterin, nahm mich gelegentlich auf dem Gepäckträger ihres Fahrrads mit zum Reiten in die Freudenau – eine noble Abwechslung zum langweiligen Schulalltag, versteht sich!
Insbesonders träumte ich davon, ein glorreicher Kriegsheld zu werden. Meine Idole waren die strahlenden Ritterkreuzträger der Luftwaffe und der Wehrmacht wie Nowotny, Udet, Galland, Hartmann, Rommel und Dietl. Ärgerlich war, dass die Soldaten, welche ich konsequent provokant mit dem Hitlergruß beehrte, salopp mit der Hand am Mützenschirm zurückgrüßten. Ich hätte auch gerne salutiert, aber ein junger „Pimpf“, demnach eher der Partei zuzurechnen, durfte nur mit ausgestrecktem rechtem Arm die Ehrenbezeigung erweisen. Ein echter Wermutstropfen auf dem Weg zum Heldenstatus. Einmal, gegen Ende des Jahres 1944, geschah es, dass ein Soldat meinen Gruß auf gleiche Weise erwiderte. Es war anscheinend die Anweisung an das Militär ergangen, den Hitlergruß statt des militärischen Salutierens anzuwenden. Von da an bereitete es mir ein teuflisches Vergnügen, Chargen sowie einfache Landser ausgiebigst mit dem Parteigruß zu beehren. Gelegenheiten dazu gab es genug, da das Wohnhaus meiner Eltern nur Schritte von der durch Soldaten voll belegten Stiftskaserne lag.
Im April 1945 änderte sich dann alles. Der Himmel über Wien dröhnte von durchgehendem Alarm. Vom Flakturm her schossen die 8,8-cm-Flugabwehrkanonen waagrecht in Richtung Westen. Durch den Luftdruck bogen sich die Fensterscheiben, doch wie durch ein Wunder brachen sie nicht. Ich, mutiger Melder stand tapfer in voller Uniform auf der Straße vor unserem Haustor, wenn auch ohne Auftrag. Von links, von der Stiftskaserne her, raste ein mit bewaffneten Soldaten überladener Kübelwagen vorbei in Richtung Westen. Mit einem Mal verstummten die Kanonenschüsse vom Flakturm, es wurde unheimlich still in der Lindengasse, nur von Weitem war Gefechtslärm zu hören. Kurz darauf kamen von rechts, aus dem Westen Wiens, die Soldaten zu Fuß zurück, benahmen sich aber äußerst merkwürdig. Sie sprangen von Haustor zu Haustor, verweilten dort etwas, um gleich wieder in der nächsten Nische zu verschwinden. Auffallend war, dass sie zwischenzeitlich die Uniformen gewechselt hatten. Diese waren nicht mehr olivgrün, sondern hatten eine dunkelgelb-braune Farbe.
Für mich, dem von der NS-Propaganda geschulten künftigen Helden einer stets sieggewohnten Wehrmacht, war das unbegreiflich, was sich da offensichtlichzugetragen hat. In der kompletten Adjustierung eines Jungnazis auf der Straße stehend, traf mich blitzartig die Erkenntnis, dass dies keine deutschen Soldaten mehr, sondern Angehörige der Roten Armee waren, obwohl sie aus dem Osten herkommend erwartet wurden. Mit einem Sprung war ich im Haus, schloss die verglaste Eingangstür und sperrte diese geistesgegenwärtig zu. Auf dem Weg in den Luftschutzraum entledigte ich mich eilig meines HJ-Fahrtenmessers und der Koppel – vermutlich der erste echte Beweis eines Improvisationstalents, das in mir steckte. Unten im Keller nahmen die Hausbewohner diese Nachricht von der Eroberung der Gasse durch die Russen mit betonter Schweigsamkeit entgegen. Dieser neue Umstand löste wohl recht unterschiedliche Empfindungen bei den Damen und Herren im Luftschutzkeller aus.
Zwei Tage später brach ich mit meinem gleichaltrigen Freund zu einer „Erkundungstour“ auf. Die Lindengasse war verstopft mit Panjewagen, Pferden und stark alkoholisierten, außerordentlich lauten Sowjetsoldaten. Ein unvergesslicher Duft aus Pferdemist, ungewaschenen Männern und billigem Alkohol erfüllte die Luft der eher von mittelständischen Familien bewohnten Gasse. Der tägliche Gang zum Hydranten durch dieses Chaos war eine Mutprobe, die ich mir nicht nehmen ließ, unsere Mutter schien mir in dem Moment nicht besonders besorgt, zumindest nicht um mich. Meine Schwester hingegen hatte sie auf den Dachboden gebracht, wo sie etliche Tage in einer von unten nicht einsehbaren Mauernische kampierte. Der einzige Zugang dazu war ausschließlich mit einer Leiter möglich, die sie zu sich hinaufzog und damit in Sicherheit war.
Mein Freund und ich nutzten unsere exakte Position zwischen „herzigen Kindern“ und „pubertierenden Rotzbuben“ schamlos aus. Die sonst eher belebte Mariahilfer Straße war verwaist, die Scheiben der meisten Geschäfte zerbrochen, die Türen standen offen. Ebenso beim „Tiller“, seit K.u.K.-Zeiten ein Herren- und Uniformschneider der oberen Klasse. Statt der herumliegenden Stoffballen oder Reitstiefel faszinierten mich ausschließlich die Orden in den Ausstellungstruhen. Vom einfachen Tapferkeits- und Parteiabzeichen angefangen, bis zum Ritterkreuz mit Eichenlaub und Schwertern und Brillanten lagen dort zum Greifen nahe die von mir erträumten glitzernden Beweise von Heldentum. Ich füllte ein kleines Köfferchen gestrichen voll mit diesen Herrlichkeiten. Mein Freund scheint kalte Füße bekommen zu haben und war urplötzlich verschwunden. So schleppte ich die gewichtige Beute allein heimwärts, an eben den sowjetischen Frontkämpfern vorbei, die ihr Überleben mit aus der Stiftskaserne erbeuteten Alkoholika feierten und kein Interesse an mir oder dem Ordensschatz zeigten. Zu Hause hatte ich die restlichen Teile der DJ-Uniform unter das Bett gestopft, und das recht schwere Köfferchen mit den Glorifizierungen in ein Regal gestellt. Aber meine Freude währte nur kurz. Leider wurden diese Schätze bald von besorgten Familienmitgliedern gefunden, und meinem von mir geliebten, angeheirateten Onkel Karl Fochler zur Entsorgung übergeben, der diesen Auftrag leider gewissenhaft und gründlich durchführte.
Die Frauen haben in dieser Zeit Unglaubliches durchgestanden und geleistet. Schon während des Krieges, als die Männer an der Front oder in Gefangenschaft waren, mussten sie allein den Haushalt führen und die Familie irgendwie durchbringen. Die daraus gewonnenen Erfahrungen wendeten sie in den folgenden Jahren erfolgreich an und machte sie zu wahren Überlebenskünstlerinnen. Selbst nach der Heimkehr ihrer geschwächten, erkrankten oder invaliden Männer aus der Kriegsgefangenschaft, blieben sie das Rückgrat der Familie und trugen weiterhin die Hauptlast. Die Beschaffung von Lebensmitteln war darüber hinaus eine schier endlose Herausforderung. Jahre nach Kriegsende gab es noch Lebensmittelkarten, die kaum das Nötigste abdeckten. Mit den Abschnitten davon lief ich regelmäßig zum Bäcker an der Ecke Kirchen- und Siebensterngasse. Doch oft war es vergeblich, denn sobald ich hinkam, standen schon Frauen und Kinder in langer Schlange davor an. Sie warteten seit Stunden auf das Öffnen des Geschäftes. Die Chancen, Brot zu bekommen, schmolzen rapide, je weiter hinten man sich einreihte. In Decken gehüllt, mit kleinen Hockern ausgestattet, harrten sie stundenlang aus, als wäre es eine sonderbare olympische Disziplin. Aber selbst diese heroische Geduld war keine Garantie, ein Laib Brot zu ergattern.
Zusätzlich zu den mageren offiziellen Rationen musste Nahrhaftes beschafft werden. Meine Mutter gehörte zu den tapferen Frauen, die sich dabei auf eine Art schwindelerregende Gratwanderung begaben – wortwörtlich. Mit dem letzten vor Plünderungen geretteten Familienschmuck kletterten sie über die hoch aus dem Wasser ragenden Reste der Floridsdorfer Brücke, um im Norden, wo damals noch Bauernhöfe standen, Gold gegen Lebensmittel zu tauschen. Den Rückweg traten sie müde und schwer mit Agrargütern bepackt an, um ihren Familien Hunger zu ersparen. Standesunterschiede spielten dabei keine Rolle mehr, da war jede Frau eine Kämpferin.
Im Stockwerk unter der elterlichen Wohnung befand sich eine Pension, die von den politischen Kommissaren der Roten Armee beschlagnahmt worden war. Diese Herren, erkennbar an ihren knallgrünen Tellerkappen, brachten unserem Haus einen gewissen Schutz vor Plünderungen. So wirklich sicher waren wir aber erst von dem Moment an, da einer der Herren Kommissare das Klavierspiel meiner Mutter hörte, die unberührt vom Weltgeschehen weiterhin Gesang unterrichtete. Eines Tages läutete es stürmisch an unserer Wohnungstür. Ich lief mit meiner Mutti hinaus, um nachzusehen, wer da kam. Mit mulmigem Gefühl öffnete sie, bereit ihre Kinder und ihr Eigentum mit bloßen Händen gegen die gesamte Rote Armee zu verteidigen. Doch draußen stand ein Kommissar, die Kappe unter den Arm geklemmt, der höflich in gebrochenem Deutsch fragte, ob er eintreten dürfe. Natürlich durfte er, es war ja nicht so, als hätten wir eine Wahl. Er erkundigte sich nach dem Klavier. Wir führten ihn ins Musikzimmer. Dort der alte Bösendorfer-Flügel mit seiner halbenglischen Mechanik, an den er sich gleich setzte und meisterhaft zu spielen begann. Aber nicht nur das, er hob gleichfalls zu singen an. Mit seinem prächtigen, geschulten Bariton schmetterte er mit voller Stimme Arien aus russischen Opern durch die offenen Fenster in die Welt hinaus. Die überaus laute und kraftvolle Interpretation einer Reihe von Opernarien der russischen Komponisten Tschaikowski, Mussorgski, Glinka, Borodin und Rachmaninow war für mein dem Belcanto verhaftetes Mütterchen qualvoll anzuhören. Ab jener Stunde wiederholten sich diese nur wenig erwünschten Darbietungen fast täglich, die Fenster offen, die Nachbarschaft mithörend.
Nach einigen Tagen zogen die Kampftruppen vor unserer Haustüre ab. Was blieb, war der Tross, eine seltsame Mischung von teils exotischen Soldaten, die Plünderungen, vor allem Uhrensammeln und Vergewaltigungen auf ihrer „Agenda“ hatten. Eines Morgens stürmte ein solcher Soldat mit gezogener Pistole in unsere Wohnung. Doch wie Mütter so sind, drückte meine Mutter instinktiv die Waffe zur Seite und machte dem Eindringling in energischen Gesten klar, dass er sich benehmen solle. Bevor die Situation eskalierte, erschien, deus ex machina, unser gesangsfreudiger Kommissar auf der Bildfläche. Eine Szene, die sich wie aus einer Oper entnommen entwickelte. Mit seinem geschulten Bariton schrie er den Soldaten zusammen, der daraufhin kleinlaut den Rückzug antrat. Von diesem Tag an waren wir vor Übergriffen sicher, zumindest vor den räuberischen, denn der musikalische Sturm des Kommissars tobte weiter. Doch die Tage der russischen Besatzung waren gezählt. Die Alliierten teilten Wien in vier Zonen auf, dabei wurde der siebente Bezirk zur amerikanischen Zone erklärt, und die Lieder des Baritons verstummten endgültig.
In dieser Zeit entdeckte ich dank der RAVAG (Radio-Verkehrs AG) meine Leidenschaft für Tontechnik. In einem Haushalt, in dem Belcanto und Kammermusik hoch im Kurs standen, blieb mir der Genuss jener Sendungen, die meinem jugendlichen Kunstempfinden entsprachen, streng verwehrt. Doch es fand sich in einem Schrank ein altes Detektorradio, das mir heimliche Hörfreude ermöglichte. So wie ich nachts unter der Bettdecke mit einer Taschenlampe sämtliche Bände Karl Mays verschlang, hörte ich m Verborgenen Radio. Besonders am Sonntagmorgen gab es ein Highlight: „Was gibt es Neues hier in Wien“ von und mit Heinz Conrads und Gustav Zelibor. Das war leichte und aktuelle Unterhaltung, perfekt für meine damals noch formbare Psyche. Mein improvisiertes Hörgerät, ein Detektorempfänger mit vorsintflutlichen Kopfhörern, ließ mich wie einen Außerirdischen aussehen, dem Antennen aus dem Kopf wuchsen. Auf dem Holzbrettchen war neben einer Schwingkreisspule der Kristall montiert. Der war meine Brücke zur Welt der Radiowellen, was aber Geduld und Fingerspitzengefühl brauchte, denn an diesem musste man erst mit der Spitze eines daneben angebrachten steifen Drahtes die am besten funktionierende Stelle finden. Doch wenn ich sie einmal gefunden hatte, drang die unvergessliche Stimme Heinz Conrads intim und störungsfrei an meine Ohren und in die träumerische Seele.
Dann war da mein Freund Fritz M., kaum größer als ich und ebenso blond wie tollkühn. Uns verband eine unschuldige Faszination für Handfeuerwaffen. Diese war keineswegs verborgener Mordlust zuzuschreiben, sondern der Unmöglichkeit, unsere kindlichen Träume von Heldentum in die Tat umsetzen zu können. Das dramatische Postulat der Reichspropaganda, es wäre das höchste Ziel des Mannes, mit der Waffe in der Hand fürs Vaterland zu sterben, hatte uns geprägt. Doch um selbst schießen zu dürfen, waren wir beide zu Zeiten des Krieges zu jung. Einmal, auf einer Ausstellung der Wehrmacht am Heldenplatz, durften wir endlich das kühle, matte Metall von Karabinern, MPs und MGs berühren, ein Moment, der uns vor Ehrfurcht fast den Atem verschlug. Jetzt, nach dem Krieg, lagen diese Herrlichkeiten auf dem Tisch vor uns, nicht, um mit ihnen zu schießen, sondern damit Handel zu treiben. Nicht einen Schuss haben wir mit diesen Waffen abgegeben, ebenso wenig kamen wir jemals in Versuchung damit Raubüberfälle durchzuführen. Ausschließlich in unserer spielerischen Phantasie, schossen wir wild herum.
Eines Tages lernte ich Adolf W. kennen, wohnhaft im Nachbarbezirk in der Albertgasse. Dieser Herr schien einen schier unerschöpflichen Zugang zu tadellos gepflegten Waffen zu haben: deutsche Schmeisser-MPs, russische PPD-40 mit runden Magazinen, Armee- und Polizeipistolen aus aller Welt. Ein Arsenal, das selbst James Bond vor Neid hätte erblassen lassen. Seine Wohnung war wie ein Waffenmuseum, nur eben mit voll funktionsfähigen Exponaten. Eine Zeit lang pflegten wir eine florierende Partnerschaft, er beschaffte die Waffen, ich wusste, wo man sie gewinnbringend verkaufen konnte. Einerseits beim Berger am Praterstern, der dort zwei Lokale besaß. Die am rechten Eck der Praterstraße gelegene Gaststätte war dem Bürgertum gewidmet, die Gäste des am linken Eck gegenüber befindlichen Gasthaus waren der Unterwelt zuzurechnen. Andererseits gab es regen Absatz für die Waffen am Naschmarkt. Letzterer war in wenigen Minuten Fußmarsch von daheim zu erreichen. So wurde das Kaffee Kettenbrücke zum frequentierten Umschlagplatz. Unbekümmert transportierte ich selbst größere Objekte versteckt unter meinem Mantel. Zwei- bis dreimal die Woche war ich um vier Uhr morgens dort und übergab die bestellten Waren an die Marktlieferanten, oder welchen Berufen immer diese Herren nachgingen.
Fritz, der Freund, wohnte bei seinen Eltern in der Margaretenstraße, wo in der Küche die Waffen zerlegt und auf Hochglanz geölt wurden. Wir schworen damals darauf, dass wir bei unserem gefährlichen Lebenswandel höchstens ein Lebensalter von fünfunddreißig Jahre erreichen werden. Der etwas sorglose Umgang mit Munition brachte das Ende dieses nicht unbedingt legalen Handels. Wie schon weiter oben erwähnt, wurde ich nach der Explosion bei den Piaristen, verursacht durch das aus Patronen gewonnene Schießpulver, ins Internat und Gymnasium der Schulbrüder in Strebersdorf verbannt. Womit mein Zugang zu Waffen und Munition endgültig unterbunden war.
Es ist spät am Vormittag. Ich blicke in den von Licht durchfluteten Hof – der Targi mit seinen beiden Meharis ist verschwunden. Zufrieden mit mir und meiner heutigen Leistung bisher stelle ich fest, dass die grauen Zellen und das Erinnerungsvermögen leidlich funktionieren. Im Laufe des Eintippens tauchen wild wuchernd Bilder und Namen aus früheren Tagen auf, die wollen gefiltert und sortiert werden. Die Angst vor Chaos macht sich breit und bremst die Lust am Schreiben. Doch jetzt ist erst einmal Zeit für eine ausgiebige Dusche. Die Sonne hat das in der Nacht kalt gewordene Wasser im Tank auf dem Dach wieder erwärmt. Es ist ein unvergleichliches Vergnügen, sich unter den lauen bis heißen Wasserstrahlen zu säubern, eine schlichte, aber wirkungsvolle Freude. Zugegeben, ich ziehe warme Duschen kalten vor.
In der rückwärtigen Ecke des Gästeraums steht das für mich vorbereitete Frühstücksgeschirr unberührt auf dem Tisch. Fatima hat in der Küche mein Kommen gehört, schlurft herbei und fragt, ob ich denn jetzt ein „petit déjeuner“ wolle. Ich lehne dankend ab und erkläre, dass ich nie frühstücke. Sichtlich pikiert räumt sie das Geschirr ab und verschwindet wieder in die Küche. Es scheint, als hätte ich mit meiner Absage ihre fürsorglich-mütterlichen Instinkte verletzt. Wenig später taucht sie erneut auf, diesmal mit der Frage, ob ich wenigstens einen Kaffee trinken wolle. Der deutliche Unterton lässt mir keine Wahl: Ich stimme zu.
Aus der Küche dringen Wortfetzen, Fatimas Stimmlage und Tonfall verraten Empörung. Minuten später kommt François grinsend mit einem Tablett, darauf eine Kaffeekanne und Tasse balancierend an meinen Tisch und wünscht mir einen guten Tag. Ich frage ihn, ob unser Kamelreiter schon abgereist sei. Irgendwie war mir dieser Targi sympathisch, auch wenn ich von ihm nur die verhüllte Gestalt und den Schleier vor seinem Gesicht gesehen habe. François hatte ihn heute zeitig am Morgen wegreiten sehen. Er ist aber sicher, dass der Targi bald wiederkommt, denn dort, in der Oase zu der er zweifelsfrei wollte, gibt es im Moment keine heiratsfähige oder zumindest begehrenswerte Targia. Dieser Mann scheint so eine Art Wüstencasanova zu sein, ähnlich dem Nomaden, den ich vor vielen Jahren im l’Aȉr kennen gelernt hatte.
Und tatsächlich, am späteren Nachmittag ertönt vom Hof wieder das unwillige Gurgeln aus den Kehlen der beiden Meharis, die zum Niederknien gezwungen werden. François geht hinaus, um sich nach den Erfahrungen des Targi in der Oase zu erkundigen. Die Kürze der Antwort lässt darauf schließen, dass der Ausflug wenig erfolgreich war. Doch der Wirt bringt mir eine Einladung zum Tee mit. Ich nehme sie gerne an und überlege, wie eine Verständigung mit dem Targi möglich ist.
Zur angegebenen Zeit betrete ich den Hof und begebe mich in Richtung der Lagerstelle des Targi. Dort flackert ein kleines Lagerfeuer, umgeben von sorgfältig angeordneten Steinen. Der Nomade erhebt sich mit einer fast zeremoniellen Ruhe, streckt mir seine schlanke Hand entgegen und stellt sich vor: Akamouk. Ich erwidere mit meinem Namen und blicke in ein Paar erstaunlich blaue Augen. Ich setze mich auf einen behauenen Stein, der offensichtlich von der Errichtung des jetzt von mir bewohnten Türmchens übriggeblieben ist. Akamouk hat seinen dunkelblauen Schleier abgelegt und trägt stattdessen eine Art weißen Turbans. Sein Gesicht ist jugendlich, die Haut so hell, dass sie an die eines Europäers erinnert, und weist keine Spur von der berühmten bläulichen Einfärbung, wie die Experten für Touareg Père Foucault oder Jean Rouge, Nachtigall und andere Forscher einst beschrieben haben. Selbst zur Zeit meiner ersten Expedition bemerkte ich bei einigen Touareg und Bella Einfärbungen, verursacht durch die Farbstoffe der traditionellen blauen Textilien. Die Tagelmusts (Kopfverhüllungen) der modernen »hommes bleu«, der sogenannten blauen Männer, sind mit zeitgemäßen wasserfesten Chemikalien gefärbt und geben kaum Farbe ab.
Mit geübten Bewegungen setzt Akamouk einen kobaltblau emaillierten Teekessel direkt in das Feuer. Dieses Kännchen gleicht denjenigen, welche die Tuareg schon vor hundert Jahren zum Teekochen benützt hatten, mit dem Unterschied, dass sie heute „made in China“ sind. Mit Bedacht öffnet er den Deckel und hängt ein Sträußchen frische Pfefferminze hinein. Der Duft breitet sich aus vermischt sich mit den Gerüchen glühender Holzkohle und grünem Tee. In dieser außerordentlichen Ruhe bedarf es keiner Sprache zur Kommunikation. So schweigen wir beide, es herrscht diese unvergleichliche Stille, welche die Sahara so auszeichnet. Aus der Ferne dringt das gedämpfte tiefe Brummen eines Stromaggregats herüber, das François jeden Abend in der Dämmerung in Gang setzt. Der Tee beginnt blubbernd zu kochen und Akamouk stellt ein abgegriffenes Tablett aus getriebenem Kupfer mit zwei Teegläsern auf den sandigen Boden. Er legt den geschwungenen Schnabel der Kanne an den Rand des Glases, und zieht beim Einschenken zielsicher bis in eine Höhe von etwa dreißig Zentimetern. Ohne dabei einen Tropfen zu verschütten schenkt er gleichmäßig die gelbe Köstlichkeit ein. Sauerstoff bindend bildet sich Schaum in den Trinkgläsern. Schweigend schlürfen wir die heiße, süße Mischung aus grünem Tee, Zucker und der Frische der Minze.
Einem ungeschriebenen Gesetz der Gastfreundschaft folgend werden drei Gläser Tee getrunken. Das erste Glas heißt den Gast willkommen, das zweite prüft ihn, und das dritte besiegelt das unverbrüchliche Recht auf Beistand und Freundschaft. Während wir das erste in kleinen Schlucken leeren, klaubt Akamouk sorgfältig ein paar Stücke des zertrümmerten Zuckerhuts von einem gegerbten Ziegenfell, gibt sie zu den Teeblättern in die Kanne und gießt frisches Wasser darüber. Wir warten schweigend das ebenso kunstvolle Nachfüllen des zweiten Glases ab, und ich bewundere seine geschickten Bewegungen, mit denen er die Tradition weiterführt.
Obwohl stolzer Abkömmling der Tuareg, ist Akamouk doch so weit Afrikaner, dass er den Rumi, den Europäer mit großem Respekt behandelt. Jetzt wäre es an der Zeit, eine Unterhaltung zu beginnen. Dem Umgang mit Menschen aus anderen Kulturen seit Jahrzehnten entwöhnt, ist mir nicht klar, womit ich einen Dialog eröffnen kann, ohne meinen Gastgeber unabsichtlich vor den Kopf zu stoßen.
Er hat seine Tabuka, das zweischneidige Schwert der Tuareg neben sich liegen. Sie ruht in einer kunstvoll gefertigten, farbenfrohen Lederscheide, geschmückt mit metallenen Verzierungen. Ich versuche es auf Französisch und mache ihm ein Kompliment für diese prächtige Waffe und erzähle ihm, dass ich in Wien zwei ähnliche Exemplare besitze. Die habe ich vor langer Zeit, 1976 im Niger erworben, in einem Lager für Tuareg, die aus Mali geflohen oder vertrieben worden waren. Frauen boten mir damals die Schwerter an. Ihre Not war so groß, dass sie lächerlich wenig dafür verlangten. Ich habe ihnen mehr gegeben. Ein ungewöhnlicher Akt, weil in Afrika ist es normal um den Preis zu feilschen. Das wird erwartet, denn gefeilscht wird weniger um den Verdienst zu steigern, sondern aus sportlichem Vergnügen. Akamouk erinnert sich an diese Zeit. Er war damals noch ein Kind, doch hat er die Bilder großer Karawanen anderer Tuareg-Stämme, die in den Hoggar zogen, stets vor sich
Er spricht grammatikalisch einwandfreies Französisch, allein das „R“ rollt statt am Gaumen vorne auf der Zunge. Auf meine Frage, wieso er die Sprache so gut beherrsche, erzählt er, dass man ihn in die Schule nach Algier geschickt hätte. Sein Vater war Offizier bei der von Frankreich gegründeten Garde Nomade und hatte erkannt, wie wichtig Bildung für einen Targi ist. Ich bin überrascht. Wie konnte sich ein Wüstenbewohner für seinen Sohn eine europäische Schulbildung leisten? Seine Antwort ist kurz und deutlich, mit einem feinen Lächeln zieht er seine Tabuka etwas näher zu sich heran. Welchen Vorteil vermag ihm diese Erziehung hier in der Wüste bringen? Er meint, er sei bei den Clans der Sahara recht angesehen und reitet von einer Familie zur anderen. Manchmal würde er bei einer heiraten, um nach einiger Zeit wieder weiterzuziehen. Es ist mir bewusst, dass Hochzeiten gar nicht wenig kosten, und bei einer Scheidung, welche fast stets von der Frau verlangt wird, das gesamte Vermögen und die aus der Verbindung hervorgegangenen Kinder bei der Mutter bleiben. Um sich das leisten zu können, muss er doch höchst wohlhabend sein? Auch diesmal erhalte ich keine Antwort. Nur ein feines, geheimnisvolles Lächeln spielt auf seinem Gesicht. Da dämmert mir, er wird halt die alte Tradition der ehemals räuberischen Touareg weiter fortführen und sich das, was er braucht, ohne Umstände aneignen.
Es ist schon spät und kühle Luft kündigt eine kalte Nacht an. Der Mond ist nicht zu sehen, aber eine atemraubend große Anzahl Sterne erhellt den Himmel. Teilweise stehen sie so dicht nebeneinander, dass sie richtige Flächen aus Licht bilden, wie ineinander verschmolzen. Ich bin müde, François hat das Aggregat längst ausgeschaltet und ich bin in Sorge, dass sich ohne Strom der Akkumulator meines Computers über das Ladegerät entladen würde. Ich bedanke mich herzlich für die Einladung und gehe mit einem freundschaftlichen „a demain“ zum jetzt im Dunkel liegenden Haus. Aus der Ferne kommt Motorenlärm und ich sehe einen hellen Lichtstrahl, der sich langsam nähert. Diese Piste wird nur selten befahren, aber manche Fahrzeuge biegen zur Auberge ab und kommen herein, um zu tanken. Doch dieser LKW donnert mit hohem Tempo vorbei. Dieses Geräusch bleibt in der sonst herrschenden Stille lange sachte verebbend zu hören. Die vorsorglich mitgenommene Taschenlampe wirft einen gebündelten bläulichen Lichtstrahl voraus, die Stiege zum Zimmer im Turm erreiche ich ohne Probleme. Mich ärgert die Unaufmerksamkeit, Akamouk diese Lampe nicht als Gastgeschenk überreicht zu haben. Es befinden sich sechs solcher Handleuchten in meinem Gepäck, die ich für diese Reise besorgt habe. Ich nehme mir vor, das morgen nachzuholen.
In meinem Zimmer angekommen, trenne ich das Ladegerät vom Netz und vom Computer. Nachdenklich lasse ich mich aufs Bett sinken. In meinem Kopf dreht sich alles um um den Targi. Vor langer Zeit gab es einen Akamouk, der nicht einfach nur ein Name war, sondern eine Institution, der oberste Chef aller Tuareg. Vom Hoggar aus regierte er die in der Sahara und im Sahel verstreut lebenden Stämme. Abweichend von den Methoden anderer Kolonialmächte hat Frankreich seine Kolonien verwaltet. Es war mehr Administration als blanke Unterwerfung. Gewalt wurde nur eingesetzt, wenn es gar nicht zu umgehen war, zumindest offiziell. Man nannte die annektierten Gebiete nicht Kolonien, sondern „la France d’outre-mer“, also Übersee Frankreich. Klingt fast idyllisch, als wären ein paar Pariser anspruchslos umgezogen, um sich unter Palmen niederzulassen.
Die Franzosen hatten ein System: Häuptlinge, Stammesfürsten und Könige der einheimischen Völker wurden nicht entmachtet, sondern wie europäische Beamte eingestellt – mit Gehalt, Titel und, wenn man so will, Pensionsansprüchen. Als „Chef de Canton“ sollten sie in ihrem Einflussgebiet für Ordnung sorgen. Das Ergebnis? Ihre Autorität wurde dadurch gewahrt, in manchen Teilen des Kolonialreichs sogar gesteigert, was eine gewisse Treue zur Kolonialmacht brachte. Einige dieser Chefs waren zwar nicht unbedingt die Lieblinge ihres Volkes, doch der französische Etat sorgte für Loyalität und dafür, dass Frieden herrschte. Akamouk, der damalige Verwalter und Namensgeber unseres heutigen Protagonisten, war so ein zum Chef ernannter ehemaliger Clanvorstand. Vom eigenen Volk weder geliebt noch beachtet, aber reichlich honoriert. Dies war ein Kolonialsystem, das zwar keinen Unterschied zur üblichen Ausbeutung Afrikas darstellte, doch weniger repressiv erschien. Und nicht so blutig. Die Effizienz dieser Methode wurde in den Jahren, die der Selbständigkeit anderer Kolonien folgten, deutlich. In allen nicht frankophonen Ländern entflammten kurz nach dem Abschütteln kolonialer Gewalt brutale Stammeskämpfe, Revolutionen und Kriege, nur in den ehemaligen französischen Gebieten herrschte weiterhin viele Jahre soziale Ruhe. Selbst dort, wo durch willkürlich gezogene Grenzen ethnisch einheitliche Völker auseinandergerissen waren. Vielleicht erklärt das die Namensgebung unseres Targi, um damit dem damaligen Herrscher Akamouk zu gefallen. Das war das letzte „Geschenk“ der Kolonialmacht Frankreich, ein stabiler, wenn auch fragiler Friede.
Es gibt einige Details in meiner Geschichte, die bisher unerwähnt blieben. Doch keine Sorge, das Wissen darum ist keine Pflicht, sondern ein Angebot. Wer meine Ausführungen bis hierhin unermüdlich konsumiert hat, mag selbst entscheiden, ob er das nächste Kapitel liest oder einfach weiterblättert. Wer weiß, vielleicht steckt auch darin ein kleines Abenteuer.
Mein Vater zeugte seinen Sohn im beachtlichen Alter von sechsundfünfzig Jahren in enger Zusammenarbeit mit seiner deutlich jüngeren Frau. Ohne mir eine Wahl zu lassen, wurde ich am 20. Juni 1934 in diese Welt gesetzt, exakt einen Monat vor dem Juliputsch der Nationalsozialisten und der Ermordung von Bundeskanzler Dollfuß. Ich wurde meiner neun Jahre älteren Schwester präsentiert, was sie anfänglich mit mädchenhafter Begeisterung annahm. Ein lebendiges Spielzeug war ins Haus gekommen! Doch die kindliche Freude wich bald einer leisen, dann einer recht deutlichen Eifersucht. Der daran unschuldige „Kronprinz“ entzog ihr den größten Teil an Aufmerksamkeit und Zuwendung von Eltern und Anverwandten. Erst in späteren Jahren, Schwesterchen war längst Kanzleileiterin bei verschiedenen Rechtsanwälten, entstand eine leicht reservierte, gegenseitige Zuneigung.
Verständlicherweise war mein Vater recht stolz auf sein Produkt und auf seine nicht anzuzweifelnde Virilität. Leider aber war ab der Zeit, in der ich zu sprechen anfing und zum Heranwachsen einer verständnisvollen väterlichen Hand dringend bedurft hätte, machte sich der Altersunterschied bemerkbar. Der inzwischen über Sechzigjährige fand keine geistige Basis, mit dem Kind zu kommunizieren. Mein kindliches Lärmen überforderte ihn zusehends, sodass er sich immer öfter in eine für mich unerreichbare Sphäre zurückzog. Seine Liebe und sein Vertrauen spürte ich zwar, doch ein echter Austausch fand kaum statt.
Er spielte leidenschaftlich gerne Schach. Meinen Zugang zu diesem Spiel, das er oft mit Freunden auskämpfte, entdeckte ich erst viele Jahre später. Heute bedauere ich den Abstand, der zwischen uns herrschte. Mein Vater war ein stiller, sensibler Mann, von dem ich eine Menge hätte lernen können: Disziplin, Konsequenz, Aufrichtigkeit, Mut und Genügsamkeit. Qualitäten, die bei mir im Heranwachsen eher selten anzutreffen waren. Diese positiven, latent vorhandenen, genetisch überlieferten Anlagen, die von den wunderbaren Großeltern beider Familien meiner Eltern stammten, habe ich erst später in Eigeninitiative ausgegraben.
Mütterchen hingegen war aus anderem Holz, dominant, rundlich und ausgesprochen selbstbewusst. Als erfolgreiche Sängerin und Gesangslehrerin war sie sehr beschäftigt. Für meine Erziehung blieb da wenig Zeit. Trotzdem habe ich von ihr eine wichtige Lektion gelernt, wie man sich in einer Welt voller Hindernisse behauptet. Andererseits haben sich bei mir schon früh ausgeprägter Gerechtigkeitssinn, sowie ein enormes Freiheitsbedürfnis entwickelt. Qualitäten, welche mich gelegentlich in meinem beruflichen Weiterkommen behindert haben.
Die künstlerische Ader in unserer Familie war vorprogrammiert. Generationen von Musikern, Schauspielern, Theaterdirektoren und Kunstkritikern tummeln sich in unserem Stammbaum. Die Hausmusikabende waren legendär: Franz Liszt, Franz Grillparzer, später Richard Heuberger, Alma Mahler und ihr Vater Emil Jakob Schindler – sie alle zählten zum illustren Kreis der Gäste. In meiner Jugend setzten sich diese Treffen fort. Wilhelm Furtwängler, Karl Böhm (der weitläufig zur Familie gehörte), Kurt Wöss, Maler wie Kurt Moldovan und Historiker Alfred Schmeller, sie alle gaben sich in unserem Salon in der Lindengasse die Ehre. Sogar Mitglieder der Wiener Philharmoniker waren oft Mitwirkende bei Hauskonzerten in den von Musik durchdrungenen Wänden. Heute liegen die Relikte dieser glorreichen Zeit verborgen und verstaubt still in meiner Wohnung.
Nur wenige Stunden dauerte mein Unterricht am Spinett bei Prof. Sokolovsky. Ich weigerte mich bald entschieden weiterhin in seine Wohnung zu gehen. Der Grund dafür bleibt hier besser unerwähnt. Schließlich gelang es meinen Eltern, in der Akademie für Musik und darstellende Kunst einen Studienplatz beim Klarinettisten der Philharmoniker Prof. Wlach mit Klavier als Nebenfach für mich zu belegen. Warum ausgerechnet Klarinette? Sicher war ursprünglich Mozart‘s Klarinettenkonzert die Grundlage meiner Begeisterung für dieses Instrument. Es ist ein Holzblasinstrument, bei dem jeder Ton in sich swingt. Egal ob es in der Volksmusik, Klassik oder im Jazz Verwendung findet. Große Vorbilder wie Benny Goodman, Woody Herman, Artie Shaw und Fatty George waren bestimmend, diese Entscheidung zu treffen. Der Sender der amerikanischen Besatzungsmacht, „Blue Danube Network“ lief bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit. Dem dadurch entstandenen Sog zu Swing und Jazz war nicht zu widerstehen.
Zu jener Zeit besuchte ich im Kosmos Theater regelmäßig die mit Musikbeispielen von Schallplatten (riesige V-Disks der US-Army mit 78rpm) aufgelockerten Vorträge des unvergesslichen, damals jugendlichen Günther (Howdy) Schifter. Als er schließlich dem Ruf des Senders Rot-Weiß-Rot folgte, trat ich in seine Fußstapfen und übernahm seine Vortragsreihe im Theater an der Siebensterngasse. Die Leiter des United States Information Service (USIS), die Herren Zanetti und Helmuth „Helo“ Kolbe, unterstützten mich dabei. Doch ich musste schnell feststellen: Mein Wissen über Jazz und dessen Geschichte reichte nicht an das von Günther Schifter heran, und darüber hinaus fehlten die Ressourcen zur Beschaffung passender Schallplatten. Um die Vorstellungen zu retten, und um nicht als der Mann in die Geschichte einzugehen, der dieses Jazz-Programm scheitern ließ, holte ich mir die Erlaubnis vom USIS, stattdessen wöchentliche Jam-Sessions im ehrwürdigen Theater am Siebensternplatz zu veranstalten.
Helo Kolbe, gebürtiger Schweizer und selbst ein begnadeter Bassist, half mir, die besten Musiker der Wiener Szene dafür zu begeistern. Viele bekannte Namen der damaligen Jazzwelt traten dort auf. Da waren die gleichen Solisten, wie ich sie vom Hot Club Vienna, der im Lokal „Watzal“ musizierte, her kannte: Hans Salomon, Karl „Charlie“ Drewo, Heinz Hönig, Viktor Plasil, Attila „Shivi“ Zoller, Vera Auer, und der legendäre Hans Koller, um nur einige zu nennen. Sogar der Vibraphonist Bill Grah, der Maler-Musiker Kurt Moldovan und Dr. Roland Kovac waren dabei. Groovy, oder? Leider waren nur wenige von ihnen bereit, ohne Gage zu spielen – aber meine Bewunderung für alle Beteiligten bleibt grenzenlos, auch für jene, deren Namen mir inzwischen entfallen sind.
Eine Episode bleibt mir besonders im Gedächtnis. Nach einem Abend im Kosmos-Theater nahm ich die Straßenbahnlinie 49 Richtung Innenstadt. Wie vom Blitz getroffen erstarrte ich. Auf der Plattform stand, ein bisschen lässig in eine Ecke gelehnt, eine Göttin, nein, die Göttin! Sie dürfte eben von ihrer Arbeitsstätte gekommen sein, vom Sender Rot-Weiß-Rot in der Seidengasse. Da war sie, wie ein Phantom, die um wenige Jahre ältere und längst recht erfolgreiche Louise Martini. Unnahbar sah sie über den sie anstarrenden Jüngling hinweg, der sich exakt in diesem Moment sterblich in sie und ihre großen, bezaubernden Augen verliebte. Dann stieg sie aus und war weg. Jahre später trafen wir uns bei Filmarbeiten wieder und hielten leichten Kontakt bis zu ihrem Ableben im Jahre 2013.
Bedeutende Pläne für eine geregelte berufliche Zukunft interessierten mich damals herzlich wenig. Stattdessen wollte ich, wahrscheinlich wegen oben erwähnter Erbanlagen, in die sich nach dem Krieg neu formierende Wiener Kulturszene. Was sich dadurch manifestierte, dass ich alle G‘schnasfeste der Kunstakademie, sowie regelmäßig den sich im „Strohkoffer“ zur Unterhaltung versammelnden Artclub besuchte. Sie wurden schnell meiner zweiten Heimat.
Bei einer jener Veranstaltungen lernte ich einen nicht bedeutend hoch gewachsenen, ausnehmend schlauen Burschen kennen. Eben aus der DDR zurückgekehrt war er auf Arbeitssuche. Zufällig traf ich ihn einmal in der Burggasse. Er trug seinen geliebten, offen wehenden Trenchcoat. Aber in jenen Tagen war er beruflich noch nicht gefestigt und recht mittellos, trotz alledem voller Ideen. Er wurde kurz darauf Reporter beim „Express“. Ich lud ihn auf einen Mokka in das nahe gelegene kleine Kaffeehaus ein. Über drei Stufen hinauf erreichte man das notdürftig beleuchtete Lokal. Dessen Einrichtung aus mit rotem Samt bespannten Wandbänken und Marmortischchen davor, vermittelte eine Atmosphäre der Zeit zwischen den Weltkriegen. Nebenbei hatte ich selbst einen Grund, das Café zu besuchen, amerikanische Zigaretten. Der Kellner dort bezog sie offenbar direkt aus den PX-Läden der US-Armee. Pall Mall, Camel, Chesterfield und Players Virginia, die hatten zeitgemäß natürlich keineFilter. Rauchen war damals ein weitgehend unproblematisches Vergnügen. Rauchverbote gab es in jener vergangenen Zeit nur an äußerst wenigen Orten. Ungeniert paffte jeder munter drauf los und ich beehrte meinen Vater ab und zu mit einer Packung „Amis“.
Später wurde Roman als „Adabei“ bei der Kronen Zeitung eine unentbehrliche Institution. Unsere Wege kreuzten sich immer wieder, und gelegentlich gab ich ihm Stoff für seine Kolumnen. Ob er sich an die ersten Treffen erinnerte? Wahrscheinlich nicht. Aber ich erinnere mich an ihn, mit einem Lächeln.
Mit Konsequenz besuchte ich das Tanzkaffee im Volksgarten, wo Heinz Neubrand auf der Hammondorgel nicht ausschließlich zum Tanz, sondern genauso eingängigen Jazz spielte. Er war in Österreich der „Mr. Hammond“. Uns sollte Jahrzehnte später brüderliche Freundschaft verbinden.
Inzwischen ist es Mittag geworden. Die Sonne steht hoch am Himmel und wirft kaum Schatten. Ich sitze, fast unbekleidet, an meinem Schreibtisch. Kein Schweiß läuft, aber die Haut ist feucht, das bringt etwas Kühlung durch Verdunstung. Ich beschließe, François beim Mittagessen um einen Ventilator zu bitten und damit seiner ausgeprägten Sparsamkeit einen Stoß zu versetzen. Seine Solaranlage versorgt tagsüber nur das Allernötigste: den Kühlschrank, das Telefon und manchmal ein kleines Fernsehgerät, das ich in den Wohnräumen der beiden vermute. wirft er täglich das Dieselaggregat an, um die Beleuchtung des Hauses und Teile des Areals, sowie den Betrieb der Deckenventilatoren sicherzustellen. Das sind die wenigen Stunden, die ich zum Laden der Computerakkus habe. Zwei davon habe ich zum Glück im Gepäck, sonst könnte ich meine Schreibprojekte gleich vergessen.
Es passt schon, dass diese Herberge den Charme eines kolonial-französischen „Luxus“ versprüht, der längst in die Jahre gekommen ist. Aber wenn die Hitze den Schreibfluss stört, muss dringend Abhilfe her. Entschlossen gehe ich duschen, lange und ausgiebig. Ich ziehe, ohne mich vorher abzutrocknen, Hose und Polo an.
Da klopft jemand an meiner nur wenig offenen Zimmertür. Fatima steht dort, ein freundliches Lächeln im Gesicht mit einem alten Standventilator mit Messingflügeln im Schlepptau. Sie meint, dass ich den sicher brauchen könne, und informiert mich, dass sie François bereits davon überzeugt hat, mir eine Extraleitung vom Solarsystem zu legen. In einem Anflug von Dankbarkeit gebe ich ihr auf jede Wange einen Kuss, was sie in aller Selbstverständlichkeit geschehen lässt. Immer wieder überraschen mich die intuitiven Fähigkeiten der Frauen, die, unabhängig von Kultur oder Herkunft, scheinbar instinktiv das Richtige tun. Man sollte meinen, dass ich dieses Phänomen längst als Lebensweisheit abgehakt hätte, aber nein, solche Momente erstaunen mich jedes Mal aufs Neue. Wenigstens bleibt mir eine Diskussion erspart, und gut gelaunt folge ich Fatima in Vorfreude auf einen Aperitif die Treppe hinunter in den Gastraum.
Beim Betreten des Raumes finde ich auf meinem Tisch ein Schüsselchen mit gerösteten Erdnüssen und kleine Scheiben einer Baguette, dick mit Paté bestrichen. Francois bringt in einem Glas gelbgrün schillernden Pernod, eine Karaffe mit Wasser und ein Schälchen mit Eiswürfeln. Vive la France! Mir geht es prächtig!
Das Mittagessen ist ein Highlight: Spaghetti mit einer erstaunlich authentischen italienischen Tomatensauce, dazu grüner Salat, dessen Herkunft ich lieber nicht hinterfrage. Ein Glas Rotwein und geriebener Grana Padano vollenden mein Glück. Den angebotenen Karamellpudding zur Nachspeise lehne ich höflich ab, es gibt Grenzen.
Nach dieser willkommenen Abwechslung des Speisezettels ist es dringend Zeit für eine Siesta. Satt und zufrieden ziehe ich mich in mein Zimmer zurück. siehe da, der Standventilator läuft! Zu ihm führt ein provisorisches Stromkabel quer durch das „Appartement“, doch das stört nicht. Ich richte den Ventilator mit kleinster Stufe direkt in Richtung Bett, ziehe das Polo aus und lege mich in den sanften Luftstrom. Mein Glück ist vollkommen. So einfach kann Zufriedenheit sein. Ich spiele ernsthaft mit dem Gedanken, das Buch nicht weiterzuschreiben und stattdessen einige Jahre meditativ in Stille hier zu verbringen.
Doch die Idylle währt nicht lange. Harsche, laute Stimmen dringen aus dem Untergeschoss zu mir herauf. Ich wache auf und lausche. Es klingt nach einer heftig in arabisch geführten Unterhaltung. Schnell ziehe ich das Polo wieder an und schaue aus dem Fenster. Draußen parken zwei graue Toyota-Geländewagen vor dem Haupteingang, und ein Uniformierter spaziert sichtlich interessiert um meinen Landrover herum. Ich schaue nach hinten hinaus. Im Hof diskutiert Akamouk heftig mit einem Polizisten. Wie ich ihren Gesten entnehme, scheinen sie nicht einer Meinung zu sein. Obwohl ich kein Wort verstehe, sagt mir ein Gefühl, der Targi steht unter Druck.
Im Haus werden die Stimmen immer lauter. Die Diskussion nähert sich die Treppe hinauf meinem Zimmer. Das gefällt mir gar nicht. Schnell verstecke ich mein wertvollstes Gut, den Laptop, unter ein paar Wäschestücken im Spind. Es schadet nicht, vorbereitet zu sein.
Und wieder klopft es an der Tür. Ein Polizeioffizier, ein weiterer Beamter und François treten ein, Fatima bleibt dezent vor der Türe. Der zuvor gefasste Entschluss, hier bis ans Ende meiner Tage zu verweilen, löst sich abrupt auf. Der bürokratische Arm des Staates, der in jedem Land seine eigene, gleichförmige Starrheit besitzt, hat mich eingeholt. Ein Umstand, der mir wenig Freude bereitet.
Nach einer höflichen, kurz gehaltenen Begrüßung verlangt der Polizeioffizier meinen Reisepass. Ich hole das Dokument aus dem Koffer und überreiche es mit einem freundlichen „Bitte sehr“. Der Uniformierte nimmt das Anmeldeformular zur Hand, das ich vor drei Tagen ausgefüllt hatte, und beginnt die Angaben mit denen im Pass abzugleichen. Er scheint zufrieden und klappt den Ausweis zu, ohne ihn mir zurückzugeben.
Die nächste Frage trifft mich wie ein unvorbereitet wie ein unwillkommener Schlag. Ob ich Schusswaffen mitführe? Sein Blick ist dabei so prüfend, dass ich mich fast verpflichtet fühle, aus Prinzip zu lügen. Darüber hinaus ärgert mich sein anmaßendes Benehmen. Also verneine ich mit gespielt überzeugtem Tonfall. Um die Situation aufzulockern, strecke ich meine Hände vor und erkläre scherzhaft, dass sie ohnehin zu zittrig fürs Zielen seien. Das hätte ich besser unterlassen sollen. Mein Versuch eines interkulturellen Gags fällt auf einen Boden so trocken wie die Sahara selbst.
Der Offizier meint, er wüsste, dass ich ein Jagdgewehr mitführen würde. Er gibt seinem Begleiter ein knappes Zeichen, und der Polizist beginnt, den Raum gründlich nach Waffen zu durchsuchen. Peinlich berührt sehe ich zu, wie er systematisch jeden Winkel inspiziert, wohl wissend, dass mein Ferlacher Drilling gut verpackt im Schrank liegt. Da mir die Polizei in Algier eine schriftliche Erlaubnis für die Waffe gegeben hat, darf ich den Besitz des Ferlachers guten Gewissens zugeben. Die telegraphische Verbindung vom Norden des Landes in den Süden scheint zu funktionieren. Somit komme ich dem Polizisten zuvor und reiche ihm das Gewehr mit der Ausrede, ihn offenbar nicht korrekt verstanden zu haben. Der Offizier inspiziert die eingestanzte Seriennummer auf dem Lauf und gleicht sie mit der Erlaubnis ab. Alles scheint in Ordnung zu sein, aber mein Blick schweift hilfesuchend zu François. Dieser nur die Schultern an und mustert demonstrativ die Decke, als hätte er dort plötzlich ein Mosaik entdeckt.
Ich bekomme meinen Pass ausgehändigt und die Gruppe verlässt das Zimmer mit einem schnellen „auf Wiedersehen“. Das entspricht genau dem, was ich mir überhaupt nicht wünsche. Einige Minuten später ertönt das Brummen der Landcruiser, die Staubwolken aufwirbelnd in Richtung Tamanrasset verschwinden. Ein kurzer Blick in den Hof zeigt mir, dass Akamouk da ist und unversehrt das Feuer für einen beruhigenden Tee schürt. Eine Geste der Normalität, die mir unendlich tröstlich erscheint.
Zurückgedacht: Ich hätte eine Kampfausrüstung für mindestens zehn Mann im Landrover verstecken können, denn kein Polizist war auf die Idee gekommen, dort nach Waffen zu suchen. Jetzt bleibt mir nichts anderes übrig, als den Schrank neu einzuräumen, das Bett zu richten und meine verstreuten Habseligkeiten wieder im Koffer zu verstauen. Nach dieser Aufregung beruhigt mich ein tröstlicher Gedanke: Afrika bleibt in seinen typischen Eigenarten unverändert. So manches scheint sich über die Jahrzehnte nicht geändert zu haben, eine bittersüße Erkenntnis, die meine Zufriedenheit stärkt.
Dieser unvorhergesehene Zwischenfall hat unsere Nerven strapaziert. Es scheint daher nur recht und billig, dass François und ich uns mitten am hohen Mittag einen doppelten Whisky mit Eis und Soda genehmigen. Gewalt von außen hat offenbar eine verbindende Wirkung auf die Betroffenen. Fatima, die sich einen kräftigen weißen Mascara eingeschenkt hat, setzt sich zu uns. Wir stoßen mit den Gläsern an, und François schlägt vor, dass wir uns künftig mit Vornamen anreden sollten. Fatima wünscht sich, Michelle gerufen zu werden, wie sie es von ihrem Mann seit Jahrzehnten gewohnt ist. Ich empfinde das als besondere Geste des Vertrauens.
François ist der Überfall der Polizei peinlich. Mit unverhohlener Verachtung ordnet er den Polizeioffizier dem nördlichen Algerien zu, jenem Teil des Landes, in dem die Regierung sitzt und der von den Bewohnern der südlichen Sahara kaum geschätzt wird. Was wissen die da oben schon über das Leben hier unten? Die sollen für ihre Provinzen im Norden Gesetze machen. Die Menschen im Süden halten sich ohnehin kaum daran, weil es auf dieser Seite der Sahara ganz andere Lebensumstände gibt. Besonders die Touareg, die den Großteil der Bevölkerung stellen, sind kaum dazu zu bewegen, sich den Regeln der Regierung zu fügen.
Diese Diskussion lenkt meine Gedanken kurz nach Österreich, wo in den selbstbewussten Bundesländern oft ähnliche Worte über Wien fallen. Doch dort trennt keine unermessliche Wüste die Landeshauptstädte von der Hauptstadt.
Unsere Unterhaltung wird unterbrochen, als Akamouk erscheint. François lädt ihn ein, sich zu uns zu setzen. Michelle bietet ihm Kaffee an, den er gerne annimmt. Da er Muslim ist, trinkt er keinen Alkohol. Auf meine Frage, warum ich ihn nie beten sehe, wie es sich für einen gläubigen Muselmann dreimal täglich gehört, antwortet er ernst, dass er zwar bete, aber solche unterwürfigen Verneigungen höchstens seinem Stammesfürsten schulde. Doch in der Moschee müsste das eigentlich Pflicht sein? Er besucht keine, denn er verbringt sein gesamtes Leben in einem riesigen Tempel. Sein heiliger Raum ist die Wüste, und zu Boden wirft er sich nur, wenn ein Sandsturm tobt. Ich gebe zu bedenken, dass viele Touareg ihre Gebetsteppiche ausbreiten und darauf ihre rituellen Verbeugungen ausführen. Die gehören sicher dem Volke der Bella an, sagt er, die werden von den Marabus, den heiligen Männern, geführt. François erklärt mir, dass die Bella keine eigenständige Volksgruppe sind. Sie sind die Nachkommen freigelassener schwarzafrikanischer Sklaven der Touareg. Sie ahmen zwar ihre ehemaligen Herren im Habitus nach, sind ihnen aber niemals gleichgestellt. Befehle eines Targi führen sie meist aus, obwohl gleichfalls hier der Respekt vor dem Herrenvolk stark schwindet. Michelle bringt den Kaffee für Akamouk, der sich höflich bedankt. François und ich genehmigen uns jeder einen weiteren Whisky.
uf meine Frage, was der Polizist von ihm wollte, sagt der Targi, er habe „afrikanisch“ mit ihm gesprochen, dabei führt er eine ausdrucksstarke Geste mit der Hand aus, als würde er eine Zitrone auspressen. Die Verwaltungs- und Exekutivbeamten der Regierung, die meist aus dem Norden Algeriens stammen, sind auf die Fähigkeiten der Tuareg angewiesen. Denn nur die haben das Wissen Spuren sinnvoll zu lesen und in den endlosen Weiten der Wüste punktgenau Wasserstellen zu finden, die nicht einmal von Satelliten erfasst werden. Und das sowohl bei Tageslicht, wie in der Nacht.
Unbemerkt ist die Auberge längst in nächtliche Dunkelheit getaucht. Die Gespräche haben uns die Zeit vergessen lassen. Ich bedanke mich in der Runde für den angenehmen Abend und ziehe mich in mein Refugium zurück. Es ist ein wohltuendes Gefühl, dass mir diese drei Menschen in so kurzer Zeit ihr Vertrauen geschenkt haben. Zufrieden lege ich mich ins Bett und lasse den Tag ausklingen.
Vor mir steht der geöffnete Computer, der mit seiner stoischen Unbeweglichkeit keinerlei Anstalten macht, mich zu inspirieren. Das Schreibprogramm präsentiert mir eine blanke Seite, so leer wie der Kopf des Schreiberlings, ein Duett der Ideenlosigkeit. Ich bemühe mich krampfhaft, einen Einstieg in das nächste Kapitel zu finden, blättere durch bisher Geschriebenes und stoße auf Schreibfehler, die wie kleine Stolpersteine in meinen Sätzen ruhen. Sie werden ausgebessert, Syntax hier und da geschliffen, aber zurück auf der blanken Seite wird es zur Gewissheit: Das ist eine Blockade!
Ein Frontalangriff auf die Kreativität mit bewährten Mitteln muss her! Doch die Dusche, sonst eine treue Verbündete, bleibt heute erfolglos. Dann wären ein Frühstück mit anschließender Bewegung im Freien sicher Möglichkeiten, meine Schreiblust zu fördern. Eine etwas unorthodoxe Maßnahme für jemanden, der bisher Morgenmahlzeiten vermieden hat. Doch der Drang, die Blockade zu brechen, kennt keine Prinzipien. Aus Sorge vor nächtlichen Skorpionbesuchen klopfe ich meine Stiefel aus, was sowohl Routine, aber genauso instinktiver Selbstschutz ist. Statt des üblichen Poloshirts wird ein Hemd mit praktischen Brusttaschen gewählt, bevor ich die Stiegen hinabsteige.
Michelle, die gute Seele der Auberge, begrüßt mich mit einem freundlichen „Guten Morgen“ und verschwindet in der Küche. Als sie kurz darauf mit einer großen Tasse Tee, einer halben Baguette und Käse zurückkehrt, scheint ihr Lächeln einen Hauch von Triumph zu bergen. Wortlos stellt sie das déjeuner auf den ungedecktenTisch und lässt mich zurück. Ich, der Frühstücke stets gemieden hat, greife plötzlich mit einer Begeisterung zu, als sei dies der Schlüssel zu all meinen Problemen. Gestärkt und hoffnungsvoll erkunde ich zum ersten Mal das Anwesen innerhalb derMauern. Ich begrüße Akamouk, der mit einem Kamelsattel beschäftigt ist, der mir kurz zunickt, bevor ich durch das hintere Tor in die sich dahinter ausbreitende Wüste trete.
Die Hamada – eine graubraune, steinige Ebene – erstreckt sich flach bis zum Horizont, stellenweise von kleinen Erhebungen durchbrochen. Die Luft ist kühl, und die aufgehende Sonne taucht die scharfkantigen Gipfel der Sanddünen hinter derdunklen Flächen ein goldgelbes Licht.Weil das Sonnenlicht morgens nicht seine volle Kraft entfaltet, ist der Himmel klar und intensiv blau. Die Staubpartikel, die später wie ein Schleier über der Wüste liegen, sind noch nicht aufgestiegen. Doch sobald Sonne ihre Kraft entfalten wird, beginnt der Sand zu kochen, und die kleinsten Körnchen werden aufsteigen, bis sie den Himmel in graues Zwielicht hüllen. Ein täglicher Tanz zwischen Erde und Firmament, der sich erst mit dem Sonnenuntergang umkehrt.
Die Kälte der Nacht wirkt etwas nach, nur wenige der sonst allgegenwärtigen Fliegen summen herum, die totale Stille durchbrechend. Ich versuche, mich von rückwärts an eine auf den Hinterbeinen sitzende Wüstenspringmaus anzuschleichen, die aber hört die vorsichtig gesetzten Schritte und verschwindet blitzschnell in ihrer Behausung. Es ist auf dieser Reise der erster Spaziergang in der Wüste, und die völlige Stille lässt mich innehalten. Ich lausche der Ruhe, lasse die Einsamkeit auf die Seele wirken und spüre, wie die Last der Blockade ein wenig schwindet.
Ich marschiere auf einen flachen Hügel zu, doch wie in einem surrealen Spiel scheint er sich mit jedem meiner Schritte weiter zu entfernen, bis er schließlich hinter dem Horizont verschwindet. Um die Orientierung nicht zu verlieren, werfe ich regelmäßig einen Blick zurück zur Auberge. Durch die ansteigende Wärme geweckt, werden die Fliegen zahlreicher. Einige der anhänglichen Insekten sind besonders lästig und belagern auf der Suche nach Flüssigkeit Nase und Augen. Die Sonne wird langsam stechend und es ist Zeit, zurückzukehren.
Den eigenen Fußspuren folgend, die im mittlerweile angewehten Sand zwischen den Steinen kaum mehr zu erkennen sind, überlege ich Inhalt und Form des nächsten Kapitels. Ironischerweise habe ich mich stets gegen die Theorie gewehrt, dass gleichmäßiges Gehen die Kreativität beflügelt. Jetzt scheint es aber, dass endlich der Faden zur Fortsetzung meiner Schreibarbeit gefunden ist. Inspiriert von diesem Spaziergang, fühle ich mich plötzlich mit Beethoven, Kant, Nietzsche und Rimbaud verbunden, allesamt glühende Verfechter des ziellosen Dahinschreitens. Schon möglich, dass tatsächlich Magie in diesem Rhythmus der Schritte liegt.
Zurück in meinem „Verlies“ sehe ich den Computer mit neuen Augen. Er zeigt sich jetzt weniger bissig, er scheint sogar aufmunternd zu lächeln. Mit leichter Verzögerung öffnet sich das Schreibprogramm, und ich bin bereit, den ersten Satz zu wagen.
Um dem kulturellen Anspruch dieser Aufzeichnungen ebenfalls Platz zu geben, muss unausbleiblich die Geschichte des Strohkoffers erzählt werden. Natürlich in aller Kürze und so, wie ich sie erlebt habe. Es gibt Details, die selbst den Historikern dieses legendären Etablissements bis heute verborgen geblieben sind.
Nach den Kriegsjahren hatten vor allem Künstler, wie Maler, Bildhauer, Autoren und Musiker große Aufgaben zu bewältigen. Kunstwerke, die mehr als ein Jahrzehnt lang als „entartet“ galten und verboten waren, erlebten eine Wiedergeburt. Gleichzeitig wollte Neues geschaffen werden. Kaum ein Jahr nach Kriegsende entstanden in Wien zugleich zwei Gruppierungen von Künstlern. Der Art Club im Künstlerhaus und die Künstlervereinigung in der nahe gelegenen Sezession. Die einen waren Verfechter der abstrakten Kunst, die anderen Protagonisten und Gründer des Wiener phantastischen Realismus, der zu dieser Zeit seinen Durchbruch erlebte. Beide hatten große Visionen, doch wie das so ist, wo Kreative aufeinandertreffen, blieb Konkurrenz nicht aus. Bald standen sich die Vereinigungen unversöhnlich gegenüber, und es kam zur unvermeidlichen Trennung. Über allem schwebte wie ein Allvater Albert Paris Gütersloh.
Der Kunsthistoriker Alfred Schmeller fand für den Artclub ein neues Zuhause im Kärntnerdurchgang, den Keller unter der berühmten American Bar, die Alfred Loos im Jahre 1908 entworfen hatte. Der Eigentümer dieser Lokalitäten war Max R. Lersch. Die kahlen Wände des Gewölbes wurden pragmatisch mit Strohmatten ausgekleidet. Das waren Matten aus zusammengebundenem Stroh, wie man sie zu dieser Zeit auf Baustellen zum Abdecken brauchte. So entstand der Name „Strohkoffer“. Es gab einige Zugänge zu diesem Keller. Der Haupteingang war, von der Straße her gesehen, rechts von der Kärntnerbar gelegen. Durch einen mit Holz getäfelten, schmalen und dunklen Gang wurde der Besucher über eine enge gewundene Holzstiege zum eigentlichen Vereinslokal hinunter geführt. Durch die Loos-Bar selbst konnte man unterirdisch in das Kellerlokal gelangen. An den Toiletten vorbei kam man über eine Wendeltreppe aus Metall auf eine Plattform, von wo gerne Tasso, der Schäferhund des Max Lersch, das Treiben unter ihm beobachtete.
Im Lokal gab es zwei Nischen mit Tischen, gepolsterte Bänke und ein paar Stühle. Mitten im Raum stand ein Bösendorfer-Flügel. Der Keller war ausreichend groß, da er nicht nur die Fläche unter der Loos-Bar, sondern weiter hinaus großteils die des gesamten Hauses darüber einnahm. Tagsüber hatte der Strohkoffer die Aufgabe eines Ausstellungslokals. An den Wänden und an Schnüren von der Decke hängend waren Bilder der jungen, aufstrebenden Künstlerschar zu besichtigen. Nahtlos, etwa ab achtzehn Uhr, wandelte er sich zu einem vergnüglichen, öffentlich zugänglichen Vereinslokal. Die dort ausgestellten Gemälde und Skulpturen waren von nächtlichem Tabakrauch gebeizt. Ein Geruch, der sich in den Strohmatten an den Wänden festsetzte und, kalt geworden, tagsüber die Nasen der Ausstellungsbesucher beleidigte. Die von den abendlichen Besuchern kaum beachteten Exponate repräsentieren heute einen Wert von einigen Millionen Euro. Doch zu dieser Zeit ging es weniger um den Marktwert, sondern um die Gemeinschaft. Hier trafen sich die Großen und die Noch-Nicht-Arivierten der Kunstszene aus gesamt Österreich. Unter ihnen H. C. Artmann, Friedensreich Hundertwasser, Helmut Qualtinger, Erni Mangold und Alfred Schmeller. Es war ein Ort, an dem nicht nur Kunst, sondern auch großartige Geschichten entstanden. Und ja, daneben oft heftiger Streit.
Die Gastronomie erschöpfte sich in belegten Brötchen und heißen Würstchen mit Senf. Dazu gab es Bier oder Wein aus den legendären Dopplerflaschen. Erhitzt wurden die Würstel in der unterirdischen Küche, die ursprünglich für das darüber liegende Lokal erdacht war. Deshalb gab es einen handbetriebenen Speisenaufzug nach oben. Der dritte Zugang führte durch diesen Küchenraum in den Keller des Nachbarhauses, der wiederum seinen Ausgang zur Seilergasse hatte. Das war ein Relikt aus dem Zweiten Weltkrieg, da wurden aus Gründen des Luftschutzes zwischen benachbarten Kellern der Wohnhäuser Durchgänge gebrochen. Diese geheime, durch eine Stahltüre gesicherte Öffnung, wird später einmal in dieser Geschichte eine wichtige Rolle spielen.
In diese Zeit des Aufbruchs stolperte ich als Youngster hinein, mitten in eine lebhaft-animierte Gesellschaft von Studenten und Professoren der Kunstakademien. Zugegeben, die bildende Kunst ließ mich damals kalt. Aber an Musik gab es im Keller Wunderbares zu erleben. Hier ereigneten sich magische Jamsessions, wie sie nur in dieser Epoche möglich waren. Zwanglos ergaben sich hinreißende Improvisationen mit Friedrich Gulda, Hans Kann, Uzzi Förster, Joe Zawinul und zahlreichen anderen Musikern. Unvergesslich bleiben Gulda und Zawinul vierhändig improvisierend! Unwiederbringliche Sternstunden des Jazz, die das Publikum in atemloses Staunen versetzten. Ein Jammer, dass ich damals von Tontechnik noch keine Ahnung hatte!
Ich mischte mich fast täglich unter diese illustre Runde, oft freundschaftlich, manchmal ehrfürchtig. Dabei begegnete ich Persönlichkeiten, die später Weltruhm erlangten: Alfred Schmeller, Kurt Moldowan, Friedensreich Hundertwasser, Helmuth Leherb, Rudolf Hausner, H. C. Artmann, Konrad Bayer und der unermüdlich Pfeife rauchende Heinz Leinfellner, stets flankiert von seinen Schülern. Helmut „Quasi“ Qualtinger war eine Naturgewalt für sich, ebenso wie Kurt „Sowerl“ Sowinetz. Erni Mangold, frisch gekürte Schönheitskönigin, glänzte neben Wolfgang Hutter, dessen Haar zu jener Zeit noch vollkommen dunkel war.
Und einige andere, später in Vergessenheit geratene Künstler. Doch jeder hatte seinen Platz in diesem Kaleidoskop. So etwa Ferdinand Kitt, den man manchmal zu einem Plausch überreden konnte, oder L. E. Pötzelberger, den Schriftsteller mit notorischem Hang zum Alkohol. Seine Frau Peggy pflegte ihn mit liebevoller Disziplin: Jeden Morgen brachte sie ihm ein Glas Rum ans Bett, ohne das er sich gar nicht erst zum Aufstehen bemüht hätte. Ein weiteres Original war Kurt Kobalek, Arbeiterdichter und Kohlenhändler, der die meisten Texte für Qualtinger lieferte und dabei vermutlich ebenso viel Kohlebriketts wie Gedichte durch seine Hände gleiten ließ.
Nicht zu vergessen die Schauspielerriege um Johanna „Hannerl“ Matz und ihrem späteren Ehemann Karl Hackenberg, sowie der liebenswerte Regisseur Erich Neuberg, der sich spektakulär das Leben nahm. Die Geschichte, er hätte sich auf der Bühne des Ronacher erhängt, trug viel zur Legendenbildung bei. Unter den berühmten Besuchern dieses Kultlokals war einmal der „dritte Mann“ Orson Welles, der sich im Suff wegen seines ungebührlichen Verhaltens von einem Gast eine Ohrfeige einhandelte, wie man mir erzählte. Es würde leichter fallen nur diejenigen aufzuzählen, die den Strohkoffer selten oder gar nicht frequentierten. Das waren die Glücklichen, die keine Beeinträchtigung ihrer Leberfunktionen zu befürchten hatten. Denn zur Freude des Lokalbesitzers Max „Mackie“ Lersch, floss reichlich Alkohol durch die Kehlen der arrivierten und potenziellen Berühmtheiten. Meist aus „Dopplern“ eingeschenkt, wie man die Flaschen mit einem Füllvolumen von zwei Litern nannte, servierte Kurt Baumgartl, der über eine beeindruckende Kundenbindung verfügte, den Besuchern grünen Veltliner. Flaschenbier wurde ebenfalls gerne genommen. Es waren seine Gäste, denn er hatte sie fest im Griff, stundete oft mittellosen Künstlern die Bezahlung, in verschiedenen Fällen vergaß er später die Schuld einzufordern. Was seinen Künstlerfreunden manchmal das Überleben sicherte. Kurt war ein menschliches Faktotum, gezeichnet von einer violetten Hautverfärbung, welche die gesamte rechte Gesichtshälfte überzog. Was aber seiner stillen Autorität keinen Abbruch tat.
Apropos Alkohol, irgendeinmal fuhr ich Freund H. C. Artmann nach Hause, der sturzbetrunken hinten auf der Ladefläche des Kombis die Fahrt verschlief. Wir hatten einige literarisch-philosophische Gespräche miteinander, doch aufgrund irgendwelcher Umstände trafen wir uns nach diesem nächtlichen Transport nie mehr wieder. Ich habe lange Zeit das von ihm im Auto vergessene Buch „The Dean Of Scotland“ wie einen Schatz bis zu einem weiteren Treffen und zum Andenken aufgehoben und gehütet. Etwa sieben Jahre nach Kriegsende gab es bei den Künstlern kleine Unsicherheiten über die endgültige weltanschauliche Linie, in die sie ihre Bemühungen richten wollten. Ob sie sich mehr dem französischen Existenzialismus nach Jean-Paul Sartre näher verbunden fühlten, oder sich eher Eigenem, Wienerischem widmen sollten. Auf Grund einer Einladung war einmal Jean Cocteou, ein Vertreter des Existenzialismus, Gast im Strohkoffer. Was den nach Halt suchenden Kunstschaffenden auch nicht weiter half. Diese Periode des Zwiespalts drückte sich selbst in unterschiedlicher Kleidung aus. Manche der jungen Protagonisten trugen beständig Sakko und Krawatte (wie Konrad Mayer,) andere waren schon recht legèr in ihrem Outfit. Alle hatten aber eines gemeinsam, den trendigen, der britischen Armee entlehnten Dufflecoat in Kamelhaarfarbe. Ein unpraktisches Kleidungsstück. Die zwei aufgesetzten Taschen waren geräumig, aber unverschlossen, dadurch gingen deren Inhalte leicht verloren. Und durch den Spalt vorne, den ausschließlich drei Knebelverschlüssen zusammenhielten, zog es empfindlich kalt unter den Mantel.
Unter den Stammbesuchern des Strohkoffers hatte sich ein bemerkenswerter Zusammenhalt gebildet, der mir eines Abends buchstäblich das Gesicht rettete. Gemeinsam mit dem Journalisten und Schriftsteller Helmuth B. schlenderte ich die Kärntnerstraße entlang, als uns von der anderen Straßenseite einige betrunkene Halbwüchsige aus Niederösterreich lautstark provozierten. Zu zweit fühlten wir uns stark und konterten schlagfertig – was wir bald bereuen sollten. Die Burschen überquerten die Straße, und plötzlich war mein tapferer Mitstreiter wie vom Erdboden verschluckt. Vermutlich hatte er sich taktisch klug in die nahe gelegene „Adebar“ geflüchtet. Ich hingegen stand jetzt allein einer Gruppe gegenüber, die zahlenmäßig eindeutig überlegen war. Ein Passant, der meine missliche Lage offenbar erkannte, muss die Nachricht von der drohenden Eskalation rasch in den Vereinskeller getragen haben. Auf einmal quoll, einer Vulkaneruption gleich, eine Schar von etwa einem Dutzend Künstlern aus dem Strohkoffer. Diese bunte Truppe unterschiedlicher kreativer Strömungen klärte die Situation allein durch ihr massives Auftreten und verschonte mich damit vor einem gebrochenen Nasenbein.
Dann gab es in Wien die Unterwelt, die sich mit Stoß spielen und anderen verbotenen Tätigkeiten ihr täglich Brot verdienten. Die war es, welche Mackie Lersch und seine Lokale beschützte. Dafür bekamen diese Herren im dunklen Anzug, mit weißem Hemd und Krawatte in der Loos-Bar Kognak oder Whisky kostenlos, kamen aber nie zu den Verrückten in den Strohkoffer hinunter. In der eleganten Bar waren die Könige der „Galerie“, wie sie ihren Berufsstand selbst nannten, der G’schwinde, der Toch Heinzi, der Krisch Gustl und andere öfters präsent. Für Mackie Lersch war dieser Schutz ein zweischneidiges Schwert. So musste er gelegentlich handgreiflich werden, wenn einer der Herren mehr Alkohol als Selbstbeherrschung intus hatte. Trotz seiner wenig furchteinflößenden Statur gewann Mackie solche Auseinandersetzungen doch regelmäßig, was ihm Respekt und Ansehen in der Galerie einbrachte.
Daneben gab es die Kriminellen, die nicht zur Galerie der Gentlemen gehörten und einem anderen Kodex folgten. Die waren aber eher in den Außenbezirken zu Hause und kamen nur selten in die Innenstadt. Trotzdem wurde Mackie einmal von so einem derart schwer verletzt, dass wochenlanger Spitalaufenthalt für ihn nötig wurde. Die Sache begann harmlos. Mackie und ich beschlossen im Goesser-Keller die Nacht bei Gulaschsuppe und Bier ausklingen zu lassen. Dabei erhielt Mackie den vertrauensvollen Auftrag, auf die attraktive Freundin von Krisch Gustl aufzupassen, der in Geschäften anderweitig unterwegs war. Wir saßen zu dritt an einem Tisch, unter dem friedlich der Schäferhund Tasso lag. Da tauchte ein verwahrlost wirkender Mann auf, der offenbar entschlossen war, das Mädchen abzuschleppen, ungeachtet unserer Anwesenheit. Solch frechen Einbruch in sein Revier konnte sich der Herr der Kärntnerbar nicht bieten lassen, außerdem war er für den Schutz der jungen Dame verantwortlich. Barsch versuchte er den ungebetenen Gast zu verscheuchen. Ein Wort gab das andere, die Aufforderung nach draußen zu kommen, schlug der siegesgewohnte Mackie nicht aus.
Ich blieb mit Tasso und der jungen Frau im Lokal zurück, doch ein mulmiges Gefühl ließ mich Mackie die Stufen hinauf folgen. Freudig mit dem Schwanz wedelnd folgte mir große Schäferhund zum Hintereingang des Goesserkeller. Ich kam rechtzeitig oben an, denn da war Max inmitten der äußeren Kärntner Straße, dort wo tagsüber die Straßenbahnen fahren, und wurde von drei Männern attackiert. Mein tief nach vorne gebeugter Freund vermochte sich der Übermacht nicht zu erwehren. Der schmächtigste von ihnen schlug mit der Faust auf seinen Rücken ein, erst auf den zweiten Blick erkannte ich, dass er ein Messer in der Hand hielt! Ohne zu überlegen, stürmte ich los, leicht behindert durch den verspielt herumhüpfenden Hund. In vollem Tempo kam ich näher gerannt, da ließ der kleine Mann von seinem Opfer ab, duckte sich, und richtete die Waffe auf mich. Abbremsen war nicht mehr möglich, so sprang ich im letzten Moment in die Luft. Dieser Sprung nach Martial Arts rettete mich vor einem Stich in den Bauch, aber wahrscheinlich ebenso Mackies Leben. Die Angreifer ergriffen die Flucht und verschwanden in die Bösendorfer Straße..
Tasso stürzte sich freudig schwanzwedelnd auf Max, derweil ich den schwer verletzten Mackie stützte und zurück zum Hintereingang des Goesserkellers führte. Dort gab es auf Straßenebene zusätzlich einen kleinen Ausschank für die Laufkundschaft. Das zu beschützende Mädchen war ebenfalls heraufgekommen und brachte einen Stuhl mit auf die Straße. Da saß nun Max von der Stirne heftig blutend vor dem Lokal und wünschte sich einen Kognak. Während die junge Frau Rettung und Polizei rief, bestellte ich ihm ein Glas Brandy, das er in einem Zug leerte. Sein Gesicht war eine einzige blutende Wunde: Ein Schnitt zog sich von der Stirn über das Auge bis zur Wange, und das leere Glas füllte sich ungewollt mit seinem Blut. Der Kellner nahm es zum Nachschenken mit einer Mischung aus Pflichtbewusstsein und leichtem Entsetzen entgegen.
Rettung und Polizei trafen gleichzeitig ein. Zwei Polizisten liefen sofort in die Richtung, die ich ihnen angab. Mackie wurde umgehend verbunden ins allgemeine Krankenhaus im alten Haus in der Spitalgasse gebracht. Die Stiche im Rücken waren so tief, dass für ihn Lebensgefahr bestand. Es folgten Operationen, die über einige Stunden dauerten. Ein längerer Aufenthalt im Spital war unvermeidlich und der verspielte Wachhund Tasso blieb zur Pflege bei mir, treu und unbeeindruckt von den Ereignissen der Nacht.
Noch in derselben Nacht wurden zwei der Angreifer verhaftet. Am nächsten Tag wurde ich ins Polizeikommissariat am Deutschmeisterplatz geladen, um als Zeuge auszusagen. Dort traf ich auf Krisch Gustl, der sichtlich in Rage war. Wir saßen in einem Vorraum, durch den Beamte die zwei Delinquenten hintereinander an uns vorbei in den Verhandlungsraum führten. Gustl, groß gewachsen und von kräftiger Statur, sprang unerwartet behände auf und streckte den ersten Kerl mit einem Fausthieb nieder. Totalschaden. Ich wollte nicht hintanstehen und desgleichen mit dem zweiten Kleineren, dem Messerstecher, anstellen. Doch bevor es dazu kam, war schon ein Polizist dazwischen gesprungen. Gustl wurde auf der Stelle verhaftet, aber nach einigen Stunden wieder frei gelassen.
Vierzehn Tage lag Mackie im Spital. Dann kam er zurück ins Leben, besser gesagt, ins Nachtleben. Die Narbe des langen Cuts, den Max sich bei diesem Gefecht neben dem linken Auge eingehandelt hatte, war gerötet und hob sich deutlich von der sie umschließenden Haut ab. Obwohl die Entzündung mit der Zeit zurückging, blieb die Narbe bis zu seinem Lebensende sichtbar. Er trug sie mit Stolz wie ein Student, der bei einer Mensur einen Schmiss davongetragen hat. Max war zehn Jahre älter, und ich mindestens so stolz ihn zum Freund zu haben, wie er auf seinen neu erworbenen „Cut“.
Ja, es war eine Freundschaft unter Männern, bedingungslos und verlässlich. Beide waren wir nie ernsthaft erwachsen geworden, daraus ergab sich eine gewisse Seelenverwandtschaft. Darüber hinaus war er erfahrener, stärker, draufgängerischer, hatte ungleich größeren Erfolg bei den Damen, trank mehr und würfelte besser. Aus diesen Qualitäten lernte ich und genoss den Vorzug, falls einmal ein Mädchen überzählig war, davon zu partizipieren. Nie hob er den Altersunterschied zwischen uns hervor und behandelte mich stets gleichberechtigt. Wenn das nicht genügend Gründe sind, uns Freunde zu nennen? ichberechtigt – das waren wir immer. Wenn das keine Freundschaft ist, was dann?
Seine verstorbenen Eltern waren Betreiber der legendären Loos-Bar und zwei anderer Lokale. Den Erzählungen Mackies zufolge fuhren sie lange nach Einführung des Automobils traditionell vierspännig vor. Er hatte von seiner Mutter die American Bar und die ein paar Stockwerke darüber liegende elterliche Wohnung geerbt. Das wirtschaftliche Talent seiner Eltern hatte er leider nicht übernommen. Die Einnahmen der Bar sah er als flüssiges Kapital, im wahrsten Sinne des Wortes. Sagen wir, wie es war, er versoff die täglichen Einnahmen und spendete davon großzügig netten Damen Drinks in anderen Bars und Nachtclubs. Zum großen Missvergnügen von Maria, einer gescheiten und im Nachtgeschäft bewanderten Frau, die er mit dem Lokal von seiner Mutter übernommen hatte, und welche die American-Bar weiterhin verantwortungsvoll führte. Dank ihr behielt die Loos-Bar ihren Ruf als verlässlicher Anlaufpunkt im Wiener Nachtleben, trotz Mackies Eskapaden.
M. R. Lersch in jungen Jahren. Die Dame links ist wohl seine Mutter.
Ein lauter Knall reißt mich aus tiefem Schlaf. Ich glaube geträumt zu haben, und ziehe die Bettdecke bis zu den Ohren hinauf. Da wiederholt sich der Krach bei meinem Fenster. Ich bemühe mich aus der horizontalen Lage und gehe in die Richtung, aus der das Geräusch zu kommen scheint. Den Lärm verursacht eine der hölzernen Klappjalousien, die gegen die Hauswand donnert. Ich befestige sie mit dem dafür vorgesehen Haken. Obwohl es schon spät am Morgen ist, habe ich den Eindruck von Dämmerung. Die aufgehende Sonne wirkt verschleiert. Der sonst um diese Zeit klare Himmel ist grau und gelb verhangen. Ein Habub, ein Sandsturm rast auf uns zu. Ich schaue in den Hof hinunter und sehe weder Meharis noch Akamouk. Irgendetwas beeinträchtigt meine Stimmung, ich will nicht einmal schreiben. Ein ungewohntes Gefühl der Einsamkeit und der Wunsch nach Gesellschaft befallen mich. Während der Morgentoilette heult ein neuerlicher Windstoß um das Gebäude, reißt die Jalousie wieder los und wirbelt Sand herein. Ich ziehe die Widerspenstige gegen heftigen Widerstand heran und verriegele sie von innen.
Unten im Gastraum sitzen Michelle und Francois bei ihrem „Petit dejeuner“. Ich nehme bei ihnen Platz, und die Frau des Hauses stellt eine Teetasse und Frühstücksgeschirr vor mich hin. Auf meine Frage, wieso sie wüsste, dass ich Tee am Morgen trinke, meinte sie, Rumis, die selten zum Frühstück kommen, ziehen eben Tee dem Kaffee vor. Solche Logik ist mir zwar nicht recht zugänglich, doch weil hier zutreffend, akzeptiere ich sie höflich. Draußen heult der Wind zunehmend lauter und zerrt an den Hauswänden. François mahnt mich, nochmals hinauf zu steigen, und alles nach Möglichkeit abzudichten. Der aus dem Nordwesten kommende Sturm würde Sand aus den Dünen des großen Erg mitbringen. Oben angekommen, liegt auf dem sonst blanken Deckel des Laptops bereits eine Schicht feinster Saharasand. Ich schließe alle Fenster und sehe dabei eine undurchsichtige, rötlich gelbe Wolke, die wie eine Wand von der Erde bis hoch in den Himmel reichend, auf das Haus zukommen.
Im Gastraum warten Tee, Baguette, Butter und Käse. In dem Moment, als ich mich nach Akamouk erkundigen will, öffnet sich die Eingangstüre und er kommt mit wild wehender Kleidung und fest um den Kopf gewickelten Tagelmust herein. Unter merklichem Kraftaufwand zieht der Targi gegen den Sturm das Tor zu. Er hat mit Erlaubnis von François seine Kamele in die Werkstatt gebracht, wo der Geländewagen der Auberge steht. Mein Landrover bleibt im Freien, er ist relativ neu und die Dichtungen der Türen und Fenster sowie zum Motorraum sind so intakt, dass kaum Sand ins Innere des Wagens eindringen wird. Auf einen Wink von François setzt sich Akamouk zu uns an den Tisch. Draußen tobt der immer heftiger werdende Sturm. An irgendeiner Stelle des Gebäudes schlägt ein loser Laden in stets kürzeren Abständen wild gegen die Mauer. Die Schläge dröhnen im gesamten Haus und die dadurch hervorgerufenen Erschütterungen sind so heftig, dass sie selbst durch den Fußboden zu spüren sind. Dass Schweigen herrscht, solange ich mein „petit dejeuner“ einnehme, ist angenehm. Nach einer Weile unterbreche ich die Stille mit der Frage, ob diese Sandstürme öfter vorkämen und jahreszeitlich bedingt seien. In manchen Jahren im Juni und Juli selten, aber im August kommen sie vermehrt, meint Michelle. Sie hat darin Erfahrung, weil die Reinigung des Hauses nach den durch die Stürme hereingewehten Sand, bleibt ihr überlassen. Es wurde inzwischen ungewöhnlich finster. Trotzdem bleiben wir ohne künstliche Beleuchtung, was die Gaststube direkt gemütlich macht, derweil draußen der Sturm tobt. Doch kein Habub dauert über zwei Stunden.
Unvermittelt fragt mich Akamouk, dieser Wüstensohn, wozu ich ein Buch schreibe. Ich bin perplex, schaue ihn erstaunt an und finde im Moment darauf keine Antwort. Ist mir denn selbst klar, warum? Der Targi will mit der Frage sicher nicht provozieren, ich glaube an sein ehrliches Interesse. Er hält mich ja für einen ganz besonderen Rumi, weil ich ihm zweimal auf der Piste in weitem Bogen ausgewichen bin. So etwas macht kein Einheimischer, geschweige denn ein reisender Europäer. Alle drei sehen mich erwartungsvoll an.
Wie soll man den gespannt wartenden Zuhörern erklären, dass eine Portion Eitelkeit nicht unwesentlich an dem Entschluss beteiligt war? Ein der ehrlichen Frage ausweichender, allgemein philosophischer Vortrag über Sinn und Zweck von Büchern wäre hier sicher falsch am Platz. Somit verschweige ich die von mir selbst angemaßte Berufung zum Schriftstellern und sage bescheiden, dass es mir Freude macht, zu schreiben. Eine solche Erklärung beinhaltet durchaus so viel Wahrheit, wie ich glaube, diesen freundlichen Menschen schuldig zu sein. Sie akzeptieren diese Darstellung. Bis mich die offenbar an Materiellem interessierte Michelle mit der Frage nach einer Gewinn bringenden Verwertbarkeit der Arbeit in weitere Verlegenheit bringt. Ich antworte spontan mit „Insch’allah„, womit ich obendrein mein umfassendes Wissen über afrikanische Mentalität beweise. Solcher Aussage kann nicht widersprochen werden und ich bin froh, damit weiterhin derlei unangenehme Fragen zu vermeiden. Anschließend plaudern wir einige Zeit über Belangloses.
Inzwischen hat der Sandsturm ebenso schnell nachgelassen, wie er begonnen hat. Die unvergleichliche Stille ist wieder da und ich gehe in den Hof, um zu sehen, ob der Sturm irgendwelche Schäden verursacht hat. In den der Windrichtung abgekehrten Ecken der Mauern und Gebäude liegt Flugsand höher, der Himmel erstrahlt wieder intensiv blau, und die Sonne erscheint ebenso zu stechen, wie am Vortag. Ich inspiziere den Landrover und verstehe nicht, wieso sich im Wagen, trotz intakter Dichtungen, mehr Sand angesammelt hat, als an der Außenseite. In mein Refugium zurückgekehrt, fällt Licht durch die Ritzen der geschlossenen Jalousien in scharf abgegrenzten Strahlen. In diesem Sonnenlicht tanzen glänzende Staubpartikelchen. Nach dem Öffnen der Fenster erinnert das in volles Tageslicht getauchte Zimmer an einen mit rötlich-gelbem Staubzucker gepuderten Faschingskrapfen, nur gleichmäßiger verteilt. Ich wische vorsichtig Tisch und Computer frei vom Sand und beschließe, die bis Mittag verbleibende Zeit zu nützen, um weiterzuschreiben.
Doch die Frage Akamouks lässt mich nicht los. Ein Nebeneffekt des Schreibens ist es, einen Teil von einem selbst zu erkennen, wie in einer Autotherapie. Darüber hinaus fragten voneinander unabhängig ein paar Personen, warum ich meine Erinnerungen nicht aufschreibe. Es gäbe ja einiges daraus zu berichten. Die Gleichzeitigkeit dieser Anfragen wirkte wie ein Fingerzeig. Entscheidend war, dass ich längst selbst daran gedacht hatte, in meinem Gedächtnis nachzuforschen und die Vergangenheit zu ordnen. Eine gewisse Dringlichkeit ist ebenfalls angeraten, denn wer kann abschätzen, wie viel Zeit mir dieses Leben in Zukunft für das Verfassen eines derartigen Dokuments lässt? So begann ich daran zu arbeiten, und sandte die ersten Kapitel an Guido, einen brüderlichen Freund, der wegen enormer Schmerzen, deren Ursache kein Arzt zu finden wusste, seine Wohnung nicht mehr verlässt. Ich hoffte, ihn mit diesen Geschichten von seiner Krankheit Ablenkung zu bieten. Seine Reaktionen auf meine Berichte zeigten mir, dass ihm das Lesen Freude bereitete und sein Leiden für kurze Zeit vergessen ließ. Darin einen Auftrag sehend, schreibe ich hier in Afrika weiter und sende ihm die Elaborate.
Meine Lebensbahn verlief zum Teil eindeutig abenteuerlicher und wahrscheinlich abwechslungsreicher, als hätte ich eine Lebensform eines sesshaften Staatsbürgers mit geregelter Arbeitszeit und sicherem Einkommen gewählt. Vor allem die ersten Jahre fielen in eine für Österreich geschichtlich entscheidende Periode. Das gesamte Staatsgebiet besetzten die alliierten Mächte des Weltkrieges. Ein Großteil der Bevölkerung hatte Probleme mit der Selbsteinschätzung, ob sie besiegt oder befreit worden seien. Auch international war man sich darüber nicht einig. Das Land wurde zwischen Ost und West aufgeteilt. Einerseits unterstützten die westlichen Siegerstaaten Österreich beim Wiederaufbau mit Care und Marshallplan, andererseits wurde es von den Russen ausgeblutet. Die nach dem Krieg gebrauchsfähig gebliebenen Industrieanlagen wurden abgebaut und in die Sowjetunion gebracht. Das Gleiche geschah mit allem, was zu transportieren war.
Künste und Wissenschaften erholten sich langsam von den politischen Zwängen der Kriegszeit. Herbert Tichy nahm seine Reisen, Lotte und Hans Hass ihre meeresbiologischen Expeditionen wieder auf, und Peter Fuchs war im Auftrag des Phonogrammarchivs in Afrika unterwegs. Hugo Bernatzik brachte vor seinem Tod zwei Bücher heraus. Kriegsbedingt fehlten den akademischen Institutionen geeignetes Personal und Geld für intensive Feldforschung. Ich hatte mir erlaubt, dieses Vakuum zu nützen.
Es könnte gut sein, dass man sich bei der Zuweisung des Geburtsortes und der Eltern um einige Breitengrade geirrt hatte. Meine Sehnsucht nach dem Süden, der Sonne und mediterraner Lebensphilosophie war und ist unbezwingbar. Sollten die mir vererbten Gene der italienischen Großmutter daran Schuld getragen haben? Dieser Hang zum angenehm temperierten Süden wurde für den Großteil meines Lebens bestimmend. Schon als kleiner, minderjähriger Bub büchste ich einmal aus und wurde erst in Arnoldstein, an der Grenze zur Heimat meiner aus Riva di Garda gebürtigen Oma, in Ermangelung eines Reisepasses wieder eingefangen.
Nur drei Hausnummern von der elterlichen Wohnung entfernt, in der Lindengasse Nummer zehn, dem ehemaligen Palais Herzmansky, wohnte im obersten Stockwerk ohne Aufzug ein recht mürrischer, älterer Herr, Karl Wewerka. Wewerka Senior war verwitwet, trug einen Haarkranz, der sich wie ein Halbmond von Ohr zu Ohr spannte und eine Glatze umrahmte. Sein graues, durch Pockennarben gezeichnetes Gesicht wurde meist gegen Blendlicht von oben durch einen grünen Schirm abgeschlossen.
Im Souterrain desselben Hauses lag sein Lebensmittelpunkt, seine Arbeitsstätte, sein kleines Unternehmen. Dort saßen ganztägig in absoluter Stille, bei elektrischer Beleuchtung eine Anzahl voll konzentrierter Herren, welche alle die gleichen Blendschirme auf der Stirne trugen. Sie schrieben unaufhörlich Noten. Musiknoten. Ohne Rücksicht auf Wetter, Jahres- und Tageszeiten. Es war ein Büro, in dem mit der Hand Partituren kopiert, oder einzelne Stimmen daraus extrahiert wurden, damit jeder Musiker eines Orchesters seine eigenen, dem jeweiligen Instrument zugeordneten Noten bekam.
Hans Wewerka junior, Sohn des Patriarchen, wollte höher hinaus. Er gründete mit Unterstützung seines Vatesr einen Musikverlag, den Atempo-Verlag. Daneben hatte er in der Neubaugasse ein Büro, in dem eine Zeitschrift für Jazzmusiker, das „Podium“, entstand. Es war als österreichische Konkurrenz für die amerikanischen Jazzmagazine „Down Beat“ und „Metronome“ gewollt. Hans Wewerka kannte mich von meinen Verbindungen zur Wiener Jazzszene und bot mir eine Stelle für Botendienste an. Da ich immer ein bisschen Verdienst benötigte, nahm ich gerne an.
Im Flur des Palais Herzmansky stand ein Jugendtraum geparkt: Mein Arbeitswerkzeug, ein mit unaussprechlich froschgrüner Farbe lackierter Motorroller der Firma Lohner, ein LK 98 S! Seit dem Ende des Krieges wurden in Italien Vespas und Lambrettas erzeugt, doch das war der erste in Österreich gebaute Motorroller! Gestartet wurde er mittels Handzugseil, wie bei Motorsägen oder Außenbordmotoren üblich. Was ihn akustisch zwischen diesen ansiedelte. Geräuschvoll tat der Zweitakter zuverlässig seine Pflicht, nur bei steileren Straßen bergauf war seine Leistung eher begrenzt. Dabei wurde es zu zweit recht mühsam. Von da an brauchte ich das Fahrrad nicht mehr. Ich hatte es in der Zollergasse beim „Ferry“ Dusika, dem einst berühmten Radsportler Österreichs gekauft. Es war ein gebrauchtes Rennrad der Marke RIH mit Dreigangschaltung, mit dem ich nicht nur in Wien herumflitzte.
Die Komponisten der damaligen Zeit, Friedrich Cerha, Ernst Krenek, Robert Stolz, Erwin Halletz und Johannes Fehring, hatten alle irgendeinmal die Dienste des Karl Wewerka in Anspruch genommen. Oft musste ich von einem dieser Herren eilig Noten abholen, denn sie komponierten manchmal noch während schon die Orchesterproben für die Aufführungen ihrer Werke liefen. Da waren die Notenkopisten gefordert schnell, und vor allem ohne Fehler zu arbeiten. Es herrschte Zeitdruck. Trotz der Nervosität war in dem lang gestreckten Arbeitsraum ausschließlich das Kratzen der Schreibfedern zu vernehmen. Ein Geräusch, das heute fast ausgestorben ist. Trotz des hektischen Zeitplans begegneten mir die Komponisten und ihre Ehefrauen meist mit Herzlichkeit. Sie boten mir Getränke und Kekse an für die Zeit, in der ich auf die letzten Takte zur Vollendung der Kompositionen wartete. Selbst Einzi Stolz, die Frau des berühmten Robert Stolz, empfing mich warmherzig. Und ab und zu, wenn der Tag vorbei war, durfte ich den Motorroller privat ausborgen. Stolz knatterte ich damit die Kärntnerstraße hinunter, und parkte ihn direkt vor dem Strohkoffer. Ein kleiner Triumph und ein großer Spaß.
Der Besitzer der beiden Lokalitäten American Bar und Strohkoffer, Max „Mackie“ Lersch, brauchte Geld für sein kostspieliges Hobby, andere Nachtlokale und die dort arbeitenden Damen zu konsultieren. Von Maria, der Herrscherin über die Finanzen der American Bar, gab es für ihn wenig zu holen, und der Strohkoffer war ebenfalls nicht mehr so ertragreich. Eines Tages reaktivierte er das auf Straßenebene rechts vom Eingang zum Strohkoffer gelegene Nebenlokal, zu dem der Speisenaufzug aus der Küche im Keller gehörte. Seit dem Dahinscheiden der Mutter Lersch scheint diese Bar nicht mehr in Betrieb gewesen zu sein. Der ausnehmend gemütliche Raum war mit aus Zeiten vor dem Krieg stammenden, aber bequemen Sitzgelegenheiten an einigen Tischchen, einem aktiven Kamin und funktionierender Bartheke mit sechs Hockern davor eingerichtet. Dazu passend waren die Wände mit rosa Mustern aus dem Biedermeier tapeziert. Beleuchtet wurde das Ganze von einem Lüster mit glitzernden Glasprismen in Tropfenform und an den Wänden von im gleichen Stil gestalteten dreiarmigen Appliken. Und ja, da stand in einer Nische ein Klavier, das nie gestimmt wurde. In diese, geschätzt aus den frühen dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts stammende Bar mit der Anmutung eines Boudoirs, führte eine Türe, deren verglaste Paneele innen mit Spitzenvorhängen verdeckt waren. Außerdem gab es den vorher erwähnten, mit Handseilzug betriebenen Speisenaufzug. Der beförderte vormals warme Speisen aus der darunter liegenden Küche ins Lokal hinauf. Mackie bat mich, diese Bar gegen das zu erwartende Trinkgeld, wie ein Volontär, zu übernehmen. Da mein Chef Hans Wewerka im Begriff war sein Arbeits- und Lebenszentrum nach München zu verlegen, überlegte ich nicht lange und wurde zum Barmann.
Lersch gelang es, eine in Wien lebende Berliner Dragqueen namens Marcel André für die Bar zu interessieren. Am späteren Abend erschien dieser und interpretierte schlüpfrige Lieder. Damit war eine zweite Schwulenbar für Wien geboren! Max besorgte zum Einstand ein paar angebrochene Flaschen aus der American Bar, die Maria nur widerwillig ausließ. Weil der Getränkegroßhandel nicht mehr auf Pump lieferte, füllten wir billigen Branntwein in Gebinde mit den Labeln Courvoisier und Hennessy. Cognac war damals das Modegetränk. Wir stellten sie neben die fast leeren Whiskyflaschen, Reste aus der Loosbar, wie man die American Bar nach ihrem Erbauer, dem Architekten Alfred Loos gemeinhin nannte. So wirklich wohl fühlte ich mich nicht bei diesen unkorrekten Machenschaften, aber da es niemanden auffiel und Max, der Chef, dazu meinte, das würde man in allen Nachtlokalen ebenso machen, glaubte ich ihm, und damit sollte es mir recht sein.
So für das zu erwartende Geschäft gerüstet, wartete ich auf meinen ersten Kunden. Der kam bald, bestellte aber ein Vierterl Grünen Veltliner. Damit hatten wir nicht gerechnet. Mit einem Glas in der Hand lief ich hinüber in die Seilergasse zum „Göttweiger“, ließ es für 3,50 Schilling mit Wein anfüllen und kassierte anschließend vom Gast dafür 12,00. Eine Gewinnspanne, mit der ich leben konnte. Nach zwei verkauften Vierteln war mit diesem Startkapital zu wirtschaften. Ich kaufte vom Erlös einen „Doppler“, und der Abend war gerettet. Die späteren Gäste ließen mehr springen. Sobald die Musik begann, tranken sie begeistert den Brandy und hielten ihn für Cognac. Ich würfelte mit ihnen um Getränke und hob damit erfolgreich den Umsatz. Das Geheimnis dabei war, sollte der Wirt des Öfteren verlieren, mit Escalero-Poker ist er immer Gewinner. Denn bei einer Marge von dreihundert Prozent, fallen kleine Verluste nicht ins Gewicht. Mit fortschreitender Routine gewann ich immer öfter und durfte dabei unter den Herren vom anderen Ufer faszinierende Bekanntschaften machen. Selbst wenn, durch meine vergangene braune Erziehung und Propaganda geprägte Ansätze zur Homophobie existiert hätten, bei diesem Job wurden sie lebenslang ausgeräumt. Der Job gefiel mir, denn ich konnte dabei in Augenhöhe mit meinen Gästen verkehren.
Obwohl die Gäste einen offenen und freundschaftlichen Umgang mit mir pflegten, war es bemerkenswert, dass keiner der Herren versuchte, mich knackigen Jüngling abzuschleppen. Den größten Eindruck hinterließ bei mir ein später Gast, Fred Adlmüller, der Modezar von Wien. Er kam stets zu fortgeschrittener Stunde, sobald er keine anderen Kunden mehr vorzufinden hoffte. Meist erschien er ohne Entourage zu Geschäftsschluss, wann ich dabei war, die Tagesabrechnung zu machen und den Rest Bargeld zählte, den Max nicht eingesackt hatte. Mackie holte sich täglich regelmäßig vor der Sperrstunde die bis dahin erwirtschaftete Losung und verschwand damit in Nachtlokale wie Vindobona, Moulin Rouge, Bonboniere, Marietta- und Edenbar, oder sonst in ein einschlägiges Lokal. Nachdem der Laden zugesperrt war, setzte ich mich zu Adlmüller an den Kamin. Bei einem gemütlichen Drink führten wir oft feine philosophische Gespräche. Mir blieb dieser gebildete und einfühlsame Mann eindrücklich in Erinnerung, weil er meine Gedanken zu verschiedenen Themen akzeptierte. Das hob verständlicherweise etwas mein Selbstwertgefühl.
Die Trinkgelder in der Bar flossen reichlich, so um die siebzig Schilling pro Tag. Das war für jemanden, der im Hotel Mama lebte, ein üppiges Taschengeld. Das Lokal war ein beschauliches Plätzchen, in dem sich Gleichgesinnte in netter Atmosphäre austauschten. Äußerst frequentiert waren die Tage mit Unterhaltungsprogramm. Eines späten Abends, eben interpretierte der in schicken Fummel gekleidete Marcel André sein Paradelied „Iphigenie, ich sehe ja dein Knie“, da geschah es. Das Lokal war gut besucht, gegen Mitternacht öffnete sich die Eingangstüre einen Spalt, ein mit einem Dufflecoat bekleideter Unterarm erschien. Der Zeigefinger der Hand lag am Abzug einer Pistole größeren Kalibers. Ein Schuss, und an der gegenüber liegenden Wand, neben einer der kristallbehangenen Appliken staubte es. Nicht getroffen! Der Arm verschwand, die Türe schloss sich automatisch. In der darauffolgenden Stille betrachteten ein paar Gäste interessiert das Loch in der Wand, kurz darauf setzte Marcel wieder mit dem Vortrag seines Liedes fort. Ich wunderte mich, was Mackie mit dieser Aktion erreichen wollte, denn nur er konnte der Schütze gewesen sein.
Generell verliefen die Nächte in der Männerbar, beschützt von der „Galerie“, fast durchweg normal und unaufgeregt. An Samstagabenden verzeichneten alle drei Lokale Gewinn bringenden Besuch. In der Kärntnerbar waren bei gedämpfter Unterhaltung sämtliche Tische und Barhocker belegt, der Strohkoffer platzte aus den Nähten. Uzi Förster performte da unten sein „Udrilitten“ und andere Spezialitäten. Die darüber liegende Schwulenbar war ebenfalls überfüllt. Ein ausgeglichener Abend mit erfreulichem Umsatz kündigte sich an. Mit Pokerwürfeln unterhielt ich ein paar Gäste, womit die Einnahmen des Tages vermehrt wurden. In äußerster Konzentration versuchte ich eben ein Full House zu würfeln, da öffnete sich wie von Geisterhand geführt, der Schieber des Speisenaufzugs. Mit kräftigen Strahl wurde der gesamte Inhalt einer frisch gefüllten Syphonflasche aus etwa zwei Meter Entfernung in Richtung Bartheke entleert. Im Aufzug saß zusammengekauert Uzi Förster und grinste. Das konnte ich mir nicht bieten lassen. Schnell schnappte ich mir eine ebensolche unter Druck stehende Flasche und spritzte deren Inhalt auf den im Aufzug eingeschlossenen Uzi. Diejenigen, die ihn wieder in den Strohkoffer hinunter ziehen hätten sollen, zögerten aber. Bedingt durch die Enge, in der er saß, war ihm ausweichen nicht möglich und er bekam den gesamten Inhalt der Flasche ab. Das tat unserer Freundschaft jedenfalls keinen Abbruch. Gäste, die sich in der „Schusslinie“ aufhielten, blieben von der ausgiebigen Dusche nicht verschont. Erstaunlich war, dass nach diesen beiden Vorfällen keineswegs weniger Besucher in dem Lokal verkehrten.
Nachdem ich mir einen Teil des Verdienstes zusammengespart hatte, wurde im Herbst des Jahres 1953 wieder einmal Fernweh übermächtig. Ich verließ meinen Bartenderjob und machte mich in einen grauen Lodenmantel gehüllt und mit wenigen Habseligkeiten im Rucksack auf den Weg Richtung Süden. Per Autostopp ging es durch Italien bis ans Mittelmeer. Faszinierend fand ich die gelben Scheinwerfer der Autos in Frankreich. Rasch und ohne Probleme erreichte ich Nizza. Ein freundlicher Franzose, der mich bis ins Zentrum der Stadt mitnahm, gab mir auf die Frage nach einer Übernachtungsmöglichkeit eine Adresse und einen Namen. Ich fand das beschriebene Gebäude, wo mir eine nette Dame einen Schlüssel gab, der zu einem Haus am Strand gehörte. Dort stand eine Holzbaracke, die in dieser Jahreszeit unbenützte Kantine des Badestrandes. In der Mitte waren Tische und Stühle, an den Wänden entlang breite Sitzbänke aus Holz, die sich ausgezeichnet zum Übernachten eigneten. Es war hier sehr ruhig, die Promenade des Anglais lag weit weg und vom nahen Meer hörte ich das beruhigende rhythmische Rauschen der Wellen. Es war so gemütlich, dass ich beschloss, zwei Tage in „meinem“ Haus am Strand von Nizza zu verbringen. Ich brachte den Schlüssel zurück und bedankte mich für das kostenlose Asyl, dann ging es weiter bis Marseille.
Nach einer Nacht in der „Auberge de jeunesse“, der Jugendherberge, konnte ich die Überfahrt auf der Fähre in Richtung Algier buchen. Auf Sparsamkeit bedacht erstand ich ausschließlich die nächtliche Fahrt im Unterdeck, ohne Kabine oder sonstiger Annehmlichkeiten. Schon beim Einlass wies man mich die Stiege hinunter, in das dunkle Schiffsinnere. Dort war das gesamte Deck mit Arbeitern und Großfamilien aus Algerien belegt, die sich lautstark unterhielten. Der ungewohnte und vehemente Geruch nach Erbrochenem und die gedrängte Nähe der Menschen waren mir fremd und nicht angenehm.
Um der Enge zu entkommen, das Schiff lief eben aus dem Hafen, schlich ich hinauf aufs Vorschiff an die frische Meeresluft. Passagieren war das Betreten dieses Schiffsteiles nicht erlaubt. Weil mich niemand zurückhielt, suchte ich eine Sitzgelegenheit an Deck. Auf einer Rolle armdicker Schiffstaue sitzend, beglückt über den Bug nach Süden schauend, wurde mir bewusst, dass ich Europa verlasse.An diesem Herbstabend war die See recht ungemütlich. Je weiter wir ins offene Meer kamen, umso höher wurden die Wellenberge. Wir waren geschätzt eine halbe Stunde unterwegs, da geschah es. Das Schiff stieg eine riesige, steile Welle hinauf, bis nur mehr der Himmel zu sehen war. Kurz darauf folgte der rasante Absturz in die Tiefe, als würden wir eine Achterbahn hinabsausen. Die rasante Talfahrt nahm kein Ende, das Gesetz der Schwerkraft war aufgehoben. Es hob mich von meinem Sitzplatz und ich suchte im Inneren der Taurolle mit den Füßen Halt. Wie sich ein Reiter beim Rodeo an sein Pferd klammert, krallte ich mich an das gewundene Schiffsseil. Der Bug des Schiffes tauchte unter eine haushohe Welle, ich wurde fest auf meine maritime Sitzgelegenheit gedrückt, und verschwand in einer Wand kaltem Meerwassers. Nach mir endlos erscheinender Unterwasserfahrt erschien der Bug der Fähre wieder an der Oberfläche. Erst einmal holte ich tief Luft, um dann schuldbewusst zur Kommandobrücke hinauf zu schauen. Dort amüsierten sich die Herren Offiziere über irgendetwas köstlich.
Den folgenden Tauchgang nicht abwartend schwankte ich tropfnass zurück zur Geborgenheit ins trockene Innere des Schiffes. Auf der Suche nach einem Unterschlupf verblieb auf meiner Spur ein Bächlein Seewasser. In einem der Gänge traf ich einen Matrosen, der mir für tausend Franc seine Koje zur Übernachtung anbot, denn er hätte Nachtdienst und brauchte sie nicht. Dankbar nahm ich das Angebot an. Waren es mir wohlgesinnte Geister, oder die Offiziere von der Kommandobrücke, die den Matrosen geschickt hatten? Egal, jetzt wurde meine total durchnässte Kleidung ausgewrungen und in dem engen Raum zum Trocknen ausgebreitet. Erschöpft schlief ich bei den heftigen Schlingerbewegungen des Schiffes bis zum Morgengrauen durch.
In den frühen Morgenstunden ist es still geworden, die Fähre glitt ruhig dahin, das Brummen der Schiffsmotoren war kaum zu hören. Ich zog mein fast trockenes Gewand wieder an und stieg auf das von Sonnenlicht durchflutete Deck. Angenehm warme Luft empfing mich und trocknete Schuhe und Kleidung durch und durch. Bei wolkenlosem Himmel liefen wir in den Hafen von Algier ein. Der Anblick dieser strahlend weißen Hafenstadt, die sich vom Meer über einen Hügel hinaufzog, blieb unvergesslich. Sie vermittelte den Eindruck eines spiegelverkehrten Pendants zu Marseille, denn beide Städte werden von Wahrzeichen überragt. Algier von der Kirche Notre Dame d‘Afrique und Marseille von der Basilika Notre Dame de la Garde. Ja, das war es, ich fühlte mich glücklich, in Afrika zu sein, frei und ausgeschlafen, für Abenteuer und Entdeckungen bereit.
Die Formalitäten am Grenzposten waren minimal, Algerien war zu der Zeit ein Teil Frankreichs. Wieder an Land schlenderte ich den Hafen entlang, an zahlreichen kleinen orientalisch-pfefferig riechenden Läden vorbei und stürzte mich in das Gewühl der Stadt. Die exotische Mischung aus gleichermaßen Orient und Europa war faszinierend und verheißungsvoll. Nicht weit von der Anlegestelle, in der Rue Sadi Carnot fand ich eine Jugendherberge. Die Mère-Aub, wie die Herbergsmutter auf Französisch genannt wird, wurde dieser Bezeichnung wahrlich gerecht. Sie empfing mich freundlich, und da damals meine Kenntnisse in Französisch recht rudimentär waren, radebrechten wir in englischer Sprache. Sie zeigte mir ein schmuckloses Zimmer, eingerichtet mit vier Stockbetten und ein paar abschließbaren Schränken. Vor allem war es angenehm, in diesem kühl anmutenden Raum allein wohnen zu dürfen. Auf meine Anfrage gab sie mir die Adresse des Museums Bardo. Ich hoffte, dort Ausführliches über nordafrikanische Musik zu erfahren.
Zuerst aber zog es mich in Richtung Kasbah, dem ältesten Stadtteil Algiers. Endlich war ich mitten im Orient! Händler, Handwerker, Kinder und mehr oder weniger verschleierte Frauen bildeten eine malerische Einheit aus prächtigen Farben, unverständlichen Sprachfetzen und die Nase reizenden Gerüchen. Dazu kam aus unzähligen quäkenden Radiogeräten ein Klangteppich von entsetzlich lauter, erheblich verzerrter arabischer Musik. Jeder Händler trachtete durch womöglich noch mehr Lautstärke, dabei Klang- und Tonqualität missachtend, auf sich und sein Geschäft aufmerksam zu machen. Alle meine Sinne waren wach und ließen mich merken, wie weit weg von zu Hause ich war. In diese exotische Atmosphäre tauchte ich genüsslich ein.
Der Rückweg führte mich durch verwinkelte enge Gassen zu der Hauptstraße, von der ich vorhin gekommen war. Es dämmerte schon, als ich einen Platz erreichte. An dessen Mitte befand sich ein kleiner runder Pavillon, die Bar Unic. Ich beschloss, mir dort einen Drink zu genehmigen. Links und rechts vom Eingang standen zwei Tische mit jeweils vier Stühlen. Da es draußen schon kühl wurde, betrat ich das bis auf die Bedienung leere Lokal und bestellte mir an der Bar das billigste Getränk, einen Pastis“51″. Zu meiner Freude standen auf der Theke neben den groß dimensionierten Aschenbechern Schüsselchen mit Erdnüssen und Teller mit ovalen Brotstücken. Der Mann hinter der Bar stellte ein Glas mit dem gelbgrün fluoreszierenden Pastis, eine Karaffe Wasser mit Eiswürfeln vor mich hin, und schob freundlich Nüsse und Brot in Reichweite. Die Brötchen waren von einer Baguette geschnitten und dünn mit einer Wurstpaste bestrichen. Das tat meinem hungrigen Magen wohl und ich leerte zügig Glas, Erdnusstöpfchen und Brotteller. Bei Einbruch der Dunkelheit erreichte ich die Jugendherberge. In der Küche saßen ein paar Jugendliche und sangen französische Lieder zur Gitarre. Um zehn Uhr abends war in der Herberge Nachtruhe angesagt, worauf die Mère-Aub autoritär achtete.
Nach dem obligaten Frühstück machte ich mich auf den Weg ins Museé Bardo. Ich kannte Bilder von maurischen Bauten, aber das hier übertraf an Arabesken und Prunk alles bisher Gesehene. Ich fragte beim Eintritt nach der Abteilung für Musik und wurde in ein Nebengebäude geführt, das zu meiner Enttäuschung jedem orientalischen Charme entbehrte. Ich klopfte an der mir vom Portier angegeben Türe. Auf ein von innen gerufenes „entré“ betrat ich einen kahlen Büroraum, hinter dem einzigen Schreibtisch saß ein in einen weißen arabischen Kaftan gehüllter Algerier mit Brille. Wir stellten uns einander vor, ich konnte mir seinen, den Kehlkopf brechenden Namen nach dem Titel Professeur nicht merken. Es fand sich eine Sprache, die wir beide gleichermaßen nicht perfekt beherrschten: Englisch. Ich war darin etwas besser, was aber seinen Eifer nicht dämpfte, mir mit großem Sachverstand und Enthusiasmus alles Mögliche zu zeigen und zu erklären. Es war zum bleibenden Erfassen um etliches zu viel Wissensvermittlung auf einmal in kurzer Zeit. Trotzdem blieben einige, später zu verwertende Informationen hängen, wie die unterschiedlichen Formen von Instrumenten, Spielorte und dass es Aufnahmen dieser Musik gab, die mich in diesem Moment zugegebenermaßen nur am Rande, oder gar nicht interessierten.
Über diese faszinierende Führung durch die Musikabteilung war es Mittag geworden. Mit einigen schriftlichen und gedruckten Unterlagen versehen, eilte ich auf der bekannten Straße wieder in Richtung Jugendherberge. Dieser zu querende Platz muss ein zentraler Punkt in Algier sein, denn völlig unbeabsichtigt führte der Weg zur Herberge umweglos wieder an der Bar Unic vorbei, oder besser gesagt, hinein. Der nette Barmann stellte mir einen Pastis vor die Nase und schob mir von links und rechts die Teller mit den frischen Sandwiches näher. Er scheint erkannt zu haben, dass ich hier mein Mittagessen einzunehmen gedachte. In dem Moment, als ich die Bar verlassen wollte, betraten zwei Männer in piekfeinen, mit messerscharfen Bügelfalten versehenen Uniformen das Lokal. Einer trug das „képi blanc“ der Fremdenlegion, der andere war sicher ein Unteroffizier, denn er hatte ein schwarzes Képi, an der Oberseite rot bespannt. Beide waren Fremdenlegionäre. Sie legten ihre Kappen auf den Hocker neben sich und nahmen gegenüber von mir an der einem Hufeisen gleichenden Bar Platz. Heimatliche Klänge drangen zu mir herüber! Nein, nicht deutsch, österreichisch! Es wurde ein nachhaltig bemerkenswerter Nachmittag.
Die beiden Legionäre waren auf Urlaub aus dem Zentrum der Légion étrangère in Sidi-bel-Abbès nach Algier gekommen. Ihre Gesichter waren von Sonne und Hitze gegerbt und zeigten die Spuren der Herausforderungen des strengen Drills, der in der Legion herrscht, deutlich an. Sie sprachen mit dem Barkeeper fehlerfrei Französisch, der mich als Deutscher mit den beiden Soldaten bekannt machte. Es stellte sich heraus, dass sie Ihren Urlaub im kühleren Norden des Landes verbrachten, denn ohne Sondererlaubnis durften sie nicht nach Europa. Sie könnten ja dort womöglich desertieren. Dazu kommt, dass eventuell existierende, internationale Haftbefehle hier in Algerien wirkungslos geblieben wären, denn sie standen unter dem Schutz der Legion. Sie waren Soldaten Frankreichs. Nach meiner Klarstellung, dass ich Wiener, somit Österreicher bin, kam auch schon der erste Pastis zu mir gewandert. Es blieb nicht bei dem Einem. Der Unteroffizier war ehemaliger Frauenarzt in Graz gewesen, der sich vermutlich mit verbotenen Abtreibungen sein Einkommen verbessert hatte und auswandern musste. Über den Anderen mit dem Tiroler Akzent erfuhr ich nichts Genaues. Beide schwiegen sich darüber aus und ich machte mir meine eigenen Gedanken dazu. Der Doktor erzählte von einem Aufstand der Berber in einer Stadt im Süden, den er mit seiner Abteilung niederschlagen sollte. Vor dem Rathaus am Hauptplatz demonstrierten Rebellen, zu denen sich immer mehr Leute aus der Umgebung gesellten. Nicht ohne Selbstgefälligkeit berichtete er, dass er die Dächer der Häuser an den vier Ecken des Platzes mit Maschinengewehren besetzte und die gesamte Ansammlung niederschießen ließ. So einfach war das, eine Revolution zu verhindern. Mitunter hatte ich mit dem romantischen Gedanken gespielt, selbst Legionär zu werden. Nach dieser Geschichte verwarf ich dieses Vorhaben endgültig.
Die nicht mehr zu rekonstruierende Anzahl genossener Gläser Pastis drängte mich zu einem menschlichen Bedürfnis. Mein Kopf war zwar völlig klar geblieben, doch der Barhocker, auf dem ich saß, ist im Laufe der feucht geführten Unterhaltung um gefühlte drei Meter gewachsen. Der Abstieg von dem Barmöbel glich der Rückkehr eines Gipfelstürmers ins Basislager, wenn auch mit weniger Stolz und einem Schwindelgefühl, das nicht von der Höhe kam.“
Sollte oben beschriebener Herr Doktor heute noch am Leben sein und diese Zeilen zufällig lesen, ersuche ich ihn, meine Indiskretion gütigst zu verzeihen. Bei der Gelegenheit möchte ich mich nachträglich für die unzähligen Pastis bedanken, weil ich alkoholbedingt solche Höflichkeit sicher unterlassen hatte. Auf irgendeine Weise gelang es mir, die Unterlagen des Museums fest unter dem Arm geklemmt, heil in die Jugendherberge zu kommen. Meinen Entschluss, am nächsten Tag abzureisen, setzte ich morgens in gedämpfter Stimmung und trotz des anscheinend herrschenden Nebels frierend und mit aufgesetzter Sonnenbrille in die Tat um.
Gurgelnde Töne des Unmuts der Kamele im Hof treiben mich aus dem Bett. Akamouk hat seine Meharis hinlegen lassen, um sie zu beladen. Eben legt er dem Reittier die prachtvollen und mit Quasten verzierten Decken über. Ich schlupfe schnell in meine Hose und laufe hinunter. In diesem Moment hebt der Targi den Sattel auf den Kamelrücken. Diesen ziert ein wohlgeformter Dreizack, der ebenso Schmuck, wie Griff zum Anhalten ist. Ich frage Akamouk nach seinem Reiseziel. Er möchte in den Azawad im Norden Malis, wo Touareg verzweifelt um ihre Freiheit kämpfen. Er will sehen, was die Tuareg-Krieger der MNLA, (Mouvement national de libération de l’Azawad), der nationalen Bewegung für die Befreiung des Azawad, erreicht haben, und warum so viele von ihnen nach Niger flüchten. Ebenfalls bei uns hier kommen gelegentlich kleine Karawanen mit ganzen Familien von Tuareg und hoch beladenen Lastkamelen vorbei und ziehen neben der Piste gegen Osten. Offenbar wollen sie nach Tamanrasset oder in das Gebirge vom L’Aïr, vielleicht in das Gebiet von Agadés. Anfänglich waren Al Kaida und Islamisten Verbündete der Tuareg. Von diesen ausgebootet, war der Traum vom selbständigen Tuaregstaat wieder in weite Ferne gerückt. Für einen allein reisenden Targi könnte es gefährlich werden. Ich äußere meine Bedenken und erhalte prompt die selbstbewusste Antwort, ihm würde sicher nichts geschehen, er sei ein Imuhagh, ein Adeliger! Ob das die Kämpfer der Al Kaida respektieren, die ihn mit ihren weitreichenden Schusswaffen leicht aus dreihundert Metern Entfernung gezielt aus dem Sattel schießen könnten? Fürchtet man sich vor etwas, tritt es unweigerlich ein, wirft er mir an den Kopf. Gut, selbst ich praktiziere dieses Theorem seit Jahrzehnten erfolgreich gegen alle mögliche Krankheiten, aber damit gefährlich aggressive Menschen abzuwehren, ist mir bisher nicht gelungen. Er blickt mich voll Mitleid direkt an und erklärt schonungslos, warum das nicht funktioniert: weil ich eben ein Rumi bin. Danke, das genügt. In Europa wäre das ein Grund, ihn wegen Rassismus zu verklagen.
Bei jedem Stück, das er mit Schnüren an den Kamelen befestigt, protestieren sie gurgelnd. Ich frage mich, ob ihnen das ewige Gurgeln nicht mit der Zeit zu blöd wird? Auf beiden Seiten des Lastkamels hängen die aus Ziegenhaut zusammengenähten, wasserdichten Gerbas. Da sie erst vor Kurzem mit frischem Wasser gefüllt wurden, fallen Tropfen in den Sand, kleine Krater bildend. Neben den Wasservorräten baumeln Bündel trockener Zweige, zum Feuer machen gedacht. Ohne Tee geht nichts in der Wüste. François erscheint in der Türe des Hauses mit zwei in Stoff eingepackten und verschnürten Paketen. Er übergibt sie Akamouk. Der scheint zu wissen, was mit ihnen geschehen soll. Die Sorgfalt, wie sie gepackt sind, lässt die Hand Michelles erahnen. Der Inhalt waren sicher Konserven als Reiseproviant. Unter gewohntem Gebrüll des Kamels werden auch sie am Sattel befestigt. François teilt mir mit, dass das Frühstück vorbereitet ist. Ich gehe hinein, begrüße Michelle, die den Tee bringt, und mache mich daran, das Gebotene zu genießen. Draußen werden die Unmutsäußerungen der Meharis heftiger. François kommt wieder in den Gastraum und überbringt mir einen Gruß von Akamouk. Ich beeile mich, in den Hof zu kommen, aber die Kamele waren zu schnell, so dass sie bei meinem Eintreffen im Hof schon außer Rufweite sind. Er reitet genau gegen Westen die Piste entlang. Nach einigen Kilometern wird er von dieser Richtung abweichen und quer durch die Wüste ziehen. Innerlich wünsche ich ihm viel Glück und hoffe, dass er gesund wiederkommt. François sitzt im Gastraum, gedankenversunken den Kopf mit den Händen stützend. Es ist mir zu mühsam ihn über den Grund seiner Nachdenklichkeit zu befragen. Außerdem brauche ich Ruhe und Konzentration, um die nächste Episode meiner Erinnerungen in den Computer eintippen.
Die bis hierher an meiner Seite gebliebenen tapferen Leserinnen und Leser ersuche ich um Verständnis, dass es in diesen Erzählungen keine ausführlichen Beschreibungen der Städte und Landschaften gibt. Sechs Jahrzehnte sind inzwischen vergangen, und der Status quo würde keinesfalls mit dem von mir damals Gesehenem und Gespeichertem übereinstimmen. Geschichtliches bitte ich bei den großen Kennern Afrikas und Schriftstellern, wie Gustav Nachtigal, Pére de Foucold und Heinrich Barth nachzuschlagen. Für diejenigen, die heute eine Reise planen, gibt es das Internet, Baedeker, oder andere moderne Reiseberichte. Ich bitte daher um Verständnis, wenn ich bei den Schilderungen der Eindrücke bleibe, welche mich besonders berührt und die Jahrzehnte in meinem Gedächtnis überdauert haben:
Casablanca! Allein der Name ist schon Programm. Ich erreichte die Stadt kurz vor Sonnenuntergang, goldgelbes, warmes Licht warf lange Schatten der gar nicht durchwegs weißen Häuser auf die belebten Straßen. Das nur seltene Auftreten von tatsächlich weiß gestrichenen Gebäuden war enttäuschend, konnte mir aber die Stimmung nicht verderben. Ich war einfach glücklich, mich in dieser geschichtsträchtigen und von geheimnisvollem Nimbus umfangenen Stadt aufzuhalten. Ich sollte hier länger als geplant bleiben, denn es dauerte einige Wochen, bis ich Marokko endgültig in Richtung Europa verließ. Eine Jugendherberge in klassischem Sinne gab es, war aber ausgebucht. Ich fand ein anderes, leistbares Quartier in Hafennähe. Das zu finden erforderte ein paar Stunden und es wurde darüber Nacht. Angenehm für mich erwies sich der Umstand, dass keine Anzahlung zu leisten war, nur den Pass musste ich bei der freundlichen Vermieterin abgeben. Müde und zufrieden bezog ich mein bescheidenes Zimmer. Dusche und Toilette waren vorhanden.
Am nächsten Vormittag suchte ich an der mir angegebenen Adresse die österreichische Dienststelle auf. Da sollte ich einen Bekannten meiner Eltern antreffen. Eine recht gutes Deutsch sprechende Sekretärin führte mich in einen Raum, dessen Wände mit Plakaten der Österreichwerbung beklebt waren. Es war der Warteraum des Honorarkonsulats. Ich rechnete mit der Unterstützung dieses Herrn bei Institutionen, wo ich Grundlegendes über marokkanische Musik erfahren würde, sowie bei der Beschaffung eines amtlichen Darlehens zur Heimreise. Meine Geldmittel dafür reichten nicht mehr aus. Streng genommen war ich längst blank. Auf einem Tischchen lagen deutschsprachige Zeitungen. Mich interessierte hauptsächlich ein Artikel, der über eine Reihe von Erdstößen berichtete, die es vor einigen Tagen in der Umgebung von Agadir gegeben hatte. Die sollen Zerstörungen größeren Ausmaßes angerichtet hatte. Wahrscheinlich war das schon eine tektonische Ankündigung für das verheerende Erdbeben, welches sechs Jahre später zehntausende Tote gefordert hatte. Nach kurzer Wartezeit teilte mir die Dame mit, der betreffende Herr sei auf Dienstreise, er würde aber in einigen Tagen wieder im Büro anzutreffen sein.
Da ich für die Zwischenzeit, bis der Angestellte des Konsulats zurück sein würde, nichts Besseres vorhatte, plante ich, nach Agadir zu fahren. Vielleicht kann man dort nützlich sein. Ich holte mein Gepäck aus dem Zimmer, das ich für eine Woche angemietet hatte, und zog gleich los, südwärts. Hier lief das Autostoppen gar nicht mehr so leicht, wie bisher im Norden. Auf diesen etwa zweihundert Kilometern asphaltierter Straße waren wenige Autos unterwegs, und die anhielten, fuhren nur von einer Ortschaft zur anderen. So musste ich recht oft die Fahrzeuge wechseln. Die letzte und längste Strecke verbrachte ich im finsteren Laderaum eines Kastenwagens Marke Citroën H, der am Fließband der Fabrik in seine eckige Form aus Wellblech zusammengeschraubt worden war. In Agadir angekommen, freute ich mich, wieder frische Luft zu atmen. Es war schon Nacht, aber dem Breitengrad entsprechend angenehm warm. So übernachtete ich unter freiem Himmel, eingewickelt in meinen braven grauen Lodenmantel. Ober mir wölbte sich ein unvorstellbarer Sternenhimmel. Das war die erste Erfahrung mit einem südlichen Nachthimmel, und ich wunderte mich, dass so viele Sterne da oben überhaupt Platz haben. Einige darunter blinkten rötlich, andere bläulich, manche verschmolzen zu kleinen leuchtenden Flächen. Ein faszinierender Eindruck im Vergleich zu den sichtbaren Sternen über meiner österreichischen Heimatstadt Wien.
Vor Sonnenaufgang weckte mich die feuchtkalte schnuppernde Schnauze eines Hundes im Gesicht. Ein streunender Mischling aus arabischem Windhund, einem Slugi, und irgendeiner anderen Rasse hielt meinen schlafenden Körper sicher für fressbares Aas. Erst schreckten wir uns beide voreinander. Auf eine Bewegung von mir sprang er einen Meter nach rückwärts und beäugte mich knurrend. Als ich aufstand, rannte er, den Schwanz zwischen die Hinterbeine geklemmt, davon. Die gemauerte Sitzbank, auf der ich die Nacht verbracht hatte, stand nicht weit vom Meeresstrand. Gleich dahinter führte ein asphaltiertes Stück Straße vom Meer weg in die nahe gelegene Stadt. Dort angekommen, konnte mir niemand Auskunft über ein Erdbeben geben, das sich hier kürzlich ereignet haben soll. Gerne hätte ich hier meine mir immanente humane Seite und Hilfsbereitschaft bewiesen. Entweder war die Zeitung im Konsulat uralt, oder ich hatte mich verlesen. Später sagte man mir, es hat wirklich eines gegeben, vermutlich lag es nur an meinen mangelnden Kenntnissen der französischen Sprache.
Die Landkarte zeigte zwei Wege zurück nach „Casa“. Die direkte Straße lief an der Küste entlang, die andere landeinwärts. Die war zwar etwa doppelt so lang, führte aber über Marrakesch. Diese sagenumwobene Stadt übte einen enormen Reiz auf mich aus, dem ich nicht widerstehen konnte. Außerdem kostete die Fahrt dorthin ja nichts. So wählte ich die längere Route. Die schmale Straße führte erst durch besiedelte Gebiete mit einigen Bäumen dazwischen in die Berge hinauf, in die Ausläufer des Atlasgebirges, über den Antiatlas. Je höher und östlicher man kam, umso mehr wurde die Erde rostrot, die Bäume schrumpften zu Büschen, bis auch die verschwunden waren. Erst kurz vor Marrakesch, wo die Landstraße wieder in die Ebene führte, kamen grün bewachsene Gärten mit Palmen und Obstplantagen bis an die Straße heran.
Mit wechselndem Glück war Marrakesch in den letzten tausend Jahren mehrmals die Hauptstadt von Marokko. Stolz zeigte sie das mit ihren uralten imposanten Stadtmauern und märchenhaften maurischen Gebäuden aus mehreren Jahrhunderten. Unnachahmliche Farbenpracht und eine der rigorosesten Bettlerkulturen beherrschten das Stadtbild. Richtiges Betteln gehört hier zum täglichen Leben, denn es ist ein angesehener Beruf, der sich seine Legitimation aus dem Koran holt. Diesen Broterwerb könnte man fast als Kunst bezeichnen. Seit Generationen hatte die Bettlergilde erkannt, körperliche Deformationen, die schon bei Kindern absichtlich herbeigeführt wurden, oder das Abtrennen von Gliedmaßen, führen zu höheren Einnahmen. An solch ungewöhnlichen Praktiken sind diesmal nicht die zahlreichen ausländischen Touristen schuld, die Marrakesch überfluten. Der Islam gebietet Almosengeben als Pflicht.
Nicht nur am großen Marktplatz hatte ich das Gefühl, mitten in einem Varieté zu weilen, mit Schlangenbeschwörern, Musik- und Tanzgruppen, Wasserträgern mit blank geputzten Messingschalen in farbenfrohen Gewändern und die unvermeidlichen Bettler. Alles wie in Farben von Technicolor getaucht, was im Moment den staunenden Reisenden in hohem Maße beeindruckte, aber schnell ermüdete. Ich ließ es bleiben, mich mit den zahlreichen Showbands am Platz näher zu beschäftigen. Gerne hätte ich an einem Tisch vor einem der Kaffeehäuser ein Bier getrunken und das Geschehen aus der Perspektive der in großen Gruppen flanierenden Touristen betrachtet. Doch ein Griff zu meiner Barschaft in die Hosentasche brachte ein überzeugendes Argument gegen ein solches Vorhaben. Einen Moment spielte ich mit dem Gedanken, mich unauffällig unter die Bettler zu mischen. Aber, wie oben erwähnt, war hier betteln eine über Generationen tradierte Kunst, die ich nie vorher geübt hatte, außerdem hätte das Bettlersyndikat solch einen Fremdkörper sicher gewaltsam entfernt. Die gleich beim Markt gelegene Jugendherberge wirkte nicht ungeheuer einladend, weshalb ich nur eine Nacht blieb. Abends, auf meinem Lager liegend, war Zeit darüber nachzudenken, warum ich Städte mit großen Ansammlungen von Einheimischen, mit oder ohne Touristen, stets tunlichst rasch durchwanderte. Ich absolvierte dort nur meine Pflichtübungen und verschwand jedes Mal wieder so schnell als möglich in die einsamere, stille Landschaft, in der ich mich wohlfühlte. Bevor mir ein befriedigender Schluss dazu einfiel, überfiel mich erholsamer Schlaf.
Per Autostopp auf der Route National No. 9 nach Casablanca ging es an Äckern oder Gärten mit Gemüse und Obst, und an zahlreichen Schaf- und Ziegenherden vorbei, wie in südlichen Gegenden Europas. Übergangslos führte ein vierspuriger Boulevard in das Zentrum der Stadt und weiter bis zum Hafen. Nahe davon war mein Quartier gelegen, das wieder nur wenige Straßen vom Konsulat entfernt war. Dieses suchte ich umgehend am folgenden Tag auf. Der Herr, ich will ihn „N“ nennen, ist schon in seinem Büro und die nette Dame vom Empfang meldete mich gleich bei ihm an. Nach Wochen mühsamer Kommunikation, ohne eine der Fremdsprachen vollständig zu beherrschen, war es angenehm, sich wieder in Deutsch verständigen zu dürfen. Darüber hinaus gab es mir ein Gefühl der Geborgenheit. Der Herr N ließ auf sich warten. Auf jeden Fall dauerte es bis zu seinem Erscheinen länger, als es seiner untergeordneten Position im Konsulat angemessen gewesen wäre. Mein Heimatgefühl wurde von den vielen Fremdenverkehrsplakaten rundum unterstützt, und war deshalb ungebrochen. Doch dann erschien Herr N, adrett in dunklem Anzug, aus einem Nebenbüro, denn er war nicht der Chef selbst. Groß und erkennbar gut genährt kam er auf mich zu. Höflich nannte ich meinen Namen und bestellte, wie aufgetragen, die Grüße meiner Eltern. Gut erzogen wartete ich, bis er mir seine Hand reichen würde – doch umsonst. Ja, ja, er wüsste, worum es geht, aber leider, leider kann er mir nicht mit Geld für die Rückreise nach Wien helfen. Das Konsulat hätte kein Budget für solche Fälle, das muss man in Rabat bei der Botschaft anfordern, doch das dauere … und so fort. Das Heimatgefühl hat sich daraufhin wie fünfundneunzigprozentiger Alkohol ohne Rückstände verflüchtigt, und mein Selbstgefühl verbot es mir, weiterhin zu insistieren. Was ich schon anfangs vorgehabt hatte, jetzt war der richtige Moment gekommen, um sich kleinlaut nach etwaiger Arbeit im Lande zu erkundigen. Die wäre notwendig, da ich Geld für Lebensmittel und die Unterkunft verdienen müsste. Er würde sehen, was sich machen lässt. Auf seine Frage gab ich ihm meine Adresse. Man würde mich dort verständigen, sobald eine kostenlose Möglichkeit für eine Heimfahrt gefunden wäre. Was immer das sein kann, ich musste mich damit abfinden. Mit einigem Zorn in der Bauchgegend gegen österreichische Konsulate im Allgemeinen und Honorarkonsuln im Speziellen, eilte ich in meine Bleibe.
Abgebrannt bis auf den letzten Dinar stellte sich die Aufgabe, diese Situation zu bewältigen. Aber auf wie lange? Und wie zahle ich das Quartier? Die Chefin des Etablissements gab sich mit der Erklärung zufrieden, dass ich auf Geld vom Konsulat warte und bis zu dessen Eintreffen gerne eine bezahlte Beschäftigung hätte. Aber ebenso hier gab es keine befriedigende Auskunft. Doch am nächsten Tag kam ein Bote von Herrn N. mit der Mitteilung, es gäbe Arbeit für mich. Ich soll beim United Seamen’s Service nachfragen, denn manchmal nehmen sie dort Personal für Aushilfsarbeiten auf. Zehn Minuten waren es zu Fuß bis zum Hafen, dem Boulevard folgend. Das USS war in einem flachen, schneeweißen und sauberen Gebäude untergebracht, mit einem freundlichen Amerikaner im Vorraum. Er hörte sich mein Anliegen an und führte mich in ein Büro. Kein Problem, das Konsulat hätte schon angerufen. Ob ich denn putzen und reinigen würde? Yes Sir – und ich hatte den am schlechtesten bezahlten Job meines Lebens. Vordringlich wäre es, das Pissoir und überhaupt die Toiletten zu pflegen. Anscheinend hat Herr N. die Bitten meiner Eltern, sich um mich zu kümmern, etwas falsch verstanden und er meinte Erziehungsmaßnahmen setzen und mir die Gefahren des Lebens im Ausland beibringen zu müssen.
Zu meinem Glück lag im Moment kein größeres Schiff im Hafen, dessen Besatzung die Annehmlichkeiten, und Toiletten des Seamen’s Service beanspruchte. Ich war somit vierzehn Tage lang der Einzige, der diese Räumlichkeiten frequentierte. Der Geruch des mit Zitronenaroma angereicherten Scheuermittels, welches ich zum Reinigen der wegen des Nichtbenützens immer sauberen Nassräume erhielt, hat sich unauslöschlich in mein Gedächtnis eingebrannt. Die meiste Zeit verbrachte ich damit, den Großteil des verdienten Geldes in die Jukebox zu stecken und „Life could be a dream“ von den Crewcuts abzuspielen. Diese „45er“ war nach den zwei Wochen sicher nicht mehr brauchbar! Eines Tages, ich hatte mich an das Essen und die bequeme Arbeit gewöhnt, kam Herr N persönlich mit der Nachricht, es gäbe die Möglichkeit auf einem Frachtschiff nach Marseille mitzufahren. Er hat dem Kapitän von meiner Situation erzählt und ich könnte, wenn ich wollte, mitfahren. Da ein Matrose ausgefallen war, müsste ich aber auf dem Schiff mitarbeiten. Warum nicht, obwohl ich begründete Bedenken gegen Vermittlungen von dieser Seite hegte. So packte ich meine Sachen, holte den für die Miete als Pfand eingesetzten Pass, sagte im United Seamen‘s Service Good by und suchte das angegebene Schiff im Hafen. Die Hafenbehörde erklärte mir, an welchem Peer der Frachter eben beladen wurde.
Das Motorschiff Yvette war knappe fünfzig Meter lang, der Aufbau mit der Brücke befand sich achtern, der Rostfraß am Rumpf hatte vertrauenswürdige Dimensionen noch nicht überschritten und die Wasserlinie war beruhigend weit über dem Meeresspiegel. Was sollte mich daran hindern, die Rampe hinauf an diesem Kahn zu erklimmen und in den geplanten drei Tagen europäisches Festland zu erreichen. Leider verstand der erste Mann an Bord, den ich für einen Matrosen hielt, mein Anliegen nicht und zeigte nur stumm in Richtung der Kommandobrücke. Der Anweisung folgend kletterte ich in den zweiten Stock zur Brücke hinauf. Durch eine Schiebetüre ging es in einen breiten Raum, in dem ein großes Ruderrad vor einem gewaltigen Kompass stand. Ein Offizier, es war der Kapitän in einer nicht mehr so ganz sauberen, wahrscheinlich weiß sein sollender Uniform, empfing mich. Seine Englischkenntnisse entsprachen den meinen, was der Kommunikation zwischen uns entgegenkam. Noch bevor ich Tasche und Lodenmantel sicher verstauen durfte, wurde mir gleich Arbeit aufgetragen. Aha, der Herr N. hat entsprechend seiner eigenartigen Auffassung von Hilfestellung vermittelt. Die Nahtstellen der Deckplanken des gesamten Schiffsdecks waren mit einer, schwarzem Teer ähnlichen Masse ausgegossen. Doch diese hatte die Eigenschaft, bei intensiver Einwirkung afrikanischer Sonne zähflüssig zu werden und sich dabei auszudehnen. Es war Hochmittag, der Teer trat aus den Fugen aus und blieb beim Begehen an den Schuhen kleben. Das würde an Deck und im Inneren des Schiffes schwarze klebrige Flecken hinterlassen. Folglich musste er mittels eines geeigneten Instrumentes in die Spalten zurückgedrängt werden. Vertrauensvoll übertrug die Schiffsleitung dem neu Angekommenen diese wichtige Aufgabe. Man drückte mir eine Art breiten stumpfen Meißel sowie einen Hammer in die Hände. Auf der schattenlosen Kommandobrücke wurde mir ein abgegrenztes Areal von etwa zehn bis zwölf Quadratmetern zur Bearbeitung zugewiesen. Da ich unbedingt meine Arbeitsfähigkeit und -bereitschaft zu beweisen trachtete, und darüber hinaus unter Beobachtung von der Innenseite durch die Fenster der Brücke stand, legte ich mit enormem Elan auf den Knien rutschend los. Doch es war mühsamer, als angenommen. Trotzdem bewältigte ich einen großen Teil der mir gestellten Aufgabe in vom Zorn getriebenem Tempo. Es ist zu verstehen, dass meine Vergleiche, die ich mit Galeerensträflingen zog, nicht unberechtigt waren. Heilfroh war ich, zu sehen, dass das Deck bis zum Vorschiff vollständig mit Ladegut zugestellt war, selbst zwischen den Ladeluken und der Reling steckten Kisten und Fässer. Was mich der Sorge enthob, dazu gezwungen zu werden, das gesamte Schiff mit Meißel und Hammer zu bearbeiten.
Abends gab es eine Mahlzeit, was bedeutete, dass ich von der Schiffsleitung als Mitglied der Besatzung angenommen worden bin. Mir wurde die Kajüte des Kochs zugewiesen, der in die seines Freundes zog. Aus diesem Umstand keine Schlüsse ziehend, fiel ich todmüde in die Enge der Koje, nicht ohne vorher die runde Luke weit zu öffnen. Die Mannschaftskabinen lagen im Heck, knapp oberhalb der Wasserlinie und hatten deshalb Tageslicht. Meine Handflächen schmerzten und ich schlief mit weit von mir gestreckten Händen erschöpft ein. Deren überbeanspruchte Innenseiten kühlte ein leichter Lufthauch, der durch die geöffnete Luke zog. Aus größerer Distanz drang das Anwerfen der Schiffsmotoren zwar in mein Bewusstsein, doch übermannte mich gleich wieder tiefer Schlaf.
Geweckt wurde ich durch den schrillen Ton einer fernen Trillerpfeife und das näherkommende Schlagen von Kajütentüren. Die zu meiner Koje führende wurde aufgerissen, aber der scharfe Ton Pfeife blieb im Ansatz stecken. Der Maat schloss behutsam wieder die Türe und ließ mich über die folgende Wache weiterschlafen. Das war zutiefst menschenfreundlich, er hat sicher die blutverschmierten, weit von mir gestreckten Hände gesehen. Die Blasen, die ich mir durch die für mich ungewohnte Arbeit geholt hatte, waren während des Schlafes geplatzt. Doch einmal wach, wurde ich neugierig und kroch aus der Koje. Die Verletzungen der Hände waren weniger dramatisch, als sie aussahen. Trotz der Blessuren waren mir waschen und anziehen möglich. Ich beeilte mich, auf Deck zu kommen, denn der Frachter befand sich in voller Fahrt. Oben angekommen, zweifelte ich an meinem Orientierungsvermögen, weil die Morgensonne stand backbords über der nahen Küste Afrikas, demnach links der Fahrtrichtung. Ginge die Fahrt nach Norden, sollte das doch genau umgekehrt sein! Das war aber nicht der Fall, wir schipperten Richtung Süden. An der Richtigkeit meiner Entscheidung zweifelnd, dieses Schiff für die Heimfahrt bestiegen zu haben, befragte ich einen müßig an der Reling stehenden Matrosen. Der verstand weder englisch noch deutsch, er wies nur mit ausgestrecktem Arm zur Kommandobrücke hinauf. Diese Weisung kannte ich doch schon. Ein Wunder, dass die Kommunikation auf der gesamten Fahrt ausschließlich mit wenigen, international gültigen Handzeichen klappte. Das Schiff war nämlich von einer Reederei gechartert, die auf den Färöer-Inseln beheimatet war. Ein bisschen kam ich mir auf dieser Fahrt wie ein Taubstummer vor, der darüber hinaus die Taubstummensprache nicht beherrscht. Wie viele jugendliche Wiener beherrschen schon Färö? Aus Bruchstücken von Worten und Zeichen kombinierte ich, dass wir sehr wohl nach Europa führen, aber vorher etwas Ladegut in Dakar, Senegal, aufnehmen müssten. Ein kleiner Umweg von knapp dreieinhalb tausend Seemeilen.
Ich wurde dem freundlichen Koch, der mir seine Kabine überlassen hatte, zur Unterstützung in der Kombüse zugeteilt. Nein, er war binär veranlagt, denn ich hatte schon vorher in seiner Koje rundum an den Wänden klebende Pin-ups von Alberto Vargas bemerkt. Die Arbeit erschöpfte sich im Hin- und Hertragen von Geschirr zwischen der Küche und dem Speiseraum, je nach Richtung mit vollen oder leeren Tellern. Meiner Integration in die Besatzung war das keineswegs ungeheuer dienlich. Doch dann kam der Moment, in dem ich beweisen durfte, mehr Qualitäten zu besitzen. Es gab eine Sturmwarnung, wenigstens glaubte ich, diese Ankündigung als solche verstanden zu haben. Die zwischen Reling und Ladeluken lose gelagerten Fässer mussten gesichert werden. Schwere, aus Tauen angefertigte Netze wurden herbeigeschafft und sollten in die dafür vorgesehenen Haken sowohl an den Rändern der Luken, als auch außen an der Reling eingehängt werden. Zwei Matrosen befestigten das Geflecht an der Ladeluke. Mehr zufällig als absichtlich fand ich mich auf der schmalen Brüstung stehend wieder, ausschließlich das über die Fässer zu spannende Netz als Halt vor einem Absturz. Weit musste ich mich rückwärts nach außen lehnen, um mit meinem Gewicht die Abdeckung zu spannen. Tief unter mir tobte der aufgewühlte Atlantik. Nachdem das klobige Netz befestigt war, waren die Handflächen zwar wieder in Mitleidenschaft gezogen, aber dafür klopften mir Mitglieder der Crew anerkennend auf die Schultern.
Was diese sprachlose Aufnahme in den Kreis der Matrosen für Vorteile hatte, sollte ich im Hafen von Dakar erfahren. Dort angekommen durften wir das Schiff verlassen. Meiner unstillbaren Neugier folgend, war es mir ein Bedürfnis, bei dem Landgang die Stadt zu erkunden. Da ich an Bord sonst nichts zu tun hatte, verließ ich vor den weiterhin arbeitenden Matrosen und ohne Begleitung das Hafengebiet, und war bald von Halbwüchsigen umringt. Die verlangten äußerst aggressiv ein „Cadeau“, ein Geschenk. Erst nahm ich das nicht sonderlich ernst, doch als sie mir in die Brusttaschen meines Hemdes griffen, musste ich mich wehren. Das ergab eine brenzliche Situation, die schwarzen Buben waren weit in der Überzahl. Urplötzlich verschwanden sie in der Dunkelheit. Ich hatte ihr Kommen nicht bemerkt, hinter mir standen fast vollzählig die blonden Matrosen der Yvette, jeder mit irgendetwas Langem in der Hand und grinsten. Erst viele Jahre ergab sich eine Gelegenheit, Dakar kennenzulernen.
Ohne beachtenswerte weitere Geschehnisse fuhren wir endlich in Richtung Norden. Bei einer Besatzungsstärke von nur fünfzehn Mann gab es keine Rangunterschiede, jeder musste die Arbeit verrichten, die im Moment anfiel. So ergab es sich, dass ich eines Abends Dienst am Ruder versah. Es herrschte Dunkelheit auf der Kommandobrücke, nur die Instrumente und der Kompass waren beleuchtet. Wir erreichten die Höhe der Straße von Gibraltar. Der erste Offizier kam zu mir und gab in liebenswertem Färöisch-Englisch einen Kurswechsel an. Ich war auf dem Boot in letzter Zeit gewohnt, Anweisungen auf Grund der paar Brocken, die ich verstand und den die Worte begleitenden Gesten zu interpretieren. Und weil dies meistens richtig war, hatte ich auch diesmal keine Bedenken, meiner Intuition zu folgen. Die Interpretation der aktuellen Anordnung besagte, das Schiff solle langsam auf 310 Grad Nordost drehen. Demnach bewegte ich das Ruder höchst bedächtig nach Steuerbord, so wie ich die Anweisung verstanden hatte.
Wir fuhren auf das vor uns liegende, hell erleuchtete Gibraltar zu. Es war recht aufregend und romantisch zu erleben, wie auf dem Wasser tief unter mir die Positionslichter winziger Boote rings um den Frachter tanzten. Es waren Fischerboote, in denen Menschen uns zuwinkten, südländisch wild gestikulierten und etwas riefen, was hoch oben auf der Brücke nicht zu verstehen war. Das Schiff befand sich in voller Fahrt, da die Türe zum Navigationsraum geöffnet, der diensthabende Offizier eilte zum großen Kompass vor mir, auf dem sich die Nadel in exakt diesem Moment auf 310° NO einpendelte. Das Schiff wurde gestoppt, und der Schiffsoffizier fuhr im Kommandoraum hinter mir mit dem Zirkel aufgeregt über seine Seekarte. Er vermittelte den Eindruck schlechten Gewissens. Auf seine neuerliche Anweisung hin, drehte ich das Ruder hart Steuerbord, so dass wir uns vorsichtig Richtung Osten tasteten. Erst nachdem die letzte Fischerlampe in unserem Kielwasser verblasste, wurden die Maschinen wieder hochgefahren. Dieser brave Seefahrer verhinderte jedenfalls, dass ich berühmt wurde. Das MS Yvette wäre der erste Frachter gewesen, der in der Stadt Gibraltar direkt auf der Buena Vista Road angedockt hätte. Da mich ja keine Schuld traf, durfte ich in dieser Nacht weiter das Ruder bedienen. Lange vor Sonnenaufgang wurde ich abgelöst.
Die Einfahrt in den Hafen von Marseille übernahm später der Kapitän höchstpersönlich mit seinen geschulten Mannen. In makellos frischer Uniform, mit gestärktem Kragen und stählernem Blick, steuerte er uns ohne Fehl und Tadel ans französische Festland. Erst nachdem ich ihm die Logistik meiner mittellosen Heimkehr erklärt hatte, inklusive einer Darstellung meiner heldenhaften Dienste, drückte er mir ein paar tausend Franc in die Hand. Die waren redlich verdient, schließlich hatte ich brav gearbeitet. Was Herrn N aus Casablanca angeht, so blieb sein Vorhaben, mich durch Erziehung zu einem besseren Menschen zu machen, unvollendet. Doch auch das war ein Erfolg, zumindest für mich.
Ich beschloss, Marseille zu besuchen. Es ist eine liebenswerte Stadt mit südeuropäischem Charme und bunten Märkten. Da ich Hunger und ausreichend Geld hatte, bestellte ich mir in einem Bistró am Fuße des Hügels von Notre Dame du Mont einen Riesentopf Bouillabaisse. Das ist die berühmte französische Fischsuppe, die damals noch eine billige Nationalspeise war, heute aber eher in die Kategorie Luxus fällt. Ich wollte heimwärts, nach Wien. Gestärkt und zufrieden lief ich durch die Stadt zur Landstraße, die in Richtung Paris führte.
Zu nachtschlafender Zeit klopft es an der Türe meines Turmgemachs. Erschreckt fahre ich hoch. François ruft von draußen, dass wir losfahren müssten. Ich schalte das Licht an, denn nicht einmal der Mond leuchtet in das Zimmer. Die Erinnerung wird wach, dass mich der Wirt am Abend eingeladen hat, mit ihm auf die Jagd nach Gazellen zu fahren. Der frühe Morgen ist in der Sahara ziemlich kalt. Rasch ziehe ich Pullover und Windjacke an und beeile mich hinunter in den Hof zum Toyota. Der Motor des Wagens läuft schon. Ich steige auf der Seite des Beifahrers ein, und wir starten in die Nacht. Auf der rückwärtigen Sitzbank liegen zwei mit Stricken gesicherte Jagdgewehre. Wir fahren einige Kilometer auf der Piste gegen Osten und biegen bei einer kleinen Wegmarkierung nach rechts, in südlicher Richtung von der Hauptpiste ab. Im Scheinwerferlicht ist ein schmaler Weg mehr zu erahnen, als zu sehen, dem wir etwa eine Stunde in gemäßigterem Tempo folgen. Im aufkommenden Dämmerlicht des Morgens erscheinen links und rechts von der Piste langsam genauere Konturen von Steinen und Bodenerhebungen, und Farben lassen sich erkennen. Die ausgefahrenen Spuren der Strecke werden schon auf größere Entfernung sichtbar.
Abrupt und ohne ersichtlichen Grund hält François den Wagen an und stellt den Motor ab. Wir steigen aus und wenden uns gegen Osten. Die Luft ist empfindlich kalt, die absolute Stille der Wüste wird zwischen dem lauten Knacken des auskühlenden Autos greifbar. Ein kurzes, eindrucksvolles Schauspiel bietet sich uns, der tägliche Sonnenaufgang in der Sahara. Ober und hinter uns herrscht am Himmel nächtliche Dunkelheit, von Schwarz zu dunklem Blau übergehend, mit einigen verblassenden Sternen dazwischen. Am Horizont beginnt es hellblau zu werden, das leicht ins Grün verschwimmende Licht gegen den oberen Rand zu, kündigt den neuen Tag an. Über den zerklüfteten Felsen erscheint ein stetig größer werdender Teil des riesigen, goldfarbenen Sonnenballs. Ich glaube nachempfinden zu können, was Richard Strauß beim Komponieren der Alpensymphonie, sowie der symphonischen Dichtung Zarathustra gesehen, empfunden und in Musik umgesetzt hat. Ich öffne die Jacke und spüre die ersten Sonnenstrahlen durch den Pullover auf meiner Brust. Da erinnere ich mich an die aus Goethes Faust zitierende samtig-warme Stimme des Schauspielers Stefan Fleming:
„Die Sonne tönt nach alter Weise
In Bruderspären Wettgesang,
Und ihre vorgeschriebne Reise
Vollendet sie mit Donnergang“
Vor allem in der Wüste, wo sie auf ihrer Bahn vom Leben versprechenden Aufgang nach kurzer Zeit zur tödlichen Bedrohung wird, vermeint man das Dröhnen der Sonne zu hören. Ich fühle mich bei heftigen Emotionen ertappt, doch ein Blick hinüber zu meinem Freund sagt mir, dass ihn ähnliche Empfindungen ergriffen haben.
Zur Weiterfahrt biete ich François an, das Steuer des Autos zu übernehmen. Er kennt die Plätze, wo sich Wild aufhält, und hat vom Beifahrersitz den besseren Überblick. Obwohl es mich reizt, selbst zu jagen, lasse ich ihm den Vortritt. Das Fenster auf meiner Seite ist geöffnet und ich genieße den frischen Fahrtwind. Wir nähern uns einem, von felsigen Hügeln umgebenem breiten Tal, dessen zarter Grasbewuchs den Eindruck des nicht Realen verstärkt. Und mitten in dieser friedlichen Oase äsen weit auseinandergezogen einige Rudel von insgesamt geschätzten zwanzig bis dreißig Dünengazellen. Eine prächtiger als die andere. Um auf Schussentfernung an die scheuen Tiere heranzukommen, brauchen wir die Sonne im Rücken. Francois greift sich ein Jagdgewehr vom Rücksitz. Meine Jagdkenntnisse, die ich mir im Busch vor Jahrzehnten aneignete, kommen mir jetzt zugute. In großem Bogen umfahre ich die Herde zügig und halte in geeigneter Distanz von den Tieren so, dass François eine günstige Position zum Schießen hat.
Verehrte Jünger des europäischen Waidwerks, die ihr möglicherweise diesen Blog lest, überspringt die nächsten Zeilen, um Ärger von euch fernzuhalten. In Afrika gelten für die Jagd andere Gesetze, als in den heimischen Wäldern. François und ich haben vorher nicht darüber gesprochen, doch wissen wir beide aus langjähriger Erfahrung, dass man auf keinen Fall aussteigen darf. Die Gazellen würden beim Abstellen des Motors oder der geringsten Bewegung einer Wagentüre flüchten und auf lange Zeit nicht mehr zurückkommen. Ein Auto außerhalb der für sie Gefahr bedeutenden Distanz, egal ob es steht oder fährt, beunruhigt sie überhaupt nicht. Die Tiere äugen kurz zu uns herüber, da wir regungslos sitzen bleiben, fahren sie mit der Futteraufnahme fort. François kurbelt äußerst behutsam die Scheibe auf seiner Seite ein Stück hinunter. Trotz der angewandten Vorsicht heben alle Gazellen sofort ihre Köpfe und stellen die Lauscher in unsere Richtung. Beide wagen wir es kaum zu atmen. Bedächtig lädt er durch und schießt. Ein großer Bock wird in die Höhe gewirbelt und fällt zu Boden, wo er regungslos liegen bleibt. Die Herde schaut erstaunt kurz zu uns herüber, um dann seelenruhig weiter zu äsen. Das war ein sauberer Schuss, direkt ins Herz. François fragt mich aus Höflichkeit, ob ich Lust hätte, ebenfalls eine Gazelle zu schießen. Ich lehne dankend ab. Natürlich wurde ich im Laufe der Expeditionen ein erfolgreicher Jäger, doch ausschließlich zur Beschaffung von Nahrung, niemals für Trophäen. Das Anfahren des Toyota lässt die Herde flüchten. Wir fahren zu dem erlegten Wild. Ich hatte Recht, es war ein Blattschuss par excelence. Wir heben das gewiss vierzig Kilo schwere Tier in den Laderaum, wonach der glückliche Jäger eine Flasche Rotwein aus der Tasche zieht und wir uns jeder ein paar kräftige Schlucke daraus genehmigen..
Am frühen Nachmittag erreichen wir das Anwesen und fahren direkt in die Garage. François bindet der Gazelle die Hinterbeine zusammen, schwitzend heben wir den Bock aus dem Auto und hängen ihn an einem Haken Kopf nach unten an der Garagenmauer auf. Michelle empfängt uns mit einem späten Mittagessen. Anschließend holt der Hausherr eine Reihe von Gefäßen aus Kunststoff, sowie zwei scharfe Messer zum Aufbrechen der Jagdbeute aus der Küche, und trägt sie in die Garage. Ich lasse ihn bei dieser Arbeit allein, denn es ist Zeit für eine Siesta. Es war ein langer Vormittag, außerdem plagt mich das Gewissen, heute noch nichts geschrieben zu haben. Deshalb war die Ruhepause kurz. Erfüllt von den Erlebnissen des Tages, öffne ich den Laptop und schreibe die Fortsetzung meiner Erinnerungen an die allererste Afrikareise und der glücklichen Ankunft in Europa:
Ich hatte Glück. Bei der Ausfahrt von Marseille hielt eine Panhard Dyna-Limousine. Dieses Auto hatte einen luftgekühlten 2-Zylinder Boxermotor, der die Vorderräder antrieb. Der französische Volkswagen. Nicht mehr ungewohnt war das gelb eingefärbte Licht der Scheinwerfer der Entgegenkommenden. Das war in Frankreich für alle Kraftfahrzeuge vorgeschrieben, folgerichtig ebenso in Algerien. Man konnte sich die Zeit als Beifahrer damit vertreiben, indem man die ausländischen Fahrzeuge zählte, die an den normalen weißen Lichtern erkenntlich waren. Während der langen nächtlichen Fahrt nach Norden erfuhr ich, der Mann am Steuer war Dr. Jaques Nehlil, ein nicht nur in Frankreich bekannter Neuropsychiater. Er kam direkt aus Algerien, wo er Studien mit Kindern getätigt hatte. Er wollte heim nach Paris und ich durfte am Ende der Fahrt mit ihm bis in die Stadt fahren. Docteur Nehlil setzte mich frühmorgens am Place de la Concorde ab. Aus dieser Begegnung sollte später ein über Jahre andauernder, fast freundschaftlicher Kontakt entstehen.
Die Lampen der Straßenbeleuchtung waren noch nicht ausgeschaltet, und wetteiferten mit dem herandämmernden Tageslicht. Vereinzelt kurvten Autos im Kreisverkehr um den Obelisken. Ich bewegte mich an der unteren Einmündung der morgendlich verwaisten Champs Elysees, als ich von einer im Dunkel liegenden Parkbank her ein freundlich klingendes „Eh – Bon jour“ hörte. Ein einsamer Clochard mit grauen Haaren und ebensolchem Bart zwinkerte mich unter buschigen Augenbrauen an. Er sprach einen schauderhaften Dialekt, nämlich Argot. Das schloss von vorne herein eine intensivere Unterhaltung aus, verstand ich doch damals selbst richtiges Französisch nur marginal. Mit unmissverständlichem Handzeichen bedeutete er mir, mich zu ihm zu setzen. Meinen grauen Lodenmantel eng herumgewickelt nahm ich auf der Bank Platz. Vermutlich hatte der Mann sofort mitbekommen, dass ich ihn nicht verstand, denn er war äußerst schweigsam. Er bot mir aus einem Papier ein erheblich schmuddeliges Stück Baguette an, das mit etwas Undefinierbarem belegt war. Ich lehnte dieses Angebot freundlich aber explizit ab. So wirklich geheuer war mir diese Begegnung nicht, doch dann schenkte er aus einer fast vollen Flasche Rotwein in einen Becher und reichte mir diesen. Hatte ich vorher schon das Brot abgelehnt, beleidigen wollte ich ihn nicht mit einer neuerlichen Abfuhr. So wanderte der Becher zwischen uns hin und her. Alkohol desinfiziert, dachte ich mir, und gar so unappetitlich sah der Mann selbst auch wieder nicht aus. Ich hatte abermals Glück gehabt. Denn viele Jahre später erfuhr ich anlässlich einer Dokumentation am Montmartre, dass ein Clochard, der etwas auf sich hält, den Rotwein mit einem Esslöffel zu sich nimmt. Aber dieser war ja nicht dort, sondern im Zentrum der Stadt.
So saßen wir schweigend und am Wein nippend beim Kreisverkehr der Concorde und erlebten miteinander das Erwachen der Großstadt. Inzwischen war es hell geworden, eine Menge Autos hatten die Straße in Besitz genommen. Es wurde laut und ungemütlich. Somit verabschiedete ich mich von dem edlen Spender des Weines mit einem Händedruck. Er hatte erstaunlich zarte und warme Hände.
Wien war zwei Tage später erreicht. Es dauerte kurze Zeit, bis ich mich wieder akklimatisiert hatte, war aber weit entfernt davon, meine Pläne für Afrika aufzugeben. Die diplomatischen Aktivitäten wegen des Staatsvertrags für Österreich mit den Alliierten, im Besonderen die mit der widerspenstigen Sowjetunion, waren im Laufen. Die Ergebnisse der Verhandlungen schwankten zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt. Da ergab es sich glücklich, dass den wodkageeichten russischen Politikern österreichische Diplomaten gegenüber saßen, die ebenfalls recht trinkfest waren. Gemischt mit dem in Wien traditionellen, feinen chassidischen Humor, war der Alkohol hilfreicher Mediator bei den Gesprächen. Den positiven Erfolg ausschließlich auf die Wirkung des Weines herunter zu brechen, wäre aber eindeutig falsch, denn Österreich hatte damals überragende Diplomaten.
Selbstverständlich besuchte ich wieder den Strohkoffer und fand dort alles beim Alten. Maler, Bildhauer, Musiker, Dichter, Schauspieler und Alkoholiker waren nach wie vor die mir bekannten Besucher. Obwohl, es war eine leichte Verdünnung zu bemerken. Der engste Kreis des Artclubs war in das Dom Café in der Singerstraße umgezogen. Darüber hinaus hat sich mittlerweile in der Adebar so etwas wie eine Konkurrenz zum Strohkoffer gebildet. Auch das traditionsreiche Café Hawelka war ein Treffpunkt, der das Kellerlokal Gäste kostete. Eines Abends freundete ich mich mit einem jungen Mann an, der im Strohkoffer meistens mit umgebundener Krawatte erschien. In seiner Sprache unterschied sich Konrad Bayer von der durch wienerischen Dialekt geprägten Umgebung mit gewähltem Deutsch. Er hatte eine zauberhafte Freundin und wir saßen einige Male zu dritt in seiner Wohnung und plauderten. Leider haben wir uns bald danach, bedingt durch meine längere Abwesenheit von Wien, aus den Augen verloren. Der Selbstmord Konrads hat mich tief berührt. Nachdem er so eine finale Handlung setzte, blieben nie mehr zu beantwortende Fragen über meine mögliche Mitschuld nicht aus. Wären Gespräche mit ihm von Nutzen gewesen, hätte ich mich nach der Reise um ihn bemüht?
Seit der Rückkehr aus Nordafrika überschlugen sich bis zur nächsten Afrikafahrt die Ereignisse. Frech begab ich mich mit den von mir angefertigten rudimentären Aufzeichnungen ins Unterrichtsministerium, um eine Unterstützung für die folgenden geplanten Arbeiten zu erbitten. Heinrich Drimmel war damals Unterrichtsminister. Entgegen den Erwartungen und ohne überbordende Bürokratie erhielt ich für eine weitere Forschungsfahrt die staatliche Subvention von fünftausend Schilling. Das war für das Vorhaben, wie ich es mir vorstellte, nicht unbedingt ausreichend, aber ein beachtlicher Grundstock.
Mit nicht geringem Stolz über diesen Erfolg teilte ich diese Neuigkeit dem besten Freund, Mackie Lersch brühwarm mit. Es war winterlich in Wien, wir saßen in der Loosbar an der Theke, vor jedem stand ein Glas Rotwein. Ich eröffnete ihm meinen Plan, im April wieder nach Afrika zu fahren. Spontan kam von ihm der Vorschlag, wenn ich ein bisschen warten könnte, er würde seine Lokale verkaufen und es wäre dann möglich, die Expedition gemeinsam zu unternehmen. Max „Mackie“ Lersch, zu dem ich bewundernd aufblickte und zu dem mich über lange Zeit tiefe Freundschaft verband, war zehn Jahre älter und um ebendiese Lebenszeit reifer als ich. Meine Freude war groß, dieser Mann wollte sein Leben hier aufgeben und sich mir anschließen! Auf Grund jener Entscheidung vergingen viele arbeitsame Monate, bis alle Vorbereitungen für eine Expedition erledigt waren. Darüber, ob diese enthusiastische Zusage zur Zusammenarbeit meiner eigenen weiteren Lebensgestaltung zuträglich war, habe ich nicht nachgedacht. Für ihn hingegen, nachdem er sein Erbe vertan hatte, bedeutete jener Augenblick auf jeden Fall eine Perspektive für seine Zukunft und eine Wende in seinem Leben zum richtigen Zeitpunkt.
Zwischenkapitel: Gelegenheitsarbeiten
In der Zeit bis zur Abfahrt der Expedition, die sich immer wieder verschob, war ich genötigt neben den anstehenden Vorbereitungen etwas Geld zu verdienen. Dadurch ergaben sich einige recht kurzweilige Episoden. Ich suchte nach einer Beschäftigung, die genügend Zeit für die Durchführung einer größeren Expedition ließ, die aber jederzeit zu kündigen war. So bewarb ich mich bei der Compagnie Internationale des Wagons-Lits, der europäischen Schlafwagen- und Speisewagengesellschaft, um den Posten eines Buffetkellners. So ein Job schien mir recht romantisch und vom Ertrag zufriedenstellend zu sein. Im eitlen Bewusstsein, einmal eine Bar geleitet zu haben, legte ich den zuständigen Herren meine Erfahrungen dar und wurde prompt engagiert.
In diesen frühen Jahren waren die Folgen des Krieges noch nicht vollends überwunden. Weil es an geeigneten modernen Eisenbahnwagons mangelte, hatte man nach einer praktikablen Lösung für die Verpflegung der Fahrgäste der Fern- und Nahzüge gesucht. Kurzerhand haben die ÖBB für Wagon-Lits in jedem Schnell- und Triebwagenzug jeweils ein WC zu einem Arbeitsraum für mobile Buffets umgebaut. In diesem engen Umfeld gab es außer dem Waschbecken weiterhin etwas Platz für ein Wandschränkchen und eine elektrische Kochplatte. Auf der Plattform vor der ehemaligen Toilette stand eine mit nicht rostendem Blech ausgelegte, grau angestrichene Kiste, die mit einem Vorhangschloss zu versperren war. Mit von großen Blöcken abgeschlagenen Eisstücken gefüllt, wurden darin Handelswaren wie Bier, Stifterln Wein, Limonaden und Mineralwasser gekühlt. Vor jedem Dienstantritt bekam ich einen aus festem Draht gefertigten Tragekorb ausgehändigt. Auf der Westbahnstrecke gab es eine Abmachung mit der Wiener Gastronomie, dass man erst in Niederösterreich mit der Verkaufstätigkeit beginnen durfte. Ab Amstetten lief ich durch den gesamten Zug, Getränke, Kekse und Schokoladen anpreisend. Im „Blauen Blitz“, dem Großraumtriebwagen, war das leicht, aber in den langen Zügen mühsam, da diese nur Abteile mit Schiebetüren hatten, die von mir zu öffnen und zu schließen waren.
Da waren Tage, an denen ich gewinnbringend arbeitete, aber es gab ebenso einige, die meinen gesamten Verdienst vernichteten. Es war in einem Schnellzug nach Salzburg. Beim ersten Durchgang durch die Wagons lief das Geschäft mit den Goodies sehr befriedigend. Bis zur geplanten zweiten Runde mit den heißen Würstchen. In weiser Voraussicht hatte ich vor meiner ersten Verkaufstour alle vierzig Paare Frankfurter in einem großen Topf mit Wasser auf die ausgezeichnet funktionierende Kochplatte gestellt. Ich kam von der Tour durch den überaus langen Schnellzug in das umgebaute WC zurück und fand die Würstchen heiß vor, aber alle waren aufgeplatzt! Wie fleischfarbene Palmblätter fielen sie auseinander, und bildeten ein surrealistisches Kunstwerk, das Salvador Dalí Ehre gemacht hätte. Lebensmittel wegzuwerfen geht nicht. Geschmack und Optik ließen keinen Verkauf mehr zu. So vergingen Jahre, bis ich wieder Frankfurter zu essen vermochte. und der Gewinn dieses Tages war nicht nur dahin, darüber hinaus waren die Schulden bei Wagon-Lits abzuarbeiten.
An einem anderen Tag, es war im „Blauen Blitz“, einem Triebwagenzug, da gab es einen nicht herunter gelassenen Übergang zwischen zwei Triebwagen. Im Vertrauen auf die Unfehlbarkeit der ÖBB-Mitarbeiter habe ich das fehlende Trittbrett übersehen. Um Haaresbreite hätte es mir bei diesem Fehltritt ein Bein abgetrennt. Ich hatte das Glück, ein Kabel zu erwischen, an dem ich mich festklammern und wieder hochziehen konnte. Aber leider waren der mit Waren gefüllte Tragekorb und eine bis in den Schritt aufgerissene Hose zu beklagen und zum Neupreis zu bezahlen.
Und da war der eifrige Biertrinker, der sich über die gesamte Strecke der Reise von Wien nach Linz auf der gut durchlüfteten Plattform aufhielt. Bei sommerlichen Temperaturen war es sinnvoll, das Fenster neben der „Küche“ offen zu halten. Doch diesem ungebetenen Gast zog es wohl zu stark und sobald ich auf Verkaufstour war, schloss er es. Ein Spielchen, das sich bis Linz mehrmals wiederholte. Ihn von der Palttform zu vertreiben wäre mir schwergefallen, denn er konsumierte in dieser kurzen Zeit eine derart beachtliche Menge Bier, die ich sonst auf einer kompletten Tour verkaufte. Im guten Glauben, dass die von mir knapp vorher geöffnete Fensterscheibe offen sei, gedachte ich eine nicht einsatzpflichtige Limonadenflasche mit großem Schwung aus dem Zug zu werfen. Die Kosten der durch diese Aktion gebrochenen Glasscheibe zog man mir zusätzlich ab.
Und einmal war es wie verhext, die Kühlkiste und die Getränke wurden zu spät zum Wagon gebracht, die Würstchen bis knapp vor Abfahrt des Schnellzugs nach Salzburg nicht geliefert und die Sandwiches kamen überhaupt nicht. Der Zug fuhr ab und ich machte mich daran, die wild durcheinander geworfenen Lebensmittel und Flaschen zu ordnen und zu verstauen. Gut, dass es die hintere Plattform des letzten Wagons war und keine Fahrgäste durchgingen. Bis Amstetten hatte ich alles soweit in Ordnung gebracht. Ab hier wäre mir das Verkaufen bis Salzburg erlaubt. Doch der Verkaufskorb, war nicht mitgekommen. Zu den Zugbegleitern gehörte außer den Schaffnern der Zugführer. In der Verzweiflung suchte ich ihn auf. Er hatte Verständnis für meine Lage und versprach, mir zu helfen. Zu dieser Zeit gab es weder Telefon, noch Funk für eine Kommunikation zwischen den fahrenden Zügen und den Fahrdienstleitern der Bahnhöfe. Aber er wusste Rat. Er schrieb einen Zettel mit meinem Wunsch nach einem „Tragerl“, legte ihn in ein altes Lederetui und ließ das Fenster seines Dienstabteils herunter. Es war ein Expresszug, der alle unwichtigen Stationen ohne Halt durchfuhr. Regelmäßig standen am Bahnsteig die Stationsvorsteher mit ihren roten Kappen und beobachteten den vorbeifahrenden Zug. Beim nächsten Bahnhof warf er im Durchfahren meine Nachricht aus dem Fenster. Zwischen unserem und dem Perron lagen vier Geleise. Ich sah, wie der Vorstand hektisch auf die Schienen hinuntersprang und in größter Eile, mehrmals stolpernd zu dem im Fahrtwind flatternden Etui rannte. Der Zugführer vermutete sicher, dies sei ein Notsignal, das bei den Bundesbahnen in dringenden Fällen wie bei etwaigem Ausfall der Bremsen, Bränden oder bei einem Herzinfarkt angewendet wird. Jedenfalls, mit dem nächsten Zug aus Wien kam der Tragekorb, so dass ich wenigstens die Rückfahrt betreuen konnte.
Es war eine von allen Buffetkellnern geübte freundliche Geste, das von zu Hause mitgebrachte Essen des Lokführers zu wärmen und bei einem Aufenthalt nach vorne zur Lok zu bringen. Ich fand es nicht schicklich, das Blechgeschirr an den Fahrgästen vorbei am Perron demonstrativ zum Lokomotivführer zu tragen, und wählte dazu die dem Bahnhof abgewandte Seite des Zuges. Dort fehlte zwar die zum bequemen Einstieg den Trittbrettern angepasste Höhe des Bahnsteigs, aber das störte nicht. Ich brachte das Essen zur Lokomotive und machte mich umgehend auf den Rückweg zum letzten Wagon. Die Relation der Geschwindigkeit meiner Schritte auf den Schottersteinen zu dem stehenden Zug veränderte sich zunehmend, so schnell gehe ich doch gar nicht? Der dankbare Lokführer ist ohne mich losgefahren! Ein Aufspringen war unmöglich, denn die untersten Trittbretter der fahrenden Waggons waren unerreichbar. Ich sah meinen Arbeitsplatz in der Ferne verschwinden und entschied, dass es an der Zeit war, mich beruflich neu zu orientieren.
Unter den Gesangsschülern meiner Eltern war neben Willy Kralik, der später beim Österreichischen Rundfunk Moderator wurde, ein junger sympathischer Bursche, Walter Böcksteiner. Dem Trend der Zeit folgend trug er Bluejeans, die Hosenbeine ober den Sneakers breit umgeschlagen. Er faszinierte mit einem sauberen Bariton, und durch hohe Musikalität. Mir gefiel in erster Linie, dass er neben der klassischen Stimmbildung ausgezeichnet Jazz sang. Sein großes Vorbild war niemand geringerer als der amerikanische Sänger Mel Tormé. Ich erinnerte mich an die Jamsessions im Kosmostheater, und da kam mir die Idee, ihn einmal auf die Bühne zu stellen. Folglich veranstaltete ich im Rondell in der Riemergasse im Mai 1954 eine mitternächtliche Jam-Session. Ich entwarf ein schlichtes Plakat, das durch seine schräg gestellte Schrift auffiel. Außerdem glaubte ich, mehr Aufmerksamkeit zu gewinnen, indem ich meinen Nachnahmen anglifiziere und ganz einfach umdrehte. Mit Hilfe einiger Freunde aus dem Strohkoffer plakatierten wir wild in der Stadt. Mit überragendem Ergebnis.
Das Rondell war mehr als ausverkauft, Uzi Förster, Alex Späth, Helo Kolbe, Gerhard Hönig und weitere Musiker der Wiener Jazzelite jamten ihrem außerordentlichen Können gerecht werdend. Walter Böcksteiner sang, wie ich ihn niemals vorher gehört hatte. Der Abend war ein voller Erfolg, in jeder Richtung. Der Zuschauerraum des Rondell war überfüllt, sodass für das Publikum sogar zusätzliche Sitzgelegenheiten aus anderen Räumen herangeschafft wurden. Die technische Einrichtung entsprach der Zeit, Walter sang in ein billiges Ansagemikrofon, was aber seinem Erfolg keinen Abbruch tat.
Gerhard Hönig tr, Alex Späth b, Uzi Förster ts
Walter Böcksteiner v. (Im Hintergrund ich)
Frühmorgens endete nach etlichen Zugaben das Konzert unter kräftigen Applaus der Fans. Während die Künstler ihre Instrumente einpackten, ging ich, hochgestimmt durch die wunderbare Musik und dem Anblick des übervollen Saales in den Kassenraum zu Fritz Feichtinger, um abzurechnen. Er war der Pächter des vom Besitzer Adolf Wollmarker gemieteten Lokals. Von den Einnahmen, abzüglich der Saalmiete, sollten die Musiker ihren Teil erhalten und nachher wäre ebenso für mich etwas abgefallen. Doch ich hatte, im Sinn des Sprichwortes, die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Feichtinger legte mir zur Abrechnung einen Eintrittskartenblock vor, in dem einwandfrei nur die Hälfte der Karten verkauft waren. Das stand in gewaltiger Diskrepanz zur beobachteten Überbelegung des Veranstaltungsraumes. Da sind selbstverständlich keine Gagen für die Musiker drin und sicher gar nichts für mich, meinte er bedauernd. Vermutlich hatte er von zwei Blöcken Eintrittskarten ausgegeben, wobei der eine offiziell zur Abrechnung mit dem Finanzamt, der andere für seinen Privatverdienst vorgesehen war. Sprach- und hilflos stand ich derart unverfrorener Frechheit gegenüber. In dieser Verzweiflung flüchtete ich die Treppen hinauf in die Riemergasse und lenkte meine Schritte heimwärts. Auf der Mariahilfer Straße kam mir im Morgengrauen Uzi nachgelaufen und wollte mich lynchen. Wofür ich gar kein Verständnis aufbrachte. Musiker um ihre wohlverdiente Gage zu bringen wäre ein arges Vergehen, das geahndet werden muss. Wir waren lange miteinander befreundet, so war es mir möglich, ihm die Lage zu erklären, und ich stellte eine Abrechnung für den nächsten Tag in Aussicht. Da die Typen Wollmarker und Feichtinger in der Stadt für ihre Schlitzohrigkeit bekannt waren, kam ich ohne Bestrafung davon. Weniger auf Grund meiner Überredungskunst, eher der Anmerkung, dass ich ein Freund des von ihnen respektierten Max Lersch sei, war es zu verdanken, dass ich am nächsten Tag ein paar Hunderter erhielt. Die brachte ich sofort Uzi, sodass er sich und die Musiker damit bezahlen konnte. Obwohl unschuldig, war dadurch trotzdem meine sonst gute Reputation in der Wiener Jazzszene etwas angeschlagen. Daraus für die folgenden Jahrzehnte eine Lehre ziehend, plante ich keine Veranstaltungen mehr. Um einiges wichtiger waren die Vorbereitungen für die Expedition. Aber zumindest war dieses Konzert eine Fortsetzung der Tradition des Jazz im Rondell. Es war ein Samen für das bekannte Jazzlokal Porgy und Bess, das allerdings erst einige Jahre später dort einzog.
Ende des Strohkoffers und Vorarbeiten für die Afrikaexpedition.
Max Lersch in meine Ambitionen zum Feldforscher einzubinden, stellte sich als höchst positiv für das Unternehmen heraus. Er war auf irgendeine Weise ein Genie. Mit hoher Intelligenz ausgestattet erfasste er innerhalb kurzer Zeit die ihm bis dahin völlig fremde Materie. In erster Linie waren sein sicheres Auftreten, seine Eloquenz und die ihm eigene Kontaktfreudigkeit für das Vorhaben hilfreich.
Mackie war ein mutiger Mann in den besten Jahren, der kaum vor jemanden Angst kannte. Jeden Randalierer brachte er zu Boden, und war er noch so kräftig oder gar bewaffnet. Allein das für ihn zuständige Finanzamt für den ersten und dreiundzwanzigsten Wiener Gemeindebezirk fürchtete er, denn das repräsentierte eine Macht, gegen die keine Muskelkraft half. Einmal bat er mich um Hilfe, ihn und sein Hab und Gut vor den Schergen dieses Amtes, den Gerichtsvollziehern, zu schützen. Am frühen Morgen des Tages, an dem die Beamten des Exekutionsgerichtes angesagt waren, nachdem die letzten Gäste die American Bar und den Strohkoffer verlassen hatten, blieben Max und ich allein zurück. Wir verbarrikadierten alle offiziellen Zugänge von innen und verließen durch den schon vorher erwähnten Geheimgang, der vom Strohkoffer durch den Nachbarkeller in die Freiheit führte, diese Trutzburg. Da es für Mackie geboten war, am nämlichen Vormittag keinesfalls innerhalb der Ringstraße zu erscheinen, blieb er zu Hause, um sich von den Strapazen der letzten Nacht zu erholen. Als treuer Freund bezog ich, der bislang keinem Finanzamt bekannt war, zeitgerecht meinen Beobachtungsposten im Kärntnerdurchgang.
Und tatsächlich, die ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages beleuchteten die Dächer der umliegenden Gebäude, versuchte eine Gruppe ernst blickender Herren mit Aktenmappen in die Lokalitäten einzudringen. Da die Beamten vermutlich aus vorangegengenen Exekutionen um die Unbeugsamkeit des M. R. Lersch wussten, hatten sie einen uniformierten Polizisten mitgebracht. Der Aufsperrdienst tat seine Pflicht. Aber vergebens. Die von uns am Morgen angebrachten Barrieren hielten jedem Druck von außen stand. Gültiges Gesetz sah vor, dass vom Exekutor zwar aufgeschlossen, zum Betreten des Objekts aber keinerlei Gewalt angewendet oder dadurch Schaden entstehen darf. Sichtlich enttäuscht über die Erfolglosigkeit ihres Bemühens, hielten die Versammelten ein kurzes Palaver ab und verschwanden anschließend in verschiedene Richtungen. Der Herr Revierinspektor zog ebenfalls merklich erleichtert ab. Bei den winterlichen Kontrollgängen durch die kalten nächtlichen Straßen durfte er sich jederzeit bei einem „Kaffee“ in der Loosbar aufwärmen. Es wäre ihm bestimmt nicht angenehm gewesen, seine Dankbarkeit für diese Wohltaten durch eine derartige Amtshandlung zu beweisen.
Nachdem ich mich versichert hatte, dass die Luft endgültig rein war, suchte ich die in der Spiegelgasse nahe gelegene Bonbonniere auf, die damals als Tagesbar einen idealen Rahmen für einen Vormittagsaperitif bot. Es war ein mit dunkelrotem Samt und Plüsch ausgestattetes Lokal, das für sich in Anspruch nahm, die älteste Bar Wiens zu sein. Die Herrscherin über dieses traditionsreiche Etablissement war Gaby, deren resolute Mütterlichkeit Mackie bedingungslos respektierte. Mittlerweile hatte er in dem Lokal sein „Büro“ aufgeschlagen, wo er telefonierte, mit Geschäftsleuten plauderte und geschäftliche Beziehungen aufbaute. Von dort rief ich ihn zur Entwarnung an. Lersch nützte von dieser Theke aus erfolgreich seine Verbindungen in der Wiener Lokalszene, um American Bar, Strohkoffer etc. zu verkaufen.
Nachdem kein Job für mich mehr in Lersch’s Lokalen zu erwarten war, musste eine neue Einnahmequelle her. Ich kaufte mir auf Raten ein Motorrad der Marke „Ardie“, mit zweihundert Kubikzentimetern Motorvolumen und Baujahr 1939. Rechts vom Benzintank befand sich die Kulissenschaltung. Das bedeutete, dass man bei jedem Gangwechsel mit der rechten Hand die Lenkstange loslassen musste. Mit zwei hochgezogenen Auspuffrohren vermittelte die Maschine einen echt sportlichen und geländegängigen Eindruck.
Ardie RZ 200-1939
Aufgrund meiner Mobilität erhielt ich bei dem traditionsreichen Bewachungsunternehmen Helwacht mühelos einen Job als Nachtwächter. Mit einer Stechuhr bewaffnet ratterte ich nachts von einem Bewachungsobjekt zum anderen. Tagsüber aber mussten die Akquisitionen für die Expedition durchgezogen werden. So fuhren wir zwei von einer Institution zur nächsten. Hoch am Soziussitz hinter mir Mackie Lersch im grauen Flanellanzug mit blütenweißem Hemd und dezenter Krawatte. In der Hoffnung auf Unterstützung für unser gemeinsames Vorhaben besuchten wir wissenschaftliche Institute und kommerzielle Firmen in Wien und Umgebung. Um meinem biologischen Schlafbedürfnis zu entsprechen, legte ich die Kontrollzeiten der Nachtdienste dahingehend, dass dazwischen ein paar Stunden Schlaf möglich waren.
Dies blieb nicht ohne Folgen, denn die Einbrecher hatten sich längst auf meine Pünktlichkeit verlassen. Ein weiterer Umstand spielte diesen nächtlichen Geschäftemachern zusätzlich in die Hände. Eines Tages verlor das Motorrad einen seiner beiden Schalldämpfer, was den Geräuschpegel auf sportlich-markantes Niveau anhob. So lautstark war der Nachtdienst nicht auszuüben. Da ein Rohr zum Betrieb der Maschine sicher genügen würde, verstopfte ich den übrig gebliebenen Stumpf des invaliden Auspuffs mit einer Handvoll alter Tücher. Diese improvisierte Schalldämpfung, mit Draht festgezurrt, hielt erstaunlich gut, und machte die Ardie so leise wie nie zuvor. Fast geräuschlos fuhr ich an die zu bewachenden Objekte heran, doch dann begannen die Fetzen im falschen Moment zu brennen und Ohren betäubender Krach zerriss die Stille der Nacht. Die glühenden Tücher stoben aus dem halben Auspuff, blieben am Draht der Sicherung hängen und funkensprühend, wie den Feuerschweif einer Rakete hinterherziehend, näherte ich mich auf diesem knallenden Kometen dem jeweils zu inspizierenden Gebäude. Zum Glück war in dieser Zeit die Wiener Polizei zu solch nächtlicher Stunde auf den Straßen nicht sehr präsent. Was mir ungeheuer entgegenkam, da ich einen Führerschein erst Jahre später erhalten sollte. Nach einigen Monaten reibungsloser Zusammenarbeit löste ich das Arbeitsverhältnis mit Helwacht, einerseits wegen chronischer Übermüdung, andererseits um einer potenziell peinlichen Kündigung durch den Arbeitgeber zuvorzukommen.
Es war an der Zeit, einen für Afrika tauglichen Geländewagen zu suchen. Eine wichtige Anschaffung, da wir entgegen meinem ursprünglichen Plan jetzt zu zweit, wenn nicht gar zu dritt unterwegs sein werden. Beim Autohaus Metzger an der Triester Straße fand ich das geeignete, nach Bedarf mit Allrad zu betreibende Gefährt. Die in Wien stationierte britische Armee stieß ihre alten Fahrzeuge billigst ab. Metzger erwarb davon ein Kontingent und zerlegte die Autos zur Gewinnung von Ersatzteilen. Ein beachtenswert gut erhaltener Wagen entkam der Zerstückelung. Es war Liebe auf den ersten Blick und der Preis lag im Rahmen des Budgets. Ein rechts gesteuerter, zwei Tonnen wiegender Humber 4×4 Heavy Utility mit einem Aufbau aus Holz. Er verfügte über einen Motor mit sechs Zylindern, der 85 PS lieferte. Die Lackierung war sandfarben, was mich zu Recht vermuten ließ, dass dieses Auto im Afrikafeldzug gedient hatte. Der Innenausstattung nach zu schließen, als Kommandowagen. Wie vorhin schon erwähnt, war ich nicht im Besitz eines Führerscheines. Deshalb bat ich meinen Freund Johannes Eidlitz, den unehelichen Sohn der berühmten Schauspielerin Alma Seidler, das Expeditionsfahrzeug polizeilich auf seinen Namen anmelden zu lassen. Auf Mackie Lersch anzumelden war nicht möglich, weil dieser von der Finanz verfolgt wurde. Da ein Automobil einen Namen haben muss, tauften wir ihn „Père Ubu“, nach der Hauptfigur in dem skurrilen Theaterstück gleichen Titels von Alfred Jarry, der einen riesigen, durch Wind betriebenen Wagen bauen ließ.
Wir bemühten uns um Anerkennung als Feldforscher. Dabei lernten wir Walter Hirschberg kennen, damals Dozent am Institut für Afrikanistik der Universität Wien, der uns äußerst liebevoll unter seine akademischen Fittiche nahm. Seiner Einladung folgend, wurden wir Gasthörer in einer Reihe von Vorlesungen bei ihm und dem Völkerkundler Prof. Hans G. Mukarovsky. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse waren uns in den nächsten Jahren bei der Arbeit in Afrika recht nützlich. Hirschberg hat uns dem Phonogrammarchiv der Akademie der Wissenschaften näher gebracht. Letztlich war es die Kernkompetenz unseres Unternehmens, Tonaufnahmen in Afrika zu erarbeiten und diese in Österreich für deren wissenschaftliche Auswertungen zur Verfügung zu stellen. Der Linguist Professor Mukarovsky war an Sprachaufnahmen für sein Institut interessiert. Er gab uns Fragebögen zur akustischen Erstellung von Diktionären afrikanischer Sprachen mit. Obwohl Hirschberg am Institut für Völkerkunde lehrte und über Afrika in höchstem Maße genau Bescheid wusste, war er nie vor Ort gewesen. Wir erhielten von der Universität, vom Museum für Völkerkunde und von der Akademie der Wissenschaften jede gewünschte Unterstützung in Form von Beglaubigungsschreiben, aber keine Sachwerte, geschweige denn finanzielle Hilfe.
Als Mackie noch Eigentümer seiner Lokale war, gab es ebenso Gäste, die keine bildenden Künstler waren. Aus diesem Personenkreis fanden wir potentielle Teilnehmer für das Unternehmen Afrika. Da war einmal Walter Eder, er trat gleich nach Kriegsende eine Zeit lang bei den Stephansspielern, einem Wiener Theaterensemble, als Schauspieler und Pantomime auf. Er hatte Afrika schon vor mir bereist, ritt auf einem Pferd von Niamey – der Hauptstadt von Niger – durch den Busch des Sahel durch das Wildreservat von Arli bis Ouagadougou, dem Regierungssitz von Obervolta, später Burkina Faso. Das sind weit über eintausend Kilometer allein zu Pferd, quer durch die Steppe. Dort verdingte er sich zeitweise als Jagdführer. Dank seiner stattlichen Größe von einem Meter neunzig und um zehn Jahre älter als Mackie Lersch, strahlte er Ruhe und Besonnenheit aus, außerdem sprach er leidlich Französisch und Englisch. Das war ein brauchbarer Mann! Bedächtig hörte er sich unser Programm an und sagte ohne Umschweife zu. Er war es, der den Fokus des ersten gemeinsamen Unternehmens auf Westafrika richtete, wo er sich auskannte. Dann gesellte sich, mehr durch Zufall, ein Belgier namens Jean-Pierre Veyhs zu uns, von dem wir nicht so recht wussten, womit er beruflich beschäftigt war. Wir erfuhren von ihm nur, dass er mit einigen Wiener Bekannten heimlich in der alten Donau mit der Harpune fischte. Dort suchte er einen sagenumwobenen Wels von zwei Metern Länge zu erlegen, den man angeblich in diesem stillgelegten Flussarm gesichtet hatte. Seine deutschen Sprachkenntnisse waren weitgehend artikelfrei, französisch hingegen verstand er perfekt. Wobei es unklar war, ob Franzosen ihn verstehen könnten, denn er stammte aus Brüssel. Mit fünfzig Lebensjahren war er unser Ältester. Sein graues gekräuseltes Haar, die hellblauen Augen und der französische Akzent ließen ihn der Damenwelt überaus attraktiv erscheinen. Forderungen aus Alimenten verfolgten ihn überall hin. Aber was soll’s, er brachte etwas Bargeld in das Unternehmen ein, das konnte uns nur recht sein. Hans Kopezky, ein gelernter Fotograf, sprach Mackie in der Bonbonniere wegen Afrika an und meldete sich als einziger echter Professionist und Mitstreiter an.
So war in der Zwischenzeit das Unternehmen auf fünf Personen angewachsen und wir benötigten ein zweites Fahrzeug. Erfolgsgewohnt kontaktierten wir die Vertretungen von Mercedes, Steyr-Puch, MAN, Saurer und Volkswagen. Die meisten Firmen sagten sofort oder mit etwas Verzögerung ab, Steyr vertröstete uns von Woche zu Woche. Die Nerven waren gespannt, denn unser geplanter Abfahrtstermin rückte immer näher. Wegen der sommerlichen Hitze in der Sahara und der zu erwartenden Regenzeit weiter südlich, war dieser Termin unbedingt einzuhalten. Wir hatten nahezu alles beisammen, was für diese Expedition gebraucht wurde. Grundvoraussetzung für unsere Arbeit waren die technischen Geräte. Mein Ziel war es, qualitativ hochwertige Tonaufnahmen herzustellen. Dafür stellte uns Telefunken ein tragbares „Magnetophon Kl 25“ zur Verfügung, das aber von einer Stromversorgung mit 220 Volt Wechselstrom mit einer Frequenz von 5o Hertz abhängig war. Für die an Technik interessierten Leser sei hier ein Link angegeben:
Dazu gab es ein dynamisches Mikrofon vom Typ D12, das mir die österreichische Firma AKG lieh. Eine Wiener Elektrofirma baute für uns einen etwa 20 kg schweren Einankerumformer, der aus den 12 Volt Gleichstrom der Autobatterie 220V Wechselstrom erzeugte.
Zur Ausrüstung zählten großzügige Vorräte an Lebensmittelkonserven von Inzersdorfer und darüber hinaus für mehrere Monate ausreichend gezuckerte Kondensmilch. Einige Kisten Rossbacher Magenbitter, Ovomaltine und diverse nahrungsergänzende Mittel besserten die Verpflegung auf. Kochgeschirre, Zelte, jeweils ein Jagd- und ein Schrotgewehr und zwei Pistolen, alles inclusive dazu passender Munition, sowie eine Schreibmaschine waren im Gepäck. Drüber hinaus gab es khakifarbene, nach Maß angefertigte, einheitliche Overalls für alle fünf Teilnehmer der Expedition. Besonders wichtig für uns war der Inhalt einer Reiseapotheke mit genügend Familienpackungen Resochin gegen die in Afrika grassierende Malaria, dazu schmerzstillende Mittel und Seren zur Behandlung aller nur möglichen Schlangenbisse. Dann war da ein dicker Ordner mit Befürwortungsschreiben von etlichen wissenschaftlichen Institutionen, denen wir Forschungserfolge und Originalgegenstände aus Afrika versprochen hatten. Diese unterstützenden Dokumente waren relativ leicht zu beschaffen, weil sie nichts kosteten, der jeweilige Verfasser aber bei relevanten Ergebnissen der Expedition Schulterklopfen und Anerkennung für seine Weitsicht einheimsen würde. Diese amtlichen Schreiben waren vor allem bei der Beschaffung der Visa und bei Zollformalitäten hilfreich, vorwiegend für die Aus- und Einfuhr der Waffen.
Die allgemeine Aufbruchsstimmung im Zuge des beginnenden Wirtschaftswunders erleichterte die aufwendige Beschaffung der Ausrüstung. Da die Studenten diverser Fakultäten zu dieser Zeit vorrangig auf ihre materielle Zukunft bedacht waren und sie deshalb nichts in die Fremde zog, hatten unsere anfänglich recht autodidakten Bemühungen Erfolg. Es gab einige Ausnahmen, die sich bald nach den Kriegsjahren aktiv in der Feldforschung betätigten, wie Hugo Bernatzik, Herbert Tichy, Max Reisch, Lotte und Hans Hass und Ludwig Zöhrer.
Mit einem gewissen patriotischen Stolz klopften wir bei Steyr-Puch um deren Unterstützung an. Da es von dort bis drei Wochen vor dem geplanten Abfahrtstermin keine Zusage gab, schwärmten wir aus, um von irgendeiner Autovertretung ein geeignetes zweites Fahrzeug zu erhalten. Wir boten dagegen internationale Werbung für die Marke. Stundenlange Gespräche mit den jeweils verantwortlichen Herren, denen wir mittels unserer amtlichen Unterlagen die große Bedeutung dieses Unternehmens für die Wissenschaft darlegten, brachten keinen Erfolg. Selbst der Stolz und die allgemeine Freude über den kürzlich unterzeichneten Staatsvertrag wirkte dabei keineswegs unterstützend. Die Wohnung meiner Eltern war mit Expeditionsmaterial, Kisten und Geräten zugepflastert und kaum mehr begehbar. Es wurde Spätherbst. Die Zuversicht, jemals nach Afrika zu kommen, wurde mit jedem erfolglosen Tag weniger.
Doch dann geschah das Unerwartete.Schon am Heimweg nach Besuchen bei zahlreichen Autovertretungen, müde und enttäuscht von den Absagen, betraten Walter und ich eher zufällig und ohne mit Erfolg zu rechnen, das Ausstellungslokal der DDR-Autofirma IFA an vornehmer Adresse, am Schubertring Nr 2. Wir stellten uns dem elegant gekleideten Herrn hinter seinem Schreibtisch vor und breiteten sorgfältig die gesamten Unterlagen vor ihm aus, damit die lauteren Absichten der Afrikareisenden beweisend. Dabei wurde routinemäßig der ambitionierte Text des Anliegens abgespult. Der gelangweilt wirkende Mann zeigte an den mühsam erworbenen Befürwortungsschreiben fast beleidigendes Desinteresse. Unvermittelt erhob er sich wortlos zu seiner vollen Größe, welche die von Walter übertraf. Enttäuscht klaubten wir die in durchsichtigen Plastikhüllen steckenden Unterlagen zusammen. Schon wollten wir das Lokal verlassen, als er uns bedeutete, ihm zu folgen. Im Hinterhof zeigte er uns eine Reihe gebrauchter Fahrzeuge der Marke IFA-F9 und Trabant. Welchen davon wir haben wollen? Wir entschieden uns für einen zweifarbigen Kombi in Beige und Braun. „Gut“, sprach der Herr, er wird ihn morgen anmelden und gegen Abend wäre der Wagen abholbereit.
Völlig ungläubig verließen wir nach kaum einer Viertelstunde das Geschäft, verschreckt und voller Zweifel, ob der Deal wirklich Bestand hätte. Jeder von uns war auf dem Weg zur Kärntnerstraße in seine eigenen Gedanken und Bedenken versunken, keiner wagte es, diese laut werden zu lassen. Das Auto hatte einen Zweitaktmotor mit nur 28 PS, drei Zylinder und Vorderradantrieb. Höchstgeschwindigkeit 90 km/h und war überdies politisch aus dem Osten! Ob das funktionieren wird? Geglaubt haben wir unser Glück erst, als Walter Eder am nächsten Tag mit dem blitzsauber gewaschenen Wagen mit Wiener Kennzeichen knatternd bei der Bonbonniere in der Spiegelgasse vorfuhr. Dank Gabys Großzügigkeit leisteten wir bei einigen Whiskys so etwas Ähnliches wie einen Rütlischwur. Walter hat bei der Übernahme des Autos einen Vertrag unterschrieben, der dem VEB Sachsenring in Afrika herzustellendes Werbematerial versprach. Wir werden ihm, dem Vertreter der ostdeutschen Fahrzeugfabrik viele, viele Fotos, einen 8mm-Film, Fahrtenberichte und das Auto zurückbringen, selbst wenn wir es tragen müssten. Solch blindes Vertrauen darf nicht enttäuscht werden!
Mit neugewonnenem, frischem Mut machten wir uns an die abschließenden Arbeiten. Da jede Expedition einen Leiter braucht, erwählten wir dazu einstimmig den charismatischsten unter uns, Max (Makie) Lersch. Die Autos erhielten eine saubere Beschriftung, „Österreichische Westafrikaexpedition 1955-56“ prangte an den Autotüren des Humber und des IFA. Nicht ohne Stolz fuhren wir mit unseren Gefährten durch Wien, sammelten ausstehendes Expeditionsmaterial für die große Reise ein, und ließen uns im Tropeninstitut gegen alle möglichen zu erwartenden Krankheiten impfen.
Ein allerletzter Heurigenabend wurde mir fast zum Verhängnis. Spät abends fuhren wir im Konvoi, einige Autos vollgepackt mit fröhlichen Menschen, die Nußdorfer Straße stadteinwärts. Ich, am Steuer des Père Ubu mit Mackie links von mir am Beifahrersitz, bildeten die Vorhut. Da winkte uns ein ernst blickender Polizist an den Straßenrand. Bekannterweise hatte ich damals keinen Führerschein, dementsprechend groß war mein Schreck. Das Ausmaß von Alkoholisierung wurde zu jener Zeit durch geschulte Polizeibeamte nach Atemluft, Körperhaltung und Gleichgewicht des Autofahrers geschätzt, was mir die geringste Sorge bedeutete, denn die geltende Obergrenze von 1,5 Promille hatte ich sicher nicht erreicht. Ich hielt den Wagen in respektvoller Entfernung zur Polizei an, Mackie und ich sprangen gleichzeitig aus dem Humber und schritten höflich dem Inspektor entgegen. Der nette Polizist wandte sich direkt an den links aus dem Auto ausgestiegenen Lersch und verlangte von ihm, dem vermeintlichen Fahrer, Führer- und Zulassungsschein. Mackie war im Krieg bei den Panzergrenadieren gewesen, was ihm automatisch einen Führerschein für Kraftfahrzeuge bis 3,5 Tonnen Gesamtgewicht einbrachte. Er verfügte aber über keinerlei Fahrpraxis. Dass wir ein Auto aus britischer Erzeugung fuhren und deshalb rechts gelenkt war, wurde vom Auge des Gesetzes zu meinem Glück nicht in Betracht gezogen.
Einige Tage später, es war der 20. Dezember 1955, feierten wir bei und mit Freunden mittels ausreichend Sekt und Champagner Abschied. Tränenreich verabschiedeten sich unsere Angehörigen, Frauen oder Freundinnen von ihren Helden. Die Etikette des Wiener Nachtlebens gebot uns das Abschiednehmen in der Bonbonniere von Gaby, und im Rondell von Feichtinger. Dadurch wurde es Mitternacht, ehe Max, Jean-Pierre und ich im schwer überladenen Humber zu dem großen Abenteuer aufbrachen. Walter und Hans, die den IFA belegten, sollten einen Tag später nachkommen, sie hatten noch Amtswege zu erledigen. Als Treffpunkt haben wir Marseille festgelegt, von wo die Überfahrt nach Algier stattfinden wird.
Die aufgehende Sonne schickt rotgoldene Strahlen durch die Fenster meines Zimmers in der Auberge de Soleil. Vor sechs Wochen und einigen Tagen hatte ich voll Vorfreude und Zuversicht Wien verlassen. Doch heute erwache ich mit Hoffnungslosigkeit und Zweifel, ungewöhnlich für mein sonst recht positiv eingestelltes Gemüt. Ich zögere aus dem Bett zu steigen. Gedanken an die erdrückende Anzahl der weiterhin zu beschreibenden Jahrzehnte dieses Lebens bedrängen mich und türmen sich wie unüberwindliche Gebirge vor mir auf. Ungeordnetes Geschehen, Abenteuer und Erfahrungen von vielen Jahren tauchen aus vernebelter Vergangenheit auf, werden deutlicher und drängen sich vor und verlangen von mir als wichtigste Ereignisse wahrgenommen zu werden. Wie in einem klebrigen Spinnennetz verfange ich mich in dem Berg der Erinnerungen. Das Chaos der Eindrücke aus zahlreichen bereisten Ländern, Namen, Expeditionen, Filmproduktionen, verlassenen Geliebten und Neuanfängen, sowie von glückhaften Anerkennungen, schmerzlichen Misserfolgen und Enttäuschungen, versuche ich mit Gewalt im Kopf zu ordnen. Die dadurch entstehende Verwirrung führt zu totaler Lähmung. Das giftige Ungetüm des Scheiterns in greifbarer Nähe fühlend, bin ich bereit aufzugeben.
Der stets konkreter werdende Entschluss, dieses Experiment zur schriftlichen Vergangenheitsbewältigung endgültig abzubrechen, steht jetzt fest. Gründlich überlegt, bilde ich mir ein. Um diese Entscheidung den liebenswerten Wirtsleuten mitzuteilen, steige ich nach kurzer Morgentoilette hinunter in den Gastraum. Michelle hat, es war die gewohnte Zeit, mein Kommen erahnt und das Frühstück vorbereitet. François ordnet Gläser in den hohen Geschirrschrank ein und wünscht mir über die Schulter hinweg freundlich einen guten Morgen. Die übliche Antwort darauf scheint nicht der erwarteten gewohnten Norm auszufallen, denn er dreht sich um und sieht mich erstaunt an. Seine Frage nach meinem Befinden wische ich mit einer Handbewegung weg. Er schließt die Schranktüren sorgfältig und kommt auf den Tisch zu, an dem ich das Frühstück erwarte. Die Hemmungen, ihn von der bevorstehenden Abreise zu informieren, werden immer stärker. Vermutlich haben sich in der Zeit des Aufenthaltes unauffällig eine Art Freundschaft und Vertrauen zwischen uns aufgebaut. Der Mann ist kaum zwei Jahre älter, hat gewiss weniger von der Welt gesehen, aber die aus seinem Leben gewonnenen Erfahrungen sicher besser verarbeitet.
Trotzdem teile ich ihm meine unumstößliche Entscheidung mit, den Ort hier verlassen und unverrichteter Dinge heimzukehren. Spontan meint er, dass diese Idee Scheiße sei. Ja, genau so sagt er es. Doch in französischer Sprache klingt das anders, denn „merde“ lässt da wesentlich mehr Deutungen zu, als übelriechende Exkremente. Seine Reaktion ist verständlich, weil es ist mir zur Gewohnheit geworden, den Wirtsleuten regelmäßig über die Themen zu berichten, die ich im Moment bearbeite. Dennoch bleibe ich bei meiner Absicht. Kopfschüttelnd steht er auf und schlurft in die Küche. Nach einigen Minuten bringt er den Frühstückstee und setzt sich zu mir an den Tisch. Ich esse und trinke schweigend. Er sitzt locker im Stuhl zurückgelehnt und sagt ebenso nichts. Über längere Zeit. Seine Frage, ob ich immer so schnell aufgäbe, unterbricht die Stille. Bingo! Peinlich berührt antworte ich nicht sofort. Also nein, aber eher oft. Gründe für solch vorzeitige Kapitulationen gibt es ausreichend. Zum Beispiel Situationen falsch einzuschätzen, Richtiges zu spät zu erkennen, oder in Entwicklung befindliche visionäre Vorhaben vor deren endgültiger Reife aus Ungeduld abzubrechen. Ebenso verführt mangelndes Selbstvertrauen dazu, gut gemeinte Ratschläge zu befolgen, die zum Verlassen des eigenen Weges verleiten und damit die selbst gesteckten Ziele zu verfehlen. Das sind Umstände, die in der Vergangenheit oft anhaltende Selbstvorwürfe, sowie finanziellen Schaden brachten. Andererseits, beruhige ich mein Gewissen, gab es genauso objektiv zum Scheitern verurteilte Unternehmungen, die von mir gerettet wurden..
Nicht abweichend von dem festen Vorsatz, das Schreiben abzubrechen und heimzufahren, berichte ich von einigen Erfahrungen mit Niederlagen. Er ist ein angenehmer Zuhörer. Eine Erzählpause im Lauf meiner Klagen nützend, erzählt er von seinen eigenen Fehlschlägen und Triumphen. Wie von Engelshand geleitet erscheint Michelle mit einer Flasche gekühltem algerischen Chardonnay und zwei Gläsern, die sie lächelnd vor uns auf den Tisch stellt. Indem sie einschenkt, fragt sie, ob ich zu Mittag bei einem Stück Gazellenbraten dabei wäre. Eine derartige Einladung kann man unmöglich ablehnen!!
Meine Hoffnung auf Themenwechsel nach dieser Unterbrechung erfüllt sich nicht. Er lässt nicht locker. François verlangt eine Erklärung, woraus dieser plötzliche Sinneswandel entstanden ist. Ich will ihm nicht die ganze Wahrheit mitteilen und erzähle irgendeinen Schwachsinn. Die Gläser werden frisch gefüllt, und wir wünschen einander Gesundheit. Während er mit theatralischer Gebärde sein Weinglas auf den Tisch zurückstellt, meint er apodiktisch, ich dürfe keinesfalls zu schreiben aufhören. Hinterhältig fügt er hinzu, diese Rückblicke seien der beste Weg zur Selbsterkenntnis und jetzt zu kneifen kann bedeuten, dass sich mir nie mehr eine solche Chance böte. Wieder zwei Treffer. Je länger wir so offen miteinander reden, desto schwächer wird mein Widerstand. Mittlerweile sehen wir davon ab, ausschließlich über uns zu sprechen. Der Targi Akamouk wird zum Thema. Er fehlt hier und wir stellen fest, dass dieser wüstenerfahrene Mann für unser Verständnis des Lebens in der Sahara eine bedeutende Hilfe ist.
Michelle deckt am Nebentisch für das Mittagessen, aus der Küche strömen betörende Gerüche in den Gästeraum. Ob die Herren bereit wären? Aber sicher, denn gebratene Gazelle ist ein willkommener Grund für die Unterbrechung. Diese hochintelligente Nordafrikanerin scheint meinen Entschluss doch zu bleiben am Stimmungswechsel erkannt zu haben und prophezeit eine weitere Mahlzeit aus der von der Jagd heimgebrachten Gazelle für die folgenden Tage. Die Sonne steht im Zenit und brennt auf das Dach des Hauses. In der Gaststube wird es ordentlich heiß. François wirft deshalb die Deckenventilatoren an, die mit ihren langen Flügeln grade ausreichend Luft bewegen, um die schweißnasse Haut durch Verdunstung zu kühlen. Es ist mir bewusst, dass er das ausschließlich für mein Wohlbefinden macht. Ok, ich bleibe ja hier! Es wundert mich, woher Michelle die Mangos gezaubert hat, die sie zur Nachspeise kredenzt. Nach diesem fulminanten Essen ziehen sich alle zu wohlverdienter Siesta zurück. Ich finde keine Ruhe, denn meine Gedanken sind schon beim nächsten Kapitel der „Zeitgeister“:
Père Ubu („Übü“ gesprochen) Humber 4×4 Heavy Utility
Die erste Etappe der Expedition nach Westafrika führte uns auf der Bundesstraße 1 (in Österreich gab es zu dieser Zeit noch keine Autobahnen) von Wien in Richtung Westen. Die Reiseroute war über Salzburg – München – Straßburg bis Marseille geplant. Mehr als zweitausend Kilometer lagen vor uns. Von dort wollten wir die Fähre nach Algier nehmen, so wie ich es bei meiner ersten Afrikareise ausgekundschaftet und durchgezogen hatte. Die Plätze und das fixe Datum für die Überfahrt waren vorsorglich in Wien gebucht worden. Man wollte ja nichts dem Zufall überlassen. Der bewegte Abschied von den Herren Wollmarker und Feichtinger, Besitzer und Pächter des „Rondell“, gestaltete sich nicht nur bewegend, sondern auch lukrativ, sechs Flaschen Cognac fanden ihren Weg in unser Reiseproviant. Mit einem Hauch von Abenteuerlust und dem Bewusstsein für die ernsten Aufgaben, die vor uns lagen, kletterten wir frohgemut in das Expeditionsfahrzeug, einen Humber, den wir liebevoll „Père Ubu“ nannten. In Amstetten war der Benzintank fast leer und es wurde das erste Mal getankt. Wir schrieben von dort an unseren Kassenwart Walter eine Postkarte mit der erfreulichen Botschaft, dass der Humber nur 19,5 Liter Benzin auf hundert Kilometer braucht. Für seine sechs Zylinder unter der Motorhaube sowie der deutlichen Überladung, kein so schlechtes Ergebnis.
Kurz vor Salzburg hielt uns ein querstehender LKW auf schneeglatter Straße auf. Eingedenk unseres Termins in Marseille verlangte ich Père Ubu die erste Probe seiner Geländefähigkeit ab. Trotz der unüberhörbaren Proteste der anwesenden Gendarmeriebeamten verließen wir die Straße und umfuhren die Unfallstelle über den holperigen, tief verschneiten angrenzenden Acker. Der Allradantrieb pflügte zuverlässig durch den meterhohen Schnee, und wir waren heilfroh über die britische Ingenieurskunst. Ohne Schwierigkeiten passierten wir frech die Zollstationen am Walserberg nach Deutschland.
Wie wegen seiner sandfarbenen Lackierung zutreffend angenommen, war unser Humber ein tropentaugliches Geländefahrzeug aus britischen Armeebeständen. Er hatte weder eine wirksame Heizung, noch eine geeignete Belüftung der Windschutzscheiben von innen. Père Ubu zeigte sich in der winterlichen Kälte wenig kompromissbereit. Durch unseren Atem liefen die Scheiben dauernd an und vereisten. Um die Straße vor uns zu erkennen, waren wir über eine Strecke von etwa zwanzig Kilometern gezwungen, mit hochgeklappten Frontscheiben zu fahren. Die Gesichtsfarbe der drei Insassen schwankte zwischen dunkelrot und violett. Die erste der liebevoll gespendeten Flaschen Cognac half uns nicht nur, diese eisige Zumutung zu überstehen, sondern darüber hinaus deren unverzichtbaren Platz in unserem Überlebenskit.
Nach längerer Nachtfahrt gönnten wir uns eine Stunde Aufenthalt in München. Ein schnelles Frühstück, und wir verließen um neun Uhr die Stadt, nicht bevor Jean-Pierre Brüssel dreimal telefonisch zu erreichen suchte. Kurz vor Leipheim überholte uns mehrmals ein Mercedes 170 D und blieb dann wieder hinter uns. Es hatte den Anschein, dass er mit uns reden will. Der Fahrer dieses Fahrzeugs brachte es fertig, den Expeditionswagen auf einem Parkplatz der Autobahn zum Halten zu bringen. Ein heftig gestikulierendes Männchen mit Pelzmütze, die dem Aussehen nach aus Sibirien stammte. Er versuchte uns davon zu überzeugen, dass so ein Unternehmen erst durch seine Teilnahme an Wert gewinnen würde. Vermutlich hat er bei dem Aufenthalt in München die nicht zu übersehende Beschriftung unseres Wagens gelesen. Das Repertoire des Herrn Nikolaus Muttar (Moutarde) Helmhausen war reichhaltig. Die drei Expeditionsteilnehmer bekamen neben einer mit großer Geste überreichten Flasche Tokajer eine richtige Kabarettvorstellung zu sehen, in der er die Vorzüge seiner Person darstellte. Das Rezept, wie man aus einem zehn Karat schweren Diamanten einen mit fünfzehn macht, war ihm leider nicht zu entreißen. Bewegt nahmen wir Abschied. Die anschließenden Lachkrämpfe verursachten etwas Unordnung im Wagen, sodass wir bei der Raststation Leipheim einen Stopp einlegten.
Père Ubu parkte im Lichte der Tanksäulen. Ein anderes Auto mit Wiener Kennzeichen hielt zum Tanken gleich daneben. Unvermittelt verschwand unser Jean-Pierre in die Dunkelheit. Er machte die wichtige Erfahrung, dass Toiletten günstige Verstecke vor urplötzlich und unvermutet in Deutschland auftauchenden Gläubigern bilden. In Ulm wärmten wir uns mit heißer Suppe und frisch gekauftem Brot, indes Jean-Pierre erneut versuchte, Brüssel telefonisch zu erreichen, um In Ulm wärmten wir uns mit heißer Suppe und frisch gekauftem Brot, während Jean-Pierre erneut versuchte Brüssel telefonisch zu erreichen, um mit seiner Frau zu telefonieren. Auf der Weiterfahrt erzählte Mackie, dass Feichtinger von ihm verlangt habe, mich in Wien zurückzulassen, damit ich weiter Jazzkonzerte im Rondell organisiere. Eine wenig subtile Strategie, denn dieser Mann hatte durch meine Veranstaltung recht anständig Geld verdient, aber offenbar vergessen, dass er mich bei den Eintrittskarten heftig betrogen hatte.
Kurz vor Rottenmann meldete sich Père Ubu mit Verdauungsproblemen, seine Benzinleitung war verstopft.Mit einer ordentlichen Portion Luftdruck befreiten wir seinen „Darm“ und setzten unsere Reise fort. Spät am Abend passierten wir bei Kehl die Grenze nach Frankreich. Dank einer Mappe voller Unterstützungsschreiben verlief der Zoll erstaunlich reibungslos.. Selbst die mitgeführten Jagdwaffen sorgten für keine schweißtreibenden Diskussionen. Trotz gebotener Sparsamkeit beschlossen wir in Straßburg, Hotelbetten statt der Autopolsterung unsere durchfrorenen Knochen anzuvertrauen. Jean-Pierre versuchte wiederholt, mit Brüssel zu telefonieren. Er schlief mit Max im Ehebett, ich ungestört am Boden zu ihren Füßen auf meiner Luftmatratze.
Hustend und niesend erhoben wir uns am nächsten Morgen. Jean-Pierre unternahm erneut heldenhafte Versuche, seine Ehe via Hotelleitung zu retten. Kurz vor Colmar genossen wir unser erstes gemeinsames Campingessen auf der heruntergeklappten Autorückwand. Gulasch- und Reisfleischkonserven aus Inzersdorf wurden ohne Rücksichtnahme auf etwaige Geschmacksirritationen vermischt und mit Appetit verspeist. In Besançon genehmigten wir uns den ersten Drink auf französischem Boden, dieweil Jean-Pierre, der arme Kerl, nochmals seine Frau zu erreichen suchte. Stunden später in Dijon, warteten wir vor dem Postamt erneut geduldig, bis der Belgier weitere erfolglose Anstrengungen, mit Brüssel zu kommunizieren getätigt hatte. In dem ihm eigenen unnachahmlichen Kauderwelsch aus belgischem Französisch und wienerischem Deutsch, vermeinte er „im Pischerle“ zu spüren, dass dies der letzte Versuch gewesen sei, die Scheidung zu vermeiden. Mitfühlend nahmen wir jeder einen kräftigen Schluck aus der nächsten Cognacflasche und fuhren bei stürmischen Regen bis etwa zweihundert Kilometer vor Marseille. Das Unwetter war so heftig, dass wir beschlossen, dessen Besserung im schützenden Auto abzuwarten und schliefen bis Tagesanbruch.
In zügiger Fahrt erreichten wir endlich diese faszinierende Hafenstadt. Wir begaben uns auf Hotelsuche. Direkt am Hafen, im „Terminus des Portes“ fanden wir ein preisich günstiges Zimmer im fünften Stock, zwangsläufig ohne Aufzug. Da für die Überführung nach Algerien aus Gewichtsgründen das Auto vollkommen leer zu sein hatte, hob sich der Vorteil des geringen Mietpreises mit dem zweimaligen Transport des gesamten Equipments die Treppen hinauf und am nächsten Tag hinunter wieder auf. Max und Jean-Pierre mussten dringend zum Zollamt, sowie zu diversen anderen Behörden und zur Schiffsagentur. Sie sahen sich durch ihr grundlegendes Beherrschen der französischen Sprache dazu legitimiert, damit das sportliche Treppensteigen dem Benjamin der Gruppe überlassend. Im Laufe meiner Arbeit, den Wagen zu entladen und mehrmals mit schwerem Gepäck die Stiegen zu erklimmen, reifte in mir die Erkenntnis, dass das Erlernen von Fremdsprachen Muskelkater vermeiden hilft.
Beim Besuch im Zollbüro lernten Max und Jean-Pierre einen Monsieur Maissu kennen und, da es just Mittagszeit war, luden sie ihn zu einem opulenten Dienstessen ein. Mit Erfolg. Hinterher lief alles reibungslos, bis auf die Einfuhr der Waffen. Herr Maissu, seines Zeichens Zollinspektor, beseitigte souverän diese Hürde mit einer Unterschrift auf einem Formular. Père Ubu wurde für die Überfahrt präpariert, der Tank fast komplett geleert und das Gewicht auf 2.400 Kilo reduziert, das waren 100 Kilo unter der für die Überfuhr erlaubten Höchstgrenze von 2.500 Kilo. So wurde er am Hafen abgegeben. Die umfangreiche Expeditionsausrüstung wurde kreativ als „Diplomatengut“ deklariert und so ebenfalls an Bord gebracht. Nach diesem turbulenten Tag schliefen wir tief den Schlaf der Gerechten. Sollte uns die Sache mit den 700 Kilo unbezahltem Übergepäck ein schlechtes Gewissen bereiten? Nicht wirklich. Schließlich diente alles einem höheren Zweck, unserer Expedition.
Es war der vierundzwanzigsten Dezember und der Tag begann zeitig morgens mit Packen. Wieder ergaben die Gewehre am Zoll, diesmal bei der Ausfuhr, Schwierigkeiten. Doch der allgegenwärtige Monsieur Maissu, unser Retter in allen Zollfragen, wischte dieses Problem mit einer Handbewegung vom Tisch. Das Gepäck wurde in der vierten Klasse der „Ville de Alger“ verstaut. Nach längeren Verhandlungen sah sich der verwunderte Mackie dazu gezwungen, statt einen, zwei dunkelhäutige Gepäckträger zu bezahlen. Ich hielt mich aus dem Streit weitgehend heraus und versuchte, einen möglichst unbeteiligten Eindruck zu vermitteln, waren doch meine Kenntnisse der französischen Sprache nur marginal. Dennoch beeindruckte mich die arabische Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft zutiefst. Denn direkt aufgedrängt hatten sich die freundlichen Burschen, um die umfangreiche Ausrüstung für mich schleppen zu dürfen!
Bevor die Fähre bei bedecktem Himmel pünktlich um 12 Uhr Mittag vom Peer ablegte, tranken wir mit Monsieur Maissu einen letzten, ausführlichen Aperitif im Café du Port. An Bord schlug ein Steward vor, uns für FFr (französische Franc) 2.000,– in die Touristenklasse zu schmuggeln. Nur zu gerne verließen wir das lichtlose, übelriechende Unterdeck über die Durchreiche des Buffets. Sie war der einzig mögliche Fluchtweg, denn Passagieren der vierten Klasse war es verboten, das unterste Deck auf normalem Weg zu verlassen. Es herrschte am Schiff zwischen den jeweiligen Decks strenge Apartheid. Schwitzend aber dankbar schleppten wir Teile des umfangreichen Hab und Guts in eine komfortable Kabine mit Bullauge und vier Betten. Allerdings fielen wir beim anschließenden Mittagsessen mit fünf Gängen durch unsere auf die vierte Klasse abgestimmte Kleidung auf. Dem Herrn Expeditionsleiter wurde bei der Hauptspeise des fünfgängigen Menüs schlecht, da ihn der Gedanke überfiel, die Summe vom FFr 2.000,– könnte womöglich nicht für alle gemeinsam zu bezahlen sein. Die später stattfindende Verrechnung mit dem Stewart bestätigte seinen Verdacht. 6.000,00 FFr wechselten zum Matrosen. Die Frage, wie wir diese Ausgabe unserem streng budgetierten Kassenwart Walter Eder erklären sollten, blieb vorerst ungelöst.
Nach einem kurzen Spaziergang am Deck, die Luft hatte im Verhältnis zu Mitteleuropa recht angenehme mediterrane Temperaturen aufzuweisen, wurde bis zur Dämmerung geschlafen. Gestärkt erschienen drei sauber geduschte und gekleidete Expeditionsteilnehmer zum Dinner im Speisesaal. Wir waren uns der Verantwortung unserem Heimatland gegenüber bewusst und fühlten uns als einzige Österreicher hier am Schiff dazu verpflichtet, korrekt aufzutreten. Dem gerecht werdend leerten sich die diskret aufgestellten Weinflaschen mit der Geschwindigkeit, die den an den Flaschenhälsen angeschriebenen zollfreien Preisen entsprach. Jean-Pierre, in düsterer Stimmung über die ihm sicher erscheinende Trennung von seiner Gattin, organisierte und bezahlte einen Rundgang durch sämtliche Bars des Schiffes. Er allein besaß Privatvermögen. Wir nannten ihn ab da zärtlich und zeitsparend ausschließlich „Schani“.
Die Schiffsleitung lud zu einer Filmvorführung im Speisesaal, aber Mackie kam erst eine Viertelstunde nach Beginn an. Es konnte nach der Vorstellung nicht gänzlich geklärt werden, ob sein schwankender Gang im Korridor dem Seegang, oder inzwischen eingenommenem Hochprozentigem zugeschrieben werden sollte. Nebenbei verschwand auf mysteriöse Weise eine weitere unserer Cognacflaschen, die man uns in Wien geschenkt hatte. Es war der Heilige Abend und ich zog mich in den am Deck vertäuten Père Ubu zurück. Das Mittelmeer um das Schiff herum in der Dunkelheit erahnend, hörte ich über Kurzwelle deutschsprachige Weihnachtslieder. Bald fand man mich dort, und der Weihnachtsabend wurde in gemeinsamem Einverständnis mit der übriggebliebenen Flasche Cognac bis in die Morgenstunden würdig beendet. Zu diesem letzten Schluck haben wir zwei aus San Francisco zurückgekehrte Algerier eingeladen. Sie waren sieben Jahre von zu Hause abwesend gewesen und voll Vertrauen, am Morgen von ihren Bräuten vom Schiff abgeholt zu werden. Ihre Erwartungen waren euphorisch, unsere eher skeptisch.
Es folgten ein paar Stunden tiefen Schlafs auf wahrscheinlich ruhiger See. Am Morgen weckte uns die Stille der abgeschalteten Schiffsmotoren. Durch das Bullauge erblickten wir das strahlend weiße Algier im Sonnenlicht. Ich empfand so etwas wie Glück darüber, diese Stadt wiedersehen und afrikanischen Boden nochmals betreten zu dürfen. Sie hat mir bei meinem letzten Aufenthalt so viel Ungewöhnliches geboten, ich wünschte mir, es wird diesmal so ähnlich sein. Das Ausladen und die Zollabfertigung wurden reibungslos erledigt, nur die Gewehre mussten wir abgegeben. Mit einer provisorischen Waffenerlaubnis der Präfektur könnten sie hier wieder abgeholt werden. Mackie hat die afrikanischen Verhältnisse schnell durchschaut und zahlte dem Gepäckträger statt der verlangten FF 2.000,– die Hälfte, wofür er unfreundliche Blicke erntete.
Im frisch beladenen Humber fuhren wir durch die Rue Sadi Carnot zur Auberge de Jeunesse, wo ich bei meinem letzten Aufenthalt bereits als Gast war. Die Mère de l’auberge, die Herbergsmutter, begrüßte mich und meine Freunde herzlich. Die grau melierten Haare unseres Jean-Pierre erstaunten sie unverhohlen. Im Alter von fünfzig Jahren darf man die schon haben, aber in keine Jugendherberge einziehen. Doch zwei Umstände ließen sie diese Tatsache übersehen, sie mochte mich aus nicht erfindlichen Gründen von meinem letzten Aufenthalt, und wurde darüber hinaus vom umwerfenden männlichen Charme und den strahlend hellblauen Augen des Belgiers gefangen. Gemeinsam entluden wir den Wagen. Anschließend fielen die Mitglieder der Expedition auf die ihnen zugewiesenen Stockbetten und kurierten schlafend ihren Kater aus.
Am Nachmittag wurde Père Ubu gesäubert und kleinere Reparaturen vorgenommen. Wir luden einige der fröhlichen Herbergsbewohner in das Auto und starteten eine erste Erkundungsfahrt durch die Stadt. Algier hat sich seit meinem letzten Besuch nicht auffällig verändert. Geschäftigkeit der Einwohner, Straßenverkehr und Sauberkeit waren dieselben geblieben. Selbst die Präsenz von Polizei und Militär hat sich in der Zwischenzeit nicht merklich erhöht. Die Front de Libération Nationale, kurz FLN genannt, fand ihre Hauptunterstützung bei der zu etwa dreißig Prozent analphabetischen Landbevölkerung. Ben Bella, der Gründer der FLN und seine Mitstreiter waren im Exil in Kairo und Tunis und leiteten von dort, unterstützt von der kommunistischen Partei Frankreichs, die Aktionen in Algerien. Ihre Kämpfer nannte man Fellagha, was auf Arabisch übersetzt Räuber heißt. Der gebildetere Mittelstand in den großen Städten wie Algier, Constantine und anfänglich Oran war eher gegen die Trennung von Frankreich. Dort lebten im Einklang mit den Berberstämmigen die „Pied Noir“, so nannte man die in Algerien geborenen Franzosen. In der Hauptstadt Algier, außer in der Altstadt, herrschte durchwegs gespannte Ruhe.
Gegen neun Uhr abends kehrten wir in die Herberge zurück. Um den Kamin der Herberge haben sich Jugendliche aus zehn verschiedenen Nationen zu einer harmonischen Weihnachtsfeier versammelt. Trotz des in der Jugendherberge normal herrschenden Alkoholverbotes gab es reichlich Rotwein, von dem selbst die Chefin des Hauses und ihr Gemahl nippten. War Weihnachten eine Ausnahmesituation oder wirkten wir etwa demoralisierend?
Die folgenden Tage waren geprägt von hektischen Vorbereitungen. Bei der Überprüfung meines Equipments entdeckte ich, dass das von der AKG zur Verfügung gestellte Mikrofon (D 12 Spezial) die strapaziöse Fahrt mechanisch nicht ausgehalten hat. Die auf Metallfedern befestigte Membrane war abgebrochen und flog innerhalb des Gehäuses frei herum. Glücklicherweise konnte die gebrochene Aufhängung durch die Vertretung der Firma in der Stadt repariert werden, und ich bekam darüber hinaus ausreichend Ersatzteile mit. Man kann ja nie wissen. Gemeinsam waren wir auf der Präfektur, um Waffenscheine und um Schanis ausstehende Visa für die Reise in die geplanten Staaten einzureichen. Belgien hatte in Wien keine eigene Vertretung. Ich zeigte meinen Freunden die runde Bar Unic, wo wir zu Mittag speisten. Es war alles unverändert geblieben, lediglich die Bedienung hatte gewechselt. Nach dem Essen folgten Besuche bei einigen Konsulaten, das österreichische war an diesem Tag geschlossen. In der Santé Maritime ließen wir uns gegen Gelbfieber impfen und fuhren anschließend zum Institut Pasteur und wollten die von Wien aus bestellten Schlangenseren für Westafrika abholen. Doch die richtigen Präparate waren immer noch nicht verfügbar. Wenigstens konnten wir beim Zoll unsere Waffen abholen und bei Shell ein 200-Liter-Fass Benzin zu einem reduzierten Preis erstehen.
Als selbstbewusste Besitzer eines in Afrika erprobten Geländewagens wollten wir dessen Allradantrieb ausprobieren und in den Dünen am Meer entlang spazieren fahren. So fuhren wir bei prächtigem Wetter nach Fort de l’Eau, einem Vorort von Algier, zum Strand. Die erste Hürde, ein Stacheldrahtverhau, nahm Ubu in souveräner Manier. Doch nur wenige Meter weiter erhielt unser Vertrauen in britische Fahrzeugtechnik einen harten Stoß. Wie ein Maulwurf grub er sich in den feuchten Sand und wir vermochten, ohne uns auf die Zehenspitzen zu stellen, sein sonst nicht erreichbares Dach umfassend betrachten. Selbst graben mit der mitgebrachten Schaufe, brachte keinen wirklichen Erfolg. In Reichweite wuchsen wild Kakteen aus dem Sand. Wir beschlossen, diese abzuschneiden und wie Sandbretter unter den Rädern zu verwenden. Zwei Einheimische näherten sich neugierig, doch als Max mit entschlossener Miene und einer für die Pflanzen gedachten riesigen Machete aus dem Wagen sprang, suchten sie eilig das Weite. Es dauerte nur einige Minuten, da versammelte sich gefühlt die gesamte Bevölkerung aus dem östlichen Algerien plaudernd und scherzend um den Grabungsort. Darunter zwei Polizisten, die gewissenhaft unsere Personalien aufnahmen. Nach Stunden anstrengender Buddelarbeit, Ubu hatte schon die Tendenz gezigt, komplett im feuchten Meeresstrand zu verschwinden, holten wir einen Traktor. Der zog unseren Geländewagen mithilfe eines langen Drahtseiles wie eine Feder aus dem unwirtlichen Sand. Die Besitzer der Landmaschine, eine einheimische Farmerfamilie, luden uns hinterher zu einem Imbiss ein, den wir nach dieser Anstrengung dringend benötigten und kräftig zusprachen. Wieder in der Herberge angelangt, fielen wir erschöpft und todmüde in unsere Betten. Mein Vertrauen in den Humber war erschüttert. Doch hatte ich gelernt, feuchter Sand ist trotz Allradantrieb grundsätzlich zu vermeiden.
Am nächsten Tag machten wir uns auf den Weg zum Touringclub, um genauere Informationen für unsere geplante Fahrt durch die Sahara zu sammeln. Im Institute Pasteur erhielten wir endlich die fehlenden Schlangenseren und gleich nach dem Abendessen holten wir den Wiener Fußballklub Rapid vom Bahnhof ab. Die prominenten Spieler Robert Dienst, Mittelstürmer, und Robert Körner, Linksaußen, brachten wir ins Hotel „Tourist“. Dabei halfen Jean-Pierre und Mackie tatkräftig als Dolmetscher
Es war der 31. Dezember 1955, Silvester. Kurz vor Mittag brachten wir den Trainer und das Gepäck zum Stadion St. Eugénie. Rapid legte ein packendes Spiel hin und siegte mit 4:3 gegen die Algerier. Zum Abendessen fanden wir uns mit dem bekannten Stürmer Robert Dienst in der Auberge de Jeunesse ein. Für lächerliche 350 FFr pro Person gab es ein Menü, das wir mit drei Flaschen Rotwein auf Rapids Sieg krönten, und großzügig weitere drei für die übrige Herbergsrunde spendierten. Nachdem die geleert waren, schliefen alle Mitbewohner selig ein. Wir brachten Dienst in sein Hotel, worauf Mackie und ich nach alter Strohkoffertradition eine Stadtrundfahrt antraten, um den Jahreswechsel in reizvollerer Umgebung zu feiern. Wir landten in einer Bar, in der wir mit Champagner das neue Jahr begrüßten. Doch die Nacht sollte eine Anekdote für die Ewigkeit bereithalten: Max wollte unsere Rechnung begleichen, doch die Pistole in seiner Brusttasche hinderte ihn daran, an die Brieftasche zu kommen. Zu meinem entsetzten Erstaunen knallte er die Radom 9 mm vor sich auf die Bartheke und griff nochmals in das Sakko zum Geld. Schreckensbleich verhinderte das der Barmixer, indem er meinte, die konsumierten Getränke gingen selbstverständlich auf die Rechnung des Hauses!
Wieder in der Herberge angekommen, wollte Mackie der Herbergsmutter diese Episode anschaulich erzählen. Leider geriet seine Präsentation mit der Waffe in der Hand eher einschüchternd als illustrativ. Die arme Frau stieß einen entsetzten Schrei aus, und Mackie musste die Erzählung sofort abbrechen. Er erklärte die Szene nur kurz, und wir zogen uns schuldbewusst, aber zufrieden, in unsere Stockbetten zurück. So begann 1956 für uns, mit Champagner, Waffenshow und einer erstaunlich nachsichtigen Herbergsmutter.
Madame Foubert war beim österreichischen Konsulat angestellt und europäischer Kultur höchst verbunden. Wir haben ihr im Auftrag der Fremdenverkehrswerbung in Wien Plakate und von uns Blumen mitgebracht, was zu einer Einladung in ihr Haus führte. Nach einem wegen der herrschenden kompromisslosen Etikette etwas anstrengendem Essen hörten wir eine Beethovensymphonie, eingespielt von den Wiener Philharmonikern unter dem Dirigat von Karl Böhm, zu dem meine Familie verwandtschaftliche Beziehungen pflegte. Wenn ich mich recht erinnere, war es die Fünfte mit dem Ta-ta-ta-taa. Dann stiegen wir mit unseren Gastgebern für eine Spazierfahrt in den Père Ubu. Es waren steile Wege im nahegelegenen Wald zu überwinden. Zurück kamen wir nur knapp an einem Unfall vorbei, dessen mögliches katastrophales Ausmaß aber nur ich, der den Wagen steuerte, erfasst hatte. Bergab waren die Bremsen total ausgefallen. Mit Hilfe von Hand- sowie Motorbremse doch glücklich am Haus der Fouberts angekommen, schüttete ich zwei Eimer kalten Wassers über die glühenden Bremsklötze, und sie funktionierten wieder. Nach Anhörung des vierten Brandenburgischen von Schallplatte verabschiedeten wir uns, nicht ohne eine Einladung zu einem weiteren Musikabend bei den Fouberts erhalten zu haben. Anschließend fuhren wir direkt zu unseren Freunden vom Sportklub Rapid und feierten mit den Fußballern ausgiebig und übermütig Abschied.
Bei meiner ersten Reise nach Nordafrika hatte ich zwei in der Herberge wohnende Mädchen kennengelernt, Saleka, die Sonja gerufen wurde, und Salima. Sie wohnten dort, weil die eine in der nahe gelegenen Universität einem Studium nachging, die andere ein paar Straßen weiter in einem Büro arbeitete. Die waren beide noch immer da. Sie luden uns zu ihren Eltern auf ein Essen ein, deren herzliche Gastfreundschaft wir dann über den gesamten langen Aufenthalt in Algier ausgiebig beanspruchten. Wir waren diesen ersten Abend bei der Familie Halali, das war allen Ernstes ihr Name, und wohnten in einem großen Haus, der „Villa Polo“ in Pointe Pescade am Rande von Algier. Sie nannten ein Weingut in Mascara ihr Eigen. Außer den beiden Eltern gab es die Töchter, die vorhin erwähnten Saleka, Rachida und die Jüngste, Salima. Alle drei waren ausnehmend reizvolle und bildschöne Geschöpfe. An Söhnen gab es Benamar, Larbi und Boualem. Ich hatte das Tonbandgerät und einige Tonbänder mit Jazz und Mitschnitten von Sendungen des Popsenders Ö3 mitgebracht, was die Stimmung gleich von Beginn an locker gestaltete. Vornehmlich das Band mit einer Stunde Sidney Bechet fand Anklang. Den Titel „Les Onions“ musste ich immer wieder abspielen, und das bei jedem Besuch. Selbst wenn das Erklingen der ersten Töne von diesem Band bei mir allergische Reaktionen auslöste, es war mein kleines persönliches Dankeschön für die bezaubernde Gastfreundschaft dieser algerischen Familie. Prompt verliebte ich mich so nebenbei in Rachida, die sich durch einen leichten Pigmentfehler, zart gelbliche Hautfärbung und blondes Haar von den anderen berberstämmigen Familienmitgliedern unterschied und dazu außergewöhnlich attraktiv und intelligent war. Leider blieb meine Liebe konstant unerwidert.
In diesem Hause lernte ich die beste Zubereitung für die Nationalspeise kennen, das Couscous – Royal. Da sich das Essen, wie bei arabischer Gastfreundschaft üblich, beträchtlich in die Länge zog, standen wir bei der Heimkehr um Mitternacht vor fest verschlossenen Türen. Die Herbergsmutter war rigoros in der Durchsetzung der Regel, um 22:00 Uhr das Eingangstor abzusperren. Mein Versuch, ein Fenster zwecks Einstiegs von außen zu öffnen, endete mit einem Absturz in einen zwei Meter tiefen ausbetonierten Graben, den ich mit leichter Gehirnerschütterung überlebte. Wir beschlossen, notgedrungen im Auto zu schlafen. Daraufhin kletterten wir und die drei mit uns ausgesperrten Töchter Halali wieder in den Père Ubu und fuhren in das Stadtzentrum, weil es dort sicherer war. Zu sechst übernachteten wir im ausreichend geräumigen Humber.
Nach elf Tagen in Algier traf endlich die Besatzung des IFA F9 ein, der zweite Teil der Expedition mit Walter Eder und Hans Kopezky. Wir wohnten alle gemeinsam in der Jugendherberge, dieser wegen des Durchschnittsalters der Expeditionsteilnehmer den ursprünglichen Sinn eines Quartiers für Jugendliche nehmend. Nach einer schnell angerührten Instantsuppe von Inzersdorfer berichtete Hans mit schauriger Theatralik von seiner bisherigen Reiseverpflegung: gigantische Brotschnitten, jede mit exakt zwei Ölsardinen belegt. Eine kulinarische Ödnis, die unser Kassenwart für ausreichend hielt und vehemnt vertreidigte. Uns schwante Schlimmes für die Zukunft. Walter brachte mir Grüße meiner Eltern, und die dringende Bitte von Feichtinger, ob ich nicht doch ein zweites Jazzkonzert im Rondell veranstalten könne. Es hieß, er würde sich erkenntlich zeigen, wie auch immer das gemeint war.
Unser unfreiwillig verlängerter Aufenthalt in Algier setzte uns täglich mehr zu. Es gab zwar eine Menge administrativer Arbeit zu erledigen, aber unserer Hauptaufgabe, phonetische Dokumentationen in Westafrika zu erarbeiten, konnten wir hier nicht nachgehen. Deshalb wurde das Hauptaugenmerk auf Fotoreportagen verlegt. Wir waren glücklich über die nahrhaften Verbindungen zu den Fouberts und Halalis, die unser Reisebudget erheblich entlasteten. Bei einem weiteren Besuch im Touringclub lernten wir zwei eben in Algier angekommene Reisende im besten Mannesalter kennen. Sie kamen aus Köln und glaubten ernsthaft, in ihrem Volkswagencabriolet Afrika entdecken zu können. Ihr rheinischer Humor und die Einladung auf eine Runde Bier machten Ernst Beding und Hermann Bartscherer sofort zu Ehrenmitgliedern unserer Expedition. Daraufhin liierten wir uns mit den Kölnern und sie zogen zu uns in die Herberge, damit den Altersdurchschnitt der Herbergsbewohner weiter hinaufsetzend. Als waschechte Kölner, sprachen sie den gleichen liebenswerten Dialekt wie der unvergleichliche Willy Millowitsch und brachten ebenso dessen Humor mit.
Nachmittags traf die inzwischen zu einer illustren Gruppe von sieben Personen angewachsene Gruppe auf Larbi Halali und alle fuhren miteinander auf einen vergnüglichen Abend zum Haus seiner Eltern. Dort servierte man uns wieder das legendäre Couscous. Neben der milden Sauce für unsere mitteleuropäischen Gaumen gab es eine scharfe Variante, die sicher direkt aus den tiefsten Kreisen der Hölle stammte, die man nur wie ein Gewürz mit ersterer vermischt genießen vermochte. Die Farbe und Konsistenz waren zum Verwechseln ähnlich. Der Zufall wollte es, dass die Schüssel mit der pikanten, scheinbar aus reinem Capsaicin zubereiteten Soße vor den Plätzen der zwei Deutschen landete. Aufmerksam unserem Beispiel folgend, nahmen sie davon genau die gleiche Menge auf ihre Teller, wie wir von der milden Sauce. Nach den ersten Bissen und extremen Schweißausbrüchen erklärten wir den beiden besorgt, dass sie das unbedingt aufessen müssten, denn sonst würden sie die arabische Gastfreundschaft verletzen. Was äußerst unangenehme Folgen haben könnte! Diese Unterweisung akzeptierten sie bedenkenlos, letztendlich waren wir erfahrene Afrikaner! Unter den bewundernden Blicken der Halalis würgten die beiden die schmerzhafte Speise hinunter, bis sich Yamina, die Hausfrau, ihrer erbarmte und ihnen die milde Soße anbot. Nach einigen kühlenden Bieren wurden sie wieder lebendig. Nach dem Essen fuhren die Deutschen, sie hatten inzwischen von uns den Spitznamen „die Teutonen“ erhalten, mit Walter und Hans in die Herberge, wir Anderen durften in dem gastfreundlichen Haus übernachten. Da die Heimschläfer zu spät kamen und vor verschlossenen Türen standen, versuchten sie durch ein Fenster einzusteigen. Nachdem es Ernst, er war von etwas korpulenter Statur, eben geschafft hatte, bis zur Hälfte einzudringen, wurde er von der resoluten Mère-aub, die zufällig dort auftauchte, wieder nach außen gestoßen. Mit dem ihnen eigenen typischen Kölner Humor wurde die Sache letztendlich friedlich geklärt.
Um sieben Uhr morgens des nächsten Tages erschien ein Belgier in der Herberge, der angeblich als Tierfänger arbeitete. Er wollte sich unserer Expedition anschließen und bot 100.000 FFr für seinen Platz an. Walter bekam bei Nennung dieser Summe verträumte Augen und kalkulierte innerlich gleich die Platzaufteilung in den Autos. Doch er vertröstete ihn mit einer Entscheidung auf einen anderen Tag, sobald wieder alle Expeditionsteilnehmer versammelt sein werden.
Im Laufe der Stunde, in der ich mit Max und Hans im Studio von Radio Algier zu einem Interview war, rammte ein LKW unseren „Père Ubu“. Eine umständliche Aufnahme des Unfalls durch die Polizei folgte, bevor wir die Erlaubnis zum Wegfahren erhielten. Später drängte ich zu einem Besuch des Museums „Le Bardo“, weil ich mir dort weitere Anregungen für Musikaufnahmen erwartete. Mein Bekannter mit dem unaussprechlichen Namen war nicht mehr da. Ob er der „französischen Doktrin“ zum Opfer gefallen war? Wir erhielten eine Empfehlung an den arabischen Sender in Algier, zu einem Monsieur Saphir, wo ich endlich meine eigentliche Arbeit aufnehmen konnte. Da die mir zur Verfügung stehende Ausrüstung mit einem Mikrofon für Orchesteraufnahmen nicht ausreichend war, bekam ich die Erlaubnis einige Einspielungen von den Bändern des Senders zu kopieren. Hier im Studio war der Klang dieser Musik aus den entsprechenden Lautsprechern nicht mit dem der quäkenden Radios der Märkte zu vergleichen. Während sich zu jener Zeit die europäischen und amerikanischen Tonstudios mit nach Blechdosen klingenden Hallplatten zur Verschönerung ihrer Aufnahmen quälten, waren diese Musikstücke in einen unvergleichlich natürlichen Halleffekt gebettet. Sie klangen wie in einem gotischen Dom aufgenommen. Leider vergaß ich, nach der Herkunft dieses beeindruckenden Sounds zu fragen. Ein Versäumnis, das mich bis heute ärgert.
Arabische Musik (Musique andalouse)
Mich wunderte, warum diese Sinfonien „andalusisch“ genannt wurden. Professeur Saphir war ein profunder Kenner der klassischen arabischen Musik und nahm sich Zeit für Erklärungen. Es würde den Rahmen hier sprengen, alle Informationen anzuführen. Doch bemerkenswert ist die Tatsache, dass diese Musikrichtung, die ihren Ursprung im Spanien des 14. Jahrhunderts hat, mit der Vertreibung der Mauren aus Europa nach Afrika gekommen ist. Aus diesem reichen Erbe arabischer Kultur hat sich in Andalusien der Flamenco entwickelt. Ein faszinierendes Beispiel dafür, wie Geschichte und Musik ineinanderfließen.
Gesang aus Algerien (Musique andalouse)
Der Hebel der Lenkradschaltung des IFA brach, als Makie bei einem Schaltversuch zu beherzt zupackte. Walter und ich fuhren daraufhin in die Stadt, um einen brauchbaren Ersatz zu besorgen und gleich einzubauen. Kurz nach dieser Reparatur machte uns das nächste Fahrzeug zu schaffen. Beim Anfahren vor dem Rathaus mitten im Stadtzentrum brach die linke Hinterachse des Humber. Zufällig kam der VW-Käfer mit Hermann aus Köln, Max und Jean-Pierre vorbei. Hermann, der Gute, begann sofort fachmännisch die Achse auszubauen. Dabei erfuhren wir, dass beide in Deutschland ein Team Rallyefahrer bildeten. Wo sollten wir in Algerien eine Ersatzachse für dieses seltene englische Automodell bekommen? Bei einem einheimischen Gebrauchtwagenhändler fanden wir eine Achse, die dem Original entsprach, sie war erheblich angerostet, aber funktionsfähig. Wahrscheinlich stammte sie aus einem Ersatzteillager der britischen Armee, die vierzehn Jahre vorher in Nordafrika gegen die Truppen Rommels kämpfte. Hermann und ich bauten die neue Achse ein, während sich Larbi, der Sohn der Halalis, Mackie, Hans und Jean-Pierre für eine Fotoreportage in die Kasbah wagten. Die Einwohner in den romantisch engen Gässchen betrachteten in der Zeit seit Beginn der Auflehnung jeden Europäer feindlich. Dank der Vermittlung Larbis kam die Gruppe knapp mit dem Leben davon. Der Aufstand der FLN gegen die französische Kolonialherrschaft hatte sich damit gleichfalls für uns empfindlich bemerkbar gemacht.
In den Monaten seit meinem letzten Aufenthalt in Algerien hatte sich die allgemeine Stimmung im Land deutlich verändert. In der modernen Stadt Algier war nichts davon zu bemerken, dafür kamen speziell aus der Altstadt und von außerhalb regelmäßig beunruhigende Nachrichten. Weil das Unternehmen Kasbah keinen Erfolg brachte, wollten Max und Hans die Djurdjura, das tief verschneite Wintersportzentrum Algeriens, für eine Fotoreportage aufsuchen. Das Gebiet war nur hundert Kilometer von der Hauptstadt entfernt, in zweitausend Metern Höhe vormals mit Hotels und Skiliften touristisch aufgeschlossen, war es jetzt verlassen und gefährlich. Die direkte Verbindung von Algier nach Constantine, die Hauptroute von Ost nach West des Landes, führte durch dieses wildromantische Gebirge. Fellaghas sprengten Strommaste, überfielen dort Transporte und töteten alles, was ihnen vor die Gewehre kam. In einem der aufgelassenen und nicht zerstörten Hotels hatte sich eine Abteilung französischer Gebirgsjäger festgesetzt, abgeschlossen von der Umwelt. Im letzten Ort vor dem Anstieg aus der Ebene war ein Bäcker, der sich weigerte, weiterhin dort hinauf zu liefern. Beladen mit fünfzig Kilogramm Brot wurden die zwei angemeldeten Fotoreporter von den Soldaten mit schussbereiten Maschinenpistolen im Anschlag freudig begrüßt. Die Ausbeute an Bildern war, außer einigen im Fahren aus dem Auto geschossenen Landschaftsaufnahmen, eher gering. Mackie und Hans beeilten sich nach einer Übernachtung im Schutz der Gebirgsjäger, so schnell als möglich Algier wieder zu erreichen. Unversehrt kamen sie in der Herberge an.
Unser Aufenthalt in dieser schönen Stadt zog sich hin. Da für Walter und Hans in Wien die Zeit zu knapp geworden war, mussten jetzt für sie die ausstehenden Visa besorgt werden. Die Formalitäten für die Erlaubnis zur Durchquerung der Sahara kosteten Zeit und Nerven. Beitrittserklärungen zum Touringclub, Treibstoffverträge, Verpflichtung zu gegenseitiger Hilfeleistung, sowie Versicherungen kosteten Gebühren, die vor Entgegennahme der Dokumente bezahlt werden mussten. Die Verpflichtung zur gegenseitigen Hilfe wurden auf die beiden Reisenden aus Köln erweitert. Wir hatten die sympathischen Herren so ins Herz geschlossen, dass wir nichts dagegen hatten, wenn sie sich uns für die nächsten Abenteuer anschlossen.
Nach genau einem Monat Aufenthalt in Algier war es endlich so weit! Die Vorbereitungen für die Weiterreise waren abgeschlossen. Ich hatte eine Holzkiste organisiert, in der man den zum Betrieb des Tonbandgerätes notwendigen, schweren Einankerumformer festschrauben konnte. Die Autos wurden am Vortag der geplanten Abfahrt nochmals überprüft und beladen. Auch die „Teutonen“ packten. Der überaus vorsichtige Walter bestand darauf, die Nacht im Auto zu verbringen, damit er über unser Equipment in den Fahrzeugen wache. Der Abschied von den Halalis driftete ins Sentimentale, sie waren uns gegenüber wirklich großzügig gewesen und ich freue mich, dieser Familie hiermit nach so vielen Jahren ein Denkmal setzen zu können. Die Verabschiedung von den Herbergseltern artete in ein unkontrolliertes Fest aus, das bei den sonst so duldsamen und freundlichen Menschen Missstimmung hinterließ. Was soll‘s, es war ja der letzte Abend in Algier.
(Die Musikaufnahmen zu diesem Kapitel sind im Katalog des Phonogrammarchivs der Akademie der Wissenschaften zu finden)
Die Ahnung war immer vorhanden, doch es kam überraschend. Das Netz- und Ladegerät des Computers verweigert den ihm zugeordneten Dienst. Wegen der hohen Umgebungstemperaturen und den ständigen Schwankungen des hauseigenen Stromaggregates, gibt das Gerät zischend und qualmend seine Funktion auf. Das bereitet mir größere Sorgen, weil ein für meine Arbeit funktionierender Computer unumgänglich notwendig ist. Ein zweiter Akkumulator zur Reserve ist im Gepäck, aber an die Mitnahme eines Ersatzladegeräts habe ich nicht gedacht. Nach einer kurzen Abkühlphase, es war glühend heiß geworden, inspiziere ich dieses elektronische Zubehör genauer.
Um zu den Eingeweiden des Gerätes zu gelangen, sind Schrauben zu öffnen, die das Gehäuse zusammenhalten. Diese Spezialschrauben haben aber Nietenköpfe, verschmitzt vom chinesischen Fabrikanten mit Absicht so vorgesehen, damit sie mit keinem herkömmlichen Werkzeug aufzudrehen sind. Ich bitte François, mich bei dieser Operation zu unterstützen. Mittels einer Bohrmaschine gelingt es ihm, das Innere des Patienten freizulegen. Schwarzbraune, nach verbranntem Isoliermaterial stinkende Klümpchen zwischen bisher intakt erscheinenden elektronischen Bauteilen, bieten einen traurigen Anblick. François schüttelt den Kopf, bringt einen Freund von ihm ins Spiel, der ein Wundertechniker sei. Allerdings müsste man das Teil nach Tamanrasset bringen. Das sind über dreihundert Kilometer durch die Wüste. Wir beschließen, umgehend loszufahren, da es noch früh am Tag ist. Solange François seiner Michelle unser Vorhaben erklärt, tanke ich meinen Landrover und zwei Reservekanister voll. Er ist lange genug gestanden, und Bewegung tut ihm sicher gut. Mit Wasser gefüllte Kanister stehen fest gesichert hinten im Auto. Um auf der Fahrt kühles Trinkwasser zu haben, hängen wir mit Haken eine Ziegenhaut zusätzlich an eine Wagenseite. Nach einer kurzen Kontrolle wollen wir die Auberge durch das Haupttor verlassen. Doch Michelle winkt uns vom Haus mit einem Papier in der Hand und ich lenke den Rover bis knapp an die Stufen heran. Sie überreicht uns einen Einkaufszettel für Tamanrasset und wünscht uns eine problemlose Fahrt.
Auf einer Sandebene fahren wir der aufgehenden Sonne entgegen. Die Piste ist streckenweise sicher zweihundert Meter breit und unzählige Spuren führen alle in die gleiche Richtung, nach „Tam“. So eine Fahrt, einige hundert Kilometer von jeder Zivilisation entfernt, bewirkt bei mir regelmäßig tiefes Glücksgefühl. Es gibt auf unserer Erde nur mehr wenige Plätze, an denen man Freiheit spüren und genießen darf. Sie ist hier gleichsam greifbar, obwohl selbst dieser Ort des Friedens unsichtbar vielen Strahlungen und Umweltverschmutzungen der zivilisierten Welt ausgesetzt ist. Trotz Radiowellen und Funkverkehr aller Frequenzen, in der Atmosphäre schwebenden Abgasen und Abfallpartikel irgendwelcher Industrien aus anderen Kontinenten, die bei Abkühlung oder mit Regen auf die Erde fallen, dringt das Gefühl physischer Freiheit tief ins Innere. Vor der exzessiven industriellen Entwicklung ab der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts gab es hier außer ein paar zu vernachlässigenden Radiowellen, oder die unvermeidlich in der Natur allgegenwärtigen Neutrinos, kaum Belastungen der Umwelt.
Nach etwa hundert Kilometern glatter Fahrt in der endlos erscheinenden Ebene bleiben wir auf einer leichten Anhöhe stehen. Mitten in der Piste, einfach so, niemand schreibt uns vor, was wir nicht tun dürfen. Links und rechts des ausgefahrenen Wellblechs breitet sich die Hamada, eine mit scharfen Steinsplittern übersäte Ebene aus. Im Windschatten der Steine liegen wie Minidünen kleine Sandhäufchen, die sich durch ihre hellgelbe Farbe von der dunkleren Erde ringsum abheben. Wir setzen uns einige Schritte weiter auf einen Steinhaufen und verharren andächtig, die absolute Stille nach dem lauten Gerumpel im fahrenden Rover genießend. Gelegentlich an- und abschwellend bewegt sich zart kühle Luft. Lange sitzen wir schweigend und versuchen, nichts zu denken. Ich stehe auf und hole aus dem Wagen einen geöffneten Rotwein, laute Geräusche dabei vermeidend. Michelle hat uns ausreichend Proviant mitgegeben. Wir nehmen jeder einen langen Schluck. Ohne Verschluss steht die Flasche zwischen uns, der leichte Luftzug zaubert aus dem Flaschenhals eine überirdische Melodie, gleich einer Panflöte. Die Töne fügen sich in die uns umgebende Lautlosigkeit harmonisch ein, den Frieden bewahrend. An vielen Plätzen in jener Einsamkeit gibt es kleinere oder größere Hohlräume im Gestein, in denen sich gleich Aeolsharfen Wind fängt. Ich stelle mir vor, dass ein freier Targi wie Akamouk wochenlang durch die unendliche Stille zieht, allerorten Musik hört.
Gerne würde ich in diesem Meer der Ruhe, in dem meine Seele glücklich schwimmt, einige Zeit verweilen. Aber wir müssen weiter, die Sonne wird bald gefährlich stechen und wir sollten möglichst bei Tageslicht die Stadt erreichen. Sandflächen wechseln mit Strecken steinigen Untergrunds ab. Inmitten der unwirtlichen Wüste kreuzt unsere Piste eine andere, die schnurgerade in Nord-Südrichtung führt. Neben der Kreuzung steht von Beton eingefasst ein Brunnen mit einem richtigen Wasserhahn. Erstaunlich, welche Änderungen die Algerier seit meinem letzten Besuch in diesem Land vorgenommen haben. Wir halten Mittagspause bei der Wasserstelle, öffnen eine Dose Ölsardinen, eine nostalgische Erinnerung an frühere Expeditionen und verteilen den Inhalt redlich auf die zwei Hälften des von Michelle selbst gebackenen Brotes. Nach dieser Stärkung fahren wir weiter in Richtung Tam, wie die Stadt im täglichen Umgang kurz genannt wird.
Schon aus der Ferne fällt der moderne Gebäudekomplex der Universität auf. Diese wurde 2009 eröffnet und gewann in den wenigen Jahren seither aus ihrem Einzugsgebiet 53.000 Studierende der Rechts- und Sozialwissenschaften. Dem zufolge ist die Stadt gewachsen. Trotz der späten Stunde finden wir die Werkstatt des Bekannten von Francois. In einem langgestreckten Raum, kaum vom Rest des Tageslichts erhellt, stehen ein paar Tische, die anscheinend ohne Ordnung mit nicht genau zu definierenden Gerätschaften und Bestandteilen voll belegt sind. Auf einer der Tischplatten gibt es eine von einer elektrischen Birne schwach beleuchtete freie Arbeitsfläche. Im Habitus eines Targi begrüßt uns der Gesuchte, der sich nach längerem Austausch von Höflichkeiten mit uns meines elektronischen Patienten annimmt. Morgen Mittag soll es repariert sein. Unangenehm macht sich hier moderne Zivilisation bemerkbar. Obwohl er ein Einheimischer, demnach ein Targi ist, bietet er uns keinen Tee an. Die drei traditionellen Gläser Tee bei den Tuareg sind nicht nur Vertrauen bildend oder das Versprechen für eine überragende Gastfreundschaft, sondern ergeben darüber hinaus an heißen Tagen einen gesunden Durstlöscher. Müde begeben wir uns in ein Touristenhotel im Zentrum der Stadt und erwarten sehnsüchtig ein abendliches kühles Bier.
Am nächsten Morgen fahren wir mit Michelles Einkaufsliste für Lebens- und Putzmittel zu verschiedenen, europäisch wirkenden Läden. Die saubere und teilweise Stadt mit ihren 190.000 Einwohnern beeindruckt uns. Mir fällt auf, dass Autos von Toyota hier allgegenwärtig sind. Baukräne ragen in den Himmel, denn an einigen Stellen baut man mehrgeschossige Häuser, geplant sind 7.000 Wohneinheiten. Bei unserer Rückkehr ins Hotel erhalten wir die Nachricht, dass das Netzgerät wieder funktioniert und abholbereit sei. Francois regelt die finanzielle Angelegenheit mit seinem Freund und wir fahren auf breiter Asphaltstraße in die Wüste. Für diese Fahrt benötigen wir kaum Scheinwerfer, es ist Vollmond, der Straße wie Piste ausreichend und umfassend beleuchtet. Nach zügiger und romantischer nächtlicher Reise durch die Hamada erreichen wir spät in der Nacht die hell erleuchtete Auberge. François, der immer auf Energieeffizienz bedacht ist, grummelt leise über die Verschwendung, wagt jedoch angesichts von Michelles freudiger Begrüßung keine offenen Vorwürfe. Er ist eben ein sanftmütiger Pantoffelheld. Ich verschwinde in das Turmzimmer, verbinde das Ladegerät mit dem Computer und stelle erfreut fest, dass es funktioniert. Zufrieden und erleichtert falle ich ins Bett. Vor dem schnell kommenden Schlaf scheitern Versuche, mich auf zukünftigen Text zu konzentrieren. Doch morgen werde ich an meinen Erinnerungen weiterschreiben:
Am frühen Morgen frühstückten die Expeditionsteilnehmer in der Jugendherberge von Algier. Mackie, Schani und Kopezky fuhren mit dem IFA zu Besorgungen in die Stadt. Aber wer ist „Schani“? In einer Anwandlung von Zärtlichkeit und Bequemlichkei, hatte es sich im engen Kreise eingebürgert, Jean-Pierre einfach Schani zu rufen. Es gefiel ihm, und so blieb es dabei. Mit etwas ramponiertem Auto kehrten die drei später wieder zurück. Sie hatten eine kleinere Konfrontation mit einem LKW, aber der dadurch entstandene Schaden wurde von der Versicherung umgehend in bar geregelt. Das war damals in Algerien so üblich, was unserem Expeditionsetat recht guttat. Vorschläge, dass Schani weiterhin in Algier bleiben und mit dem Auto Geld verdienen sollte, wurden aus einsehbar praktischen wie moralischen Gründen verworfen.
Noch vor der Abfahrt äußerte ich deutliche Bedenken wegen der Achse an meinem Auto. Doch die wurden von den Freunden mit fast beleidigenden Ausdrücken wie Angsthase, Pessimist etc., abgetan. Schließlich gab ich, Diskussionen vermeidend nach und wir machten uns auf den Weg. Schani und Kopezky mussten aus administrativen Gründen noch in der Stadt blieben, was einen emotionalen Abschied von ihnen zur Folge hatte. Die Herbergsmutter hingegen verabschiedete uns mit merklich weniger Gefühl – die ausufernde Abschiedsfeier des Vorabends hatte bei ihr Spuren hinterlassen.
Unsere kleine Karawane setzte sich in Bewegung. Die Besatzung des Ubu bestand aus Mackie, Walter und mir am Steuer des Humber. Voran düsten in ihrem VW-Käfer-Kabrio die Teutonen Hermann und Ernst davon. Die beiden Deutschen waren durch einen beim Touringclub in Algier abgeschlossenen Beistandsvertrag fest mit uns verbunden. Die Fahrt ging gegen Südwesten. Die etwa 400 Kilometer entfernte Stadt Mascara (jetzt Muaskar) war unser erstes Etappenziel. Diese Strecke ist auf einer breiten, exzellent ausgebauten asphaltierten Straße ohne Mühe in wenigen Stunden zu schaffen. Allerdings war uns eindringlich empfohlen worden, nur bei Tageslicht zu fahren, da die Route durch Gebiete der Aufständischen führte. Die Veränderungen, die sich seit meiner Reise im Vorjahr entlang dieser Straße ergeben hatten, waren erschütternd.Verlassene, verwilderte und niedergebrannte Farmen zeugten davon, dass wir mitten durch Kampfzonen fuhren.
Die Straße führte uns durch eine fruchtbare, kultivierte Ebene. Da es Winter war, lagen die Äcker ringsum allerdings brach, sodass nicht zu erkennen war, was da angebaut wurde. Vor El Affroun tickten die sechs Zylinder des Humber nicht mehr richtig und stotterten. Bei einer Tankstelle wurde die Benzinleitung mit Druckluft ausgeblasen. Eine wohlgesetzte Aktion, die dem Motor wieder seinen gleichmäßigen Lauf und die volle Kraft zurückgab. Diese kleine Panne erschien mir nachträglich als Ursache meiner dunklen Vorahnungen in Algier. Mit erleichtertem Herzen und frohem Blick in die Zukunft fuhren wir weiter – vorerst. Anscheinend etwas zu unbesorgt, denn zwölf Kilometer nach El Affroun, wir hatten kaum den winzigen Ort Oued Djer passiert, brach die zweite Achse. Es gab keinen Ersatz, und so standen wir plötzlich unbeweglich da.
Die Straße schmiegte sich rechts, den Formationen der Berge folgend, an die Abhänge, links fiel das Gelände steil in ein breites Flusstal ab, in dessen Mitte ein munterer Bach dahinplätscherte.Wir standen unbeweglich kurz vor einer Brücke. Unser Père Ubu blockierte nun etwa ein Drittel der Fahrbahn und stellte somit eine nicht unerhebliche Verkehrsgefährdung dar. Da wir für die vorausfahrenden Deutschen im Rückspiegel nicht mehr zu sehen waren, drehten sie um, und der VW stieß wieder zu uns. Eine kurze Beratung ergab, dass sich die beiden Kölner mit 10.000 Francs nach Algier zurückbegeben und dort eine Ersatzachse suchen sollen. Den auf dem Rücksitz zwischen Reisegepäck eingeklemmten Mackie setzten sie in El Affroun ab. Dort gelang es ihm, einen Mechaniker mit einem Transporter zu engagieren. Gemeinsam versuchten wir, den schwergewichtigen Humber mit einer improvisierten Schleppvorrichtung zur Seite zu schaffen. Doch mit einem Gesamtgewicht von mehr als drei Tonnen widersetzte sich das Auto allen Bemühungen, seinen Standort zu verlassen.
Mackie, nicht an Technik interessiert, blickt von oben herab auf Humber und IFA F9 in Oued Djer
Ich schlenderte zu der Brücke über den ausgetrockneten Fluss, dem Oued. Unten im Geröll lag der zerschmetterte und halb ausgebrannte Rest eines Citroën 11. Dieser Anblick ließ die vielen Warnungenvor den blutrünstigen Räubern und Wegelagerern, den sogenannten Fellaghas, wieder in meinem Bewusstsein aufsteigen. Fellaghas nannte man damals abschätzig die algerischen Freiheitskämpfer, die von 1954 bis 1962 einen unerbittlichen Kampf gegen die französische Kolonialherrschaft führten. Dieser Krieg war im Jahre 1955 erst im Anfangsstadium, doch zeichnete sich die Brutalität und Menschenverachtung mit der er geführt wurde schon deutlich ab. Er wurde deshalb allgemein der „schmutzige Krieg“ genannt. Später erfuhren wir, dass gerade dieses Gebiet, in dem wir gestrandet waren, ein bevorzugtes Terrain für Überfälle war. Die zerklüftete Berglandschaft ringsum, mit ihren zahllosen Verstecken hinter Graten, Felsen und Büschen, bot ideale Bedingungen für einen Hinterhalt.
Bei Tageslicht war die Gefahr von Gewalt gering, erst in den Nachtstunden setzten die Kämpfer ihre Aktionen. Ein zufällig vorbeikommender, lokaler französischer Polizist erkannte jedoch die prekäre Lage, in der wir uns befanden. Unsere Panne war nicht ohne Weiteres zu beheben, so leistete er Hilfe, indem er einem arabischen Wächter, einem sogenannten Gardien, befahl, uns und unser Gepäck sicher unterzubringen. Das Haus, eine von ihren französischen Besitzern verlassene Farm, lag in 150 Metern Entfernung in dem Flusstal, durch einen Hügel vom invaliden Père Ubu getrennt. Von der höher gelegenen Straße führte eine unbefestigte kurvige Auffahrt hinunter zu dem kleinen Anwesen. Der Gardien, mit einem arg gebrauchten grauen Wintermantel und dem landesüblichen bunt gemusterten Turban bekleidet, transportierte unser Gepäck auf einem klapprigen alten Lastauto von der Straße hinunter zum Anwesen. Das Haus war ebenerdig, sauber gehalten und gepflegt, das vorgezogene Ziegeldach wurde von einigen Säulen gestützt und bildete damit eine Art Veranda. Ein bis auf einen Schrank ausgeräumter, quadratischer Vorraum mit jeweils einer Türe an allen 4 Seiten empfing uns. Licht drang ausreichend durch die Füllungen aus Glas der sich gegenüberliegenden Eingangstüren. Eine davon war der Haupteingang, die andere, gegenüber liegende führte nach rückwärts hinaus auf eine Wiese und zu dem Bach hinunter, der das Grundstück begrenzte. Eine dritte Türe links war verschlossen und wahrscheinlich der Zugang zum Wohnbereich mit der Küche und den Sanitäranlagen der Farm. Nur von außen vom Hof zu erreichen, befand sich in einem Anbau das Zimmer des über das Anwesen wachenden algerischen Wächters. In der rechten Wand vom Haupteingang gesehen, war eine vierte Türe, die zu einem größeren, ebenso leeren Raum führte. Hier gab es einen offenen Kamin, der über Eck gebaut war, und ein riesiges, leeres Ölfass, das verloren in einer Ecke stand. mit einem übers Eck gebauten offenen Kamin. Ein Fenster gab den Blick nach außen, gegen Westen, frei. In dieses Wohnzimmer brachten wir das Expeditionsgepäck. Die drei Semperit-Luftmatratzen wurden aufgeblasen und nebeneinander so platziert, dass wir vom Boden aus das Fenster und die untergehende Sonne sehen konnten. Es war eine improvisierte, aber nicht unangenehme Unterkunft für die Nacht.
Inzwischen war der freundliche Gendarm von seiner Suche nach einem Abschleppwagen ergebnislos zurückgekommen. Auf unseren Wunsch erhielten wir gegen geringe Entlohnung, eine einheimische Wache für das invalide Auto zur Verfügung gestellt. Wahrscheinlich war es dem Mann zu kalt und zu gefährlich, denn er blieb nur eine Nacht. Was ein paar Tage später Folgen hatte.
Langsam brach die Dämmerung herein und der Gendarm verabschiedete sich auffällig hastig. Es gab um diese Tageszeit zwar kaum Verkehr, blieben trotzdem die Standlichter unseres Fahrzeugs aus Vorsicht eingeschaltet. Wir machten uns Gedanken über die französischen Besitzer der Farm, sind sie geflüchtet, vertrieben oder gar ermordet worden? Auch waren wir nicht sicher, auf welcher politischen Seite der Gardien des Hauses stand, und ob er uns vielleicht in der Nacht umbringen wird? Mit düsteren Gedanken und einer wachsenden Paranoia schlüpften wir in unsere kuscheligen Schlafsäcke. Da das Quartier mitten im Krisengebiet lag, schliefen wir mit geladenen Waffen in Griffweite. Plötzlich rissen uns lautes Gerenne und Gepolter aus tiefem Schlaf. Die Geräusche kamen von oberhalb der Zimmerdecke. Anscheinend spielten einige Ratten am Dachboden Fußball, zumindest klang es so. Außer diesem erschreckenden Ereignis gab es in dieser ersten Nacht keine besonderen Vorkommnisse.
Eine lange Zeit des Wartens auf eine neue Achse begann, die unsere Geduld und Nerven schwer auf die Probe stellte. Wir alle hatten triftige gemeinsame sowie persönliche Gründe dafür, die Expedition erfolgreich fortzusetzen. Ein Abbruch stand deshalb niemals zur Diskussion. Die Batterie des Autos war am nächsten Morgen wenig überraschend absolut leer. In El Affroun fanden wir einen Mechaniker, der einen Wagenheber mit Rädern mitbrachte. Damit gelang das Verschieben des Ubu. Von jetzt an stand er korrekt am Straßenrand. Doch kostete diese Aktion wiederum 500 Francs. Der freundliche Gendarm besuchte uns und erzählte von einem heute Nacht stattgefundenen Überfall der Fellaghas. In circa fünfzehn Kilometern Entfernung von hier fanden etliche Pied Noires dabei den Tod. Als am nächsten Tag wieder von einem Angriff auf ein französisches Munitionsdepot in unmittelbarster Nähe berichtet wurde, beschlossen wir, unsere Sicherheit zu organisieren und Räume wie Leben taktisch zu verteidigen.
Am Abend waren wir mit einem ausgeklügelten Plan bereit, dem Angriff einer Division blutrünstiger FLN-Kämpfer standzuhalten. Im Falle einer Attacke sollte Walter mit seinem zur Jagdwaffe umgebauten Kriegsveteranen, einen Karabiner K 98, den linken Haupteingang im Vorraum verteidigen, Max, der zwischen uns sein Lager hatte, würde mit der Schrotflinte das rückwärtige Tor vor Eindringlingen schützen. Mir fiel die Aufgabe zu, mich hinter dem Ölfass zu verschanzen, und von dort den Schlafraum und dessen kostbare Inhalt sowie das Fenster mit meiner 7,65 mm-Pistole zu sichern. Nach dieser taktischen Besprechung malten wir einen Wegweiser: „Villa Achsbruch – 100 Meter“ und stellten ihn gut sichtbar oben an der Straße auf. Wir hofften, dass uns dadurch eventuell vorbeireisende Landsleute und Besucher leichter finden, seien wir tot oder lebendig. Darüber hinaus sollte es ein Signal für die FLN sein, dass hier weder Franzosen, noch Pied Noirs wohnen. Selbstverständlich schliefen wir wieder mit geladenen Waffen bei der Hand.
Im sicheren Gefühl unserer Kampfstärke dachten wir am nächsten Morgen an das, dem Rektor der Veterinärmedizin der Universität, Prof. Marinelli in Wien gegebene Versprechen, möglichst zahlreich Tiere zu fangen und heimzubringen. Nicht unbedingt wegen der zu erfüllenden Aufgabe, mehr als Beschäftigungstherapie, beschlossen wir die Jagd nach Schlangen aufzunehmen. Obwohl es in der Gegend sicher viele davon gab, fanden wir keine. Der neuerliche Wintereinbruch mit Schnee und Eis hat sie offensichtlich in ihre Höhlen getrieben. Dafür brachte Walter einen dicken Igel von der Jagd mit, den wir nach einer Comicserie prompt „Mekki“ tauften. Fleißig wurden trockene Äste zum Heizen gesammelt, denn es ist empfindlich kalt geworden. Niemand von uns hatte mit solchen Minusgraden in Afrika gerechnet. Der Kamin rauchte und qualmte dermaßen, dass wir wegen drohender Erstickungsgefahr die Fenster öffnen mussten, was uns in dieser Nacht fast erfrieren ließ.
Am nächsten Tag tauchte eine Abordnung Einheimischer auf und bei Kaffee wurde ausgiebig geplaudert. Auf deren Fragen erklärten wir ihnen offen, wer wir sind und was uns hierher verschlagen hat. Vorsichtshalber behandelten wir sie überaus freundlich, man kann ja nie wissen, ob sie nicht Informanten für die Fellaghas, oder gar selbst welche waren. Da französisch gesprochen wurde und ich recht wenig von der Unterhaltung verstand, zog ich alleine los, um zwischenzeitlich zu jagen. Eine betörend bunte Kröte und eine beachtenswert große Schildkröte waren die Ausbeute. Max, den die freundlichen „Nachbarn“ bereits verlassen hatten, sah Letztere und schwärmte laut mit glänzenden Augen von einer Schildkrötensuppe. Später am Tag war Mackie und Walter das Jagdglück hold und sie kehrten mit einer Schlange heim, Max hat sie mit der bloßen Hand gefangen. Niemand war in der Lage zu bestimmen, ob und wie giftig sie ist. Es entwickelte sich eine spannende Diskussion über die Merkmale, an denen man eine giftige von einer ungiftigen Schlange unterscheiden kann. Total verunsichert steckten wir sie in einen hohen, von der Fa. Semperit gespendeten Bottich. Bald darauf bemerkten wir, dass sich die Grundlage für die Schildkrötensuppe ihrer Bestimmung entzogen hatte und geflüchtet war. Dafür fürchteten wir, dass die still in sich ruhende Schlange dem Hungertod nahe sein könnte. Solch tragisches Ende versuchten wir mit einer gefangenen Maus abzuwenden. Nachdem dieses niedliche graue Tierchen mehrmals über Körper und Kopf des aus Angst vor dem wilden Tier wie gelähmt daliegenden Reptils gestolpert war, sprang das Mäuslein aus dem Gefäß und verschwand auf Nimmerwiedersehen. Womöglich lebte diese Schlange vegetarisch?
Wir erfuhren vom Gardien, dass in der Dunkelheit erneut ein tödlicher Überfall in unmittelbarer Nähe verübt worden war. Worauf wir uns frustriert in unser Zimmer zurückzogen. An diesem Abend kochte Max eine arabische Spezialität! Es waren „Pois chiches“ (Kichererbsen). Er hat eine große Menge davon zugestellt und würzte das Gericht äußerst scharf. Trotz stundenlangem Kochen im Druckkochtopf blieben die Hülsenfrüchte steinhart. Der Verzehr dieses widerstandsfähigen Gemüses gestaltete sich mühsam. Während des ausgiebigen Abendessens hob ein langes, wohlabgewogenes Gespräch über Kunst im Allgemeinen und im Speziellen an. Zunächst von einer seltenen Ernsthaftigkeit geprägt, dann zunehmend von einigen Flaschen „Vin de Pays“ durchdrungen. Mit Taschenlampen und überschäumendem Enthusiasmus gingen wir danach auf eine abenteuerliche Mäusejagd. Doch die winzigen Bewohner unseres Quartiers erwiesen sich als geschickter, und so kehrten wir ohne Beute in unsere Schlafsäcke zurück.
Missgelaunt und mit Sodbrennen erhoben wir uns bei Tagesanbruch. Das Warten auf die Ersatzachsen und die erzwungene Untätigkeit zerrte an unseren Nerven. Mackie, der Zivilisation entronnen, lässt sich einen Bart wachsen. Täglich marschierten zwei von uns zur Post in El Affroun und versuchten, nach Wien zu telefonieren. Die Versuche blieben erfolglos. Zur Abwechslung erschienen die „Teutonen“ Hermann und Ernst mit einer Wienerin und deren beiden jugendlichen Töchtern im Schlepptau. Die Freunde haben ihren Plan, die Sahara mit dem Käfer zu durchqueren, aufgegeben und kamen, um sich verabschieden. Sie mussten wieder zurück nach Köln. Sie berichteten, dass Feichtinger, die Kontaktperson, dies war der Pächter des „Rondell“ in Wien, von unserem Wunsch über drei Ersatzachsen sowohl schriftlich, als auch telegraphisch in Kenntnis gesetzt worden sei.
In der Zeit, da die anderen im Haus bei einem Kaffee plauderten, nahm ich eine Machete und lud die beiden Mädchen zu einer Erkundung der Umgebung ein. Walter ließ es sich nicht nehmen die kleine Expedition zu führen, und eilte voraus. Ich war gewissermaßen die Nachhut. Vor allem der Anblick der seinerzeit äußerst modernen, über dem Gesäß recht enganliegenden, und dadurch meine Phantasie beflügelnden Keilhosen der vor mir gehenden jungen Damen war entzückend. Von Zeit zu Zeit fuhr sich die jüngere der beiden, Linda, mit den Händen auflockernd unter ihr schulterlanges Haar, um es gleich wieder mit einer unnachahmlichen, schnellen Kopfbewegung fallen zu lassen. Verloren in diese Ansichten verfehlte ich beim Überqueren eines Baches einen Stein. Der Länge nach fiel ich in das eiskalte, klare Wasser, was meiner Selbstsicherheit und dem galanten Eroberungsdrang ein unrühmlich abruptes Ende setzte. Zurück im Quartier verabschiedeten sich unsere Besucher nach einem maßvollen Abschiedstrunk, und wir blieben wieder allein, nur mit uns selbst und den Herausforderungen unserer ungewöhnlichen Situation.
Walter buk zum Abendessen Palatschinken. Diese Jahrhundertwerke der Kochkunst erreichten langanhaltende Berühmtheit. Unser Kassenwart nahm dazu Mehl, eine Prise Salz und vermischte die Zutaten mit klarem Wasser. Dann verteilte er den daraus gewonnenen flüssigen Teig in eine schwach oder gar nicht eingefettete Stielpfanne und ließ ihn sorgfältig am Feuer auf beiden Seiten bräunen. Das Produkt wurde der Pfanne entnommen, mit einer Sardine belegt, etwas Öl aus selbiger Dose beträufelt und so verzehrt. Der Geschmack war einfach, aber in unserer Situation erschien uns dieses Mahl wie eine königliche Delikatesse.
Da die nach rückwärts hinausführende Türe nicht zu versperren war, musste sie verbarrikadiert werden. Bevor wir uns in das Schlafzimmer zurückzogen, türmten wir alles zu findende Tischgeschirr aus Porzellan und einige Gläser aus dem Schrank vor die nach innen öffnende Türe. Der Plan war einfach, sollte die Tür von außen geöffnet werden, würde der fragile Turm mit lautem Klirren einstürzen und uns wecken. Beruhigt und in Erwartung friedlichen Schlafes verkrochen wir uns in die Schlafsäcke.
Doch in der Einschlafphase weckte uns Höllenlärm. Mackie warnte mit dem Ruf „Fellaghaaas“! Unser minutiös vorbereiteter Verteidigungsplan musste jetzt in die Tat umgesetzt werden. Diesem taktischen Meisterwerk gemäß sprang Walter von seinem Lager auf und raste in den Vorraum. Leider verdeckte die geöffnete Schlafzimmertüre den dahinter stehenden Karabiner, und lief ohne eine Waffe hinaus lief. Ich bekam das mit, konnte meinen unbewaffneten Freund Walter doch nicht im Kugelhagel der Freiheitskämpfer sterben lassen, und eilte ihm mit geladener 7,65 er zu Hilfe. In der Dunkelheit umkreisten wir gemeinsam das Haus und fanden keine Angreifer. Im Vorraum bot sich uns ein chaotisches Bild, Scherben bedeckten den Boden, der einstige Geschirrturm war ein Trümmerfeld. Zurück in unserem Raum hörten wir ärgerliches Stöhnen. Mackie wand sich auf der Matratze und versuchte vergebens, den verklemmten Reißverschluss seines Schlafsackes von innen zu öffnen. Wir befreiten ihn aus dieser misslichen Lage und untersuchten nochmals bei Licht den Vorraum. Igel Mekki zog unschuldsvoll grunzend seinen Weg durch die Scherben des Geschirrs. Daraufhin entschieden wir einstimmig, dieses Tier nicht der Wissenschaft zugänglich zu machen, sondern ihn bald als Bereicherung unserer fleischlosen Kost zuzuschießen.
Am nächsten Tag erhielten wir Besuch von drei französischen Offizieren. Wir sollten Einquartierung bekommen. Nachdem die Herren die Beengtheit der Wohnmöglichkeiten gesehen hatten, fuhren sie unverrichteter Dinge wieder ab, nahmen aber freundlicherweise Mackie und mich nach El Affroun zur Post mit. Weder ein Brief, noch ein Telegramm waren aus Wien angekommen. Müde und gedrückter Stimmung erreichten wir wieder die Villa Achsbruch. Walter empfing uns mit einem Druckkochtopf voll köstlicher Suppe, die geschmacklich kaum von Hühnerbrühe zu unterscheiden war. Nach deren Genuss teilte uns der Koch mit, dass die Basis dieser Speise Mekki gewesen sei. Na ja, immerhin war Walter ja vor einiger Zeit Jäger, der sogar Antilopen vortrefflich zuzubereiten wusste. Kurz darauf kam unser Gardien mit einer großen Schüssel Couscous, die er uns stolz überreichte. Seine Frage nach dem Wohlergehen des Igels überhörten wir geflissentlich.
Später am Nachmittag marschierten wir zur Straße hinauf zu unserem dreibeinigen Père Ubu, um ihn mit Pflöcken abzustützen. Dabei entdeckten wir, dass zur Nachtzeit in das Auto eingebrochen, das Kurzwellenradio ausgebaut und gestohlen wurde. Dieses Radio war nicht zur Unterhaltung bestimmt, sondern bildete in vordigitalen Zeiten die einzig mögliche Informationsquelle und Verbindung zur Welt. Wir beschlossen, ab da den Wagen in der Dunkelheit nicht mehr unbeaufsichtigt zu lassen. Und so kam es, dass ich die erste Wache von 19:00 bis 22:00 Uhr zugeteilt bekam. Daran anschließend waren Max und Walter jeweils auf zwei Stunden mit ihren Waffen zum Wacheschieben dran. Ich wurde um 4:30 geweckt, da ich meinen Turnus bis 7:00 Uhr anzutreten hatte. Am Nachmittag kam der Besitzer der angrenzenden Farm, ein gebürtiger Russe, zu Besuch. Er wollte uns helfen, das Auto zum Haus hinunter zu bringen. Es ist aber zu schwer und bewegt sich nicht. Walter begleitete den freundlichen Nachbarn zu dessen Farmhaus. In seiner Abwesenheit versuchten Mackie und ich, das Couscous zu vertilgen. Mit mäßigem Erfolg. Umso freudiger begrüßten wir Walter, denn er kehrte von seinem Besuch beim Russen mit zwei Hasen, Wein und Orangen zurück. Das ergab abends ein festliches Mahl! Da die Zeit seiner Wache gekommen war, verzog sich Walter in den Père Ubu, dieweil Mackie und ich um die folgenden Nachtwachen würfelten. Das Schicksal meinte es nicht gut mit mir, ich durfte als Nächster in die kühle Nacht hinaus.
Im Laufe dieser Wache erschienen gegen 23:00 Uhr zwei schwer bewaffnete Polizisten beim Auto. Sie wollten unsere Papiere überprüfen. Ich führte sie ins Haus hinunter, wo alle Dokumente aufbewahrt waren. Nach eingehender Prüfung waren Sie zufrieden und wir tranken Mokka miteinander. Es war ein Moment unerwarteter Gastfreundschaft, der mich für kurze Zeit die klirrende Kälte vergessen ließ. Zurück im Auto holte mich die Realität jedoch schnell wieder ein. Es war saukalt, die Temperaturen lagen unterhalb des Gefrierpunkts. Ein fieser Schneeregen tat das Übrige, damit die Wachezeiten so ungemütlich wie möglich wurden. Um dem eisigen Klima zu trotzen, hatten wir uns in Schichten von Kleidung gehüllt, die in etwa so viel Bewegungsfreiheit ließen wie ein mittelalterlicher Ritterharnisch. Dementsprechend hatten wir unter den praktischen Overalls eine Menge Kälte isolierender Kleidung an, was uns Gangweisen und Bewegungen ähnlich Robotern beschied. Dieses Aufgebot an Isolierung brachte allerdings einen unerwarteten Nebeneffekt mit sich, denn musste man den unweigerlichen Forderungen des Stoffwechsels nachgeben, wurde jede Entkleidung zur akrobatischen Meisterleistung, allerdings ohne Applaus und mit garantiertem Wärmeverlust.
Der Morgen begann besser. Noch bevor die Sonne aufging, weckte ich die Schläfer im Haus singend mit einer schwungvollen Interpretation von „I’m dreaming of a White Christmas“, denn es hatte in der Nacht erstmals heftig geschneit, die umliegenden Höhenzüge waren weiß überzuckert. Selbst die Wiesen ringsum hatten eine dünne, glitzernde Decke erhalten. Im Laufe des Tages schmolz der weiße Traum weg, um am Abend wiederzukommen. Nach etlichen missglückten Versuchen zog der Kamin endlich und wärmte unter Stimmung verbreitendem Knistern unsere Stube. Das trug zu einer gewissen allgemeinen Zufriedenheit bei. Für kurze Momente fühlten wir uns beinahe wie in einem Weihnachtsmärchen, allerding auf Ersatzachsen statt geschenke wartend. Diese kurze Phase der Zufriedenheit sollte jedoch nicht von Dauer sein. Der Krieg, von dem wir bislang nur in der Ferne gehört hatten, würde uns bald auf beunruhigende Weise sehr viel näher kommen.
Gemütlich und in guter Stimmung sitzen wir drei, Michelle, Francois und ich in den etwas bequemeren Stühlen mit Armlehnen, vor uns jeder ein Glas roten Weines aus den Weingärten von Muaskar (Mascara), im Norden Algeriens. Mich freut es , dass es in diesem Haus keine Klimaanlage gibt. Die drei großen Deckenventilatoren verwirbeln fast unhörbar die Luft und kühlen damit ausreichend. Ich erzähle François und Michelle einige Geschichten aus meinen Erinnerungen, die ich demnächst niederschreiben möchte. Ihre Reaktionen darauf helfen mir bei der Entscheidung, tatsächlich in mein Buch aufgenommen werden sollten. Der Wein ist getrunken, die Vergangenheit wieder zum Leben erweckt, es ist Zeit zu Bett zu gehen. Doch der Schlaf stellt sich nur zögernd ein und die Nacht wird unruhig. Meine eigenen Erzählungen haben mich so aufgewühlt, dass ich mehrmals aufwache. Schließlich stehe ich noch in der Dunkelheit auf und setze mich an den Computer. Das Schreiben läuft heute ganz wunderbar und ich merke darüber nicht einmal die beginnende Morgendämmerung. Die ersten Sonnenstrahlen fallen irritierend ins Zimmer auf den Bildschirm. Ich blinzele hinaus in die Wüste, die Wüste erscheint in warmem Orange. In der Ferne entdecke ich eine kleine Gruppe Kamele, fünf an der Zahl. Die Tiere werfen in der Morgensonne lange Schatten und scheinen zusammen zu gehören. Doch woher kommen die, freilaufende Kamele sind in dieser Gegend äußerst selten anzutreffen. Ein Blick in den Hof des Anwesens erklärt alles, dort stehen drei Gestalten beisammen und unterhalten sich leise. Akamouk ist wieder da! Neben ihm ein weiterer, in einen Tegelmust verhüllter Targi und François. Ich mache mich mit einem laut gerufenen „Guten Morgen“ bemerkbar und erhalte von unten dreifache Antwort. Vergessen ist das Schreiben für den Moment, ich klappe den Computer zu und eile hinunter in den Hof.
Die Begrüßung ist herzlich. Der Begleiter von Akamouk stellt sich als Iyad vor, ein Verwandter, der zurück in den Hoggar möchte, wo er geboren wurde. Die beiden sind in der Nacht eingetroffen und standen vor verschlossenem Tor. Die Kamele wurden von ihrer Last befreit und sie warteten bis François wie jeden Tag das Tor öffnet. Im Moment sind sie dabei die wertvollen Sättel und einige Bündel mit ihrem Hab und Gut in die Garage zu bringen. Michelle kommt aus dem Haus, begrüßt die beiden Männer gerührt, die Freude Akamouk heil wiederzusehen, ist ihr anzumerken. Zu François und mir gewandt teilt sie uns mit, dass das Frühstück fertig sei. Michelle hat einen besonders starken Kaffee zubereitet, der selbst François, der notorisch verschlafen ist, rasch in die Gegenwart holt. Es wird ein schnelles petit déjeuner, denn unsere Neugier auf Neuigkeiten aus Mali ist groß.
Zum Verständnis des Folgenden ist es notwendig, in groben Zügen über die komplizierte Situation in Mali informiert zu sein. Fünf Kräfte (ohne der Untergruppen) mit unterschiedlichen Zielsetzungen kämpfen dort um ein riesiges Gebiet, das weder fruchtbar noch besonders reich an Bodenschätzen ist, mit Ausnahme von Uran, jedoch touristische und strategische Bedeutung hat:
Säkulare Tuareg für mehr Selbstbestimmung,
“ “ für einen eigenen Staat Azawad,
Islamistische Tuareg für eigenen islamischen Staat,
Regierung Mali (Bamako) plus den schwarzen Völkern im südlichen Azawad und
natürlich Frankreich
Azawad, das umkämpfte Gebiet Malis
Das Nomadenvolk Tuareg lebt in einem kargen Gebiet, das in seiner Ausdehnung etwa der Fläche Europas gleicht, in der Sahara und Teilen des Sahel im Süden. Ihr Einzugsgebiet umfasst Mali, Algerien, Libyen, Tschad, Niger und Burkina Faso. Es ist ein hellhäutiges nomadisierendes Reiter- und Hirtenvolk, das sich Sklaven aus Schwarzafrika hielt und noch heute hält. Woraus sich ergibt, dass sie sich von der durchwegs schwarzen Regierung in Bamako nicht beherrschen lassen wollen. Die Kel Tamaschek, wie sich die Tuareg selbst nennen, sind staaten- und stammesübergreifend durch ihre einheitliche Sprache und Kultur miteinander verbunden. Die von den Kolonialmächten im neunzehnten Jahrhundert willkürlich gezogenen Staatsgrenzen, welche Völker, Stämme und sogar Familien geteilt und über ganz Afrika Nationalstaaten gegründet haben, stören den Zusammenhalt der Tuareg überhaupt nicht. Viele Kämpfer im Azawad waren ehemalige Anhänger von Muammar al-Gaddafi. Sie flüchteten nach seinem Sturz mit großen Mengen Waffen und Munition nach Mali.
Die islamistischen Tuareg werden von der al-Quaida des Maghreb unterstützt und versuchen im Azawad durchgehend die Scharia einzuführen. Sie übernahmen kurz die Führung und zogen im Namen der Schari‘a raubend, mordend und plündernd durch das Land.
Die Regierung von Mali in der Hauptstadt Bamako, die in sich selbst zerstritten und durch ausufernde Korruption geschwächt, will den Norden Malis nicht verlieren.
Frankreich, das mit ihrer vierzehn afrikanische Staaten umfassenden Währungsunion, dem Franc CFA, auch Mali unter Kontrolle hat, will Frieden haben und selbstverständlich keinen islamischen Staat in ihrem Einflussbereich.
Zwei Revolten der Tuareg im vorigen Jahrhundert blieben ohne entscheidende Folgen für den Azawad. Der aktuelle Aufstand von 2012 wurde von den Franzosen zu einem trügerischen Stillstand gebracht. Truppen der UNO aus verschiedenen Ländern, darunter auch Deutschland, übernahmen die Kontrolle.
Flagge von Azawad
Nach dem gemeinsamen Frühstück begeben wir uns zu Akamouk in den Hof. Dort ist Iyad dabei ein für die Sahara typisches Lederzelt aufzustellen. Faktisch ist das kein Zelt, sondern eher ein Schutz gegen die Sonne. Über ein paar in die Erde gerammte Zeltpfosten werden imprägnierte Felle von Schafen oder Ziegen gespannt, die nur auf einer Seite bis zum Boden reichen, die anderen drei Seitenflächen bleiben meistens frei. Akamouk kocht währenddessen auf einem schnell entfachten Feuer Tee. Er hat seinen Tegelmust zu einem großen Teil abgenommen und zeigt seinen frisch gewachsenen, nicht gerade üppigen Bart.
Targi mit Bart
Den bewundern wir gehörig, erfahren aber den Grund dafür erst nach dem dritten Glas Tee. Dann beginnt Akamouk zu erzählen: Iyad wurde von Islamisten entführt und als Geisel für die Freilassung Gefangener benützt. Da er ein Verwandter ist, war es für den Targi Verpflichtung, ihn zu befreien. Das Versteck dieser Gruppe von Jihadisten lag unweit von Kidal entfernt, der durch die säkularen Tuareg zurückeroberten Stadt im Norden Azawads. Um als gläubiger Muslim zu erscheinen, ließ er sich den Bart wachsen. Er ritt mit zwei Kamelen durch bergige Landschaften zum Lager der Islamisten und meldete sich beim Kommandanten, indem er sich als Kämpfer für die Scharia bekannte. Die Kommunikation war kein Problem, da alle Tamaschek, die gleiche Sprache verstanden. Akamouk erhielt nach intensiver Prüfung eine Tarnjacke aus russischer Produktion und einen Karabiner mit Munitionsgürtel ausgehändigt. Er bekam die Aufgabe, das Lager zu bewachen. Automatische Waffen wurden ausschließlich an aktive Kämpfer verteilt. In den nächsten Tagen musste er, von anderen streng beobachtet, fünfmal am Tag beten. Er machte sich mit der Gegend vertraut und konnte es einrichten, mit Iyad zu sprechen. Ein Raubzug der Gruppe nach Süden, an dem fast alle Kämpfer aus diesem Versteck teilnahmen, brachte in einer Nacht die Gelegenheit zu verschwinden. Da Akamouk seine Kamele darauf trainiert hatte beim Satteln nicht zu maulen, und die Jihadisten mit allen motorisierten Fahrzeugen unterwegs waren, entkamen sie unbemerkt. Sie ritten im schnellsten Tempo, das die Meharis hergaben, durch die Nacht und erreichten morgens das sichere Kidal. Dort besorgten sie innerhalb weniger Tage Proviant und füllten die Gerbas mit frischem Wasser.
Bei diesem Aufenthalt erfuhr Akamouk von den enttäuschenden Entwicklungen im Azawad. Die Tuareg waren allein zu schwach, so paktierten sie mit den Jihadisten der al-Quaida. Das führte dazu, dass sie gezwungen waren, gegen ihre ursprünglichen Absichten, um mehr Autonomie zu kämpfen, einen islamischen Staat Azawad auszurufen. Die Islamisten übernahmen bald danach die Führung, terrorisierten das ganze Land und setzten die Scharia durch. Die Frauen gingen aller ihrer angestammten Rechte verlustig. Sie wurden zu totaler Verschleierung genötigt, was bei den an ein gemäßigtes Matriarchat gewöhnten Tuareg nicht gut ankam. Die säkularen Tuareg waren zu einem großen Teil gezwungen, nach Niger oder Ober Volta zu flüchten. Französische Fremdenlegionäre und Truppen aus dem Tschad setzten diesem Spuk ein Ende.
Die zwei mussten auf ihrem Weg nach Osten das Gebiet des einflussreichen Clans der Kel Ifoghas durchqueren. Akamouk hatte dort einmal geheiratet und suchte seine ehemalige Familie, die er in Frieden verlassen hatte. Er traf sie an, aber seine geschiedene Frau ist eine neue Verbindung eingegangen und war weggezogen, Teile ihres Eigentums zurücklassend. Ihr Bruder, der das Hab- und Gut der Frau übernommen hatte, starb bei Kämpfen im Azawad. Zurück blieben verwaist ein Mehari und zwei weitere Kamele, sowie ein Zelt. Der Führer des Clans sprach Akamouk diese Hinterlassenschaften zu, und so luden sie das zerlegte Zelt auf eines der Lastkamele und setzten ihre Reise fort. In langen Tagesrittenerreichten sie mit der kleinen Herde schließlich die Auberge. Hier möchten sie nun eine Weile rasten, bevor sie ihre Reise in den Hoggar fortsetzen. Akamouk ist enttäuscht über die Absichten seiner Tuaregbrüder in Mali. Sie wollen dort trotz des Widerstandes einen eigenen Staat gründen. Das brächte doch nur Arbeit und würde sehr viel Geld kosten. Es müssten Ministerien, Polizei, Militär aufgebaut werden, es gäbe Zwangssteuern und Gesetze zu befolgen die sich irgendwelche Leute ausdenken. Ein eigener Staat kompliziert doch alles, das freie Leben der Nomaden wäre vorbei.
Die Sonne steht schon recht hoch und es ist Zeit sich in den Schatten zurückzuziehen. Das Zelt ist aufgebaut, als Zeichen, dass das Gespräch beendet ist, reicht uns Akamouk ein zusätzliches viertes Glas Tee. François und ich begeben uns ins Haus. Am Weg hinauf in meine Stube überlege ich mir, dass ich ebenfalls gerne einmal gleich wie die Nomaden so durch die Wüste reisen würde. Aber ich verwerfe diesen Gedanken sofort wieder. Animiert von den Erzählungen Akamouks arbeite ich bis Mittag an meinem Manuskript:
In Oued Djer war Walter dran, an meine Wache anschließend den Père Ubu zu beschützen. Wir hatten uns angewöhnt, den nächstfolgenden Wachhabenden mit einem heißen Getränk zu versorgen. Damit dieses bei der herrschenden Kälte trotz Thermosflasche lange warm bleibt, wurde es in der Stube erst etwa eine Stunde nach Beginn des neuen Turnus frisch zubereitet und zum Auto gebracht. Ich verließ das Haus mit der Flasche heißer Ovomaltine unter dem Arm, in der Jackentasche meine 7,65er – Pistole und einer Taschenlampe. Keine wirklich furchterregende Ausrüstung. Aber da wir hier mitten im Zentrum der Aufständischen festsaßen, vermittelte die Hand an der Waffe Mut und Zuversicht. Es war eine erbarmungslos finstere Nacht. Der Himmel von tiefhängenden Wolken bedeckt, kein Mondschein, da Neumond herrschte, in beißender Kälte. Das ergab eine Dunkelheit, die schwärzer nicht hätte sein können. „Man kann die Hand nicht vor den Augen sehen“. Dieses Sprichwort habe ich bei dieser Gelegenheit tatsächlich ausprobiert und fand es bestätigt.
Im Scheine der Taschenlampe tastete ich mich die gewundene Rampe hinauf. Ironischerweise fand ich die absolute Dunkelheit durchaus vorteilhaft, denn man könnte sich im Falle eines Angriffs links oder rechts die Böschung hinunterrollen und in der Dunkelheit verschwinden. Doch es sollte anders kommen. Auf halben Weg nach oben, mitten aus der Finsternis, ertönte plötzlich der Befehl: „Fermé la lumière“, mach‘ das Licht aus! Jetzt war der Moment gekommen, wie geplant davon zu laufen. Ich löschte die Taschenlampe und griff zur Waffe in der Tasche. Doch während ich überlegte, welche Seite der Böschung am besten geeignet wäre, hörte ich ringsum das mir bekannte Repetieren von Maschinenpistolen. Ich war umzingelt. Jetzt stand ich da, mit einer Thermosflasche heißer Ovomaltine und einer bescheidenen Pistole bewaffnet, umringt von unsichtbaren Gestalten, die mit schußbereiten Waffen auf mich zielten. Die Dunkelheit war ihre Verbündete, meine Augen mussten sich erst an die Finsternis gewöhnen, ich war blind und ausgeliefert. Eine Stimme befahl mir, weiterzugehen. Ab und zu blitzte eine Lampe auf und einer der sich gespenstisch geräuschlos fortbewegenden Herren beleuchtete damit nur kurz den Weg zum Auto.
Oben auf der Straße war es etwas heller, oder ich hatte mich an die Finsternis gewöhnt. Schemenhaft waren die Konturen des Autos und der Männer zu erkennen. Man bedeutete mir, ich solle in den Wagen steigen. Doch ich wusste, Walter war darin mit einer geladenen Schrotflinte, jeden Eindringling mit einer Ladung Zwölferschrot zu empfangen. Wie ausgemacht, würde er sofort schießen, sobald sich die Türe öffnete. Mein Zögern blieb nicht unbemerkt. Um mich zu beruhigen, zeigten sich im Lichte von Taschenlampen Männer in Djellabas, den längs gestreiften braunen Kaftans der Einheimischen, die Kapuzen übergestülpt, also Angehörige der FLN. Einer der Männer trat vor, hob sein arabisches Gewand hoch und offenbarte eine französische Uniform darunter. Was mich keineswegs beruhigte, denn es war bekannt, dass die Fellaghas toten Soldaten die Kleidung auszogen, und in dieser Verkleidung ihre Überfälle tarnten. Mit angelegter Maschinenpistole deutete er mir, die Wagentüre zu öffnen. Es gab keinen Ausweg. Im Vertrauen auf die Besonnenheit Walters rief ich laut seinen Namen. Nicht die Spur eines Lebenszeichens kam aus dem Père Ubu. Sicher wollten sie, dass ich einsteige, um mich dann im Auto zu erschießen. In Erwartung, im Inneren des Fahrzeugs eine blutüberströmte Leiche vorzufinden, öffnete ich die Türe. Doch der Wagen war leer, bis auf die sorgsam in eine Ecke gelehnte Ferlacher Schrotflinte. Aber, wo bitte, ist Walter?
Der Anführer der Truppe sagte irgendetwas vermutlich in Französisch und deutete mir zurück zum Haus zu gehen. Mit Herzklopfen stieg ich, begleitet von meinen lautlosen Bewachern, wieder hinunter zur Villa. Im Vorraum angekommen bedeutet man mir durch Gesten still zu sein und das Zimmer zu betreten. Jetzt stand ich vor der gleichen Konstellation wie oben beim Père Ubu. Verteidigung war sicher, nur dass Mackie wesentlich impulsiver war, als der in jeder Situation ruhig überlegende Walter war. Ich durfte vor dem Öffnen das zwischen uns ausgemachte Klopfzeichen nicht geben. Mit sehr gemischten Gefühlen und den schussbereiten Maschinenpistolen im Rücken öffnete ich betont lässig die Zimmertüre und überlegte, ob ich mich im Fall des Falles nach links oder rechts werfen sollte, um einer Kugel auszuweichen. Doch Max saß gegenüber dem Eingang beim Kamin und war konzentriert damit beschäftigt, sich knallrote Wintersocken anzuziehen. Mein Eintreten ignorierte er. Waffen gab es auch keine in seiner Reichweite. Allerdings erschrak er gewaltig und sprang mit einem roten Socken bekleidet auf, als er des Algeriers hinter mir ansichtig wurde. Der aber grüßte höflich und erklärte, sie seien eine mobile Kampftruppe und hätten Walter mit ihrem Fahrzeug in die Polizeistation der nächsten Ortschaft zur Überprüfung seiner Papiere geschickt. Es folgte ein kurzes klärendes Gespräch, währenddem sich Mackie ankleidete. Unsere nächtlichen Besucher entpuppten sich als Goumiers, Algerier im Solde Frankreichs, die die Dunkelheit meisterhaft für ihre Zwecke nutzten. Ihre Patrouillen hatten wir schon oft aus sicherer Distanz beobachtet, doch diesmal waren sie uns nähergekommen, als uns lieb war. Dann stieg Makie mit der Gruppe zum Auto hinauf. Oben angekommen funkte der Chefgoumier die Daten unserer Dokumente nach El Affroun. Wenig später kam Walter von einer Abteilung Polizisten bewacht, unversehrt in einem Dienstwagen der Polizei angefahren.
Während ich allein war, legte ich mich zur Sicherjeit mit dem Karabiner in Deckung hinter das Ölfass, weil ich war fest entschlossen, die Stellung zu halten, komme, was wolle! Es stellte sich aber heraus, dass unsere nächtlichen Besucher einer Spezialtruppe angehörten, den Goumiers. Das waren wilde algerische Kämpfer, vom französischen Militär speziell zu Partisanen ohne Hemmungen zu töten ausgebildet. Bei ihren Patrouillen in der Nacht bewegten sie sich auf den Gummisohlen ihrer Springerstiefel leise wie Katzen. Näherte sich ein Fahrzeug, verschwanden sie blitzartig von der Straße, bevor die Scheinwerfer die Truppe erfassen konnte. Spurlos tauchten sie in die Finsternis, ihre Position damit geheim haltend. Dieses Schauspiel beobachteten wir fast jede Nacht aus unserem Auto heraus, denn sie klopften bei ihren Kontrollgängen im Vorbeigehen regelmäßig freundlich an. Im Algerienkrieg auf der Seite der Franzosen kämpfend, waren sie nach der Befreiung Algeriens erbitterten Verfolgungen ausgesetzt.
In den langen Stunden der folgenden nächtlichen Wachen vernahmen wir oft deutliches Kratzen an der Karosserie des Père Ubu. Bei jedem Auftreten dieses Geräuschs sprangen wir mit entsicherter Waffe aus dem Wagen, um das Fahrzeug zu umrunden. Doch niemand war zu sehen. Eines Nachts wurde das Geheimnis gelüftet. Ich beobachtete, wie ein großer Vogel vom Dach des Wagens aufflog. Anscheinend hatte er sich den Aufbau des Gepäckträgers als perfekten Ausgangspunkt für seine nächtlichen Jagden ausgesucht.
Weit über drei Wochen waren wir jetzt an diesem Ort festgenagelt, das brachte unsere Nerven dazu, dass wir die Beherrschung schon aus geringstem Anlass verloren. Jeder auf seine Art. Mackie ließ seiner Frustration freien Lauf, indem er immer wieder „verdammt, verdammt!“ wie ein brünstiger Stier brüllte, bis seine Narbe im Gesicht rot zu leuchten begann. Ich hingegen setzte auf kinetische Entladung, indem ich den nächstliegenden zerbrechlichen Gegenstand in die Ecke schleuderte, wobei sich leider herausstellte, dass selbst Tische nicht unzerstörbar sind. Meine Uhr, der einzigen neben der von Walter, fiel unabsichtlich durch die heftige Berührung mit einer Tischkante einer solchen Aktion zum Opfer. Walter zeigte seine Unzufriedenheit dadurch, indem er über seinen eigenen Schatten sprang, in den Expeditionsschatz griff und ein „Bidon“, eine große Flasche mit fünf Litern Rotwein aus El Affroun anchleppte. Der Verlust meiner Uhr hatte zur Folge, dass wir uns auf die Zeitangabe der letzten halbwegs funktionierenden Uhr verlassen mussten. Walters Uhr blieb in vierundzwanzig Stunden grob geschätzte fünfzehn Minuten zurück. Allerdings nicht ganz so regelmäßig, wie man hoffen würde. Er löste das Problem, indem er sie jeden Tag manuell um eine viertel Stunde vordrehte. Dadurch stand im Laufe einiger Tage unsere Zeitrechnung in einem eigenwilligen Verhältnis zur Normalzeit. Dazu kam, dass in diesen Tagen ohne unser Wissen die algerische Zeit der MEZ angeglichen und eine Stunde vorgestellt wurde.
Das Chaos kulminierte, alsWalter wegen eines avisierten Anrufes aus Wien zu einer bestimmten Zeit bei der Cabine telephonique im Postamt sein sollte. Da er sich nach seiner Uhr richtete, war dieser Weg vergebens. Am nächsten Tag klappte es jedoch, in Algier wurde noch eine Achse für den Humber gefunden, und meine liebe und tüchtige Mutter hat auf Grund schriftlicher Erzählungen über unsere Nöte vom Unterrichtsministerium eine Aufstockung der Subvention erbeten und erhalten. Unsere Verluste durch die nicht vorherzusehenden recht kostspieligen Aufenthalte waren somit ausgeglichen. Darüber hinaus sind die Achsen aus Wien endlich angekommen. In Hochstimmung begaben wir uns am Abend auf eine wilde Rattenjagd und brachten binnen einer viertel Stunde fünf gewaltige Exemplare zur Strecke. Es war Zeit für meine Wache, Mackie begleitete mich bis zum Auto. Am Rückweg gab er aus purem Übermut einen Schuss in die Luft ab, was den Gardien mit einem Gewehr auf den Plan rief. Doch der Erschrockene hatte Verständnis für diesen Ausdruck von Freude.
Am nächsten Morgen wurden wir mit prächtigem Wetter belohnt. Es war der 15. Februar, und die Sonne hatte endlich genug Kraft, um den Tag zu einem kleinen Fest zu machen. Nach einem ausgiebigen Frühstück beschlossen wir, uns einer umfassenden Körperreinigung hinzugeben, ein Bad im Bach eingeschlossen. Am Nachmittag, ich hatte eben mit der Reinigung des Père Ubu begonnen, hörten wir endlich das unverkennbare Motorgeräusch des IFA, der die Ersatzteile brachte.
Die neue Achse (Walter, Gardien und ich v.l.n.r.)
Der Abend endete gemütlich bei einem Plausch mit Sekt und der großzügig von der Familie Halali gespendeten Flasche Pastis. Schani und Kopezky verabschiedeten sich später in Richtung Algier, während wir uns wieder unserem bewährten Leibgetränk zuwandten: halb Anisette, halb Wasser, ein Rezept, das ebenso simpel wie effektiv war. Die Nacht verlief ruhig, der Morgen brachte miserables Wetter mit Hagel, Schnee und Regen abwechselnd und dann wieder alles gleichzeitig. Um dennoch die Montagearbeiten im Trockenen durchführen zu können, hatten wir über dem rückwärtigen Teil des Père Ubu eine provisorische Überdachung aus Planen gespannt. Lange Kolonnen offener Lastwagen fuhren in hohem Tempo mit frierenden Fremdenlegionären auf der Ladefläche in Richtung Sidi-Bel-Abbès vorbei. Grüße in deutscher Sprache wurden uns zugerufen. Manchmal verwehte der Fahrtwind unsere „Garage“ und musste neu befestigt werden. Wir hatten in unserem handwerklichen Eifer einen Dichtungsring bei seinem Einbau zerstört, wir brauchten einen neuen. Schani, Hans und ich fuhren am frühen Nachmittag nach Algier. Doch kaum hatten wir die ersten Häuser der Stadt erreicht, versagte wegen der uungewöhnlichen Wetterbedingungen der IFA seine Dienste und wollte nicht mehr starten. In einer unerklärlichen und bei ihm nicht gewohnten Regung von Kameradschaft bot Kopezky an, beim Auto zu bleiben und es wieder flott zu machen. Er schickte Jean-Pierre und mich mit dem Bus zu den Halalis, die uns herzlich aufnahmen. Hans übernachtete im wassergetränkten IFA, aber ich schlief nach drei Wochen Luftmatratze wieder einmal in einem liebevoll vorbereiteten sauberen Bett! Frisch und ausgeruht wurde der Morgen danach der Trockenlegung des F9 gewidmet. Wir mussten die Dichtungsringe vom Flugplatz holen, um gleich von dort nach Oued Djer aufzubrechen. Auf der Verpackung der Ringe war die Anweisung zu lesen, diese vor dem Einbau in heißem Öl anzuwärmen. Am darauffolgenden Vormittag, nachdem wir einige der Dichtungen in siedendem Öl verbrennen ließen, war die Achse montiert. Unser treuer Père Ubu war bereit für die nächste Etappe.
Einbau der Achse, von l. nach r.: ich, Walter, Schani, Mackie u. Gardien.Einbau der Achse
Die ersten Startversuche schlugen fehl, weil beide Batterien leer und erschöpft waren, wie unsere Geduld nach den Wochen des Wartens. Da es kein Ladegerät gab, blieb uns nur die kreative Lösung, wir schleppten die Batterien ins Haus und platzierten sie in respektvoller Nähe des Kaminfeuers. Wenig später erhielten wir Besuch von den Fouberts, die ein köstliches Mittagessen mitbrachten, das uns nach Tagen des Genusses von Palatschinken (Pfannkuchen) aus Mehl und Wasser, belegt mit einer Ölsardine, besonders mundete. Nach ein paar Stunden im wohlig-warmen Schein des Kamins hatten auch die Batterien ihre Lebensgeister zurückgewonnen. Wir setzten sie ein, hielten kurz die Luft an, und siehe da, der Motor des Ubu erwachte nach einigem Gurgeln, einem röhrenden Rülpsen und einer beherzten Fehlzündung endlich wieder zum Leben. Es war ein unglaublich erhebendes Gefühl, nach vier Wochen wieder mobil zu sein. So fuhr ich das erste Mal die Auffahrt hinunter zur Villa Achsbruch und stellte den Wagen davor. Wir lobten bei einem gemütlichen Abend die Bärenbatterien, den guten Gardien und uns selbst. Letztendlich hatten wir das drohende Gespenst des Scheiterns der Expedition für diesmal vertrieben.
Kurz vor Abfahrt aus Oued Djer: Ich, Walter, Schani, Mackie v.l.n.r.
Unser Tätigkeitsdrang kannte keine Grenzen. Schon früh am Morgen beluden wir die Autos. Da dies äußerst sorgfältig mit speziellem Augenmerk auf die Gewichtsverteilung in den Fahrzeugen zu geschehen hatte, verließen wir Oued Djer erst zu Mittag. Die Gefahr von Schneelawinen im Atlasgebirge zwang uns zu einem landschaftlich reizvollen, aber beschwerlichen Umweg. Selbst in den Bergen bei Schnee und Glatteis verhielt sich der IFA vorbildlich und der Allrad angetriebene Ubu sowieso. Alle Warnungen vor Überfällen in den Wind schlagend und ebensolche Unkenrufe ignorierend fuhren wir bei Nacht bis Mascara, wo es ein schnelles Abendessen gab. Der Drang weiterzukommen war stärker als die Verlockung des Schlafs. Uns zog es nur weiter, dorthin, wo Aufgaben warteten, die zu erfüllen waren. Und vor allem dorthin, wo es wärmere ist. Der ersehnte erste Anblick des Beginns der Wüste blieb uns bei dieser Fahrt in der Nacht verwehrt. Wir erreichten Mechéria nach drei Uhr morgens und blieben bis Tagesanbruch erschöpft in den Fahrzeugen. Der dort diensthabende Garde Champetre, er war so eine Art von den Franzosen eingesetzter Kommandant, empfing uns am frühen Morgen freundlich. Walter war ihm bereits bekannt, da er im Vorjahr hier durchgekommen war. Von ihm erfuhren wir, dass der belgische Großwildjäger, der sich uns in Algier anschließen wollte, ein gesuchter Verbrecher sei. Den Rest der Nacht schliefen wir im Haus des Franzosen, wo wir uns zu fünft auf drei Luftmatratzen verteilten. Ein logistisches Problem, das wir aber nach den Strapazen der letzten Tage gerne hinnahmen.
Wasserentnahme aus dem zugefrorenen Brunnen in Mécheria
Der Brunnen vor dem Haus war an diesem Morgen von einer Eisschicht überzogen, die fast einen Zentimeter dick war. Eine frostige Erinnerung daran, dass wir uns noch nicht im warmen Süden befanden.Wir konnten aber nicht weiterfahren, weil kurz vor der Ankunft in Mechéria die Bremsleitung beim IFA ein Loch bekam. Der Wagen war derart überladen, dass der Benzintank die Leitung aus Kupfer aufgescheuert hatte. Nach einstündiger Reparatur durch einen autochthonen Mechaniker wollten wir uns wieder auf die Piste begeben. Unsere Hoffnung auf eine reibungslose Weiterfahrt währte jedoch nicht lange. Walters Probefahrt endete frontal an einer Palme, er benutzte sie geistesgegenwärtig anstatt der Bremse, denn anders wäre der Wagen nicht stehengeblieben. Nach einer nochmaligen Instandsetzung der Bremsleitung, diesmal durch uns, ging es endlich weiter. Schani übernahm das Steuer des Père Ubu und fuhr uns, an Rechtslenkung nicht gewöhnt, in ein tiefes, aber ausgetrocknetes Flussbett. Dank Allradantriebs holte ich das Fahrzeug wieder auf das Niveau der Straße.
Das nächste Ziel war Colomb-Béchar, der letzte größere Ort vor der Einfahrt in die eigentliche Sahara. Unsere Stimmung war euphorisch zuversichtlich. Unterwegs trafen wir einen Schakal, den Mackie vergeblich mit seiner 9 mm Radom zu erlegen suchte. Da wir aus stoffwechseltechnischen Bedürfnissen sowieso stehen blieben, war eine Rast bei Haferschleim und Schießübungen angesagt. Ich nutzte die Gelegenheit die von mir mitgebrachte Pistole Pistole zu testen. Zu meiner Freude stellte ich fest, dass sie nicht nur funktionierte, sondern auch äußerst präzise schoss. Auch mit meiner Zielsicherheit war ich zufrieden. Während wir im Auto saßen und weiterfuhren, freuten wir uns alle auf Schwarzafrika und waren sicher, dass wir die größten Herausforderungen hinter uns hatten. So dachten wir wenigstens.
Sogar hier in der Auberge, mitten in der unendlichen Steinwüste, gelten offenbar die gleichen Gesetzmäßigkeiten wie in dem weit entfernten überbevölkerten Europa: Man sucht Wichtiges in den Unterlagen und findet Vergessenes. So geschehen heute. Unter anderen amtlichen Papieren versteckt tauchte die Verpflichtung auf, dass ich angehalten bin, meinen Landrover nach drei Monaten Aufenthalt im Land wieder auszuführen. Diese Frist ist in wenigen Tagen um. Mit Schaudern erinnere mich an die Grenzformalitäten bei der Einreise nach Algerien, die diese Auflage vorschreiben. Vergleiche mit den Schikanen bei Fahrten in die vormals kommunistischen europäischen Oststaaten vergangener Jahrzehnte werden lebendig. Damit ich nicht in Konflikt mit den Behörden gerate, bin ich gezwungen, irgendetwas in dieser Angelegenheit zu unternehmen. Da mein Aufenthalt in der Sahara sich deutlich verlängern wird, suche ich Rat bei Freund François. Der meint, die nächstgelegene Lösung wäre, umgehend nach „In Guezzam“ zu fahren und von dort über die Grenze zur Zollstation „Assamaka“ im Staat Niger. In dem Ort kann ich übernachten und am folgenden Tag das Auto wieder in Algerien einführen. Das wäre die schnellste Möglichkeit für einen Ausweg aus diesem Dilemma. Nach dem Gespräch will ich mich zu meinem Fahrzeug begeben, treffe aber im Hof auf Akamouk, der im Schatten des Zeltdaches sitzend das Schloss seines Karabiners reinigt. Neben ihm liegt sein heißgeliebtes Schwert, die Takouba, das sowohl Waffe als auch Symbol seiner Herkunft ist. Wir reichen uns kurz die Hände, und ich schilderte ihm meine Situation sowie meinen Plan, über Tamanrasset nach Süden zu fahren. Dieser Umweg sei völlig unnötig, er wüsste eine Abkürzung zur algerischen Grenzstation. Er hat ohnehin da unten etwas zu erledigen, und wenn ich ihn mitnähme, könnte er mir den Weg zeigen.
Da trifft es sich ausgezeichnet, dass sein Cousin Iyad hier ist, der während seiner Abwesenheit auf die Kamele achten kann. Selbstverständlich nehme ich ihn mit, allein durch die Wüste zu fahren ist mir ohnehin nicht geheuer. Wir planen gleich morgen loszufahren. Ich beginne sofort mit den Vorbereitungen wie Wasservorrat und Treibstoff auffüllen, sowie von Michelle Proviant für die sicher einige Tage dauernde Ausfahrt zu erbitten. Ich rolle meinen Schlafsack zusammen und verknüpfe ihn fest. François leiht mir ein leichtes faltbares Feldbett, Akamouk hat eine Art Gebetsteppich und Wolldecken dabei, und alles, was man zum Teekochen in der Wüste braucht. Die zwei Touareg helfen mir, die Sandbleche an den Wagenseiten anzubringen und beim Füllen der Gerbas mit frischem Wasser. Auch mein Jagdgewehr und das Navi kommen mit, obwohl ich mir sicher war, dass Akamouks Orientierungssinn weit überlegen ist.
In der ersten Morgendämmerung verlassen wir das Anwesen auf der schmalen Zufahrt zur Hauptpiste. Nachdem wir auf diese links in Richtung Osten einbiegen, versuche ich den Wagen so schnell als möglich zu beschleunigen. Aufgewirbelte Steine schlagen mit ungeheurem Lärm gegen die Kotflügel, leicht schleudernd gewinnt der schwere Landrover an Tempo, bis er schließlich die Tiefen der Wellen überspringen kann und ruhig über die Piste fliegt. Nach einigen Kilometern biegen wir rechts in Richtung Süden ab. Wir fahren dieselbe Strecke wie vor kurzer Zeit François und ich zur Jagd. Bei dem grün bewachsenen Tal halte ich an. Wir sehen keine Dorcagazellen äsen, denn wir sind zu spät dran, nur einen Fenek glaube ich im spärlichen Gras zu entdecken, der uns mit blitzenden Augen mustert, ehe er lautlos verschwindet. Über mehrere Stunden bewegen wir uns bergab, bergauf, durch verödete Täler und fruchtbare Oasen.
Am Nachmittag erreichen wir eine der von Einheimischen bewirtschafteten Wasserstellen. Dort erwartet uns eine kleine Ansammlung verschleierter Tuareg, die im Schatten der hohen Dattelpalmen verweilen. Wir steigen aus und werden überaus freundlich begrüßt. Bei mir ist die Begrüßung schnell vorbei, bei meinem einheimischen Begleiter fällt der Empfang nach vorgeschriebenem traditionellem Ritual wesentlich ausführlicher aus. Dessen Umständlichkeit nimmt eine gewisse Zeit in Anspruch. Wir folgen der Einladung, uns mitten auf die Piste in den Schatten der hohen Dattelpalmen zu setzen. Die Männer bilden einen Kreis, Akamouk und ich werden gegenüber einem älteren, mit einem Tagelmust verschleierten Targi platziert, der von den Anwesenden mit besonderem Respekt behandelt wird. Es stellt sich heraus, dass es der Amrar, der Sheikh der Ansiedlung mit seinem Gefolge ist. Wegen der Nähe zu den Häusern hat niemand Utensilien für die Zubereitung von Tee dabei. Um uns in traditioneller Gastfreundschaft zu begrüßen, schickt der Chef des Dorfes zwei Jungen auf die umliegenden Palmen, damit sie für uns Datteln pflücken. Einer der Herren aus dem Gefolge zaubert eine Plastikschüssel unter seinem Burnus hervor. Mit erstaunlicher Geschicklichkeit klettern die Jungen in die Wipfel und füllen sie rasch mit den kleinen, aber unglaublich schmackhaften frischen Früchten. Diese werden an alle Anwesenden verteilt, und ich genieße den unverfälschten Geschmack der frischen Datteln. Wir sind hier an den Ausläufern des hinter uns liegenden Bergmassivs und erhalten die Information, dass der Weg bis zur Route National 1, der Trans-Sahara-Straße, in extrem schlechtem Zustand ist. Für diese Nebenverbindung fühlt sich anscheinend keine Behörde verantwortlich und es gibt massive Sandverwehungen. Wir schlagen die freundlich gemeinte Einladung, im Ort zu übernachten höflich aus und fahren weiter, bis hinunter zum Beginn der Hamada.
Es ist schon dunkel und wir bereiten uns für die Nacht vor. Akamouk lehnt das Angebot, den unvermeidlichen Tee auf meinem Gaskocher zuzubereiten ab, er hat ausreichend Holz gesammelt. Einem Targi bei der Teezeremonie zuzusehen, ist ein besonderes Vergnügen. Eindrucksvoll ist immer wieder, mit welcher Treffsicherheit und Eleganzin einem Strahl aus großer Höhe der fertige Tee aus der Kanne in die kleinen Gläser gegossen wird, ohne dabei nur einen Tropfen zu verlieren. Gelbgrün opalisierend ist das auf diese Weise mit Sauerstoff versetzte Getränk jedes Mal gleichbleibend in Qualität und Wirkung. So auch an diesem Abend, an dem ich heilfroh bin, nicht allein zu sein. Gleich nach dem Tee legen wir uns schlafen, der Targi auf seinem Teppich, ich im Schlafsack auf dem Feldbett. Irgendwelche Nachttiere fiepen, kläffen oder surren um uns herum. Ober mir spannt sich der märchenhafte, mit vielen Sternen übersäte Nachthimmel. Ich überlege, ob Akamouk nicht neben seiner Geschäfte andere Gründe hat, meine Fahrt hier mitzumachen? Er weiß sicher über die Gefahren auf dieser Strecke Bescheid. Trotz des mit Daunen gefüllten Schlafsacks wird es eine recht kühle Nacht und ich freue mich an diesem Morgen, im Osten das aufsteigende Tageslicht zu sehen. Es verspricht Wärme. Akamouk legt schon seine Decken in den Landrover, ich rolle meinen Schlafsack zusammen und falte das Feldbett auf sein Minimum.
Das Morgenlicht wird schnell heller, sodass wir gleich starten. Die ersten Kilometer auf dem Geröll der hinter uns liegenden Berge sind flott bewältigt. Einige Sandverwehungen queren wir ohne größere Schwierigkeiten. Doch dann ist unvermittelt Schluss. Da wir uns gegen Osten bewegen, steigt die Sonne genau in Fahrtrichtung über dem Horizont auf, und blendet trotz Sonnenbrille. Ich kann die vor uns liegende Strecke nur mehr schemenhaft wahrnehmen, wegen der harten Wellblechpiste am Gas bleibend fahre ich direkt in ein mit Treibsand gefülltes Loch. Typischer Fehler eines Anfängers, nur teilweise durch die Blendung der Sonne entschuldbar. Äußerst vorsichtig versuche ich, mit niedrigster Übersetzung und Allradantrieb aus der Falle zu entkommen. Vergebens, der Sand ist trotz der frühen Morgenstunde schon zu trocken. Um weiteres Eingraben der Räder zu vermeiden, stelle ich den Motor ab und wir steigen aus dem Auto. Der Wagen steckt bis zu den Achsen im feinen Wüstensand. Während ich die Schaufel aus dem Landrover klaube, geht Akamouk voraus, um zu sehen, wo die befahrbare Piste wieder anfängt, bzw. weitergeht. Inzwischen schaufle ich vor den Vorderrädern Sand weg, so dass man die Sandbleche unterschieben kann.
Akamouk kehrt mit schlechten Nachrichten zurück, die Wanderdüne ist überaus breit und sie von hier aus zu umfahren nicht möglich. Das bedeutet vor allen vier Rädern den Sand wegschaufeln, Bleche legen und so weit es geht zu fahren, auf der schon bewältigten Strecke zurückgehen, die Sandbleche holen, erneut ausgraben. Die Schieflage des Rovers begünstigt das Eingraben der Räder deutlich. Diese Aktionen sind so lange zu wiederholen, bis es wieder festeren Grund gibt. Wir heben die Sandbleche herunter und platzieren sie unter und vor den Vorderrädern. Ich richte sie präzis ein, Akamouk gräbt die Hinterräder frei. Mit Allradantrieb vorsichtig losfahren, dann Gas geben und so schnell wie möglich weiter, so lange, bis die Räder neuerlich im Sand versinken. Ein paar Meter sind geschafft. Akamouk läuft zurück, holt die zugeschütteten Bleche aus dem Sand. Wir graben beide, einer mit der Schaufel, der andere mit bloßen Händen. Mehrmals wiederholen sich diese Vorgänge. Die Sonne sticht gewaltig, das Schaufeln wird mühsamer, der Sand ist jetzt noch trockener und unbefahrbarer geworden. Ich zähle die Stationen nicht mit, doch nach geschätzten viermal graben packt den Rover der Ehrgeiz und er fährt und fährt, bis die Steinwüste wieder erkennbar ist. Ich spüre meinen Puls rasend schnell am Hals pochen, mein Hemd ist klatschnass und ich stapfe durch den weichen Sand in der langen, von mir gefahrenen Spur zurück zur letzten Grabstelle. Schon von Weitem sehe ich Akamouk, beide Bleche schleppend. Ich beeile mich, ihm entgegen zu kommen, und übernehme eines der schweren Sandbleche. Er windet seine Kopfbedeckung zu einem Knäuel und trägt das eine Blech auf dem Kopf, ich Europäer das andere unterm Arm.
Beim Auto angekommen fülle ich aus der Gerba zwei Becher mit Wasser bis zum Rand und wir trinken das herrlich kühle Nass. In einer Aufwallung von Dankbarkeit will ich den Targi umarmen, doch es bleibt bei einem herzlichen Händedruck. Mehr wage ich nicht, denn es ist schwer abzuschätzen, wie Akamouk europäische Dankesbezeigungen aufnehmen würde, die über Schulterklopfen hinausgehen. Wir beschließen, keine Pause einzulegen, sondern weiterzufahren.
Bis auf einige leicht zu umfahrende kleinere Verwehungen verläuft die Weiterfahrt ohne Probleme. Am späten Nachmittag sehen wir aus der Ferne die Route Transsaharienne in der Hitze flimmern, die vom Mittelmeer bis nach Lagos führt. Diese 4.500 Kilometer lange Straße wurde 1960 in Zusammenarbeit der Staaten Algerien, Mali, Niger, Tschad und Nigeria zur Belebung des Handels gebaut. Das ehrgeizige Unternehmen nimmt in Algier mit einer prächtigen vierspurigen Autobahn seinen Anfang, die sich später bis Ghardaia in eine normale Landstraße verwandelt. Von dort geht die zunehmend weniger gewartete, aber teilweise asphaltierte Straße zur algerischen Grenzstation In Guezzam, unserem ersten Ziel. Die Dunkelheit bricht schnell herein, wir sind hungrig und müde. Akamouk kocht Tee und ich bereite aus einem Teil des von Michelle vorbereiteten Proviants ein Abendessen. Erschöpft schlafen wir bis in die frühen Morgenstunden und erreichen nach kurzer Fahrt den Asphalt der großen Straße. Ein Wegweiser zeigt die Richtung an und verrät, dass weitere 150 Kilometer bis zur Grenzstation zu fahren sind. Es ist ein seit Wochen vermisstes Vergnügen, auf glattem Untergrund sicher dahin zu gleiten. Nach einer Stunde Fahrt zwingt uns eine Militärstreife an den Straßenrand. Das wird ein eher längerer Aufenthalt, denn die Militärs können unsere Papiere nicht an Ort und Stelle überprüfen. Sie schicken einen Boten mit den Dokumenten nach dem 200 Kilometer entfernten Tamanrasset. Akamouk lässt die Bescheinigungen nicht aus den Augen und fährt mit, ich bleibe beim Wagen. In den folgenden Stunden des Wartens passieren zwei riesige mit Menschen und Bündeln überladene Sahara-Lkws den Kontrollposten in Richtung Süden, ohne aufgehalten zu werden. Ich grabe in Erinnerungen und nütze die Zeit, um ausführliche Notizen für mein Buch zu machen, die ich nach unserer Rückkehr zu den Mouloudjies ins Reine übertragen werde:
Wellblechpiste
IIm Jahr 1956 führte von Mecheria eine die Stoßdämpfer mordende Wellblechpiste über viele Kilometer nach Colomb-Bechar. Dort trafen wir, die Österreichische Westafrikaexpedition 1955–56, um drei Uhr nachts erschöpft vor der Post am Hauptplatz ein. Unsere Hoffnung auf ein bequemes Nachtquartier zerschlug sich schnell, da das von Walter angepeilte „maurische Bad“ verschlossen blieb.Wir übernachteten dort in den Autos, was uns in Erinnerung rief, dass wir unserr Ansprüche auf das Nötigste beschränken müssen. Am nächsten Tag wurden die Briefe vom nahen Postamt geholt und die pflichtgemäße Anmeldung bei der Polizei erledigt. Was wie ein formaler Akt klang, entpuppte sich als langwieriges Abenteuer mit mehrstündigen Verhören durch sichtlich schlecht gelaunte Beamte. Wenigstens durften wir danach im „Waschraum“ der Offiziersmesse endlich wieder einmal Körperpflege betreiben, ein seltener Luxus, den wir fast ehrfürchtig genossen. Ja, und neue Stempel zierten unsere Reisepässe mit dem Datum 22. Februar 1956. Und ich kam in den Besitz einer Uhr. Mackie fand in einer Verhörpause den Karton mit den eher anspruchslosen Uhren, die uns die Wiener Vertretung von Timex zum Zwecke der Verteilung in Schwarzafrika mitgegeben hatte. Sie waren später in Form von Geschenken und „Türöffnern“ recht nützlich. Die geschätzten Zeitangaben nach Walters Uhr waren damit auf jeden Fall Geschichte.
Am frühen Abend, nach den langwierigen Polizeiverhören, setzten wir unsere Fahrt fort. Es war nicht weit bis Taghit, einer reizvollen Oase. Es war der perfekte Ort, um erstmals im Laufe dieser Expedition ein Lager mit Zelten aufzuschlagen. Der Plan klang vielversprechend, bis wir uns mit der Praxis konfrontiert sahen. Diese war von all den Tücken begleitet, die ein erstmaliger Zeltaufbau durch Ungeübte mit sich bringt. Walter, der sich solchen Mühen konsequent verweigerte, bettete sich pragmatisch auf seiner Luftmatratze und ein paar Decken im Sand. Ja, das war Afrika! Wir vier, die vorher noch nie so weit im Süden waren, fühlten uns in unserem Expeditionsvorhaben bestätigt und erlebten anhaltende Glücksgefühle. Diese schlichte Freude, in einer richtigen Oase zu campen, trug uns durch den Abend. Nur Walter blieb von solchen emotionalen Höhenflügen unberührt. Das änderte auch nicht das folgende ausgiebige Abendmahl, das wir uns nach den Strapazen auf der geöffneten, zum Tisch umfunktionierten Heckklappe des Père Ubu gönnten.
Lager in Taghit
„Ausspeisung“ In der Oase Taghit
Taghit
Nachtlager in Taghit
Mit ihren Brüdern im Norden verwandt, sind in dieser Region Berber ansässig, die sich einst als Sklavenhalter und Sklavenhändler einen Namen machten. Das Leben an diesen Wasserstellen der Sahara war seit urdenklichen Zeiten bis jetzt das gleiche geblieben. Erst auf Anordnung von Beamten des französischen Militärs wurde eine der wichtigsten Einnahmequellen, die Sklaverei offiziell abgeschafft. Seit vor Jahrhunderten die ersten arabischen Karawanen die Sahara zum Sudan durchquerten, brachten sie von dort ihre Sklaven, das „schwarze Elfenbein“ mit nach dem Norden. Sklavenhaltung und –handel waren das angemaßte Recht der wohlhabenden Araber dieses Gebietes am nördlichen Rand der Sahara. Um das Verbot zu umgehen, wurden die Sklaven kurzerhand zu Dienern befördert. Außer einer neuen Bezeichnung änderte sich für die Schwarzen nichts an deren Lebensumständen.
Umringt von staunenden Kindern aller Farbschattierungen von tiefschwarz bis ganz hell, brachen wir unser Lager ab und strebten weiter nach Süden. Die ersten bis zu hundert Meter hohen Sanddünen tauchten links und rechts von der Piste auf, mit ihrer bräunlich-gelben Farbe die eintönige Hamada, die graue Stein- und Felswüste unterbrechend. In Igli, im Büro der Societé Mer – Niger erfuhren wir mehr über den Zustand der folgenden Strecke. Überschwemmungen und Sandstürme wurden uns prophezeit, Ankündigungen die zu unserem Leidwesen in der Folge auch eintrafen. Da mussten wir durch. Mit einer Mischung aus Trotz und Resignation fuhren wir auf einer Wellblechpiste der übelsten Ausformung unserem nächsten Etappenziel, der Oase Kerzáz, entgegen.
Kurze Rast an der Tanezrouft
Kurz vor dem geplanten Etappenziel machte der IFA auf sich aufmerksam, indem er überdurchschnittlich zu saufen begann. Und zwar in einem Ausmaß, das den Neid seiner momentanen Besitzer erregte: zwölf Liter auf zwanzig Kilometer! Zusätzlich bekam er Fieber, die Temperatur des Kühlwassers sprang auf 95° Celsius. Und das bei durchaus kalten Außentemperaturen. Zweifel an der Tauglichkeit für Afrika dieses DDR-Produktes kamen hoch. In kurzen Abständen wurden nervende Pausen zur Abkühlung des Antriebes eingelegt. Endlich reinigten Schani und Walter eine verstopfte Düse im Vergaser, was der Motor mit exzellentem Gleichlauf und normaler Konsumation dankte. Doch nach etwa fünf Kilometern Pistenfahrt war der IFA F9 wieder dem Kochen nahe. Mein Rat, den Kühler auszubauen und zu reinigen wurde zwar befolgt, verringerte aber den allgemeinen Wasservorrat auf ein gefährliches Minimum. In flotter Fahrt erreichten wir zu nächtlicher Stunde Kerzaz, wo wir vor den Portalen des Hotels unser Lager aufschlugen. Ein Umstand, der unerfreuliche Diskussionen mit dem Hotelpersonal oder dessen Besitzer zur Folge hatte, der unsere Zeltstadt offenbar nicht zu schätzen wusste. Wir meldeten uns pflichtschuldig beim ebenso ungehaltenen Militärkommandanten und tankten bei der Tankstelle des Hotels auf. Scheinbar achtlos weggeworfen lag dort ein Benzinkanister, den wir zu unserer Sicherheit mitzunehmen gedachten. Dieses Unterfangen zog einen heftigen Streit mit dem Tankwart über die Besitzrechte an dem Kanister nach sich. Kerzaz war einer der wenigen Ortschaften, die uns nicht freundlich empfingen. Nur gut, dass wir diesen widerspenstigen Ort am Nachmittag schnell wieder verließen.
Eine frisch angewehte Sanddüne versperrte die Ausfahrt aus der Oase. Walter versuchte den IFA mit gehörigem Anlauf über die Düne zu jagen. Aber die 28 PS schafften es nicht einmal bis zur Hälfte. Nach ein paar Versuchen krachte es im Getriebe und ließ sich daraufhin nicht mehr schalten. Père Ubu musste den kleineren Wagen in eine Baracke der Société Mer-Niger schleppen., wo wir fassungslos einen dünnen Strahl Öl aus dem Gehäuse des Getriebes fließen sahen. Zum Glück lebte im Ort ein tüchtiger Schweizer Mechaniker, namens Hans Weyanet, der eine Autowerkstatt betrieb. Er kam, sah und stellte fest, dass das Getriebe und sein Kasten nicht mehr zu reparieren sind. Das war keineswegs hilfreich. Trotz dieser niederschmetternden Diagnose hielten wir uns an unseren Schwur, das Auto nicht aufzugeben. Umgehend schickten wir ein Telegramm an den Wiener IFA – Vertrieb, mit der Bitte um ein Ersatzgetriebe. Der Kommandant, er herrschte über ein Gebiet geschätzt halb so groß wie Österreich, bekleidete den Rang eines Lieutenants der französischen Armee, zeigte plötzlich seine freundlichere Seite. Vermutlich freute er sich auf die Abwechslung im öden Wüstenleben, die unsere Anwesenheit versprach. Ihm diese zu bieten waren wir in der folgenden Zeit eifrig bemüht. Er bot uns die sichere Aufbewahrung der von uns mitgeführten wertvollen Technik wie Kameras und Tonbandgeräte an. Auf seine Intervention hin erhielten wir für die Dauer unseres Aufenthaltes eine alleinstehende leere Lagerhalle der Societé Mer-Niger zugewiesen, welche ein großes Einfahrtstor, keine Fenster, dafür aber Luftlöcher knapp unter dem Blechdach hatte. Mauerlöcher, die zumindest einen Hauch von Wüstenwind hineinließen, eine Art Sahara-Klimaanlage
Unsere Lagerhalle in Kerzáz
Drei Wochen Aufenthalt standen uns bevor! Sorge erfüllte uns, dass wir den Zweck der Expedition und die in uns gesetzten Erwartungen womöglich nicht erfüllen werden. Wir haben von den Soldaten klappbare Feldbetten geliehen bekommen. Die gaben uns die Sicherheit, in den Nächten nicht von den zahlreichen Skorpionen gestochen, oder von Schlangen gebissen zu werden. Ein Komfort, der nicht zu unterschätzen war. Lagerleben hatten wir schon vorher geübt, allein unsere Kochkünste waren bisher nicht so ausgereift, dass wir ohne Konserven auskamen.
Schnell haben wir uns in das soziale Leben von Kerzáz integriert. Wir trieben Sport, indem wir gegen die dort stationierten Soldaten Fußball spielten. Das brachte uns eine Einladung auf Bier und zwei leicht invalide Mitglieder der Expedition ein. Hans, der Schweizer, gesellte sich dazu und spendierte einige Runden Rotwein im Hotel. Später matchten wir uns sogar mit der Fußballmannschaft von Kerzáz, die wir später einmal bei einem Spiel gegen die Mannschaft von Beni Abbes, einer nördlich gelegenen kleinen Wüstenstadt, erfolgreich unterstützten..
Am 27. Februar 1956 feierten wir feuchtfröhlich den einunddreißigsten Geburtstag von Mackie. Wir hatten dabei Gesellschaft von Hans, dem Schweizer und der Leiterin einer am selben Tag eingetroffenen französischen Reisegruppe. Leider erwies sich das geplante Geburtstagsmenü, Reis mit Kichererbsen, als absolut ungenießbar. Das hielt die Festgesellschaft nicht davon ab, unter Absingen vaterländischer Lieder über den Platz der Oase zum Hotel zu ziehen. Dort gingen die Feierlichkeiten munter weiter. Hans Kopecky und die Reiseleiterin beschlossen einen nächtlichen Rundgang durch den Ort bei Mondschein, von dem Hans erst im Morgengrauen zurückkehrte.
Spät, sehr spät in der Nacht fielen wir auf unsere Feldbetten und schliefen tief, bis uns Schani abrupt mit den Worten weckte: „Brennt, brennt, wir ‘aben Brand ge’abt ‘eute Nackt!“ Durch das offene Tor sahen wir im Mondlicht vor der Einfahrt die glosende Bettdecke unseres Belgiers. Ob er selbst oder Mackie die Decke mittels einer brennenden Zigarette angezündet hatte, konnte nie mehr schlüssig festgestellt werden. Bei Tagesanbruch wurden wir nochmals geweckt, ein Bursche vom Hotel brachte ein paar Dosen Bier, welche die Reiseleiterin vor ihrer Weiterfahrt noch schnell für uns gespendet hatte. Hans scheint bei Ihr einen positiven Eindruck hinterlassen zu haben.
Meine Freunde begaben sich später zum Markt vom Douar, um frische Lebensmittel zu kaufen. Dort mussten sie Walter, unseren sparsamen Kassenwart, mit Gewalt davon zurückhalten, sich von den ohnedies nicht reichen Oasenbewohnern Gemüse schenken zu lassen. Seine Mitleid heischende Verhandlungstaktik war wesentlich ausgereifter, als die der ansässigen Bauern. Ich nützte diese Zeit, mein Tonbandgerät aufzubauen. Da das Stromaggregat der Oase nur innerhalb der dunklen Nachtstunden lief, war eine Inbetriebnahme der Elektronik tagsüber nicht möglich. Für den nächsten Abend hatten wir mit Musikern aus der Nachbaroase eine Aufnahmesession vereinbart, aber die Herren erschienen nicht. Wieder ein Rückschlag für mich. In der Absicht, Frust und Langeweile damit zu vertreiben, und da die Technik nun schon einmal betriebsfertig stand, schlug Walter vor, wir sollten jeder etwas singen, und zwar so schön wie möglich. Ich habe bemerkenswert unorthodoxe Interpretationen von Mozarts Bildnis- und Hallenarie, Nicolais „Als Knäblein klein an der Mutterbrust“, oder Johann Strauss‘ „Im tiefen Keller sitz‘ ich hier“ zu hören bekommen, die mich zutiefst berührten. wurden von mir Da BASFgroßzügig mit geschenktem Bandmaterial für die Arbeiten der Expedition war, wurden diese Dokumente unserer fortgeschrittenen Sangeskunst sorgfältig konserviert. Obwohl diese Aufnahmen weder wissenschaftlich bedeutend, geschweige denn künstlerisch hochwertig waren.
Le Commandant de Kerzaz
Ein weiteres Fest bereicherte unsere Zeit in Kerzáz. Just in die Zeit unseres Aufenthaltes fiel die Beförderung des amtierenden Lieutenants zum Capitaine. Dieser lud uns zu dieser Feier schriftlich ein und ich wurde gebeten, das „starke“ Telefunken-Tonbandgerät mitzubringen. Anscheinend geriet das Stromaggregat von Kerzáz durch die Festbeleuchtung und andere elektrische Festlichkeiten an seine Grenzen. dass sowohl Spannung als auch Frequenz der Stromversorgung nicht mit dem Magnetophon koordinierten. Die wiederzugebende Musik von Sidney Bechet jaulte entsetzlich. Dies sorgte nicht nur bei mir, sondern auch beim Militär für eine gewisse Verstimmung. Aber die österreichische Tabakregie hatte uns ein paar Packungen Zigarren der Marke „Großglockner“ mitgegeben, die wir bei dieser Gelegenheit großzügig verteilten und damit den Abend wieder ins Gleichgewicht brachten. Selbst der Scheich von Kerzáz hatte uns liebgewonnen und lud zu einem Meshoui (Hammel am Spieß) und Couscous ein. Dafür hatte ihm Mackie seine Pistole verkaufen müssen.
Am Beginn der vierten Woche in der Oase erreichte uns ein Telegramm mit der Mitteilung, dass das Ersatzgetriebe auf den Weg gebracht worden sei. Der Tag, an dem die Nachricht eintraf, war der erste wirklich warme seit unserem Aufenthalt, Mit Eifer machten wir uns an die Reparatur der Holzkarosserie des Père Ubu, die wegen der trockenen Luft an einigen Stellen zu zerfallen drohte. Aus dem IFA wurde der komplette Motor ausgebaut. Am nächsten Tag kam das ersehnte Ersatzteil. Zu unserem nicht geringen Schreck waren die gesamten Kosten für den Transport von Wien bis hierher aus eigener Tasche zu bezahlen, was unserem Kassenwart fast einen Nervenzusammenbruch bescherte. Doch es blieb keine Zeit für lange Diskussionen, wir bauten das neue Getriebe und den Motor wieder ein. Diese Arbeiten verrichteten wir selbst, denn der Schweizer wäre zu teuer gekommen. Innerhalb einer Rekordzeit von wenigen Stunden gelangen Walter und mir die Einbauten ohne Kran und ohne Hebebühne.
Aus/Einbau Motor u. Getriebe
Das „böse“ Getriebe
Zu Mittag tauchte ein Engländer mit seinem Motorrad bei uns auf. Er wollte allein bis nach Accra, an die Goldküste. Das Fahrzeug hatte eine Panne, Schani, unser Mann für alle technischen Herausforderungen, half ihm bei der Reparatur. Am späten Nachmittag startete der IFA wieder. Sein Geknatter war Musik für unsere Ohren. Sorgfältig beluden wir die Autos, füllten die Wasserreserven auf, und stiegen daraufhin auf einen letzten, diesmal tatsächlich kurzen Abschiedsdrink zum Capitaine auf den „Berg“. Wir hatten nur vor, weg- und weiterkommen.
Bei erster Morgendämmerung sprangen wir von den Feldbetten, packten die persönlichen Sachen zusammen und machten uns gut gelaunt bei Tagesanbruch auf den Weg. Uns war bewusst, dass wir bis Gao am Niger weitere 2.000 Kilometer Wüstenpisten und Sand zu bewältigen haben. Zügig fuhren wir durch Täler gebirgiger Landschaften, bis der Motor des IFA wieder einmal kochte. Kein Wunder für ein Auto, das für die glatten Straßen Europas konstruiert war, hier aber stets mit Höchsleistung durch schwieriges Gelände getrieben wurde. Kurzerhand wurde die Kühlerhaube abmontiert und dem Père Ubu aufs Dach gebunden. Das war die Lösung des Problems. Nach einiger Zeit öffnete sich die Bergwelt und vor uns lag die unendliche Fläche der Hamada, einer von Sandflächen unterbrochenen riesigen Steinwüste. Voll Zuversicht stürzten wir uns da hinein, ins Ungewisse. Die Fahrt verlief ohne Probleme, bis sich hundert Kilometer vor Adrar, unserem Etappenziel, Père Ubu eine Feder brach. Eine relativ einfache Reparatur, ich wechselte die gebrochene Lamelle innerhalb von zwei Stunden gegen eine neue. Kurz nach der Oase Sbaa bekamen wir einen kleinen Vorgeschmack auf die vor uns liegenden 1.800 Kilometer. Wir gruben den F9 mehrmals mit bloßen Händen aus dem Sand aus, über besonders schwierigen Passagen schleppte ihn der Geländewagen.
Erst spät in der Nacht erreichten wir Adrar, die „Stadt aus Schokolade“. Alle Häuser waren aus dunkelbraunem Lehm errichtet. Sie vermittelten damit den Eindruck, in einer Konditorei zwischen überdimensionalem Konfekt zu weilen. Leichte Schwindelanfälle überfielen mich überraschend, vermutlich durch die anstrengenden Tätigkeiten des vergangenen Tages verursacht. Stundenlanges fahren im Sand, Autos reparieren und ausgraben, alles Kraft und Energie fordernde Einsätze, haben ihren Tribut gefordert.
Für ein Mietentgelt von 300 FF bezogen die insgesamt fünf Mitglieder der Expedition im Hotel „Marabou“ einen leeren Raum. Der Engländer mit seinem Motorrad war uns zuvorgekommen und residierte luxuriös in einem „richtigen“ Zimmer nebenan. Aufgrund meines anhaltenden Schwindels nahm ich dankbar sein verständnisvolles Angebot an, sein Quartier zu teilen, und fand mich plötzlich in einem ungewohnt bequemen Bett wieder.
Während unserer kurzen Reisepause in Adrar verteilte sich die Gruppe zielstrebig auf ihre Aufgaben. Schani und Walter schraubten eifrig an den Autos herum, während Mackie und Kopecky die Stadt fotografisch erkundeten. Adrar selbst bot genug Stoff für Bewunderung und Geschichten. Die Stadt lag nahe von Wasserquellen und verfügte über ein ausgeklügeltes System von Wasserkanälen, das seit Jahrhunderten verwendet wurde, um Wasser aus den umliegenden Bergen in die Stadt zu leiten. Diese Kanäle, „Foggaras“ genannt, waren ein wichtiger Teil der traditionellen Lebensweise der Bewohner. Sie ermöglichten es den Menschen, in einer Region zu leben, die sonst zu trocken wäre, um eine dauerhafte Siedlung zu unterhalten. Die Foggaras waren eine Erfindung der Berber, die diese Technik seit Jahrtausenden nutzten, um Wasser aus dem Grundwasserstrom in die Siedlungen zu bringen. Sie wurden von Generation zu Generation genutzt und sind bis heute ein wichtiger Bestandteil des Lebens in Adrar. Die Kanäle waren oft mehrere Kilometer lang und wurden von einer Gruppe von Arbeitern, die als „Foggaraschis“ bekannt waren, gewartet und instand gehalten. Man erzählte uns, dass sogar Fische darin leben. Insgesamt war Adrar eine faszinierende Stadt, geprägt von einer reichen Geschichte und Kultur. Die Foggaras sind nur ein Beispiel für die erstaunlichen technischen Leistungen, die von den Menschen in der Sahara-Wüste geschaffen wurden, um in einer der extremsten Gegenden der Erde zu überleben.
Johns Abenteuer nahm ebenfalls eine unvorhergesehene Wendung. Die Behörden untersagten ihm die Weiterfahrt allein durch die Sahara. Widerwillig lud er sein Motorrad auf einen LKW, was bei ihm sichtbar gemischte Gefühle hervorrief. Doch die Wüste ist unerbittlich, und Regeln sind Regeln, zumindest in der Theorie. An dem von uns mitgeführten Wassertank war ein Leck entstanden, das mit den in Adrar verfügbaren Mitteln nicht zu reparieren war. Walter kaufte am Markt eine zusammengenähte Ziegenhaut, eine Gerba, die wir mit frischem Wasser füllten und seitlich außen an den Père Ubu banden. Damit war unsere Versorgung mit Trinkwasser gesichert. Das überladene Fahrzeug nahm das zusätzliche Gewicht stoisch hin, während wir uns fragten, wie lange das gutgehen würde.
Südlich Adrar war die Wüste eben wie ein Brett, auch keine Dünen weit und breit. Die Piste wurde hier kilometerbreit, jeder Durchfahrende suchte in der Ebene für sein Fahrzeug einen Weg dort, wo er den besten Untergrund vermutete, um nicht im Sand stecken zu bleiben. Die Beschaffenheit des Sandes konnte sich von Stunde zu Stunde ändern, sodass es nicht ratsam war, einer Spur zu folgen und sich auf diese zu verlassen. Einige böse Überraschungen erlebten wir, weil wir ein Auto, das nicht für die Wüste gebaut war, über die Distanz bringen mussten.
Graben mit bloßen HändenUntauglicher Versuch selbst freizukommen
Wie Maulwürfe wühlten wir uns weiter durch den Sand bis zur Oase Reggan, wo wir endlich unsere Wasservorräte auffüllen wollten. Es blieb beim bloßen Willen. Wasser gab es schon, aber es war trübe und für Europäer nicht genießbar. Bis zum nächsten Lagerplatz schleppte Père Ubu den IFA mit einem zum wiederholten Male reißenden Seil. Als wäre das nicht genug, beschloss die Sahara, uns mit einem Sandsturm zu testen. Der Wind warf uns Sandkörner ins Gesicht, die sich in jede Ritze bohrten und uns zwangen, nahezu blind weiterzufahren, bis wir anhalten mussten. Sand in allen Körperöffnungen verspürend, waren wir erleichtert, als der Sturm nachließ. Endlich wieder eine Nacht unter freiem Himmel. Die Sternenpracht war in ihrer Schönheit erdrückend und greifbar nah. Nach diesem ohrenbetäubendem Sturm war die Stille fast körperlich spürbar. Kein Laut, kein Hauch, nur das Flüstern der Sandkörner. Obwohl allen bewusst war, dass noch 1.500 Kilometer Durstwüste vor uns lagen, waren wir glücklich, weil die Expedition trotz der Umstände mobil war. Unsere Zuversicht kannte nach der bisher bewältigten Strecke keine Grenzen. Wir spürten, dass wir eine eingespielte Einheit geworden waren. Unsere Abenteuerlust war ungebrochen, und der Vergleich mit Clouzot’s Schwarzweißfilm Lohn der Angst wurde zunehmend treffender. Wir zitierten ihn so oft, dass es fast zu einem Ritual wurde. Ein schräger Trost inmitten der lebensfeindlichen Weite.
François erkundigt sich beim Frühstück nach dem Ergebnis der Kamelsuche, die Akamouk und ich gestern unternommen haben. Ich erzähle ihm von den Erlebnissen und von der durch eine Düne verschütteten Siedlung, die mein Mitgefühl für die armen vom Sand vertriebenen Menschen weckte. Er meint, das sei eine typisch europäische Betrachtungsweise solcher Ereignisse. Die Wüstenbewohner betrachten das als Kismet, ihr Schicksal. Diese Einstellung erspart ihnen eine Menge Aufregung. Dazu sind die Bewohner dieser Oasen Halbnomaden und emotional nicht an Orte gebunden. Sie suchen in den Weiten der Sahara eine andere Stelle, die ihnen das zum Überleben notwendige Wasser und genügend Nahrung für ihr Vieh bietet. Eine derart gewaltige Wanderdüne ist eine unaufhaltsame Katastrophe, für jeden sichtbar und abzuschätzen. Die Bewohner eines dem Untergang geweihten Dorfes wissen das und treffen rechtzeitig Vorkehrungen. Obwohl der Sand mit dem drohenden Wandel des Klimas nichts zu tun hat, vergleicht François die im Grunde verschiedenen Faktoren miteinander. Die Afrikaner, egal welcher Hauttönung, haben ihre natürlichen Sensoren trotz des kolonialistischen Einflusses bewahrt. Sie erahnen vielfach, was auf sie zukommt. Im Fall des wandernden Sandes können sie das Herannahen des aus Erfahrung Unvermeidlichen sehen, ja greifen. Bei uns liegt die Sache anders. Wir sind in unseren Kulturkreisen ausschließlich auf Informationen bezahlter oder freier Wissenschaftler angewiesen. Die liegen in ihren Aussagen aber weit auseinander, sodass sich Unsicherheit und Sorgen aufbauen.
François ist so richtig in Fahrt, er kommt zu meinem Tisch herüber. Ich versuche, mein Frühstück in Ruhe zu genießen, vor allem den ausgezeichneten Ziegencamembert, den Michelle nur selten herausrückt, weil der Transport dieser Köstlichkeit hierher schwierig und kostspielig ist. Der alte Pied noire macht sich Sorgen um Europa, denn er kann einige Fernsehsender von Satelliten empfangen, und verbringt nicht wenig Zeit mit Radiohören. Obwohl seit Jahrzehnten von arabischer Kultur umgeben, hat er seine französische Identität nie abgelegt. Er beklagt sich, dass verschiedene Umweltorganisationen radikale Züge anzunehmen scheinen. Sicher nicht ohne Absicht wurden die beiden, zwar nahe beieinander liegenden, dennoch unterschiedlichen Themen Umweltschutz und Klimawandel zu dem Begriff Klimaschutz zusammengefasst. Weltweit werden nach dem Vorbild der ehemaligen Kulturrevolution in China ungezügelte Demonstrationen organisiert. Die durch den natürlichen Klimawandel ausgelösten Katastrophen vermischt man mit den durch die Menschen herbei geführten. Inzwischen ist Michelle aus der Küche gekommen. Sie hört eine Weile zu und verdreht hinter seinem Rücken komisch ihre Augen zu einem unsichtbaren Himmel. Den Redeschwall unterbricht sie mit der Mitteilung, dass ein paar Lebensmittel zur Neige gingen, die bestellt oder in Bordij Mokhtar eingekauft werden müssten. Das sollte mir Ruhe für den Verzehr des Restes der Mahlzeit verschaffen. Im Weggehen wirft mir François die Bemerkung hin, dass es sicher von Bedeutung sei, dass man heranwachsende Mädchen und junge Frauen als Galionsfiguren für diese Bewegung heranzieht.
Mit dem von ihm angesprochenen, aber nicht aufgelösten Thema verschwindet er und ich wende mich den letzten Bissen meines Frühstücks zu. Michelle meint entschuldigend, ihr Mann würde täglich Fernsehen und es gäbe niemand, dem er sich mitteilen könne. Im Verlauf seines eruptiven Vortrags hat er nie um meine Stellungnahme gebeten. Demnach schwieg ich. Es ist auffallend, dass sich die „Wilden“ Afrikas diesen Problemen wesentlich pragmatischer nähern, als die „Zivilisierten“ Europas. Afrika war der erste Kontinent, der dem beginnenden Klimawandel durch lange Perioden von Dürre, abwechselnd mit verheerenden Überschwemmungen ausgesetzt war, die ganze Regionen unbewohnbar machten. Zuerst waren Eritrea und Äthiopien betroffen, später Somalia und die Sudanstaaten. Von Ostafrika bewegten sich die Katastrophen gegen Westen. Die am schwersten betroffenen Gebiete lagen und liegen in der Sahelzone. Sie zieht sich wie ein Gürtel über den gesamten Kontinent. Die über lange Zeit anhaltenden Dürreperioden trafen und treffen die dort liegenden Staaten überaus hart. Kolonialmächte und einflussreiche Kunstdüngerfirmen hatten die Länder ihres jeweiligen Einflussbereichs mit Getreidesorten beliefert, die zwar in gemäßigten Klimazonen mehr Ertrag bringen, für Afrika aber nicht ausreichend widerstandsfähig sind. Damit wurden schrittweise die ursprünglichen, wetterresidenten Sorten nahezu ausgerottet. Die neu eingeführten Getreide müssen jedes Jahr frisch gesät werden, was für die afrikanischen Bauern wegen der hohen Kosten unerschwinglich ist. Seit einiger Zeit baut man die bodenständigen Getreidesorten wieder an, da die Samen selbst ein paar Jahre Dürre unbeschadet überstehen. Darüber hinaus hat man vor einem Jahrzehnt das internationale Projekt gestartet, im gesamten Sahelgebiet Millionen Bäume zu pflanzen, in der Erwartung, damit Feuchtigkeit anzuziehen und damit die Wüstenbildung durch Aufforstung zu bekämpfen. Ein wissenschaftlich absolut begründetes Verfahren. Doch trotz erheblicher Investitionen wurden bisher nur etwa 15 bis 18 Prozent des Vorhabens realisiert. Die Überlebensrate der gepflanzten Setzlinge liegt mancherorts bei lediglich 40 Prozent. Es ist ein unterschiedliche Völker und Staaten übergreifendes Unternehmen, bei dem allerdings der Erfolg im erhofften Umfang bisher ausblieb. Man verlegt sich zurzeit darauf, kleinere, überschaubare Gebiete zu bewalden. Dadurch sind die Aussichten auf Bewässerung etwas größer. Die Bauern, die solches realisieren, werden von den jeweiligen Regierungen in der Absicht unterstützt, in einigen Jahren die gesamte Sahelzone von jenen Grünzellen aus wieder fruchtbar zu machen.
In Gedanken verloren klettere ich die Stiege hinauf in das Refugium. François’ emotional aufgeladene Worte hallen nach, und ich spüre Ärger in mir aufsteigen. In solcher Stimmung kann man nicht schreiben. Ich lasse mich auf mein Bett fallen und starre zur Decke. Eine Fliege zieht dort oben ihre Bahnen, krabbelt hektisch im Zickzack über den Verputz. Gelegentlich hebt sie mit Gebrumm ab, um gleich darauf wieder zu landen und ihre eckigen Krabbelbewegungen fortzusetzen. Meine Sympathien gehören diesem munteren Insekt. Diese Spezies hat über Jahrmillionen überlebt, Eiszeiten und Hitzeperioden getrotzt, sich weder von Überschwemmungen noch von Dürrezeiten vertreiben lassen. Bewundernswert, Zeiten, in denen viele Arten ausgestorben sind.
Doch meine Gedanken kehren zurück zu meinem eigentlichen Vorhaben, das mich hierher geführt hat. Die Fahrt in die Wüste war von der Überlegung geleitet, weit weg von solchen Ereignissen und medialen Nachrichten in abgeschiedener Ruhe an den Erinnerungen zu arbeiten, diese niederzuschreiben und dadurch gewisse Selbsterkenntnis zu erfahren. Dach an die ersehnte Unerreichbarkeit, und damit uneingeschränkte Selbstbestimmung ist im Zeitalter allgegenwärtiger Kontrolle nicht einmal hier mehr zu denken. François’ gefühlsbetonter Ausbruch hat Themen berührt, die weit über unser kleines Leben hinausgehen, Themen, die die ganze Welt betreffen, Menschen, Tiere, den Planeten selbst. Sogar hier in der Abgeschiedenheit gibt es davon kein Entkommen. Diese Gedanken kreisen in meinem Kopf, bis sie schwerer werden und mich in leichten Schlaf ziehen.
Lästiges Kitzeln im Gesicht setzt dem Schläfchen nach einigen Minuten ein Ende. Die Fliege hat ihren emsigen Arbeitsplatz auf mich verlagert und scheint Gefallen an meinen Segregationen gefunden zu haben. Mehrmals verscheuche ich sie, sie bleibt ein Weilchen weg, um sich gleich darauf mit Gebrumm wieder auf meine Stirn zurückzukehren. Dieses Spielchen wiederholen wir öfters, wobei die Abstände zwischen Flucht und Wiederkommen immer kürzer werden. Ich vermute, sie testet die Schnelligkeit meiner Reaktionen. Da der Kampf gegen das kleine Biest aussichtslos erscheint, begebe ich mich zum Arbeitstisch, starte den Computer und habe vor zu schreiben. In bewährter Sitzposition müssten Konzentration und Kreativität von selbst kommen. Endlich finde ich eine ausgezeichnete Formulierung für den Beginn des Kapitels, da spüre ich einen zarten Luftzug über der Hand, welche die Maus führt. Die Fliege landet auf meinem Handrücken. Eine kurze Bewegung vertreibt die „musca domestica“, doch sie macht sich keine Mühe, weit wegzufliegen. Sekunden später ist sie zurück, unermüdlich und lästig. Meine Konzentration und die eben gefundene Formulierung sind verloren.
Ärger ergreift langsam von mir Besitz, und ich fasse den Entschluss, das anhängliche und lästige Biest zu fangen. Ich habe mir den Trick angeeignet, Fliegen mit einer schnellen Bewegung von rückwärts zu erwischen. Ohne sie zu verletzen gelingt es mir, die sich heftig Sträubende nach draußen zu transportieren und in die Freiheit zu entlassen. Sekunden später, ist sie wieder da. Wie zu erwarten, landet sie wieder und hebt an, genüsslich Nahrung von meiner Haut zu saugen. Sie hat erkennbar eine schmackhafte Stelle gefunden, denn ihr winziger Rüssel bewegt sich saugend wie wild auf und ab. Als Rechtshänder ist es unmöglich Fluginsekten, noch dazu derart clevere, mit der linken Hand zu erwischen. Aus Begeisterung über das Festmahl merkt sie nicht, dass ich mit ihr behutsam zum Eingang gehe. Langsam drücke ich die Türklinke mit der linken Hand hinunter, trete einen Schritt hinaus und schüttle mit einer heftigen Bewegung den Quälgeist ab. Lautstark fällt die Türe ins Schloss, und ich genieße den Erfolg, endlich wieder allein zu sein. Habe ich bereits erwähnt, dass dieses Tier schlau ist? Auf jeden Fall summt sie trotz meiner taktisch genialen Aktion wieder bei mir im Zimmer herum. Doch scheint sie begriffen zu haben, dass ich sie, zumindest bei der Arbeit, nicht auf mir haben will. Jetzt macht sie dort oben wieder ihre Lauf- und Flugübungen und zieht ihre Platzrunden. Erneut wirkt Ihr Summen beruhigend auf mich, die Konzentration kehrt zurück und ich hacke meine Sätze in den Computer. Nach einer Pause ungewöhnlicher Stille stattet sie dem Bildschirm einen kurzen Besuch ab. Sie sucht sich eine geeignete Stelle, hinterlässt eine winzige Fäkalie als grammatikalisch völlig falsch gesetzte Interpunktion und verschwindet rasch aus meiner Reichweite. Ob das ihre Art von Kritik an meiner Arbeit ist?
Die Versunkenheit ins Schreiben und die bewegenden Erinnerungen an die tief eindrucksvollen Ereignisse aus mehreren Jahrzehnten, lassen mich Raum und Zeit vergessen. Der Nachmittag schreitet voran, und erst jetzt bemerke ich, dass die Fliege aufgehört hat zu summen. Absolute Stille umfängt mich. Vielleicht ist meine Zimmergenossin müde geworden, oder am Ende ihres kurzen Lebens angekommen. Apropos Leben, ich mache mir Sorgen um Akamouk, er ist schon zwei Tage unterwegs, und ich blicke in die Richtung, aus der er kommen sollte. Wenn er bis morgen früh nicht da ist, werde ich losfahren, um ihn zu suchen.
Junger Targi auf schönem Mehari
Das Fetischfest hatte noch nicht begonnen, aber auf dem Platz tummelten sich bereits viele Menschen. Unter den zahlreicher werdenden Gästen aus der näheren und weiteren Umgebung von Begouriou Tondo Kangé erkannte ich einen Marabut wieder, der in Téra, beim Fest zum Ende des Ramadans vor gläubigen Moslems gepredigt hatte. Weder Yabilan, der Fetischeur, noch der Häuptling des Dorfes waren zu sehen. Den Himmel überzog eine Dunstschicht, die zwar wie ein Streufilter wirkte und die Kontraste milderte, doch die Intensität der Sonnenstrahlen nicht verhinderte. Das Blech des IFA wurde derart erhitzt, dass es gut möglich gewesen wäre, darauf Eier zu braten. Unter den wallenden Gewändern und Boubous dampfte es, die Gesichter glänzten vom Schweiß. Der den schwarzen Afrikanern in Afrika eigene, ausgeprägt süßliche Geruch verbreitete sich wie Parfüm über den Platz. Ich hatte keine Zeit, weitere Beobachtungen anzustellen, denn ich musste meine Arbeitsgeräte zusammenstellen. Einer der beiden schweren Akkumulatoren und die Kiste mit dem Einankerumformer stellte ich neben das Auto. Auf den Rücksitz kamen das Magnetophon und die beiden Messgeräte, der Spannungs- und der Zungenfrequenzmesser. Diese Geräte mussten in der richtigen Reihenfolge hintereinander angeschlossen werden. Vor allem der Frequenzmesser war von entscheidender Bedeutung, weil das Tonbandgerät auf Schwankungen empfindlich mit Störgeräuschen reagierte. Letztlich war alles aufgebaut und der Probelauf fiel zu meiner Zufriedenheit aus.
Banjou zeigte sich an Technik interessiert und hat mir beim Ausladen geholfen. Es gelang ihm sogar, die Menge davon abzuhalten, mir die Sicht zum Geschehen zu verstellen und eine Gasse für das am Boden schleifende Mikrofonkabel freizumachen. Wie er das schaffte, wusste ich nicht, vermutlich hat er den Leuten erzählt, ich sei ein weißer Zauberer. Der respektvolle Abstand, den die Menschen einhielten, sprach jedenfalls für diese Annahme. Ich stieg wieder aus dem aufgeheiztenWagen, der trotz offener Fenster einer Sauna glich. In dem Moment erschienen die ersten Hole N’Keinas, die Geistermusiker. Sie hatten Zugtrommeln, mit Schlangenhäuten bespannte Godijehs, das sind Streichinstrumente, die entfernt an unsere mittelalterlichen Gamben erinnern, und mit einem Bogen ähnlich gespielt werden. Daneben waren in den Erdboden eingelassene Hälften von Kalebassen. Die wurden mit speziell zusammengeflochtenen handlichen Besen geschlagen und verliehen der Begleitmusik einen ausgefallenen Reiz.
Kopecky dtreufte am Platz herum und fotografierte begeistert das bunte Treiben. Das Fest, das sicher einmalige Szenen bot hatte noch nicht einmal begonnen, und er verschwendete kostbares Filmmaterial? Unvermittelt trat rundum Stille ein, nur ein Hahn krähte in der Ferne. Yabilan erschien. Groß, schlank, mit einer aufrechten Haltung wie ein General der KuK-Armee. Ein paar graue Haare an der Spitze seines Kinns deuteten einen Bart an. Unter dem traditionellen dunkelblauen Überwurf der Touareg blitzte an der Seite sein weißer Boubou hervor. Auf dem Kopf trug er eine Mütze, ähnlich einer übergroßen Baskenmütze. Sich des ihm entgegengebrachten Respektes, der ihm entgegengebracht wurde, bewusstbewusst, strahlte er hypnotische Kraft aus. Begleitet wurde er von Frauen in weiten weißen Gewändern. Diese Gruppe übte dienende und schützende Funktionen aus. Ihre Frisuren, aus unzähligen feinen Zöpfchen geflochten, machten sie unverkennbar.
Yabilan, der große Fetischpriester
Mit dem Erscheinen Yabilan’s begannen die Hole N’Keinas ihre Zugtrommeln zu bearbeiten.
Hole N’Keina (Geistermusik)
Hole N’Keina (Zugtrommel)
Sobald der Zauberer mit Gefolge bei ihnen Platz genommen hatte, steigerte sich das Tamtam. Ich lief sofort zu meinen Geräten und fuhr den Umformer hoch. Da kam auch schon der aufgeregte Mackie heran und holte das Mikrofon, ein AKG D 12, ab. Auf dem von der Menschenmenge freigelassenen Platz begannen sich vier Frauen mit langsamen, gemessenen Schritten zu bewegen. Das waren die „Hole Tams“, die Geisterpferde. Hole heißt Geist und Tam ist das Pferd. Das waren Yabilans Medien, durch sie sollten die mächtigen Geister sprechen.
In dieser Phase des Aufwärmens geschah zunächst nichts Außergewöhnliches. Lediglich das Tamtam wurden schneller, und mit ihm wandelte sich das gemessene Schreiten allmählich zum Tanz. Die Mittagshitze nahm zu, und die Hole Tams tanzten in der prallen Sonne. Die Füße der immer rasanter und wilder werdenden Medien wirbeltendichte Staubwolken auf, dass ich in Sorge um meine Geräte die Fenster des Autos fest verschloss. Die Tänzerinnen beugten im Rhythmus der Trommel ihre Körper, rissen die Arme in die Höhe und warfen sie nach hinten. Sogar die Umstehenden blieben von der Wirkung der Musik und dem wilden Tanz nicht verschont. Erregt bewegten sie sich, vereinzelt klatschten einige in die Hände. Alle Gespräche waren verstummt. Die Menschen standen voll im Bann des Geschehens gezogen.
Hole Tam (Geisterpferde)
„Geisterpferde“
Weil Banjou die Gasse für das Mikrofonkabel von Menschen freihielt, konnte ich das Geschehen mitverfolgen. Über eine Stunde änderte sich nichts, außer dass Rhythmen und Tanz immer rascher wurden. Yabilan saß die gesamte Zeit stumm inmitten seiner Gehilfinnen, ignorierte die sich wild bewegenden Gestalten und blickte scheinbar unbeteiligt vor sich auf den Boden.
Yabila scheint teilnahmslos u. Kalenasse
Die Hitze wurde immer unangenehmer, die Medien keuchten vor Anstrengung, doch ihre Augen waren noch klar und voller Konzentration. Ein Mann, gekleidet in ein langes, makellos weißes Gewand, trat mit fließenden Bewegungen in den Kreis der Tänzerinnen. Die Hole N’Keinas bearbeiteten ihre Zugtrommeln wie rasend und wurden lauter und schneller, ohne auf die Bespannungen Rücksicht zu nehmen, die ebenso an ihre Grenzen zu stoßen schienen, wie meine Technik. Ich hatte Mühe, mit dem Aussteuern nachzukommen, das „Magische Auge“ befand sich fast ständig im Bereich des Übersteuerns. Doch die Tonbänder von BASF bewährten sich einmal mehr, boten ausreichend Headroom und zeigten keine Schwächen trotz der tropischen Bedingungen. Einer der Geistermusiker löste sich aus der Gruppe, begab sich in die Nähe der wild Tanzenden und begann sie laut in singendem Ton zu beschwören. Das war ein professioneller Sänger und Lobpreiser, der mit kräftiger Stimme die Medien in ihrer Ekstase unterstützte. In unzähligen, über Generationen überlieferten Strophen pries er die Geister, beschwor ihre Macht und heizte die Stimmung weiter an. Die Intensität des Geschehens steigerte sich unaufhaltsam, ein Gefühl von etwas Großem und Unausweichlichem lag in der Luft.
2. Priester
Die Medien schleppten ihre Körper durch die Gluthitze, die mich selbst, gefangen im glühend aufgeheizten Auto, an meine Grenzen brachte. Es war, als hätten sie ihre Menschlichkeit hinter sich gelassen, die Gesichter qualvoll verzerrt stöhnten sie wie unter Schmerzen. Statt der verstummten Zugtrommeln erklangen jetzt die Godjes und die Hole N’Keinas schlugen die Halbschalen der Kalebassen in ungewöhnlichen, durchdringenden Rhythmen, die das Geschehen noch gespenstischer machten. Nun erhob sich Yabilan, der berühmte Zauberer, dessen Ruf weit über die Grenzen dieser Region hinausreichte. Mit einer theatralischen Geste warf er einen Teil seines dunkelblauen Umhangs über die Schulter und trat langsam und erhaben auf die Tanzfläche. Ihm folgten zwei Priesterinnen, die mit gesenkten Köpfen respektvoll hinter ihm hergingen. Yabilan stellte sich dem Louagen-Sänger gegenüber, seine Gestalt strahlte Autorität aus. Mit heiserer, dabei eindringlicher Stimme begann er die Geister zu zitieren, vor allem Zaberi, den Gott der Flüsse und des Wassers:
„Du, die du die Augen krank hast, du wirst Feuer sehen können!“ „Du, beruhige dich, Zaberi zuliebe, der dein Vater ist!“ „Du, die du das Meer mit der Stange misst, schätze nicht, ohne vorher gemessen zu haben!“ „Du hast die Zähne faulend, aber du wirst Steine essen können!“
Mit diesen letzten Worten schien er das Unsichtbare zu adressieren, seine Stimme war ein Brückenschlag zwischen dieser und einer anderen Welt. Die Spannung auf dem Platz war greifbar, jede Bewegung, jedes Geräusch schien Teil eines Rituals, das tiefer reichte, als es Worte allein zu erfasse vermochten.
Hole Tam
Hole Tams in Trance
Yabilan näherte sich den Tanzenden Yabilan näherte sich den tanzenden Medien mit langsamen, eindringlichen Schritten, seine Bewegungen wirkten wie die eines Jägers, der seine Beute umkreist. Die Stirnadern traten prall hervor, krochen wie lebendige Würmer über seinen kahl geschorenen Schädel. Er brüllte auf die Medien ein, die sich verkrampften und die Ohren zuhielten. Ekstatisch zuckten sie und verdrehten die Augen, und begannen gequält zu schreien. Mackie, das Mikrofon fest in der Hand, war mitten im Geschehen. Am anderen Ende des langen Kabels saß ich im glühend heißen Wagen, die Kopfhörer über den Ohren. Der Lärm, das Brüllen Yabilans, das Geschrei der Medien und die eindringlichen Schläge der Kalebassen dröhnten in ungeheurer Lautstärke direkt in meinen Kopf. Es war, als würde die rohe Kraft dieses Rituals durch das Kabel bis zu mir transportiert, mich überwältigend und zugleich faszinierend. Inzwischen hatte das Fest seinen Höhepunkt erreicht. Die Tänzerinnen schienen wie aus einer anderen Welt, ihre Gesichter grotesk verzerrt, ihre Bewegungen jenseits jeder menschlichen Anmut. Unvermutet stand Mackie neben dem Auto, sein Gesicht war schweißüberströmt, seine Augen von Erschöpfung gezeichnet. Ich kurbelte das Fenster herunter und er bat mich um eine Pause. Es war nicht zu übersehen, er war am Ende seiner Kräfte. Die Aufnahme lief dabei weiter, wir hatten beide das gleiche Gefühl, nämlich selbst der Trance zu verfallen:
Ich war dankbar für diese kurze Unterbrechung. Die enorme Hitze im Auto, meine verkrampfte Haltung und der unaufhörlich dröhnende Klang des Rituals mitten im Kopf hatten mich in einen irrealen Zustand versetzt. Wie in einem Rausch bewegten sich reflexartig Muskeln, wie Blutstropfen fielen Schweißperlen aus meinen Haaren aufs Gerät. Ich öffnete die Wagentüre, nahm das Mikrofon und legte es auf den Vordersitz. Dann stieg ich mehr fallend als kontrolliert aus dem Auto. Obwohl es in der direkten Nachmittagssonne sicher weiterhin siebzig Grad hatte, erschien es mir dort kühl zu sein. Typischer Schweißgeruch erfüllte die von Staub geschwängerte Luft. Banjou brachte erfrischendes Wasser aus unserer Gerba. Wir tranken die trüb gewordene Brühe dankbar wie Leitungswasser aus einer Wiener Hochquellenleitung. Die Ritualgeräusche kamen aus der Entfernung wohltuend gedämpft und wir erholten uns rasch. Mit Hilfe des Boys Banjou wechselte ich die verbrauchte Batterie gegen die geladene. Mackie und ich grinsten uns verstehend an, er warf sich wieder ins Getümmel und ich stieg in mein überhitztes „Studio“. Wir wollten dieses in Afrika selten gewordene Ritual so umfassend wie möglich dokumentieren. Hier, mitten im Herzen Westafrikas, bot sich uns die Gelegenheit, eine Tradition zu dokumentieren, die womöglich bald für immer verschwinden würde.
Hole Tam in Trance
Hole Tam in Trance
Der große Zimma Yabilan setzte sein unnachgiebiges Brüllen fort, jede seiner Beschwörungen ein neuer, nie wiederholter Text, der die Medien tiefer in den Bann zog. Ihre Zuckungen nahmen an Intensität zu, ein verzweifelter Ausdruck völliger Aufgabe. Sie hatten keine Chance, sich dem dominierenden Willen des Zauberers zu entziehen. Der wischte den Schreienden mit einem Tuch den Schweiß und den Schaum vom Gesicht, indem er auf sie weiter einsprach. Eine der Frauen stürzte wie vom Blitz getroffen zu Boden, schrie gellend und wand sich wie bei einem epileptischen Anfall. Ihr durchdringendes Geschrei mischte sich mit dem dumpfen Stöhnen der anderen, während Yabilan und seine Gehilfen unaufhörlich ihre Sprechgesänge fortsetzten. Die Godiehs ließen ihre unheimlich klagenden Töne erklingen, und die Kalebassen, mit rhythmischen Schlägen der Besen bearbeitet, verliehen dem Szenario eine fast unerträgliche Intensität. Das gesamte Ritual steigerte sich zu einem wahnwitzigen Klanginferno, das jeden, der Zeuge wurde, unweigerlich mitriss. Die Grenzen zwischen Mensch und Geist, Realität und Vision schienen zu verschwimmen, und der Platz vibrierte unter der Wucht dieser uralten, unbändigen Kräfte.
Ein „Geisterpferd“
Sie sieht Geister in Trance
Die Gruppe versammelte sich vor den beiden Gefäßen, dem Hampi.
Nach dem Opfer
Eine der Frauen begann, zwischen Stöhnen und Schreien, immer wieder dieselben Worte zu wiederholen: „Gebt mir den schwarzen Bock, gebt mir den schwarzen Bock …!“ Damit war unmissverständlich klar, was die Geister verlangten. Ein Mann, tief in Trance, schrie mit unbändiger Kraft: „Geht nie zu meinen Zeiten auf die Felder!“ Seine Augen waren ins Leere gerichtet, und seine Worte schienen weniger an die Menge als an eine unsichtbare Macht gerichtet zu sein. Zwei Gehilfen eilten mit dem geforderten schwarzen Ziegenbock herbei. In einer schnellen, geübten Bewegung hielten sie das Tier fest, und noch bevor die Trommeln einen Schlag ausließen, wurde der Bock geschächtet. Sie hoben das Tier hoch und ließen das Blut in ein Gefäß rinnen, der Körper verschwand in der anderen Kalebasse.
Totale Erschöpfung
Die Medien hatten sich beruhigt. Sie umstanden das Hampi, bewegten sich unangestrengt tanzend und starrten mit verglasten Augen gebannt auf Yabilan, den Zimma. Dieser trat vor die beiden Gefäße und bat den Donnergott Dongo um Wohlstand und Fruchtbarkeit für alle. „Ia“ kam es von seinen Lippen. Das bedeutete so viel wie: es ist geschehen, oder es ist getan.
Obwohl die Trommler ihre Energie in den letzten Stunden verbraucht hatten, spielten sie weiter, denn alle tanzten. Dieser Tanz war nicht mehr dämonisch, er schien Freude auszudrücken über den positiven Erfolg der Zeremonien und dass Dongo ihnen gut gesinnt war. Einzeln und gruppenweise lösten sich Menschen aus dem wirren Haufen der Tanzenden. Ein Feuer wurde entzündet, in dessen Schein ich meine Technik einpacken konnte. Mackie war mit Banjou unterwegs, Informationen einzuholen und Fragen zu klären. Ich fuhr allein die kurze Strecke bis zu unserer Hütte. Kopecky hatte sich schon vorher zurückgezogen und mit der Petroleumlampe den bescheidenen Raum beleuchtet. Er öffnete eine stattliche Flasche Rotwein, deren Herkunft unklar war und reichte sie mir. Ich nahm einen langen ausgiebigen Schluck, fiel auf meine Luftmatratze und schlief bis zum nächsten Morgen durch.
Die Rechte für die akustischen Beispiele und Originale davon findet man im Phonogrammarchiv der Akademie der Wissenschaften oder über mich.
Es ist ein paar Minuten vor 6:00 Uhr, der Sonnenaufgang kündigt sich am Horizont durch hellblauen Schein an. Ich verlasse das wohlig warme Bett, um in die Wüste hinaus zu fahren, Akamouk zu suchen. Die Kühle der Nacht ist in das Turmzimmer eingedrungen und ich zögere deshalb zu duschen. Zähneputzen aber ist kein Problem. Im Vorbeigehen blicke ich aus dem Fenster und sehe den Targi in seinem zeltartigen Verschlag in Decken gehüllt am Boden ausgestreckt schlafend. Er ist lautlos während der Nacht eingetroffen. Beruhigt und darüber zufrieden, dass ich nicht losfahren muss, um ihn zu suchen, kuschle ich mich nochmals in das vorgewärmte Bett. Meine Gedanken drehen sich um das nächste zu schreibende Kapitel. Erinnerungen steigen auf und formen sich zu Worten. Ich sollte Notizen machen. Der Weg zum Schreibtisch erscheint mir zu weit und ich bleibe im Vertrauen auf mein Kurzzeitgedächtnis liegen. Es herrscht diese absolute Stille der Wüste, die beruhigend, aber ebenso beängstigend wirken kann. Darüber schlafe ich nochmals ein und werde erst wieder durch die Sonne geweckt. Durch die Spalten der Jalousie wirft sie ihr Licht in hellen Strahlen, in denen Staubpartikelchen tanzen. Bei diesem Anblick erfasst mich unwiderstehlich der Gedanke, dass es manchmal reizvoll wäre, ein Sandteilchen der Sahara zu sein. Sich in der Morgensonne auszudehnen, dadurch leichter als Luft zu werden und in kühle Höhen aufzusteigen. Dort tagsüber im Schwebezustand ungestört die Erde von oben zu betrachten, um bei Sonnenuntergang wieder schwerer geworden, sachte auf den Boden zu sinken.
Es ist reichlich spät heute. Der Gästeraum ist leer, auf meinem Platz steht verwaist das unberührte Frühstücksgeschirr. Auf einem Tisch in der dunklen Ecke des Raumes liegt in Cellophan verpackt ein faltbarer Christbaum aus Plastik. Ach ja, Weihnachten ist nahe! Ursprünglich hatte ich vor, die kühle Jahreszeit für die Heimfahrt nach Wien zu nützen, doch der Rückstand bei meinem selbst auferlegten Pensum hält mich hier fest. So verzögere ich die Abreise immer wieder. Niemand ist anwesend, sogar die Küche ist verlassen. Die Stille, die ich sonst so genieße, empfinde ich heute als drückend. Auf der Suche nach etwas Kommunikation begebe ich mich in den Hof, um Akamouk aufzusuchen. Obwohl die Sonne längst schon schräg in den Hof scheint, ist es kühl draußen.
Als hätte er meinen Besuch erwartet, finde ich den Targi beim Teekochen. Freundlich begrüßen wir uns. Mit einer großen, theatralischen Handbewegung, einer Geste, die selbst einem Darsteller der Commedia dell’arte zur Ehre gereicht hätte, lädt er mich ein, auf seinem Teppich Platz zu nehmen. Ich folge der Einladung. Meine heute noch ungenutzten Gelenke knacken protestierend, als ich mich langsam auf den Boden sinken lasse. Es gelingt mir, ohne durch Schmerzenslaute meine Würde zu verlieren, in den Türkensitz zu kommen. Akamouk gießt den Tee aus beachtlicher Höhe zielsicher ein, ohne dabei einen Tropfen zu vergeuden, und reicht mir das erste Glas. Der zuckersüße Trank ist so heiß, dass ich das Glas nur am Boden mit dem Mittelfinger und am Rand mit dem Daumen halten kann. Einvernehmliches Schweigen herrscht zwischen uns. Akamouk ist durch den um den Kopf gewundenen Tegelmust total verhüllt, nur zum Trinken zieht er die Gesichtsbedeckung bis unter seine Lippen. Erst beim dritten Glas, das den Abschluss der Teezeremonie markiert, beginnt er zu sprechen.
Kurz nach meiner Abfahrt aus dem verschütteten Dorf machte er sich mit dem wiedergefundenen Kamel auf den Weg zurück. Nur wenige Kilometer von dort im Süden kreuzt ein Trek, so bezeichnen die Touareg einen vorgezeichneten Weg oder eine Fährte, von Ost in Richtung West die von uns im Wüstenboden hinterlassene Spur. Diese direkte Verbindung nach Mali wird von Bewohnern des Hoggargebirges, des nördlichen l’Aïr und Nomaden aus Libyen benützt. Dort traf er eine Karawane aus seiner Heimat. Die Reisenden erzählten ihm, dass in ihrem Teil des Hoggar Unruhe herrscht. Die Augen des Targis sehen mich offen an, während er erklärt, warum er zu mir Vertrauen gefasst hat. Ich würde offensichtlich die Afrikaner nicht aus europäischer Sichtweise betrachten, sondern wie jemand, der versucht, mit den Augen eines Einheimischen zu sehen. Die Glut in dem kleinen Kreis aus Steinen, auf dem die Teekanne steht, wechselt mit jedem zarten Windhauch ihre Helligkeit und graue Stellen entstehen an den Kanten der rot glosenden Holzstücke. Mit leiser Stimme, den Blick auf die Asche und Glut der Feuerstelle gerichtet, beginnt er zu erzählen.
In dem riesengroßen Territorium lebt eine Anzahl unabhängiger Berberstämme, lose miteinander verbunden. Von einer politischen Nation unter einheitlicher Führung, kann bei den Touareg nicht die Rede sein. Wenn man die im Laufe der Zeit eroberten, unterworfenen und besiedelten Länder im südlich gelegenen Sahel dazurechnet, ergibt sich eine Fläche, die der Gesamteuropas entspricht. Die jeweils aus einigen Familien bestehenden Stämme leben in der existenzbedrohenden Wüste in gewachsener Symbiose. Innerhalb der Clans gibt es eine strikte soziale Hierarchie. An der Spitze stehen die Imohagh, die adelige Oberschicht. Sie arbeiten nie und verrichten keine niedrigen Dienste. Stets umfassend bewaffnet treten sie ausschließlich als kriegerische Beschützer der Angehörigen ihres Stammes auf. Aus den in verschiedenen Schlachten gefangenen, meist dunkelhäutigeren Unterworfenen, besteht die Schicht der Halbfreien. Sie sind zum großen Teil sesshaft und betreiben Gartenbau und Viehzucht, haben Tribut zu leisten und unterscheiden sich in ihrem Habitus nicht von den adeligen „Rittern“. Ihre Wohnstätten sind aus Lehm gebaute Häuser, im Unterschied zu den transportfähigen Zelten aus gewebten Stoffen oder Tierhäuten der nomadisierenden Oberschicht. Dann gibt es die Schicht der meist aus Schwarzafrika kommenden Leibeigenen, welche die niederen Arbeiten verrichten. Der aus edlem Geschlecht stammende und zu seiner Würde von den Adeligen ernannte Amenokal ist zwar das Oberhaupt aller Touareg, hat aber, außer im Kriegsfall, keinerlei Befehlsgewalt. Er hat kein Recht auf Tribut seiner Untertanen, wird allerdings von ihnen durchaus respektiert und unterstützt. Akamouk löst seinen Blick von der erkaltenden Glut und wendet sich mir zu.
An der Küste im Norden Algeriens gibt es laufend politisch motivierte Demonstrationen. Sie werden von Studenten mit einem demokratischen Weltbild angeführt, deren Paradigmen in alten kommunistischen Doktrinen verwurzelt sind. Die Stimmung wird zunehmend aggressiver, und die Gewaltbereitschaft steigt täglich. Einige dieser jungen Leute, die in den Städten im Norden Algeriens Schulen und Universitäten besuchen, sind zu ihren Familien zurückgekehrt. Mit ihnen kommt ein Hauch von Rebellion, der die traditionellen Strukturen der Stammesführung bei den Touareg ins Wanken bringen soll. Sie wünschen sich bei den Touareg eine ebensolche Demokratie, wie sie von ihnen im Norden angestrebt wird. Diese jungen Gebildeten, vorwiegend den Klassen der Adeligen und der Halbfreien entstammend, planen die seit Jahrhunderten geltende Gesellschaftsform der Touareg in eine gänzlich andere Staatsform umzuwandeln. Sie hoffen, ihre in den Studentenbuden des Nordens entwickelten, umstürzlerischen Träume zu verwirklichen. Es entsteht ein Konflikt der Generationen. Die „Miaad“, eine Art Ältestenrat, soll aufgelöst und existierende Klassenunterschiede aufgehoben werden. Wobei es nicht sicher ist, ob die Sklaven in der Praxis dann ebenfalls davon profitieren. Doch die uralten Gesetze der Wüstenvölker sind archaisch und werden blutig durchgesetzt. Akamouk sagt, dass in den endlosen Weiten des Ergs ein Mensch leicht und endgültig verschwinden kann. Spurlos. Ich habe den Eindruck, dass er dabei verschmitzt lächelt. Wir schweigen, solange der Targi die letzte Glut mit Sand erstickt. In der wiederentstandenen vollkommenen Stille hören wir aus weiter Ferne Motorenlärm. Wir haben keine Eile nachzusehen, denn gemäß unserer Erfahrung kann es über eine halbe Stunde dauern, bis sich das annähernde Fahrzeug am Horizont zeigt.
Ich bedanke mich für den Tee und steige die Stufen zu meinem Dachgeschoss hinauf. Von dort kann man weiter in die Wüste sehen. Das Geräusch des Motors setzt gelegentlich aus, vielleicht, weil das Fahrzeug angehalten hat, oder es gerade in einer Senke verschwindet, die den Schall verschluckt. Die Sonne steht schon hoch am Himmel und heizt die in der Nacht heruntergekühlte Erde auf. In ziemlicher Entfernung im Westen breitet sich ein riesiger, scheinbar vom Wind bewegter See über den gesamten Horizont aus, eine meisterhafte Täuschung der Natur. Durch meinen Feldstecher glaube ich einen Geländewagen zu erkennen, der sich, eingetaucht in die Fata Morgana, in Schlangenlinien auf die Auberge zu bewegt. Er scheint in dem silbern glitzernden See zu schwimmen.
Um den Wirtsleuten den kommenden Besuch anzukündigen, steige ich wieder hinunter in die Gaststube, wo François und Michelle mit dem Auspacken des Christbaumes beschäftigt sind. Sie haben das sich nähernde Geräusch ebenfalls bemerkt und beeilen sich, das Kunstbäumchen vor dem Eintreffen der Leute fertiggestellt zu haben. Glücklich wie Kinder sind sie beim Aufstellen der Plastikattrappe und ordnen sorgfältig den spärlichen Schmuck darauf. Es entwickelt sich zwischen den beiden eine Diskussion um den endgültigen Aufstellungsort dieses christlichen Glaubensbekenntnisses, die vom Motorenlärm unterbrochen wird, der aus dem Hof ins Haus dringt.
Wir treten aus der in den Hof führenden Türe und sehen zwei Landrover der längeren Bauart und gleicher blauer Farbe, streng nebeneinender ausgerichtet. Beide Fahrzeuge sind bis zum Anschlag mit Gepäck beladen, das kunstvoll auf den Dächern gestapelt ist. Als Nachzügler fährt zuletzt ein dritter Wagen herein und hält ebenso geordnet daneben. Da scheint militärischer Drill zu herrschen, denke ich mir. Wie auf ein stilles Kommando öffnen sich alle Türen der Fahrzeuge und jeweils fünf merklich erschöpfte Personen klettern ins Freie. Zwischen ihnen hebt sich ein hochgewachsener Mann mittleren Alters ab, der, breitbeinig wie ein Seemann auf schwankendem Deck, direkt auf uns zusteuert. Er hält eine brennende Zigarette zwischen Zeigefinger und Daumen, macht einen tiefen Zug ohne sie dabei auszulassen, und reißt sie von den Lippen, wie wenn sie daran angeklebt wäre. Gleich führt er sie nochmals zum Mund, hält sie fest, inhaliert einen weiteren kräftigen Zug und zieht sie ebenso eckig wieder ab. Aus dieser Bewegung heraus schnipst er den Stummel gekonnt über einen Meter in den Sand, wo er bläulich rauchend liegen bleibt. Seiner Wichtigkeit bewusst stellt er sich den Wirtsleuten als Reiseleiter der Gruppe vor. Er spricht ein sogenanntes Küchenfranzösisch. Das rollende „R“ vorne auf der Zunge, sowie die Sprachmelodie lassen deutsche Muttersprache vermuten. Doch bevor es ihm gelingt zu erklären, weshalb die Gruppe gezwungen ist hier einzukehren, geschieht es. Aus dem zuletzt angekommenen Rover löst sich geschmeidig eine weibliche Gestalt. Ihre Bewegungen haben etwas Elegantes, fast Tänzerisches, welche meine und François‘ volle Aufmerksamkeit auf sich lenken. Scheint die Sonne mit einem Mal heller? Sogar Akamouk, der seine Emotionen nie zeigen würde und anfangs scheinbar teilnahmslos auf seinem Teppich saß, ist aufgesprungen und starrt die junge Frau an, die, sich ihrer Wirkung bewusst, nach vorne kommt und neben dem Reiseleiter Aufstellung nimmt. Ihr langes blondes Haar trägt sie offen, ihre schlanke Figur wird von hautengen, blauen Skinny Jeans und einem knapp geöffneten Slimfit-Hemd betont, das die Grenze zwischen Lässigkeit und Provokation bis ins letzte Detail auslotet. Es ist wirklich unerträglich heiß hier! Um den Hals hängt an einer Lederschnur das Croix d’Agades, das Agadaskreuz aus reinem Silber, eine Schmiedearbeit und Symbol der Touareg des l‘Aïr.
AgadeskreuzKreuz des Südens
Diese Erscheinung ist ein Lichtblick in dieser einsamen Gegend, die nur selten von Frauen frequentiert wird. Und ich bin offenbar nicht der Einzige, dem ihr Anblick eine willkommene Abwechslung bietet, wie der Gesichtsausdruck von François verrät. Die meisten Besucher der Auberge sind in der Regel unansehnliche, vollkommen vermummte Gestalten oder zumindest in weit geschnittene, praktisch belüftete Kleidung gehüllt.
Radebrechend versucht der Reiseleiter zu erklären, dass der Kühler eines der Autos einer Reparatur bedarf. Ich übersetze die ihm fehlende Vokabel mit „radiateur“, damit François versteht, dass es sich um einen lecken Kühler handelt. Dem Kühlwasser bisher beigegebene Dichtungsmittel haben nichts geholfen, es muss gelötet werden. François meint, dass die Reparatur einige Stunden dauern wird, und ersucht die Herrschaften in der Gaststube Platz zu nehmen. Was jetzt aufgeregt ins Haus drängt, ist ein buntgemischter Haufen Menschen verschiedener Nationalitäten. Da François mit dem Chauffeur des defekten Wagens in die Garage verschwindet, biete ich Michelle meine Hilfe beim Bedienen der Gäste an. Schnell wird klar, dass die Truppe großen Durst mitgebracht hat. Viele Limonaden und leicht alkoholische Getränke, sowie Sandwiches werden geordert. Während ich Getränke reiche und Bestellungen notiere, erfahre ich, dass diese Reise von einem deutschen Automobilclub organisiert wurde. Der Reiseleiter hat bisher ausschließlich Reisegesellschaften in Sibirien geführt, das momentan nicht im Trend liegt. Er war vorher nie nach Afrika gereist und ist in allen Belangen auf in der Wüste erfahrene Einheimische angewiesen.
Zwei der Fahrer sind Araber aus Algier. Doch der dritte, in blaues Tuch der Touareg gehüllt, gibt an, authentischer Kel Ifogha zu sein, also Angehöriger eines altehrwürdigen Touareg-Clans. Allerdings lebt er in Oran an der Mittelmeerküste, was seine Authentizität ein wenig infrage stellt. Für einen echten Tuareg erscheint er ein bisschen zu klein geraten zu sein. Er lässt sich Ali rufen, da der Originalname für die Touristen zu kompliziert sei. Eine pragmatische Entscheidung, die seinem Geschäftssinn alle Ehre macht. Mir fällt auf, dass alle Mitglieder der Gruppe, Männer wie Frauen, ein, oder einige Kri-Kri um den Hals tragen, die durchwegs relativ neu wirken. Ali selbst baumelt ein ganzes Bündel davon auf seiner Brust. Auf meine diesbezügliche Frage meint er, dass die Roumis Talismane für die Wüste brauchen und er würde sie damit versorgen. Sicher ein einträgliches Geschäft für ihn. Die Kri-Kri sind aus Leder oder Metall gefertigt, die jeweils eine Sure aus dem Koran in sich bergen. Meist sind diese aus einem gedruckten Buch des Koran herausgeschnitten und werden willkürlich ausgewählt. Sie schützen, je nach Sure, vor Krankheit, Unwetter, Gewalt, Unfall oder anderen Gefahren.
Kri-Kri aus Leder (klein)Kri-Kri (groß)Kri-Kri (Ring)Kri-Kri (mehrere zusammen)Kri-Kri (sehr klein)Kri.Kri (Ziegenhorn mit Leder umwickelt)Kri-Kri (Kupferlegierung)
In der Wirtsstube herrscht angenehme Kühle, und mit fortschreitender Stunde wird die Stimmung merklich ausgelassener. Das liegt zweifellos am allmählich steigenden Alkoholpegel, denn der Übergang von Limonaden zu Wein, Whisky und Pastis erfolgt nahtlos. François hat das Aggregat gestartet, die großen Deckenventilatoren drehen sich und wandeln den Schweiß der Gäste durch Verdunstung in Kühlung. Ich höre, dass der Konvoi trotz Navi von der Piste abgekommen sei und einige Sandlöcher unter oftmaligem Ausgraben der Fahrzeuge zu überwinden waren. Das waren große körperliche Anstrengungen, gepaart mit der Angst, dass das mitgeführte Wasser nicht reicht, denn der lecke Kühler hat einen Großteil des Vorrates verbraucht. Nun sind sie sichtlich erleichtert, endlich unter Menschen und in Sicherheit zu sein. Selbst unsere elfengleiche Blondine scheint sich erholt zu haben. Roswitha, so ihr Name, ist werdende Ornithologin, die ihre Dissertation über afrikanische Vogelarten schreiben möchte. Ich verkneife mir die Frage, was sie dabei in der Sahara suche, und lasse mir von ihr lieber die Gründe für das Artensterben in Europa erklären. Ihre Worte klingen klug und engagiert, aber ehrlich gesagt lenken ihre Leichtigkeit und Ausstrahlung meine Gedanken in eine andere Richtung. Zugegeben, ich fühle mich von ihrem Anblick recht angezogen. Wir trinken miteinander einen Pastis nach dem anderen, der ihr ausnehmend gut zu schmecken scheint. Gerade als ich mich im Sog ihrer Fröhlichkeit ein wenig verliere, fällt mir Akamouks Abwesenheit auf. Mit einer kurzen Entschuldigung verlasse ich das Paradies meiner Unterhaltung und begebe mich in den Hof. Akamouk, mein wortkarger Begleiter, ist nirgends zu sehen. Sein Sonnenschutz ist abgebaut und der Platz dort leer. Die frische Luft tut dem Befinden nach den Mengen Alkohol und dem rauchgeschwängerten Dunst im Haus gut. Ich gehe hinaus zu dem Ort, wo für gewöhnlich die Meharis des Targis angebunden sind. Der Platz ist leer. Selbst den Dung, den er immer sorgsam für unterwegs sammelt, hat er mitgenommen. Ich verstehe seine Flucht. Der ungewohnte Trubel muss ihm zu viel geworden sein. So hat er sich offenbar auf den langen Weg in die Siedlung seines Clans begeben, wo ihn schwierige Aufgaben erwarten.
In den Raum mit den lustigen Menschen zurückgekommen, sehe ich François im Schatten an eine Wand gelehnt, mit halb offenem Mund das sexy Mädchen anstarrend, das anscheinend ebenso seine volle Aufmerksamkeit fesselt wie zuvor meine. Er dürfte seine Arbeit an dem Motorkühler fertiggestellt haben und will sich jetzt ein kühles Bier gönnen. Das Erscheinen Michelles aus der Küche enthebt mich der Aufgabe, ihn aus seiner Trance zu wecken und aus dem Ausschnitt der Dame zu heben, denn sie macht das recht energisch. Über das vielstimmige Gewirr der Sprachen hinweg kann ich ihre Worte nicht verstehen. Doch ihre Gesten und der dazu passende Gesichtsausdruck vermitteln mir das Vergnügen eines Slapsticks. Sie zieht ihn hochroten Kopfes in die Küche und schließt die Türe. Er tut mir ja leid, denn er darf jetzt nicht mehr in die Nähe der jungen Dame, darüber hinaus ist das Bier warm, weil die Gäste das gekühlte längst ausgetrunken haben. Ich unterlasse es, neuerlich mit dem Wunder Roswitha Kontakt aufzunehmen, da sie auf dem Schoß des Reiseleiters Platz genommen hat und sich dort offensichtlich recht wohl fühlt.
Da sich der Tag seinem Ende zuneigt und selbst die Fahrer den Alkoholika ausgiebig zugesprochen haben, beschließt man, die Nacht vor Ort zu verbringen. Einige begeben sich hinaus in den Hof, um Zelte aufzustellen, wärend ein paar Unentwegte versuchen mit Decken und Schlafsäcken ein Lager in der Gaststube einzurichten. Allein gelassen mit meinen schwebenden Gedanken und einer merkwürdigen Mischung aus Glück und Seelenschmerz, ziehe ich mich schließlich die etwas schief wirkende Treppe hinauf in mein Turmgemach zurück. In einem Gemütszustand, zwischen Glück und Seelenschmerz schwankend, falle ich halb schlafend rücklings aufs Bett und erwache erst am hohen Mittag durch heftigen Bratengeruch, der sich von der Küche in mein Zimmer zieht. Wohltätige Stille herrscht wieder rundherum, die Fahrzeuge mit den Menschen sind verschwunden, und mit ihm das Lichtgestaltendrama. Ich nehme mir vor, am Nachmittag an meinem „Werk“ weiter zu schreiben:
Junge Targia der MittelschichtAdelige Targia mit Silberschmuck u. Kri-Kri
Trotz der Strapazen, die Mackie durch das Yenendi erfahren hatte, sammelte Mackie an diesem späten Abend bedeutende wissenswerte Informationen über die Geister- und Götterwelt unseres Forschungsgebietes. Nachdem er zurückgekehrt war, widmete er sich gemeinsam mit Kopezky der eingehenden Analyse einer Rotweinflasche. Ich hingegen verschlief dieses intellektuelle Abenteuer. Wie gewohnt war es meine Aufgabe, am nächsten Morgen den Tee zu bereiten, ein unverzichtbares Ritual, um das tägliche Resochin, unser Malariaprophylaktikum, herunterzubekommen. Dabei musste ich feststellen, dass der Zucker ausgegangen oder auf mysteriöse Weise verschwunden war. Es bedurfte nur kurzer Überlegung, ihn zu finden. Nach längerem Zureden ließ Kopezky endlich seinen geheimen Vorrat aus, nicht ohne darauf hinzuweisen, wie wichtig Vorratshaltung sei. Darüber hinaus erwähnt er unser Glück, dass wir ihn, den Hüter der Reserven, dabeihätten. Sogar eine unberührte Dose gezuckerter Kondensmilch von Nestlé übergab er, ein Opfer, das ihm offensichtlich nicht leichtfiel. Beim folgenden kargen Frühstück gab uns Mackie, nun erstaunlich energiegeladen, eine erste Zusammenfassung seiner nächtlichen Erkenntnisse. Er gab uns einen Überblick über den Glauben der Einheimischen in diesem Gebiet und erklärte den tieferen Sinn des Fetischfestes.
Die Konstruktionen der verschiedenen Klassen von Halbgöttern, Göttern und Geistern in diesem Glaubenssystem weisen eine bemerkenswerte Komplexität auf, die an die polytheistischen Systeme der antiken Griechen erinnert. Ein wesentlicher Unterschied besteht jedoch darin, dass die Geistwesen nicht anthropomorph dargestellt werden, obwohl sie klare Namen und spezifische Aufgabenbereiche haben. Ein prominentes Beispiel ist Dongo, der fast allmächtige Gott der Blitze und Gewitter. Ihm werden verschiedene Naturgewalten zugeschrieben, und er besitzt die außergewöhnliche Fähigkeit, an mehreren Orten gleichzeitig zu erscheinen, selbst hunderte Kilometer voneinander entfernt. Diese Vorstellung, die an moderne Konzepte der Quantenphysik erinnert, spiegelt die Flexibilität und die Überlagerung von Räumen und Kräften in der spirituellen Welt wider. Trotz seiner Omnipräsenz delegiert Dongo viele seiner Aufgaben an Untergeister, was auf ein hierarchisches, arbeitsteiliges System innerhalb der Geisterwelt hindeutet. Harakee, die Göttermutter und Herrscherin über den Niger, gilt als Göttin des Wassers insgesamt. Sie beschützt Fischer und Jäger am Fluss vor finsteren Dämonen und treibt ihnen die Beute zu. Faran Baru ist ein eher gütiger Geist, dessen weiße Farbe symbolisch für Reinheit und Milde steht. Obwohl er kleine Krankheiten bringen kann, wird er im Allgemeinen als wohlwollend betrachtet. Im Gegensatz dazu bleibt Zaberi, ein ebenfalls weiß assoziierter Geist, in seinen Absichten und seinem Wesen rätselhaft. Seine ihm zugehörende Farbe ist ebenfalls weiß. Die Ungewissheit über seine Natur führt dazu, dass man ihn zur Sicherheit mit weißen Opfertieren besänftigt, ein Hinweis darauf, wie die Unsichtbarkeit und das Unbekannte in Glaubenssystemen oft mit Respekt und Vorsicht behandelt werden. Nicht zu spaßen ist mit Tschiree. Er ist der Geist des Krieges und des schnellen Todes, verkörpert die zerstörerischen Kräfte des Lebens. Seine rote Farbe steht symbolisch für Blut und Kampf. Es ist nahezu unmöglich, vor ihm zu flüchten, und ein Versuch, ihn zu verärgern, führt unmittelbar zu tödlichen Konsequenzen. Er verhält sich still und gelassen, aber seine Präsenz mit dem allgegenwärtigen Speer deutet auf latente Gefahr hin. Niemanden ist es möglich, vor ihm zu flüchten. Am klügsten ist es, sich mit diesem Geist gutzustellen. Denn ist er einmal verärgert worden, tötet er sofort. Folglich opfert man ihm. Da rote Opfertiere selten sind, akzeptiert Tschiree glücklicherweise auch solche mit rötlicher Färbung, was die pragmatische Anpassungsfähigkeit der Opferpraxis an lokale Gegebenheiten zeigt. Die Vorstellung, dass jede Gottheit oder jeder Geist spezifische Opfergaben in der ihnen zugeordneten Farbe bevorzugt, unterstreicht die starke symbolische Ordnung dieses Glaubenssystems. Es zeigt, wie religiöse Praktiken eng mit den verfügbaren Ressourcen, der Umwelt und den sozialen Beziehungen der Gemeinschaft verknüpft sind.
Zu den bedrohlichsten Wesen der spirituellen Welt gehören die bösen Dämonen, wie etwa Tierkee, der eine ausgeprägte Feindschaft gegenüber Zauberern hegt, den spirituellen Führern des Volkes. In seinem Hass versucht er diese Erwählten bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu töten. Statt jedoch selbst Hand anzulegen, beauftragt Tierkee seine beiden gefährlichen Gehilfen, Kasankee und Fitijari, mit der Ausführung seiner dunklen Pläne. Diese Handlanger zeichnen sich zwar durch ihre Heimtücke aus, sind jedoch weder allwissend noch allgegenwärtig. Ihre Schwächen ermöglichen es, ihnen zu entkommen oder sie gar gegeneinander auszuspielen, was wiederum an die Ränke altgriechischer Mythologie erinnert, in der Götter und Dämonen ebenfalls ständig miteinander rivalisieren. Interessanterweise sind alle diese Wesen auf irgendeine Weise miteinander verwandt. Im Zentrum der spirituellen Interaktion steht der Zima, der Zauberer, in unserem Fall ist es Yabilan. Der Zima kooperiert mit den guten Geistern, die ihm jedoch keinen direkten Schutz bieten. sie statten ihn aber mit magischen Werkzeugen aus, die ihm helfen, sich gegen das Böse zu wehren. Ein zentraler Gegenstand ist der Lola, ein langer Eisenstab, der wie ein Zauberstab funktioniert. Mit ihm kann der Zima Geistwesen beschwören, verlorene Gegenstände oder Schätze aufspüren und weitere magische Handlungen vollführen. Ein weiteres faszinierendes Element sind die Karu Bene, Menschen, die eine zeitlich begrenzte Verbindung mit Geistern eingehen, um deren Fähigkeiten zu nutzen. Die Parallelen zu Faust’schen Pakten sind hier unverkennbar: Der Wunsch, durch übernatürliche Hilfe Ziele zu erreichen, scheint eine universelle menschliche Neigung zu sein, die in vielen Kulturen literarisch und mythologisch verarbeitet wurde.
Wie bereits zuvor angedeutet, existierten in dieser Region drei große Religionsrichtungen: Islam, Fetischkult und christliche Kirchen in bemerkenswerter Koexistenz. Diese synkretistische Verschmelzung spiegelt sich nicht nur im Alltag der Bevölkerung wider, sondern auch in ihrer Bereitschaft, Elemente der verschiedenen Glaubenssysteme miteinander zu verbinden. Das Nebeneinander wurde von allen großzügig toleriert. Nur die Missionare versuchten eine Abkehr von der Urreligion zu erreichen, indem sie deren Geister als Teufel, auf Französisch „Les Diables“ bezeichneten. Mit dem Erfolg, dass die Autochthonen ihre „Hole“ in „Diables“ umbenannten, was überhaupt keinen Einfluss auf die Beziehung zu ihren mystischen Vorstellungen hatte.
Nach diesen anstrengenden und aufregenden Tagen waren wir allesamt recht erschöpft. Mehr als alles andere wünschten wir uns zurück nach Niamey, in unser Haus und Hauptquartier. Vor allem Mackie zog es mit Macht dorthin, er hat ja mit dem Mikrofon an vorderster Front „gekämpft“, arbeitete in der Hitze mittendrin im schweißtreibenden Geschehen. Seine diplomatisch geschickt durchgeführten Recherchen vor und nach dem Fest nicht zu vergessen. Ich habe den IFA wieder mit aus Erfahrung bewährter Aufteilung des Gewichtes neu beladen. So konnte man das Fahrzeug knapp davon abhalten, mit dem Heck am Boden zu schleifen. Die Wolken hingen noch tief am Himmel und kündeten von einem kurzen, aber heftigen Gewitter, das in den frühen Morgenstunden hier und in der Umgebung gewütet hatte. Dongo, der mächtige Gott der Blitze, hatte offenbar beschlossen, uns vor der Abreise noch einmal eine eindrucksvolle Demonstration seiner Kräfte zu liefern. Im Moment des Losfahrens zeigte sich kurzzeitig die Sonne, was wir als gutes Omen für die Fahrt deuteten, und unsere müde Stimmung wich freudiger Erwartung. Wir fuhren über den Dorfplatz, die Räder des Autos hinterließen im aufgeweichten Sand tiefe Spuren. Bald darauf erreichten wir die Piste, die genau genommen ein Hohlweg war, und knatterten mit unserem Zweitakter wohlgemut gegen Süden. Nach kurzer Fahrt öffnete sich der Weg. Vor uns breitete sich die von Hügeln unterbrochene Savanne bis zum Horizont aus. Es ging in die Ebene hinunter, das Auto lief wie von selbst den vorgezeichneten Weg bergab.
Tillabery, Fahrt in die Ebene
Im Flachen angekommen, musste ich wieder mit zwei Rädern auf dem Mittelstreifen und mit den anderen am Rand der Piste balancieren. Die Bodenfreiheit des IFA war zu gering für die von Gelände- und Lastkraftwagen gegrabenen Fahrspuren. Ich wunderte mich zwar über Autospuren, die rechts vom Fahrweg in die Grasebene führten, maß ihnen jedoch keine Bedeutung bei. Und dann war unvermutet Schluss. Vor uns lag ein die Piste überflutender See, der sich in einer Quermulde links und rechts unübersehbar weit ausbreitete. Ich hielt den IFA an. Das war so gar nicht nach Mackies Geschmack und er versuchte mich im Befehlston davon zu überzeugen, dass diese Lacke, denn nichts anderes konnte das ja sein, mit Leichtigkeit zu durchqueren sei. Meine standhafte Weigerung da hinein zu fahren, brachte das Fass zum Überlaufen. Mit einem dreifachen „verdammt, verdammt, verdammt!“, seiner bevorzugten Beschwörungsformel für Unbilden jeder Art, sprang er aus dem Wagens und stand vor einem Ereignis, das sich seinem Willen oder seinen Plänen entgegenstellte. Zornig stieg er mit seinen Clarks Desertboots ins Wasser, um dessen Tiefe zu sondieren, nach dem Motto: seht her, was ich für Euch vollbringe, meine für trockene Wüste gemachten Schuhe werden am Altar der Expedition geopfert. Er watete schon bis zu den halben Waden in der braunen Brühe, doch schon nach wenigen Schritten musste auch er einsehen, dass ich Recht hätte. Mit noch gesteigerter Missmutigkeit kehrte er um. Vielleicht hätte dieser Rückzug wenigstens einen Rest an Würde behalten, wäre er nicht ausgerutscht und beinahe der Länge nach in die Brühe gefallen. Sein Zorn stieg in lichte Höhen, als er im Näherkommen das Grinsen in unseren Gesichtern sah.
Ich hinderte Mackie am Einsteigen, seine vor Nässe triefenden Hosen und Schuhe hätten den Innenraum binnen Minuten in ein Feuchtbiotop verwandelt. Das war jedoch nicht der einzige Grund, denn bis zu den abzweigenden Autospuren musste ich den IFA im Rückwärtsgang steuern, eine Herausforderung, die ich ungern noch um zusätzliche Komplikationen erweitert hätte. Um ein paar Zentimeter Bodenfreiheit zu gewinnen, mussten alle aussteigen und zu Fuß zurückgehen. Langsam und vorsichtig fahrend schaffte ich die Strecke ohne extremer Bodenberührung. Meine Freunde stiegen wieder ein und der IFA legte das Gras zwischen den Radspuren des Fahrzeuges um, das die Spur weg von der Piste gelegt hatte. Wir folgten der Fährte in höherem Tempo, weil Mackie drängte. Plötzlich ein heftiger Schlag gegen das Auto, lautes Schleifen an der Bodenwanne, und wir standen. Ein kleiner Termitenbau, im Gras nicht wahrzunehmen, hatte sich als unüberwindbares Hindernis erwiesen und obendrein die Bremsleitung zum rechten Vorderrad abgerissen. Termiten errichten ihre Bauten mit Lehm aus der Umgebung aus einer Mischung von Lehm und Speichel, die im getrockneten Zustand eine nahezu betonähnliche Festigkeit erreicht. Ohne ein weiteres Wort ließ sich Mackie ins Gras fallen, starrte wie ein geschlagener Held teilnahmslos in den Himmel und ließ sich von Dutzenden Fliegen umschwärmen. Ich begann mit der uns schon vertrauten Reparatur: Das Kupferrohr an der Bruchstelle umnieten und damit abdichten, frische Bremsflüssigkeit nachfüllen und die übrig gebliebenen intakten Leitungen entlüften. Um zur Reserveflasche mit der rettenden Flüssigkeit zu kommen, wurde das gesamte Gepäck entladen, eine Aufgabe, die immer wieder für Begeisterung sorgte. An die zwei Stunden dauerte die Reparatur.
Wie ein schuldbewusster Dackel bestieg Mackie nach dem Beladen wieder das Auto und verhielt sich ausnehmend still. Der Weg führte uns zu einem Dorf. Dort stand der Geländewagen, der die Spur hierhergelegt hatte. Ein Weißer kümmerte sich um zwei Verletzte vor einer nahezu gänzlich abgebrannten Hütte. Die Dorfbewohner standen im Kreis herum und verhielten sich seltsam gedämpft. Der Besucher war ein Chef de cercle aus der Umgebung. Er begrüßte uns, und erzählte, dass die Eingeborenen sicher sind, ein Karu Bene hätte den Blitzeinschlag verursacht. Banjou vermittelte einen ängstlichen Eindruck, erklärte uns aber mit gedämpfter Stimme, was ein Karu Bene ist. Wenn ein Mann gegen jemanden anderen etwas unternehmen will, sei es aus Rache oder Zorn, sucht er den Zima auf und lässt sich einweisen. Er wird innerhalb einer kurzen, Dogon gewidmeten Zeremonie mit reichlich Strophanthus beinhaltender Salbe eingerieben. Damit erlangt er die Fähigkeit, mit einer Gewitterwolke zu reisen und den Gegner durch gezielten Blitz zu erschlagen.
Im Mittelalter hatten Hexen nach Benützung dieses Giftes Flughalluzinationen. Die Menschen im Gebiet von Tillabery waren überzeugt, dass rosa gefärbte Wolken einen Karu Bene transportierten und dieser von dort Blitze auf sein Opfer schleuderte. Die uns umstehenden Bewohner des Dorfes schworen darauf, dass dieses Unglück von einem Karu Bene verursacht wurde, man hätte sogar die rosa Wolke beobachtet. Nach der Art wie ein gläubiger Moslem, der Banjou ja war, uns diese Geschichte vermittelte, war anzunehmen, er spräche aus tiefster Überzeugung. Ein Leben als Karu Bene ist indes alles andere als sicher. Sollten die Angehörigen der Opfer Rache üben wollen, ist es ein Leichtes den Übeltäter ausfindig zu machen. Sie wenden sich an den Zauberer. In einem Ritual, das die Rolle des Zima als Vermittler zwischen den spirituellen und weltlichen Sphären betont, wird ein Hund geopfert. dessen Kadaver, von vier Männern getragen, dann den Weg zum Karu Bene weist. Der Zima, der dem Karu Bene einst die magische Fähigkeit verliehen hat, ist in diesem Fall auch der Garant für die Wirksamkeit des Fluchs, der den Wolkenflieger schließlich zur Strecke bringt. Das ist für den Betroffenen ein unausweichliches Todesurteil. Der angebliche Wolkenflieger wird aber von seinen Angehörigen verteidigt und es beginnt ein Krieg zwischen den betroffenen Familien. Die Franzosen haben diese Gemetzel zwar abgestellt, aber wie sich die Leute heutzutage untereinander ohne Mord und Totschlag in so einem Fall einigen, blieb uns leider verborgen.
Yakatala: Für den vom Bltz erschlagenen.
Unser Aufenthalt war nur von kurzer Dauer, denn wir setzten alles daran, noch vor Einbruch der Dunkelheit die Hauptstadt des Gebiets, Tillabéri, zu erreichen. Ohne eine erkennbare Spur pflügten wir durch das hohe Gras, das sich um einen Hügel erstreckte. Wir folgten lediglich unserem Orientierungssinn, denn der dichte Wolkenhimmel verhinderte, den Stand der Sonne auszumachen. Heftige Diskussionen über den richtigen Weg zurück zur Piste begleiteten die Fahrt. Einige größere Rudel Gazellen und Antilopen querten unseren nicht vorgezeichneten Pfad. Das erleichterte die Richtungsfindung, denn Fluchttiere haben die Angewohnheit immer zur Sonne zu laufen, selbst wenn sie nicht scheint. Das dürfte den Sinn haben, Angreifer durch das Sonnenlicht zu blenden und damit eine Chance zur Flucht zu haben. Da es Nachmittag war, liefen sie demnach von Ost nach West. Diese Erfahrung hat sich gelohnt, denn die breite Hauptpiste war bald wieder gefunden, auf der wir Tillabéri in beginnender Dunkelheit erreichten. Zu unserer großen Erleichterung erfuhren wir vom Kommandanten, dass in Niamey Geld für uns angekommen sei, was wir mit einigen eisgekühlten Bieren der Marke Tuborg feierten. Die ermutigende Aussicht, nicht wegen Geldmangels zu scheitern, ließ uns für diese Nacht ein Hotel beziehen. Nach ausgiebigem Duschen schliefen wir wieder einmal in richtigen Betten und fühlten uns Königen gleich.