17. KAPITEL Akamouks Geschenke – Beginn der Regenzeit

Der Ausflug zu Akamouks Familienclan in den Hoggar war aufregend, aber doch recht anstrengend gewesen. Geduscht und komplett frisch gekleidet steige ich in Erwartung eines Frühstücks die Turmstiege hinunter. Mein Platz ist bereits gedeckt, Michelle hat alles liebevoll vorbereitet. Francois sitzt am Nebentisch und genießt seinen geliebten Kaffee. Der weiträumige Gastraum, mit seinen kahlen Wänden, den inzwischen farblich verblassenden Metallmöbeln und den stillstehenden Deckenventilatoren, vermittelt ein Gefühl von Vertrautheit, fast wie ein Nachhausekommen. François begrüßt mich mit einem herzlich gemeinten deutschen „Guten Morgen“ und fügt lachend hinzu, dass Österreich im Wechseln von Regierungen mit Italienern konkurrieren könnte. In der Zeit meiner Abwesenheit, wir schreiben das Jahr 2019, hätte es drei unterschiedliche Regierungen gegeben, und das innerhalb von zehn Tagen. Scheint ein ziemlicher Kindergarten zu sein, diese Alpenrepublik, fügt er provokant hinzu.

Obwohl mir die Hintergründe dieses politischen Chaos unbekannt sind und ich mich nicht unbedingt als fanatischen Patrioten bezeichnen würde, fühlt sich meine staatsbürgerliche Ehre dennoch verletzt. Die Beziehung zu Österreich, besonders zu meinem Geburtsort Wien, ist eine ständige Hassliebe. Ich maße mir keinen Vergleich mit Thomas Bernhard an, aber manchmal glaube ich, seine Empfindungen nachempfinden zu können. Denn ohne Empathie zu den Menschen dieses Landes hätte er nicht derart kritisch geschrieben. Hier in der Wüste, wo Sand, Steine, Hitze und Durst die Dominanten des Lebens sind, ist es herzlich egal, ob die eigene Regierung kurz oder lang (welch Wortspiel!), gut oder schlimm herrscht. Wien liegt viele Flugstunden entfernt, und hier aus kann ich nichts tun, um extreme politische Ausschläge in Europa zu beeinflussen, um deutliches Abdriften, egal ob nach links oder rechts zu verhindern. Das ist gut so, denn solche im fernen Europa gelegenen Ereignisse würden das Aufnehmen der gewaltigen Eindrücke, die Afrika in jedem Winkel bietet, beeinträchtigen.

Es trifft sich ausgezeichnet, dass Michelle in diesem Moment mit einer Kanne Tee erscheint. Ich nutze die Gelegenheit, während sie die duftende Flüssigkeit in meine Tasse gießt, ein paar belanglose Worte mit ihr zu wechseln. Eine willkommene Ablenkung von François‘ politischen Spitzen. Michelle verzieht sich wieder in Richtung Küche, ich widme mich intensiv dem Frühstück. Meine offen zur Schau getragene Konzentration auf das Bestreichen der Baguette mit Camembert, wagt sicher niemand zu stören. Lange lässt sich dieses Gehabe nicht durchziehen, denn ich spüre schon Mitleid für den Nachbarn am Nebentisch aufkommen, der mein Verhalten erkennbar nicht versteht. Seine Gesichtszüge signalisieren komische Verzweiflung. Doch da geschieht Allahs Wille und Akamouk betritt den Gastraum. Er geht direkt auf François zu. Die beiden begrüßen sich nach der längeren Abwesenheit extra ausführlich. Michelle kommt dazu, verschwindet aber sofort wieder in die Küche, um Kaffee für den Gast zuzubereiten. Der Targi hat Geschenke mitgebracht. Ein frisch geschmiedetes Schwert mit ausnehmend kunstvoll gearbeitetem Griff, den ein fein ziselierter Knauf ziert. Es steckt in einer mit geprägten Mustern versehenen und bunt bemalten Scheide. Sie hat am unteren Ende einen ebenso sorgfältig bearbeiteten runden Abschluss aus Metall. Dieses Prachtstück von einer Takouba, hat einen geflochtenen Strick, an dem man sie umhängt und so immer griffbereit hat. Er überreicht dem Hausherrn das Schwert mit beiden Händen. François springt vor Rührung ungewohnt behände von seinem Stuhl hoch. Die Übergabe erinnert mich an einen mittelalterlichen Ritterschlag, mit dem Unterschied, dass der zu Erhebende nicht kniet, sondern aufrecht steht. Selbst für den Targi scheint die Zeremonie etwas Besonders zu sein, denn ich habe ihn nie vorher verlegen oder gar nervös gesehen. François erkennt sofort, dass diese Takouba eine kostbare Sonderanfertigung ist. Dem Wert des Geschenkes entsprechend bedankt er sich ausführlich.

Während dieser Feierlichkeit stellt Michelle den dampfenden Kaffe wortlos vor Akamouk auf den Tisch. Der greift unter sein weites blaues Gewand und zieht ein zusammengerolltes Lederpäckchen heraus, das er mit einer eleganten, eines Targi würdigen Geste der Hausfrau überreicht. Michelle nimmt das Paket verwundert entgegen, knüpft den herumgewickelten Riemen auf und entfaltet dabei eine kunstvolle Satteltasche. Die breiten Lederstreifen darauf sind mit traditionellen, geometrischen Mustern der Touareg verziert, die sorgfältig eingeritzt und gefärbt wurden. Nicht nur das, die fleißigen Frauen der Heimat Akamouks haben die für Reittiere gedachte Tasche mit Trageriemen zu einer Umhängetasche geändert. Das lässt auf eine Sonderanfertigung schließen. Ich bin überrascht, denn mein afrikanischer Freund hat mir von seinem Vorhaben nichts mitgeteilt. Darüber hinaus ist diese Geste merkwürdig, weil Touareg allgemein besser im Nehmen, als im Geben sind. Er ist eben ein Imuhar, ein Adliger. Einerseits in berberischer, andrerseits in der besten europäischen Tradition erzogen. Es ist diese Mischung aus Jahrhunderte alter Sahara-Erfahrung seines Volkes und westlichem Wissen, die seinen außergewöhnlichen Charakter formt.

Da ich mich bei diesem Fest innerhalb der Familie als Außenseiter fühle, beschließe ich, einen kurzen Spaziergang in die Stille der Wüste zu machen. Vielleicht hilft es, die zuletzt erlebten Eindrücke und den leichten Ärger über François’ Taktlosigkeit zu verarbeiten. Doch kaum drücke ich die schwere Eingangstür auf, die vom Gastraum ins Freie führt, schlägt mir unerwartet Bruthitze, wie beim Öffnen eines Backrohrs auf höchster Stufe entgegen. Die Sonne hat sich längst ein großes Stück über den Horizont geschoben und heizt mit erbarmungsloser Kraft den Vorplatz und die Mauern des Gebäudes auf. Es herrscht totale Windstille, was den Effekt der Hitze zusätzlich verstärkt. Schnell kehre ich wieder in das relativ kühle Innere des gastlichen Hauses zurück. Die dicken, praktisch fensterlosen Wände haben die nächtliche Frische bewahrt. Ich begebe mich direkt in das Turmgemach, um meiner seit Tagen aufgestauten Schreiblust nachzugeben.

Ein Wüstensohn auf seinem Mehari

Louis Mourèn war der Apotheker von Niamey und ein Mann mit Prinzipien. Seine Grande Pharmacie thronte am zentralen Platz der Hauptstadt wie ein Symbol der französischen Kolonialmacht. Es gab oben am Markt eine wesentlich bescheidenere zweite Apotheke, mit dessen einheimischen Besitzer lebte er auf Kriegsfuß. Nicht weil sie Konkurrenten waren, sondern sie hatten unterschiedliche Auffassungen davon, wie man eine Apotheke führt. Denn während Louis für Ordnung, Kontrolle und europäische Standards einstand, schien die Pharmacie sur le marché am Markt eher die Philosophie des Pragmatismus zu vertreten: Medikamente fürs Volk, billig, effizient, und wenn nötig, mit etwas Improvisation gewürzt. Louis‘ Geschäft war für die im Niger lebenden Europäer und die reichere Schicht der farbigen Einwohner vorgesehen.

Louis’ Reichweite beschränkte sich allerdings nicht nur auf die Apotheke. Seine Wohnung im ersten Stock über dem Geschäft war das wahre Zentrum seiner Macht und war flächenmäßig größer, da sie sich zusätzlich oberhalb der Garagen und einer Werkstatt ausdehnte. Von der breiten Veranda überblickte man den gesamten Platz und war damit vom Treiben dort stets bestens informiert. Ein strategischer Vorteil, den Louis weidlich nutzte. Da hier Umzüge und Paraden über das zentral gelegene Areal vor dem Haus geführt wurden, war dieser Ort bei den Europäern überaus beliebt. Man gestattete sich, in kolonialer Manier bei kühlem Bier und Whisky auf das Geschehen da unten zu blicken. Mourèn nützte den gegebenen Vorteil zur Kommunikation mit Geschäftsfreunden und lokalen Autoritäten jeder Hautfarbe.

Staatsfeiertag in Niamey (Niger) 1956
Der Präsident der Republique Nigér 1956
Islamische Andacht
Die üblichen Gebete zu den Feierlichkeiten
Aus dem ganzen Land kamen Abordnungen …
….und nahmen an dem Aufmarsch teil.

Gefeiert wurde gerne in Afrika, Prunk, Musik und Tanz gehörten dazu. Das Gewand der Feiernden und Betenden, die weiten Boubous, waren mit kunstvoll gestickten Ornamenten verziert. Solche Kleidungsstücke wurden fast durgehend in allen Staaten Afrikas getragen. Die Stickereien dazu kamen aus der Textilhochburg Österreichs, Vorarlberg. Das war so lange ein Monopol, bis die Chinesen mit ihrer Billigware den Kontinent versorgten.

Seit vielen Jahren gab es im Land eine Reihe von christlichen Missionen. Verschiedene Konfessionen warben um Anhänger, wobei die katholische am besten angenommen wurden, was offenkundig an ihrer Mischung aus Spiritualität und handfester Hilfe lag. Die weiteste Verbreitung fand aber der Islam wegen des großen arabischen Einflusses. Das war ein friedlicher, unaufgeregter Islam mit schlichten Koranschulen, von weltoffenen Imamen geführt, den Marabouts, die weniger strenge Glaubenswächter als vielmehr spirituelle Berater waren. Man sprach ihnen übernatürliche Kräfte zu, ähnlich den Zauberern und Féticheuren. Doch selbst mitten in dieser religiösen Konkurrenz lebten die Naturreligionen weiter, ihre Feste waren Highlights des kulturellen Lebens. Ungeachtet des Glaubens, als dessen Mitglied man sich einschrieb und taufen ließ, wurden in den jeweiligen Missionsstationen kostenlos Essen, Medikamente und neue Hemden abgeholt. Aber jedermann besuchte die Fetischfeste der unterschiedlichen Naturreligionen. Diese waren nicht ausschließlich wegen ihrer Inhalte und deren bisweilen ausufernden Zeremonien aufschlussreich, sondern es gab die Gefahr ihrer Auslöschung durch christliche Religionen und vor allem durch den fortschreitenden mohammedanischen Einfluss. Es war gar nicht mehr so leicht diese Manifestationen uralten Brauchtums zu finden, und in solchem Glücksfall für Tonaufnahmen zugelassen zu werden. Die Recherchen gestalteten sich schwierig, da die Menschen, die darüber etwas wussten, lieber schwiegen. Speziell aus Furcht sich zu verraten und damit die Geschenke der Missionen nicht mehr zu erhalten.

Inmitten dieses gesellschaftlichen Spannungsfeldes lud uns der Apotheker Louis Mourèn auf einen Abendtrunk nach Sonnenuntergang zu sich ein. Es war in der Trockenzeit, damit die beste Gelegenheit, Gäste auf der Terrasse seines Hauses zu empfangen. Als wir eintrafen, saßen schon ein paar ausgewählte Herren der französischen Administration und Geschäftsleute der Stadt in den bequemen Gartenmöbeln, kühle Getränke vor sich auf kleinen Tischchen. Ein Bild kolonialer Gelassenheit. Unter ihnen war Père Ducros, der Leiter der katholischen Mission in Niamey. Er wurde von den zwei barfüßigen schwarzen Boys, die notdürftig in weiß gekleidet waren, speziell respektvoll bedient. Mit Limonade, denn außer dem Schluck Wein zur Messe, trank er keinen Alkohol. Wir Teilnehmer der Expedition wurden vom Gastgeber Mourèn den Anwesenden wie eine Art Exoten vorgestellt. Mackie, Schani und Kopecky stürzten sich gewandt in den Smalltalk, das heißt, der Letztere nervte aus Mangel an französischen Sprachkenntnissen die anderen mit der sich mantrisch wiederholenden Frage: „Was sagt er“? Walter und ich hielten uns abseits vom Getriebe an den Whiskygläsern fest. Die Terrasse war durch eine Abgrenzung gesichert, deren Metallgestell die Sonnenbestrahlung gespeichert hatte und sich wesentlich heißer als die kühlere Abendluft anfühlte. An dieses Geländer gelehnt ließ sich das ganze Treiben bestens beobachten.

Einer der Herren gesellte sich zu uns, wie sich herausstellte, war er Beamter des französischen Kolonialministeriums, und wollte wissen, wofür wir hier arbeiten. Wir erzählten ihm in groben Umrissen über die zu erfüllenden Aufgaben für die Universität Wien, das Phonogrammarchiv der Akademie der Wissenschaften und das Museum für Völkerkunde. Das bewog ihn zu der Frage, ob wir an einem Fetischritual im Norden des Landes teilnehmen wollten, er hat in dem Gebiet dort oben zu tun und könnte uns die dazu notwendigen Kontakte herstellen. Von dieser Mitteilung derart überrascht, wussten wir beide im Moment nichts darauf zu sagen. Der gute Mann musste ob unserer schockbedingten Reaktion das Gefühl gehabt haben, eine verletzende Frage gestellt zu haben. Wochenlang suchten wir mühevoll mit bescheidenem Erfolg genau solche Informationen, und hier, bei einem Abendtrunk, wurde die Expedition so nebenbei aus längerem Stillstand erlöst. Nachdem der Schreck verflogen war, fragten wir nach weiteren Details. Jeweils zu Beginn der Regenzeit veranstalteten die Menschen der Gegend Fetischzeremonien, Yenendi genannt. Er plante demnächst eine Reise nach Téra, einer Kleinstadt, die als Sitz des Commandant de Cercle für den gesamten Verwaltungskreis diente. Er könne uns die notwendigen Kontakte herstellen und die Wege ebnen. Père Ducros wird in der Zeit ebenfalls dort sein. Dieser Missionar, ein gütiger und freundlicher Herr asketischen Aussehens, war bei der schwarzen, sowie weißen Gemeinde außerordentlich beliebt. Er betreute ein Gebiet, das sich flächenmäßig sicher doppelt so weit wie Österreich ausbreitete. Er besuchte entlegene Dörfer und half Eingeborenen, ihr bescheidenes Dasein zu bewältigen. Er verbesserte ihre Ackerbaugeräte, betätigte sich als Arzt, baute Bewässerungsanlagen mit ihnen, predigte und griff gelegentlich zum Gewehr, wenn Löwen oder Hyänen die Bauern bedrängten. Er konnte sich fließend in den Sprachen Songhai, Haussa und Djerma unterhalten. Wir hatten ihn schon mehrmals aufgesucht, er verstand unsere Arbeit und beriet uns effizient, weil er die meisten „Kollegen“ der Umgebung, die mohammedanischen Imams, sowie die Priester der autochthonen Kulte kannte.

Nach Mitternacht ging Kopecky aus Langeweile in unser Quartier, weil er kein Wort der Unterhaltung verstanden hatte. Mackie und Schani hatten dem kostenlosen Whisky ausgiebig zugesprochen, sie verabschiedeten sich langwierig und stützten sich gegenseitig die Stiegen hinunter am Weg zum Auto. In diesem Zustand waren sie kaum fähig, die Tragweite unserer Neuigkeit zu ermessen. Aus dem Grund unterließen wir es vorerst, sie davon zu informieren. Erst bei einem späten gemeinsamen Frühstück platzte Walter mit einem minutiös ausgearbeiteten Durchführungsplan in die verkaterte Runde. Auf die drei Übernächtigen wirkte die Nachricht wie eine Überdosis Amphetamin. Kopecky sprang unvermittelt auf und riss dabei beinahe den Tisch um, Schani hob hysterisch zu lachen an, und Mackie verschluckte sich derart, dass wir seinen Erstickungstod befürchteten. Nachdem er sich von diesem Anfall erholt hatte, reagierte er unverhohlen gekränkt, weil nicht er, der Leiter der Expedition, derjenige war, der sich damit rühmen durfte. Wir gingen den von Walter erstellten Plan durch, an dem Mackie freilich einiges auszusetzen hatte. Das ignorierte Walter großzügig und brachte dagegen seine nicht unbegründeten Bedenken wegen unserer Finanzen ein. Aus diesem Grund beschlossen wir, die Exkursion allein mit dem IFA zu unternehmen. Der Humber würde an einen begüterten Targi verkauft werden, der schon länger großes Interesse an dem Fahrzeug bekundet hatte. Die Neigung zum Brechen der linken Hinterachse verschwiegen wir ihm wohlweislich. Da er den Wagen nicht so schwer beladen wird, wie wir es getan haben, sollte sich dieser Umstand in nächster Zeit kaum bemerkbar machen.

Wir stürzten uns sofort in die Organisation, überprüften die seit einer Woche unberührte Technik und die Bärenbatterien mussten geladen werden. Weitere Informationen über den Ort und die Hintergründe dieses Yenendi wurden eingeholt. Die ersten Schauer der beginnenden Regenzeit brachen vom Himmel. Wir waren neben den Vorbereitungen für die Aufnahmen voll mit Abdecken beschäftigt, um zu verhindern, dass die Wassermassen aus dem zerfallenden Teil des Gebäudes die trockenen Räume überfluteten. Walter und Schani wurden dazu verdonnert in der Stadt zu bleiben. Sie sollten auf das Haus aufpassen und sich um den Verkauf des Père Ubu kümmern. Es brauchte zwei Tage, bis wir bereit zur Abfahrt waren. Die Arbeitsgeräte, Tonbandgerät, Umformer und Akkumulatoren wurden zuerst in das Auto geschlichtet, gefolgt von Luftmatratzen, Kochutensilien und sparsam Ersatzkleidung. Zwei Jagdgewehre mussten logischerweise mit. Obwohl wir an Gewicht einsparten, wo es nur ging, wurde das Fahrzeug weit über sein offizielles Gesamtgewicht beladen.

Der Informant vom französischen Ministerium fuhr kurz vor uns Richtung Téra ab. Wir folgten ihm später, anfangs noch guten Mutes, auf der asphaltierten Straße. Nach einigen Kilometern erwischte uns ein erster Vorgeschmack auf die kommende Regenzeit. Der Scheibenwischer auf der Seite des Fahrers funktionierte – wer braucht schon so etwas in der Sahara – war aber machtlos gegen diese Wassermengen, die da von oben herabstürzten. Da vor mir nichts mehr zu sehen war, blieb ich trotz Mackies Protest am Straßenrand stehen und wir warteten im Wagen den Regen ab. Wir hatten das Gefühl, in einem U-Boot zu sitzen, und befürchteten, dass das Dach nicht dicht bleiben könnte. Aber alle Achtung vor den Mechanikern in Eisenach, die den IFA F9 zusammengeschraubt hatten, wir blieben trocken! Selbst die Fensterscheiben waren rundherum erfreulich abgedichtet. Gleichwohl waren wir durch und durch nass, schweißnass. Kaum eine viertel Stunde später war der Zauber vorbei, die Sonne knallte wieder auf Kühlerhaube und Straße, die wie Kochtöpfe dampften.

Wir konnten weiterfahren, erreichten die nicht befestigte Piste und kamen nach etwa einer Stunde Fahrt in den Genuss des nächsten Wolkenbruchs, der gleich heftig wie der erste verlief. Diesmal stellte sich heraus, dass der Regen nicht nur uns, sondern auch den IFA aus dem Konzept brachte. Der Verteiler musste trockengelegt werden. Er hat sich vermutlich an die 5% Luftfeuchtigkeit in der Sahara derart gewöhnt, dass er hier bei annähernd 100% streikte. Geduldig und liebevoll trockneten wir die elektrischen Kontakte nach jedem Regen und dazwischen ebenfalls. Das Fahren wurde immer schwieriger und nahm die volle Aufmerksamkeit in Anspruch. Das zügige „Fliegen“ über die Wellblechpiste mit mindesten 70 Kmh durfte nicht unterschritten werden, weil wir Karosserie und Geräte weiterhin dringend brauchten. Durch den schweren Regen bildeten sich zusätzlich tiefe Querrinnen und mit Wasser gefüllte Löcher auf der Piste, die man vorsichtig und möglichst schräg anfahren musste. Die Bodenfreiheit war für ostdeutsche Autobahnen berechnet, und durchaus nicht für Geländefahrten. Diese oftmalig notwendigen Wechsel zwischen Tempo halten, abruptem Bremsen und zartem über die vom Wasser ausgewaschenen Löcher gleiten, war für mich als Fahrer, wie für das Auto extrem anstrengend. Selbst an meinen Mitfahrern gingen diese heftigen Tempowechsel nicht spurlos vorüber. Viele Zigaretten wurden auf der Strecke nervös und achtlos geraucht.

Nach mühsamen Stunden erreichten wir Téra und sahen am Platz vor der Kommandantur den Powerwagon des französischen Überseeministeriums parken. Monsieur Aillot, der Commandant Cércle, zeigte sich informiert und empfing uns freundlich. In einem mit tiefen Sesseln ausgestatteten, klimatisierten Empfangsraum saß schon der Herr vom Ministerium. Wir ließen uns in die restlichen bequemen Sitzgelegenheiten fallen. Eine Ordonanz in makelloser Uniform servierte uns kalte Getränke, die wir dankbar annahmen. Erdnüsse und Knabbergebäck standen auf runden Tischchen bereit. Es stellte sich heraus, dass das Yenendi in einem gewöhnlichen Dorf, namens Begouriou Tondo Kangé, was so viel wie „Wäldchen am Fuß des Steines“ heißt, einmal jährlich stattfand. Es lag bloß vierzig Kilometer von hier entfernt, hinter ein paar Hügeln. Das Fest war eines der größten dieser Art in dem gesamten Gebiet. Bei den Zeremonien opferte man Kleintiere, um den Zorn Dongos, dem mächtigen Wettergeist, abzuwenden. Tanzende Medien wurden in Trance versetzt und aus ihrem Mund sprachen die Geister. Der Commandant bedeutete uns, dass wir um eine Woche zu früh gekommen waren. Es war uns aber wichtig dorthin zu fahren, um mit den Leuten im Dorf zu reden, damit wir am Tag des Festes keine unangenehmen Überraschungen erleben. Das heißt, es wurde notwendig, sich um ein Nachtquartier zu kümmern. Es gab ein Hotel in der Stadt, aber im Hinblick auf unsere Finanzen lehnten wir mit der Erklärung ab, dass das kostbare Equipment nachts unbedingt unter Beobachtung und in Griffweite sein sollte. Es traf sich, dass nahe gelegen eine Garage leer stand, die ein regendichtes Dach zu bieten hatte.

Die Einladung zum Abendessen nahmen wir nur zu gerne an, denn wir hatten ursprünglich mit Palatschinken und Ölsardinen, dem normalen Menü, gerechnet. Monsieur Aillot stellte uns einen jungen Mann vor, Banjou war sein Name, den er uns mitgab. Er stammte aus der Gegend und würde für uns dolmetschen. Wir verabredeten uns mit ihm für den nächsten Morgen zum Tagesanbruch und bezogen das Quartier. Sogar das Auto fand in dem Gebäude Platz. Wir waren glücklich darüber, nicht draußen übernachtet zu haben, denn in der Nacht zogen einige heftige Gewitter über uns hinweg.

Der Morgen brach an, und mit ihm erschien Banjou, unser Dolmetscher. Wir traten vor die Garage, die uns die Nacht über trocken gehalten hatte. Eine merkwürdig kontrastreiche Stimmung empfing uns. Der Himmel war düster mit grauen Wolken verhangen, die im gleichen Moment aufgehende Sonne tauchte die Dächer der Häuser am Platz in goldgelbes Licht, als wollte sie den Tag mit einem Hauch von Hoffnung begrüßen. Es wurde recht eng im IFA mit dem zusätzlichen Passagier und das Heck des Autos berührte nahezu den Boden. Kein regen fiel und Banjou führte uns hinaus aus der Stadt. Am Stadtrand begann eine schmale Piste, die sich später wie ein Hohlweg durch die Hügel zog. Hier fuhren vorher Geländewagen und LKWs mit ausreichender Bodenfreiheit, die Fahrspuren waren tief eingegraben, auf jeden Fall zu tief für unser Auto. Obendrein hatten sich die Fahrrinnen wegen der Regengüsse bis zum Rand mit Wasser gefüllt. Es blieb mir über weite Strecken nichts übrig, als mit zwei Rädern am Pistenrand, mit den anderen wie auf Schienen am Mittelstreifen zu balancieren. Dazwischen versanken die Antriebsräder öfters im Morast und wir durften wieder einmal graben, Äste von Bäumen brechen und unter die versunkenen Räder legen und anschieben. Der klebrige Lehm verschlang unsere Schuhe, zog an unseren Kräften und kostete uns wertvolle Zeit.

Lehmverschmiert und physisch ausgepowert kamen wir bei Einbruch der Nacht am Ziel an. Monsieur Aillot hatte uns den Namen des großen Fetischeurs genannt, Yabilan. Unser Dolmetsch kannte diesen wissenden Mann wenig überraschend und wir suchten ihn bei seiner Hütte auf. Das war ein Fehler. Was uns nicht gesagt wurde, zuerst hätten wir den Chef de village, den Häuptling des Dorfes, konsultieren müssen.Es gab zwischen ihm und dem Zauberer heftige Rivalität. Wir kümmerten uns nicht weiter darum, der Beschwörer war für uns wichtiger.

Yabilan kam uns aus seiner Hütte entgegen. Tief musste er sich bücken, um durch den Eingang zu kommen. Die Einlässe zu den Behausungen aus Lehm waren allgemein recht niedrig gehalten. Yabilan war hochgewachsen, hager, und hatte eine flache breite Nase wie die breitgeklopfte eines Schwergewichtsboxers. Unter schweren Lidern blickten schlaue, jung gebliebene Augen aus dem faltigen Gesicht. Seine Haltung und das Gehabe waren Respekt gebietend. Er strahlte eine Autorität aus, die uns sofort in ihren Bann zog. In blaues, dezent glänzendes Tuch gewandet, einen weißen Schal um den Kopf gewunden, strömte er Charisma aus. Yabilan schien über unser Kommen informiert zu sein. Wie das funktioniert hat, war und blieb ein Rätsel. Junge Frauen brachten Holzstühle und kleine Bänke, die sie im Halbkreis auf dem Vorplatz aufstellten. Dort nahmen wir Platz, während Banjou ihm Grüße vom Commandant und von Père Ducros überbrachte. Yabilan nickte huldvoll, ließ aber keine Gefühlsregung erkennen. Mehr Emotionen zeigte er, als Mackie ihm die mitgebrachten Gaben überreichte. Wir hatten eine große Packung Zündhölzer und zwei Meter dunkelblauen Stoff in Niamey besorgt. Um unser Anliegen zu untermauern, erzählten wir ihm von den Zauberbräuchen in den Tiroler Alpen. Bilder von Perchtenläufen aus der Fremdenverkehrswerbung dienten uns als Anschauungsmaterial. Das überzeugte ihn, sodass er ohne Bedenken der Anfrage zustimmte, das Fest aufzunehmen. Er zeigte uns obendrein eine leerstehende Hütte, deren geflochtenes Dach freilich nicht mehr absolut dicht war. Dort, und in einem unserer Zelte daneben, schlugen wir das Nachtquartier auf.

Zum Glück fiel in dieser Nacht kein Regen. Das Fest wird erst in einer Woche, nach dem Ende des mohammedanischen Fastenmonats Ramadan abgehalten werden. Diese Zeit wollten wir nicht in Begourou abwarten, und beschlossen, erst nachdem wir mit dem Chef de village gesprochen hatten, zurück in die Stadt Téra zu fahren. Banjou führte uns am nächsten Morgen zu dem Haus des Häuptlings, der war aber ausgeflogen. Das versicherte uns eine der anwesenden Damen. Unser Übersetzer meinte dagegen, dass der Dorfoberste bewusst abwesend war, weil wir das Protokoll gebrochen hatten, indem wir zuerst Yabilan aufgesucht hatten. Warten wäre sinnlos, wurde uns bedeutet. Somit zogen wir wieder ab, entschlossen, später einen erneuten Versuch zu wagen.

Da das Gebiet rundherum bekanntes Jagdgebiet war, gingen Mackie und ich jagen. Wir brauchten ohnehin zur Abwechslung Fleisch nach den Tagen mit Palatschinken und Ölsardinen. Der Regen hatte Busch und Savanne verändert. Sie waren nicht mehr gelb und braun, sondern zeigten frühlingshaftes Grün. Das Gras schoss aus dem Boden und war schon recht hoch, was die Jagd erschwerte. Aber wir hatten Glück. Mit sieben Perlhühnern Jagdbeute kehrten wir in das Dorf zurück. Eines davon wurde zu Yabilan gebracht, ein Huhn schenkten wir Banjou. Mit zweien zum Geschenk marschierten wir nochmals zum Häuptling. Die Türe des Hauses war verschlossen, selbst auf heftiges Klopfen wurde nicht geöffnet. Banjou rief laut, dass wir zwei Hühner mitgebracht hätten. Es dauerte Minuten, bis sich die Türe einen Spalt öffnete und eine weibliche Stimme verkündete, man möge sie ihr übergeben, und der Chef sei nicht zu sprechen. Bumms, das Tor war wieder zu. Am Nachmittag wurde es noch schlimmer. Ein Mann erschien bei Yabilan und überbrachte die Anweisung des Dorfoberhaupts, wir sollten das Dorf verlassen und dürften dem Yenendi keinesfalls beiwohnen. Daraufhin kochten wir eines der Hühner und begaben uns nach dessen Verzehr bedrückt zur Ruhe, denn wir sahen schon unsere Felle wegschwimmen. Am folgenden Morgen kam Yabilan herüber und meinte, der Zwerg hätte ihm nichts zu sagen, er würde das übernehmen. Das war aber nicht so problemlos, denn ein von den Franzosen eingesetzter Administrator hatte gewisse Machtbefugnisse, denen selbst ein Medizinmann unterworfen war.

Nicht allein aus Sorge um unsere Arbeit traten wir in gedämpfter Stimmung die Rückfahrt an. Tiefhängende schwarze Wolken kündigten ein Gewitter an. Dass sich der Zeitpunkt für die Durchführung des Yenendi nach dem Ramadan richtete, war sicher afrikanischer Diplomatie zuzuschreiben. Niemand wollte den Teil der zum Islam übergetretenen Bevölkerung überfordern, der sich von seinem traditionellen Glauben nicht abbringen ließ.

Wir benötigten für diese vierzig Kilometer Strecke nach Téra wiederum einen vollen Tag. Müde und verdreckt angekommen, durften wir die Garage wieder beziehen. Monsieur Aillot gestatte uns die Benützung des Gästebades im Haus. Nach erfolgter Toilette konzentrierten wir uns auf die Zubereitung der Hühner. Banjou war so freundlich gewesen, die Tiere unterwegs fachgerecht zu rupfen. Kopecky schlug vor, sie über einem Feuer zu braten. Da wir uns aber in einer Stadt befanden und Rücksicht auf den Kommandanten nehmen mussten, wurden sie zerteilt und verschwanden zum garen im Druckkochtopf, erhitzt von einem Petroleumkocher. Diese Suppe besserte unsere Kost für einige Mahlzeiten auf. Die nächsten Tage des Wartens auf das Ende des Ramadans verbrachten wir mit Reparaturarbeiten am IFA, Spaziergängen in und außerhalb der Stadt, sowie gelegentlichen Einladungen beim Kommandanten. Die dort geführten Gespräche mit einigen seiner Afrikaerfahrenen Gäste, deren Namen in der Zwischenzeit aus meinem Gedächtnis fielen, brachten wichtige Informationen für unsere zukünftige Arbeit in Westafrika.           

21. KAPITEL – Die Viper, Chinesen und Abschied von Niamey

Michelle und François brechen knapp vor Tagesanbruch nach Tamanrasset auf. Im Zustand des Aufwachens höre ich sie in ihr Auto einsteigen und losfahren. Sie hatten mich schon vor einiger Zeit gefragt, ob ich ein paar Tage auf die Auberge aufpassen würde. Michelle hat einen runden Geburtstag und die beiden wünschen sich, diesen mit ein bisschen Luxus zu feiern, soweit das in dieser Wüstenstadt eben möglich ist. Sie planen, sich in einem guten Hotel mit Klimaanlage von geschultem Personal bedienen zu lassen, in Restaurants an blendend weiß gedeckten Tischen direkt aus Frankreich eingeflogene Speisen und Getränke zu genießen, ohne sich hinterher ums Abwaschen kümmern zu müssen. Geschäfte und der Basar locken mit erstaunlichen Dingen, die man zwar nicht unbedingt braucht, aber kaufen könnte. Da die beiden mir das Gefühl einer kleinen Ersatzfamilie gegeben haben und ich von ihnen Inspirationen für mein Buch bekomme, fiel es mir leicht, zuzusagen.

Doch jetzt, noch verschlafen im Bett liegend und auf das erste Tageslicht wartend, steigen Zweifel auf. Allein in diesem doch recht weitläufigen Anwesen, mitten im größten Wüstengebiets der Erde, ob das gut geht? Mir fällt ein viele Jahre zurückliegendes Erlebnis ein. Ein in einer riesigen Südtiroler Burg einsam lebender Kastellan erwiderte auf meine Frage, ob er nicht Angst habe so allein zu leben, dass er sich überaus sicher fühle. Fürchten müsse er sich nur, wenn Menschen da wären. Diese Einstellung eigne ich mir jetzt an, und begebe mich nach einer kurzen Dusche hinunter in den Gastraum, nicht ohne vorher mein Jagdgewehr zu laden und umzuhängen. Unten angekommen verspüre ich die neue Einsamkeit und Stille wie intensiven Druck auf die Ohren. Von Zeit zu Zeit wird die Ruhe unterbrochen. In unregelmäßigen Abständen verfängt sich mit leise pfeifender Wind in den halb offenen Fensterläden. Dieses melodische Geräusch, dem Ton einer Äolsharfe gleich, wirkt lauter, als es dem schwachen Luftzug nach angemessen wäre. Beim Betreten der sauber geputzten Küche fühle ich leichtes Unbehagen. Obwohl mich Michelle zur vollen Benützung berechtigt hat, ist es mir nicht angenehm, in dieses fremde und wohlgeordnete Reich der Wirtin einzudringen. Ich bereite mir trotzdem eine Kanne Tee und entnehme dem wohlgefüllten Kühlschrank ein Stück Baguette sowie etwas Käse und setze mich damit gemütlich an den Küchentisch.

Das Frühstücksgeschirr ist sorgfältig abgewaschen und auf seinen Platz zurückestellt, der Tisch sauber abgewischt. Mit dem Gewehr über der Schulter starte ich meinen Rundgang durch den Hof und die angrenzenden Gebäude. Ausgestorben und friedlich breitet sich der Hof zwischen Mauer, Haus und Garage aus. Doch da bewegt sich etwas in der Mitte des freien Platzes. Das Objekt hat die gleiche gelblich – rötliche Farbe wie der Sand rundherum. Die Flinte entsichert in der Hand nähere ich mich vorsichtig dem jetzt reglosen Ding. Ein Kopf hebt sich aus dessen Mitte und züngelt in meine Richtung. Es ist eine gedrungene kurze Hornviper. Mit geschmeidigen Sprüngen versucht sie seitwärts zu entkommen. Offensichtlich hat sie sich aus der Hamadawüste in den Hof herein verirrt. Ich bleibe stehen, das Herz ein wenig schneller schlagend. Dieses Reptil ist wegen meiner plötzlichen Anwesenheit sicher ebenso erschrocken, wie ich durch den ihres Anblicks. Angst macht diese hochgiftige Schlange unberechenbar und gefährlich. Ein Biss kann tödlich sein. Wenn man nicht rechtzeitig mit dem richtigen Serum spritzt, wirkt das Gift blutzersetzend. Fasziniert von diesem schönen und gleichzeitig tödlichen Wesen, wage ich ein paar vorsichtige Schritte näher heran. Die Schlange hat mich jetzt im Fokus ihres Blickes, den dicken Körper zusammengerollt bewegt sich die Viper nicht mehr, sondern züngelt warnend in meine Richtung. In der Hoffnung sie vertreiben zu können, wage ich mich auf eine sichere Distanz von etwa zwei Meter Entfernung heran. Sie bleibt reglos, doch die gespaltene Zunge züngelt unermüdlich in meine Richtung. Die beiden Hörner über den Augen lassen sich leicht erkennen, die ihr ihren Namen gegeben haben. Wie dieses schöne Tier loswerden, ohne selbst in Gefahr zu geraten? Erschießen wäre das Einfachste. Mit langsamer Bewegung hebe ich das Gewehr. Während ich die Hähne des Ferlacher spanne, hindert mich der Gedanke, einen Mord damit zu begehen, abzudrücken.

Aber aus dem Hof muss ich sie entfernen. Als nächste Option bietet sich die Viper einzufangen. Doch wie und womit? Ich habe anderswo Schlangen mit Gabelstöcken erjagt. Die waren wenigstens meist lang ausgestreckt, sodass der Stock genau hinter ihrem Kopf platziert und so die Tiere ohne Gefahr fixiert werden konnten. Diese Viper hingegen hat sich eng zusammengerollt und hält ihr Kopfende geschützt zwischen den Windungen ihres Körpers. Außerdem, wo nimmt man in der Wüste eine geeignete Astgabel her? Ich beginne, beruhigend mit ihr zu sprechen, leise, beschwichtigend, als könnte sie meine Absichten verstehen. Meine ehrlichen Beteuerungen, dass ich nichts Böses vorhabe, stoßen aber bei ihr auf taube Ohren. Sie starrt mich an, ohne zu blinzeln, ohne den starren Kreis ihres Körpers zu lösen. Nur die flinke Zunge scheint mich zu warnen: Komm näher, und du wirst es bereuen.

Hornviper

Daher bleibt nur eine Lösung: Die Schlange muss gefangen und nach draußen geschafft werden, ohne dass sie Gelegenheit bekommt zu beißen. Ich erinnere mich, in der Werkstatt eine schwere Autoplane eines Pickups gesehen zu haben. Eine Plane, so dick, dass die Giftzähne der Viper sie keinesfalls zu durchdringen vermögen. Bedächtig und langsamen Schrittes, stets den Hof im Blick behaltend, hole ich das dunkelgrüne Autoverdeck aus der Garage. Im Hof wieder zurück, ist die Schlange verschwunden und nicht mehr zu sehen. Eine Giftschlange, die man nicht sieht, die sich überall verstecken kann, ist ein gefährliches Jagdobjekt. Der Boden ist zwar fest, doch lassen sich die unverkennbaren Spuren dieses sich seitwärts fortbewegenden Reptils verfolgen. Vorsichtig folge ich der Fährte, bis zu der Mauerseite, wo Akamouk gewöhnlich seine Unterkunft aufgebaut hatte.

Die Viper liegt regungslos und angespannt, züngelt nur aufgeregt.Wie ein Torero beim Stierkampf seine Capa, halte ich die Plane vor mir. Schützend breit ausgespannt lasse ich sie am Boden schleifen, und bewege mich vorsichtig so zur Schlange, jeder Schritt vom pochenden Bewusstsein der Gefahr begleitet. Bei meinem Herannahen versucht das Reptil zu flüchten.Das gelingt ihr nicht so leicht, weil die seitliche Fortbewegung einerseits von der Mauer, andererseits durch das riesige steife Stoffverdeck verhindert wird. Seitwärts gleitend, bleibt ihr eine einzige Möglichkeit, in Richtung der Einfahrt vorwärts zu schlängeln. Stets an der Wand entlang bewegen wir uns zum Einfahrtstor. Die Plane ist schwer, und das ständige Hochhalten wird zur Tortur. Meine Arme, ausgestreckt und angespannt, beginnen bald zu zittern.Aber sie ist der einzige Schutzschild gegen tödliche Bisse und dient dazu, der Schlange die gewünschte Richtung zu weisen. Sie scheint sich mit der Zeit an das sie bedrängende grüne Objekt zu gewöhnen, denn ich muss sie einige Male zum weiterschlängeln anstupsen. Das gefällt ihr gar nicht, sie schnellt hoch und versucht, ihre Giftzähne blitzschnell in das sie bedrohende Tuch zu schlagen. Das leistet aber Widerstand und lässt sie abgleiten. Der Angriff kommt so schnell und heftig, dass ich instinktiv einen Sprung nach hinten mache. Mein gesamter Körper ist auf einmal in Schweiß gebadet. Ich bedaure, dass mich niemand sieht, wie heldenhaft und strategisch durchdacht ich das gefährliche Tier kontinuierlich weiter zum Einfahrtsstor treibe. Die durch das Befahren der Einfahrt entstandenen flachen Spurrinnen unter dem Tor bieten der Schlange Gelegenheit, flugs nach außen in die Freiheit zu gelangen. Erschöpft, aber zufrieden kehre ich in die Gaststube zurück, lasse die Plane achtlos auf den Boden fallen und bereite mir zur Erholung einen ausgiebigen Pastis 51. Meine sonst so ruhige Hand, die mich unter normalen Umständen als zielsicheren Schützen ausweist, zittert beim Einschenken.

Gegen Abend, nach einem beschaulich verbrachten Nachmittag, nütze ich die Abwesenheit meiner Wirtsleute und starte den Fernseher in ihrem Wohnraum. Auf allen erreichbaren Sendern wird medienwirksam über die Ausbreitung des COVID-19, dem Coronavirus berichtet. Im Fernen Osten nimmt die Anzahl der Neuansteckungen langsam ab, China kehrt vorsichtig zur Normalität zurück. Doch die Pandemie wandert schnell nach Westen. Ich bin wieder einmal glücklich, mich hier in einem riesigen Landstrich aufzuhalten, der bis jetzt kaum davon berührt wird. Vom Norden, der Küstenländer am Mittelmeer, wird von derzeit fünftausend Kranken mit nur wenig täglichen Neuinfektionen berichtet. In der lebensfeindlichen Sahara dazwischen kann kein Virus oder Keim ohne Wirt überleben. In den angrenzenden Sahelstaaten Mali, Niger und Tschad gibt es bis heute nur relativ wenige gemeldete Infektionen. Doch bereiten mir die oft widersprüchlichen Nachrichten aus Europa Sorgen. Da leben Verwandte, Freunde und mir lieb gewordene Menschen in Gefahr. Faktisch ist es unmöglich, von hier aus etwas daran zu ändern. Den Meldungen zufolge hat Österreich die Krise vorbildlich gemeistert. Spät kehre ich in meinen Turm zurück und stelle das geladene, aber gesicherte Gewehr in Griffweite neben das Bett.

Im Morgengrauen werde ich von ungewohntem Motorenlärm geweckt. Ein kleiner Konvoi bewegt sich von der Hauptpiste auf die Auberge zu. Ein Geländefahrzeug, ein Bus und ein LKW. Schnell ziehe ich Hose und Hemd an und laufe die Treppe hinunter, dann durch den Hof und öffne das Einfahrtstor. Der Geländewagen fährt herein. Langsam verzieht sich der durch die Fahrzeuge hochgewirbelte Staub, so sehe ich den Bus und den LKW rechts von der Piste halten. Die Leute bleiben in den Gefährten sitzen und machen keine Anstalten hereinzukommen. Das Tor lasse ich offen und wende mich den neu Angekommenen zu. Mitten im Hof haben sie angehalten. Zwei Männer steigen aus dem Auto, das einem Mercedes G, bis auf die etwas glattere Motorhaube, zum Verwechseln ähnlich ist.

Einer der Ankömmlinge scheint, nach seinem Burnus zu schließen, ein Berber aus dem Norden zu sein, der andere trägt eine Khakihose, darüber eine kurzärmelige Tropenjacke mit überdimensionierten aufgesetzten Taschen, wie man sie von den Uniformen britischer Offiziere im Tropendienst kennt. Beide haben gegen Staub und Hitze ihre Köpfe turbanartig mit Tüchern verhüllt, der größere trägt eine dunkle Pilotenbrille. Wir reichen uns die Hände, wobei sich die Herren mit ihren Namen vorstellen, die ich aber nicht verstehe. Auf meine Frage, ob die anderen aus dem Bus und dem LKW nicht hereinkommen wollen, bedeutet man mir mit einer Handbewegung, dass die draußen bleiben. Ich lade die beiden in die Gaststube ein.

Kaum betreten wir den Raum, nehmen sie ihre Verhüllungen ab. Der größere der beiden ist unverkennbar chinesischer Herkunft. Er lächelt, weil er meinen erstaunten Gesichtsausdruck sicher als Erschrecken deutet. Es ist ihm bewusst, dass sie wegen der Pandemie im Moment stigmatisiert sind. Aber da kein Mitglied seiner Truppe seit vielen Monaten in China war und die Kommunikation mit der Heimat und den Dienstgebern in Algier nur auf elektronischem Weg stattfindet, könne man die Möglichkeit von Infektionen ausschließen. Ich biete ihnen Kaffee an, den sie gerne annehmen. In der Zeit, in der wir auf das Kochen des Wassers warten, erklärt mir der Asiate, dass er und seine Leute seit zwei Jahren ohne Unterbrechung in einem Wüstenort der nördlichen Sahara, ein Paar Kilometer östlich von Quargla, leben. Er selbst ist Ingenieur, die anderen sind Spezialisten auf verschiedenen technischen Gebieten. Sie sind am Weg zu ihrem neuen Einsatzort im Tschad.

Ich serviere den Kaffee und versuche, mehr Informationen zu erhalten. Die Männer sind auf der Tanezrouft vom Norden gekommen, haben irrtümlich eine Abkürzung genommen und deshalb Bordji Mokhtar in der Nacht verpasst. Es war ursprünglich geplant, dort Wasser aufzutanken, aus diesem Grund sind die Tanks jetzt leer. Ich gehe das Dieselaggregat hochfahren, damit die Wasserpumpe ausreichend mit Strom versorgt wird, und zeige dem Beduinen die Stelle, wo er nachfüllen darf. Auf einen Ruf von ihm steigen die Passagiere aus dem Bus und schleppen Kanister und Gerbas heran. Ich begebe mich wieder in die Gaststube zu dem chinesischen Ingenieur. Auf meine Frage, wie es seine Landsleute in seiner Heimat geschafft haben, die Kette der Ansteckungen zu unterbrechen, meint er, dass man in China neben modernster Medizin auf alte Gepflogenheiten wie Qi-Gong und andere traditionelle Methoden setzt. Mehr ist meinem asiatischen Gegenüber nicht zu entlocken. Da unterbricht der Beduine mit der Meldung, dass man zur Weiterfahrt bereit sei. Ich lehne es ab, Geld für Wasser und Kaffee anzunehmen, in der Hoffnung, damit bei den Mouloudjies Verständnis zu finden. Beim Verlassen der Gaststube wickelt der Chinese sein langes Tuch wieder um den Kopf, bis sein Gesicht vollständig verborgen ist. Gemeinsam gehen wir zum Wagen, wo sich die beiden höflich verabschieden, bevor sie sich abwenden und ihren Weg fortsetzen.

Nachdem ich das Tor verschlossen habe und zurück in die Gaststube komme, bemerke ich auf dem Tisch eine kleine Überraschung. Unter einer Kaffeetasse liegen ein paar größere Scheine Francs-CFA, ein heimlicher Dank für Wasser und Gastfreundschaft. Absolute Stille herrscht wieder. Eine dicke Fliege summt laut durch den Raum, von kurzen Landungen unterbrochen, und nimmt damit der Ruhe ihre Bedrohlichkeit. So lästig solche Brummer sein können, bedeutet doch ihr Geräusch in der sonst toten Umgebung Leben. Mein Plan, in der kühlen Jahreszeit die Rückreise nach Europa anzutreten, ist durch die Coronakrise in weite Ferne gerückt. Im Norden Algeriens steigen die Infektionszahlen exponentiell, über fünfhundert neue Fälle täglich. Im Gegensatz dazu scheinen sich die Zahlen in den Sahelstaaten Niger und Tschad auf einem niedrigen Niveau zu stabilisieren, jeweils nur wenige Dutzend Fälle insgesamt. Doch ein Rückweg über die Sahara zwingt unweigerlich zur Passage durch Frankreich oder Italien, Länder, die besonders hart von der Pandemie getroffen sind. Ich beschließe, die Rückreise zu vertagen und abzuwarten, was die Zeit bringt. Die kurze Erklärung meines chinesischen Gastes lässt mich nicht los. Kann es sein, dass Jahrtausende alter medizinischer Erfahrung heute noch immer greifen? Die europäische Kultur ist zwar nicht annähernd so alt wie die der Asiaten, tatsächlich sollten da ebenfalls Erkenntnisse aus vielen Jahrhunderten vorhanden sein und wirken. Ketzerische Gedanken schießen mir durch den Kopf. Hat die Aufklärung, die als Befreiung von Dogmen und als Beginn einer neuen Ära des Verstandes gefeiert wird, vielleicht ihre Schattenseiten? Könnte es sein, dass die Rebellen der Aufklärung in ihrem Bemühen übertrieben haben? Oder ist den Protagonisten der Bewegung die Kontrolle über ihr löbliches Werk entglitten? Haben Eiferer aus der Philosophie der Aufklärer die Berechtigung zu radikaler Eliminierung uralten Volkswissens konstruiert? Könnte es sein, dass die rigorose Abkehr von altem Wissen, vom intuitiven Verständnis der Welt, einen Verlust bedeutet hat, den wir heute schmerzlich spüren? Wie kann es sonst geschehen, dass China fortschrittlicher und stärker als die gesamte westliche Welt aus dieser Pandemie aussteigt? Das Reich der Mitte hatte sich unter den verächtlichen Blicken Europas gegen die Aufklärung gewehrt und damit das Wissen über die Zusammenhänge in der natürlichen Heilkunst und Esoterik bis heute, trotz Maos Kulturrevolution, bewahrt.

Diese Gedanken kreisen wie ein unaufhörlicher Reigen in meinem Kopf. Dabei übermannt mich die Müdigkeit. So schultere ich das Gewehr und gehe in den Schuppen, um das Stromaggregat abzustellen und mache mich auf den Weg zurück in den Wohnturm. Die Dunkelheit und Stille der Nacht verstärken das Ruhebedürfnis. Kurz vor dem Einschlafen, meldet sich mein Gewissen. Ich sollte morgen an den Rückblicken weiterarbeiten. Aber was bedeuten persönliche Erinnerungen in einer Zeit, in der die großen Fragen der Menschheit nach Sinn, Wissen und Fortschritt wieder drängender denn je erscheinen?

Sanddüne

Wir hatten anstrengende, turbulente, aber höchst aufregende Tage in dem Dorf Begouro-Tondo-Kangee mit dem Zauberer Yabilan verbracht. Die Ausbeute unserer Arbeit für die Feldforschung hat alle Erwartungen übertroffen. Trotz der in den weiß überzogenen kühlen Betten im Hotel wunderbar durchgeschlafenen Nacht, machen sich weiterhin Symptome von Erschöpfung breit. Unsere Stimmung war labil, schwankte zwischen Euphorie und Schwermut. Einhundert und fünfzig Kilometer Piste waren bis Niamey zu bewältigen. Die führte in respektvoller Entfernung am Fluss Niger entlang und war eine der Hauptverbindungen von der Provinz Tillabéri nach der Hauptstadt. Von den viele Tonnen schweren LKWs mit ihren übergroßen Rädern zügig befahren, hatten sich betonharte Sandwellen, die bekannten Tôle ondulées gebildet.

In großer Sorge um unser dürftig motorisiertes Auto gab ich Vollgas, das der IFA brav annahm und, trotz schwerer Ladung, nach relativ kurzer Zeit auf siebzig Kmh beschleunigte. Es war angeraten, diese Reisegeschwindigkeit konstant einzuhalten, denn langsamer wurde das Fahrzeug derart durchgebeutelt, dass die Karosserie zu zerfallen drohte, sowie unsere hoch technisierten Geräte gefährdet waren. Um das erforderliche Tempo zu erreichen, benützte ich mit zwei Rädern den äußersten rechten ebenen Rand der Piste, dort wo sich kein LKW hin verirrt. Dieser schmale Streifen ohne Wellblech zwischen Fahrbahn und Savanne barg eine Gefahr, tiefe Querrinnen, entstanden durch abfließendes Regenwasser von der Piste. Die ohnehin schon geschwächten Stoßdämpfer hätten die Fahrt über so einen Graben nicht mehr durchgehalten. Die linken Räder auf der Wellblechpiste, die rechten auf relativ glattem Grund jagte ich den F 9, konzentriert auf Querrinnen achtend, binnen eines Kilometers auf Reisegeschwindigkeit. Erstaunlich, wie brav der IFA lief. Bis zu dem Moment, an dem er kein Gas mehr annahm. Bevor das Auto endgültig stehen blieb, rumpelte es gewaltig. Der Motor verweigerte nach mehrmaligen Startversuchen den Dienst! Er pfiff uns was, im wahrsten Sinne des Wortes, denn er gab bei jeder Umdrehung pfeifende Geräusche von sich.

Da standen wir, verlassen inmitten des afrikanischen Buschs und stellten gemeinsam deprimierte Überlegungen über den Sinn dieser Reise an. Oder darüber, warum wir uns das antaten. Lethargisch und in hoffnungslosen Trübsinn versunken, unternahm niemand etwas zur Rettung der Situation. Banjou, der junge Dolmetscher verstand dieses Gehabe überhaupt nicht. Er war Afrikaner, den solche minimale Probleme nicht aufregten. Entgegen unserer Apathie wurde er aktiv und meinte, ob er nicht nach Tillabéri zurückgehen und Hilfe holen soll. Kraftlos wünschten wir ihm Glück und ließen ihn laufen.

Nachdem wieder Ruhe eingekehrt war, hörten wir rundherum im Busch das unverkennbare Geräusch von Perlhühnern. Mackie schnappte sich ein Schrotgewehr und überprüfte den Inhalt einer Schachtel Munition. Die beinhaltete neben Patronen mit 2,5mm-Schrot zwei mit Posten, das waren Bleipatzen, mit denen man Wildschweine erlegen oder sich gegen Angriffe wilder Tiere effizient zu wehren vermag. Mit entschlossener Miene machte er sich auf, Perlhühner zu jagen. Ein Unterfangen, dem wir keinen Erfolg gaben, denn diese Laufvögel bemerken das Herannahen einer möglichen Gefahr auf größere Entfernung und flüchten zu Fuß, oder aufgeregt flatternd fliegend, so zeitgerecht, dass man unmöglich zu einem Treffer kommt.

Kopecky und ich blieben derweil im Lager aus, lethargisch und gleichgültig. Kettenrauchend, teilnahmslos und schwitzend warteten wir über langsam verrinnende Stunden auf Geschehnisse, die da kommen sollten. Sehr viel Zeit verging, ohne dass sich an unserer Lage etwas änderte. Die Gruppe Perlhühner war längst weitergezogen, es herrschte absolute Stille, untermalt vom beständigen Summen der Fliegen, die, angelockt durch den Geruch von menschlichem Schweiß, in uns Kadaver vermuteten. Wir hörten ein Geräusch kräftiger Schritte und mussten die Augen Richtung Himmel heben, zwei Giraffen stolzierten in wenigen Metern Entfernung am Lager vorbei. Sie hielten an, um uns von oben herab mit gelassener Neugier zu betrachten. Kopecky tastete vorsichtig nach seiner Kamera, entschlossen, diesen majestätischen Moment festzuhalten. Da ertönte aus weiterer Distanz ein Schuss, und gleich drauf ein zweiter. Die Giraffen verharrten nur eine Sekunde, bevor sie sich erschrocken, mit großer Eleganz in Bewegung setzten und flüchteten.

Giraffen flüchten

Dann herrschte wieder endlos lang Stille, in der wir rätselten, ob Mackie sich selbst entleibt hat? Nach reiflicher Überlegung verwarfen wir diese Theorie, denn wie hätte er in so einem Fall einen zweiten Schuss abgeben können? Langsam näherte sich die Sonne dem Horizont, die Farben von Busch und Gras, einiger Blüten, sowie der rote Sand der Straße schienen kräftiger zu leuchten. Sorge um Mackie und Banjou kam auf. Weit entfernt erschien auf der schnurgeraden, vor Hitze flirrenden Piste eine Gestalt, die sich langsam in unsere Richtung bewegte. Durch das Swarovskifernglas blickend erkannten wir Mackie, der gemächlich auf uns zuschritt. Es dauerte einige Zeit, bis er bei im Lager eintraf. Mit seinem australischen Rangerhut, dem Gewehr schräg über der Schulter und einer Machete am Gürtel hängend, hätte er als Double von Crocodile Dundee durchgehen können. Er schleppte zwei Perlhühner daher, die er uns mit sichtbarem Stolz und unnachahmlicher Arroganz vor die Füße warf, und sich selbst gleich auf die Gerba, aus der er lange, ohne abzusetzen trank. Seine Erschöpfung war ihm deutlich anzusehen, denn er hatte sich zur Rückkehr aus dem Busch an der Sonne orientiert, dabei aber deren natürlichen Gang nicht eingerechnet. Was ihm einen Umweg von ein paar Kilometern einbrachte.

Bald darauf sahen wir ein Fahrzeug aus dem Norden herankommen. Banjou hatte in Tillabéri einen Mechaniker gefunden, einen Europäer, der einen Pick-up als Abschleppwagen besaß. Wir packten alles Gepäck aus unserem Auto auf die Ladefläche des Werkstattwagens. Der IFA wurde mit einem Seil angehängt, da jede andere Methode wegen des geringen Bodenabstands unmöglich war. Für mich folgte eine höllische Fahrt im IFA. Der Schlepper konnte mit dem anhängenden Fahrzeug nicht dieses Tempo fahren, das notwendig gewesen wäre, um über die Wellblechpisten hinwegzugleiten. In einer dichten Sandwolke sitzend, die mir Sicht und Atem nahm, bekamen ich und unser geplagter F 9 jede Bodenwelle wie Hammerschläge zu spüren. Das Auto tanzte auf der Straße wie ein Motorboot bei hohem Wellengang von links nach rechts. Auf Lenkeinschläge reagierte es überhaupt nicht mehr.

Bei Dunkelheit erreichten wir unser Ziel. Das bestand aus einem kleinen Wohnhaus, einem großen Hof dahinter und einer gedeckten, zur Platzseite offenen Werkstatt. Diese und der von Mauern begrenzte Platz davor waren notdürftig elektrisch beleuchtet. Völlig durchgebeutelt und Sand zwischen den Zähnen stieg ich von leichtem Schwindel erfasst aus. Der eingeebnete Sandboden des quadratischen Hofes war dunkel mit Motorenöl getränkt und festgetreten. Auf einer Seite lagen traurig ein paar Autowracks. In der Werkstatt setzte sich der ölige Boden fort. Dort war er tiefschwarz, und kleine, mit Öl gefüllte Pfützen verteilten sich über die gesamte Fläche. Im langgestreckten Raum standen eng gedrängt verschiedene größere Werkzeugmaschinen. Ausgebaute Automotoren, Getriebe und deren Teile lagen wahllos verstreut herum. An den Wänden zeugten leere Haken von ehemaliger Ordnung. An diesen hingen einmal griffbereit Schraubenschlüssel, Zangen und anderes Werkzeug.

Monsieur Goll, wie der Mechaniker hieß, schraubte sofort den Zylinderkopf ab und wir sahen die Katastrophe. Die Kopfdichtung war gerissen und zerfiel beim Herunternehmen in einzelne Teile. Unsere Reservedichtung war schon in Kerzaz verbraucht worden. Aber wir wären nicht in Afrika, hätte es nicht eine Lösung für dieses Problem gegeben. Monsieur Goll, ein typischer „Petit blanc“, griff zuerst einmal in den mit schwarzem Öl verschmierten Kühlschrank und reichte jedem eine Flasche kühles Bier. Unsere Stimmungslage besserte sich dadurch entschieden. Aus einer dunklen Ecke holte er eine flache Platte aus biegsamem Asbest, das mit einer dünnen Kupferschicht überzogen war. Er könne daraus eine neue Dichtung schneiden und das Auto wäre morgen früh abzuholen. Wir schenkten ihm die zwei von Mackie geschossenen Perlhühner und marschierten in die uns schon bekannte Herberge.

Der Himmel zeigte sich am nächsten Morgen in grauer Melancholie, die Luft klebte wie ein zu feuchtes Etikett auf der Haut. Bereits nach wenigen Schritten verschmolzen unsere Hemden mit den schweißnassen Rücken. Der Weg zur Werkstatt, wo wir das Auto mit unserem gesamten Hab und Gut zurückgelassen hatten, war deshalb mühsam. Monsieur Goll, die Verkörperung guter Laune und Frische, empfing uns strahlend, als hätte er die Nacht in einem Wellnesshotel verbracht. Ohne Auftrag hatte er den IFA in der Nacht überholt, und erzählte uns das mit Stolz in der Stimme. Die Zündkerzen waren gewechselt, die Bremsleitung repariert und alle Düsen und Filter gereinigt worden. Selbst die Hecktüre schien wieder besser zu passen. Der F 9 stand abfahrbereit im Hof. Wir hatten den Eindruck, er würde lächeln und sich freuen, seine Quälgeister wiederzusehen. Vielleicht projizierten wir auch nur unsere Erleichterung auf das treue Arbeitstier. Der Schreck über die sicher enorme Rechnung blieb aus, es wurden nur die Materialkosten verrechnet. Die Arbeit an dem seltenen Zweitakter hätte dem Meister Freude bereitet, außerdem wären wir ihm sympathisch. Sehr gerne und mit überschwänglichem Dank wurde dieses Entgegenkommen angenommen.

Schon beim Anlassen des Motors, selbst die Batterie schien frisch geladen zu sein, empfand ich echtes Glücksgefühl, das sich bei den ersten Metern Fahrt noch verstärkte. Der IFA reagierte wie ein neues Auto, die Lenkung ging leichter und die Bremsen schlugen minutiös an. Unterwegs beobachtete ich meine Freunde aus den Augenwinkeln. Schon lange hatten sie nicht mehr so heitere und zuversichtliche Gesichter. Die Männer vermittelten Stolz, als hätten sie die Reparaturen selbst geschafft, und die Gewissheit, dass sich die Anstrengungen mit dem Zweitakter doch lohnen würden. Der so reparierte F9 hatte unseren Teamgeist wieder zusammengesetzt.

Wir hatten die Fahrt über Glück, denn erst vor Niamey überraschte uns ein Tornado, gewaltige Wassermassen stürzten aus den Wolken. Wenige Kilometer vor der Stadt bekamen wir endlich Asphalt unter die Räder. Die jetzt gut funktionierenden Scheibenwischer vermochten die Mengen Wasser, die vom Himmel fielen, nicht bewältigen, sodass wir stehen blieben und abwarteten, bis das Ärgste vorbei war.

Nach dem Tornado
Der Tornado ist vorbei

Binnen weniger Minuten ließ der Regen nach, die Sicht wurde besser, auch wenn die Straße unter einem plätschernden Sturzbach völlig verschwunden war. Vorsichtig tastete ich mich an die Stadtgrenze heran. Beim großen Markt schien die Sonne plötzlich so unbeeindruckt und strahlend, als hätte es die Regenzeit nie gegeben. Dort ließen wir Banjou aussteigen, von wo er nicht weit nach Hause hatte. Die Straße dampfte durch die Hitze, und beim Eintreffen im Domizil der Expedition war alles rundherum staubtrocken. Schani und Walter hatten während unserer Abwesenheit das Haus bestens gehütet. Trotz der heftigen Regenstürme waren die Haupträume trocken geblieben, eine kleine, dochwillkommene Sensation. Schani empfing uns in der Badehose, Walter brutzelte in der „Küche“ im Hof seine bewährten Palatschinken aus Mehl und reinem Wasser, aber mit einer Hingabe, die fast schon an ein kulinarisches Ritual erinnerte.  

Walter konnte auch Nudeln kochen.
Die „Küche“ hinterm Haus

Der Kassenwart sparte weiter, obwohl Alkaïdi Touré die erste Rate von den versprochenen 120.000 CFA für Père Ubu bezahlt hatte. Aus Vorsicht wollten wir ihm das Auto aber nur dann geben, nachdem es ausbezahlt war, und das möglichst kurz vor unserer Weiterfahrt nach Süden. Würde er in der Zwischenzeit wild im Busch herumfahren, bestünde die Gefahr eines neuerlichen Achsbruchs. Ein solcher wäre für den Humber letal gewesen. Obwohl, unbeladen hätte er zweifelsfrei mehr ausgehalten. Aber, sicher ist sicher. Wir verspeisten gemeinsam die von Walter hergestellten, etwa einen Zentimeter dicken Mehlfladen, die er Palatschinken nannte. Mit dem Öl aus der Sardinendose bestrichen und mit Sardinen belegt eine Köstlichkeit. Die Unterscheidung, ob der gebackene Teig, oder das Rückgrat und die Gräten der Fischlein zwischen den Zähnen mehr knirschten, war nicht leicht zu finden. Walter hat in einer Anwandlung von Selbstverleugnung einen fünf Liter fassenden Bonbon französischen Kiravi-Rotwein auf den Tisch gestellt, der die Verdauung der Billigsardinen, und die Erzählungen beflügelte.

Nach dem verspäteten Mittagessen gab es die heißersehnte Siesta. Es wurde später Nachmittag und etwas kühler in unserem Gemäuer. Nicht nur ich, ebenso Schani und Walter waren auf die Ausbeute der Reise gespannt. Da Kopecky seine Fotofilme in dieser kurzen Zeit nicht zu entwickeln vermochte, stemmte ich das Magnetophon auf meinen Arbeitstisch und legte das erste Band ein. Herzzerreißendes Jaulen erfüllte den Raum. Selbst wiederholtes Rückspulen und neuerliches Einlegen des Tonbandes, sowie mehrmaliges Starten mit dem Schaltknebel brachte keinen geraden Ton zustande. Nervös nahm ich ein älteres, längst geprüftes Band, erzielte damit aber genau denselben Effekt. Der Belgier Schani meinte trocken, dass das „schlimm“ klänge, Walter blickte schweigend tiefernst, Kopecky grinste unverschämt und Mackie gab mir solch technische Ratschläge, wie sie nur von einem gelernten Kaffeesieder stammen konnten. Ich selbst fühlte mich gar nicht wohl in meiner mit Schweiß überzogenen Haut, der sich mit jedem neuerlichen Startversuch vermehrte. Die vier Herren verzogen sich in ihre eigenen Abteilungen, schweigend, ohne ein Wort des Trostes. Im Geiste sah ich mich kleinlaut in Wien in den heiligen Hallen des Phonogrammarchivs in der Liebiggasse, umringt von Mitgliedern der Akademie, die je nach Temperament böse, ernst oder mitleidig reagierend dem Gejaule aus den Lautsprechern lauschten. Kein Albtraum kann schlimmer sein. Allein gelassen ging ich trüben Sinnes daran, das Gerät zu zerlegen. Nach einigem Suchen fand ich die Ursache meiner Verzweiflung in der ausgeleierten Rutschkupplung. Sie musste gegen eine neue getauscht werden. Ersatz aus Wien schicken zu lassen, würde etwa drei Wochen dauern.

Abends folgte ich in gedrückter Stimmung meinen unbeschwert plaudernden Freunden zu einer Einladung auf einen Drink bei Louis Mouren, dem Apotheker. Irgendeine Fügung brachte es, dass der schadhafte Gummiring in meine Hosentasche gefunden hatte. Nach dem zweiten Whisky zeigte ich diesen dem Hausherrn. Der stieg mit mir in seine Werkstatt hinunter, wo wir einen zumindest ähnlichen Ring aus Gummi fanden. Das war ein zarter Hoffnungsschimmer. Wieder zu Hause angekommen nahm sich unser technisch Begabtester, Hans Kopecky, des Werkstücks an. Mittels einer Rasierklinge fertigte er eine annähernd perfekte Kopie des Originalteiles an. Nach dem verspäteten Mittagessen gab es die heißersehnte Siesta. Es wurde später Nachmittag und etwas kühler in unserem Gemäuer. Nicht nur ich, ebenso Schani und Walter waren auf die Ausbeute der Reise gespannt. Da Kopecky seine Fotofilme in dieser kurzen Zeit nicht zu entwickeln vermochte, stemmte ich das Magnetophon auf meinen Arbeitstisch und legte das erste Band ein. Herzzerreißendes Jaulen erfüllte den Raum. Selbst wiederholtes Rückspulen und neuerliches Einlegen des Tonbandes, sowie mehrmaliges Starten mit dem Schaltknebel brachte keinen geraden Ton zustande. Nervös nahm ich ein älteres, längst geprüftes Band, erzielte damit aber genau denselben Effekt. Der Belgier Schani meinte trocken, dass das „schlimm“ klänge, Walter blickte schweigend tiefernst, Kopecky grinste unverschämt und Mackie gab mir solch technische Ratschläge, wie sie nur von einem gelernten Kaffeesieder stammen konnten. Ich selbst fühlte mich gar nicht wohl in meiner mit Schweiß überzogenen Haut, der sich mit jedem neuerlichen Startversuch vermehrte. Die vier Herren verzogen sich in ihre eigenen Abteilungen, schweigend, ohne ein Wort des Trostes. Im Geiste sah ich mich kleinlaut in Wien in den heiligen Hallen des Phonogrammarchivs in der Liebiggasse, umringt von Mitgliedern der Akademie, die je nach Temperament böse, ernst oder mitleidig reagierend dem Gejaule aus den Lautsprechern lauschten. Kein Albtraum kann schlimmer sein. Allein gelassen ging ich trüben Sinnes daran, das Gerät zu zerlegen. Nach einigem Suchen fand ich die Ursache meiner Verzweiflung in der ausgeleierten Rutschkupplung. Sie musste gegen eine neue getauscht werden. Ersatz aus Wien schicken zu lassen, würde etwa drei Wochen dauern.

Abends folgte ich in gedrückter Stimmung meinen unbeschwert plaudernden Freunden zu einer Einladung auf einen Drink bei Louis Mouren, dem Apotheker. Irgendeine Fügung brachte es, dass der schadhafte Gummiring in meine Hosentasche gefunden hatte. Nach dem zweiten Whisky zeigte ich diesen dem Hausherrn. Der stieg mit mir in seine Werkstatt hinunter, wo wir einen zumindest ähnlichen Ring aus Gummi fanden. Das war ein zarter Hoffnungsschimmer. Wieder zu Hause angekommen nahm sich unser technisch Begabtester, Hans Kopecky, des Werkstücks an. Mittels einer Rasierklinge fertigte er eine annähernd perfekte Kopie des Originalteiles an. Nach dem Einbau des Teils hatte das Magnetophon wieder einen lupenreinen Gleichlauf. Meine Empfindungen zu diesem Erfolg waren leicht ambivalent, denn dadurch hatte der Fotograf bei mir einen Gutpunkt. Was aber in dem Moment mehr als egal erschien. Damit war die zentrale Aufgabe der Expedition vorläufig wieder einmal gerettet.

In dieser Situation wurde überlegt, wie wir unsere Arbeit, für die zu diesem Zeitpunkt kein Ende abzusehen war, mit einem Auto und fünf Mann gestalten können. Wir hatten an die sechshundert Kilometer afrikanischer Pisten mit einigen Arbeitsplätzen vor uns. Das Platzangebot im IFA für alle Expeditionsteilnehmer mit gesamtem Arbeitsgepäck war zu gering. Wir beschlossen, unseren Sparmeister Walter, per Flug nach Hause zu schicken, wo er die medienwirksame Rückkehr der Expedition vorbereiten sollte. Nur ungern übergab er den Geldbeutel an Mackie, da er sofortiges Verprassen des Schatzes befürchtete. Eine Sorge, die er natürlich gleich, fast beleidigend, offen kundtat.

Die Zeit bis zu unserer Abfahrt nach Süden verbrachten wir nicht untätig. Wir lernten Boubou Hama kennen, einen intellektuellen Schriftsteller sowie Politiker. Sein Einfluss reichte weit, besonders in der von den Franzosen geduldeten und streng beaufsichtigten Assemblée Nationale, wo er eine bedeutende Rolle spielte. Wir besuchten ihn in seinem Büro in der Assamblé. Bei kühler Limonade gab es interassante Gespräche, sein Wissen über Europa war enorm. Er war Mitglied der großen Volksgruppe der Djerma, deren Sprache ich in einem akustischen Diktionär festhalten wollte. Durch seine Vermittlung fanden wir einen aufgeweckten Mittelschüler, perfekt in französischer und seiner Muttersprache. Eine recht langwierige und langweilige Arbeit, an der Mackie schnell die Lust verlor. Seine Begeisterung hielt bei ihm etwa bis zum Buchstaben C. Trotz meiner eigenen Ambition, das Alphabet vollständig zu dokumentieren, musste ich den Versuch an dieser Stelle abbrechen. Dringendere Aufgaben, insbesondere die Vorbereitungen für die Weiterfahrt, ließen mir schlicht keine Zeit, diese sprachliche Reise zu Ende zu bringen.

Akustische Übersetzung der Djermasprache

Wir gaben Zeitungs- und Radiointerviews, und stellten uns sonst recht wichtig dar. Alles das schon in der Absicht, dieses fabelhafte Land, in dem es Wüste, Gebirge, Steppe, Busch und einen in seinem Umfang eher bescheidenen Urwald gab, unbedingt wieder zu besuchen. Mit den für jeden Landesteil typischen ethnischen Besonderheiten, war die Republiqué Nigér für unsere Arbeit von hohem Interesse.

Interview in Radio Niger

Der Tag der Abreise kam immer näher, Alkaïdi Touré holte Père Ubu ab und brachte das Restgeld in bar mit. Ich versuchte meine Emotionen durch Geschäftigkeit zu unterdrücken, letztlich war der Humber das allererste eigene Auto in meines Lebens. Walter wurde zum Flugplatz gebracht und mit vielen positiven Wünschen in das Flugzeug der Air France gesetzt. Das persönliche Equipment reduzierten wir auf das Nötigste. Es folgten nicht wenige beachtenswert feuchte Abschiede von unseren neu gewonnenen Freunden in Niamey, und wir verließen alle mit dem ehrlich gemeinten Versprechen, wiederzukommen.

Fotos alle Rechte: H. M. Prasch, Diktionär: Phonogrammarchiv der Akademie der Wissenschaften

22. KAPITEL – Allein in der Hamada – Benin – König Aho

Heute ist ein wunderschöner Tag, mit angenehmerer Kühle trotz der intensiven Sonne. Früh am Morgen rufen Michelle und François aus Tessalit an und ihre voraussichtliche Ankunft gegen Abend mitgeteilt. Ich nütze die Zeit bis zu ihrem Erscheinen und inspiziere die von mir benützten Räume gründlich, wobei ich an einigen Stellen angesammelten Sandstaub wegwische. Das Haus soll ihnen makellos übergeben werden. Es wäre möglich, dass ich etwas liegen gelassen, gebrauchtes Geschirr nicht abgewaschen und nicht an seinen Platz gestellt habe. Nach dem Zurechtrücken der Stühle im Gastraum und in der Küche ziehe ich mich zufrieden in mein Turmzimmer zurück. Es bleiben ein paar Stunden bis zum Eintreffen der beiden, die ich mit Schreiben von Entwürfen für das nächste Kapitel verbringe.

In der abendlichen Dämmerung treffen meine Wirtsleute ein. Sie sind müde und verstaubt von der anstrengenden Fahrt, aber gut gelaunt. Verschmitzt lächelnd überreichen sie mir eine Flasche Pastis 51 mit der Anmerkung, damit ich bei der Heimfahrt meine Kehle desinfizieren könne. Sie wissen, dass ich dieses Getränk liebe. Michelle zieht aus ihrer Tasche ein dickes Päckchen Nasen- und Mundschutzmasken und legt es neben die Flasche auf den Tisch. In Europa werde ich das sicher brauchen, meint sie. Bei einigen Fläschchen Bier der Brasserie Kronenbourg tauschen wir unsere Erlebnisse der letzten Tage aus. Ich ändere den Plan für meine Abreise. Ich möchte vor der Rückkehr nach Europa noch etwas Zeit in der Wüste zu verbringen, um endgültigen Abschied von diesem Stück Erde voll unbegrenzter Wunder zu nehmen. Gleich morgen beginne ich mit den Vorbereitungen.

Ich werde voraussichtlich einige Tage unterwegs sein. François war so freundlich und hat schon am Morgen meinen Landrover durchgecheckt, wechselte sogar das Motoröl, prüfte die Luft im Reservereifen und das Werkzeug. Vorsorglich schenkt er mir ein Paket Dichtungsmittel für den Kühler. Die Gerba wird mit Wasser angefüllt und auf Flüssigkeitsverlust überprüft, indem sie einige Stunden gefüllt in der Garage hängt. Ich packe das Feldbett zusammen, zwei Decken und anstatt eines Kopfpolsters den Parka ins Auto. Die Sandleitern hängen festgezurrt an den Seiten des Autos, das Navi funktioniert. Michelle füllt in mütterlicher Fürsorge eine Metallkiste mit Lebensmitteln, die locker für einen Monat reichen würden, und stellt sie in den Rover, denn dort ist es zu dieser Jahreszeit in der Nacht recht kühl. Ich reinige mein Jagdgewehr, die Munition dafür packe ich zu der Wäsche in den handlichen Koffer. Wiederholt fragt mich François, ob er nicht doch mitfahren solle. Ich verstehe seine Besorgnis, denn er kennt die Wüste wie kaum ein anderer Weißer. Aber ich wünsche mir ein paar Tage wieder das Gefühl der absoluten Ruhe und Stille in den einsamen Weiten der Sahara, sowie mittendrin ihre Vertrautheit zu erleben.

Vor dem ersten Morgengrauen versuche ich mich unbemerkt aus dem Haus zu stehlen. Doch alle Vorsicht ist vergebens. Im Gastraum, den ich zu durchqueren habe, sitzt schon Michelle, vor sich eine Kanne voll heißen Tees, dazu hat sie ein Stück Baguette mit Paté de fois vorbereitet. Um sie nicht zu verletzen, nehme ich etwas Tee und ein paar Bissen des liebevoll bestrichenen Brotes. Beim Hinausgehen hält sie mich zurück, und drückt mir auf jede Wange einen Kuss. Diese Geste berührt mich, mehr als ich erwartet hätte, und ich gehe nachdenklich hinaus in die Nacht.

Endlich starte ich den Landrover. Im Licht der Scheinwerfer öffnet Michelle das Einfahrtstor. Im Vorbeifahren winke ich ihr zum Abschied durch das offene Seitenfenster. Schnell schließe ich es wieder, denn es ist an diesem Morgen empfindlich kalt. Auf der Hauptpiste angelangt, biege ich in Richtung Westen ab und nehme zügig Fahrt auf. Der Motor des Landrovers läuft gleichmäßig und bringt den Wagen rasch auf die notwendige Geschwindigkeit, die ihn über die harten Wellen der Piste fliegen lässt. Im Rückspiegel zeichnet sich am Horizont ein schmaler, hellblauer Streifen ab, der das Erwachen des Tages ankündigt. Vor mir herrscht tiefe Nacht. Ich darf die nicht gekennzeichnete Abzweigung nach Norden nicht verpassen, die das Navi nicht anzeigt und nur im Licht der Scheinwerfer auszumachen ist.

Bei hoher Reisegeschwindigkeit konzentriere ich mich auf die rechte Seite der Piste. Aus der Finsternis kommend queren zwei vom Scheinwerferlicht geblendete Gazellen in Panik meine Fahrspur. Reflexartig reiße ich das Lenkrad herum und verfehle die Tiere nur knapp. Gleich darauf taucht die Abzweigung nach Norden auf, erkenntlich an den die Piste markierenden Häufchen aus Sand und Steinen. Die Strecke ist schmal, mehr ein Fahrweg, was den Vorteil hat, dass dort selbst die Laster langsam fahren, wodurch sich das gefürchteteWellblech nur wenig aufbaut.

Im Osten erhebt sich die Sonne rasch über den Kamm der Berge und in den ersten Strahlen werfen die in der Hamada herumliegenden Steine und trockenen Büsche scharf abgegrenzte Schatten. Ein einsamer Fennek schaut mich voll Interesse aus wenigen Metern Entfernung an. Als ich knapp an ihm vorbeirausche, bleibt er ungerührt sitzen. Nur ein kurzes Zucken verrät, dass er einen Moment lang eine Flucht erwägt. Sicher hat er eben eine Wüstenmaus im Visier, die sein Frühstück werden könnte. Es ist die Zeit am Morgen, in der das Leben in der Wüste erwacht, bevor es sich vor der gnadenlosen Mittagshitze zurückzieht. Die Piste wird immer schwächer erkennbar, bis sie nach einer kleineren Sandverwehung überhaupt verschwindet. Ich fahre durch einen abgelegenen Teil der Sahara, weit entfernt von Tourismus oder militärischem Übungsgebiet. Je tiefer ich in dieses, einem Reservat ähnlichem Gebiet eindringe, umso öfter treffe ich auf Gazellen und einige wenige Antilopen. Die äsenden Tiere werfen in der flachen Sonne unrealistisch verzerrte lange Schatten auf den steinigen Boden. Das leise Brummen des Landrovers scheint sie kaum zu stören, nur wenige heben kurz die Köpfe, bevor sie sich wieder dem kargen Gras zuwenden.

Gerne würde ich stehen bleiben, um diesen bezaubernden Anblick zu genießen, doch sobald ich anhalte, weiß ich, dass sie weit weg in die Wüste flüchten. Der Grande Erg Am späten Vormittag, die Sonne steht schon hoch am Himmel, macht sich der Grande Erg durch unregelmäßig auftretende Sandverwehungen bemerkbar. Meine Glückshormone schlagen Purzelbäume. Weit weg von politischen Querelen, Pandemie, Konsumwut und finanziellen Sorgen, wird das Gefühl von absoluter Freiheit zur Realität. Untermalt von dem verlässlich brummenden Motor des Landrovers, fühle ich mich sicher und geborgen. Es erinnert mich an frühere Erlebnisse, wie die Alleinflügen mit der alten Piper JP3C in Bayern, oder Fahrten mit meinem Jeep durch die Atacamaberge in Peru, beschwingt vom Einfluss von LSD. Doch wurden diese Erfahrungen zeitlichen oder äußeren Umstände geprägt, wie vorgeschriebene Flughöhe und -zeit, beziehungsweise dem Nachlassen der Wirkung der Droge, scheint hier alles grenzenlos. Die Dauer meines Aufenthaltes in der Wüste bleibt mir allein überlassen und das Berauschende wird durch die Sahara selbst vermittelt.

Trotz der kühleren Jahreszeit brennt tagsüber unbarmherzig die Sonne. Ich beschließe, eine Mittagspause einzulegen. In der von Michelle sorgfältig gefüllten Metallkiste finde ich eine Auswahl an Lebensmitteln, so sorgsam ausgewählt, die selbst einem erstklassigen Catering zur Ehre gereichen würde. Zum Schutz gegen die Sonne spanne ich mittels zwei für diesen Zweck mitgeführten Holzstangen eine Zeltplane vom Dach des Rovers und mache es mir darunter bequem. Ich bin versucht zu dem auserlesenen Buffet eine Flasche Rotwein zu öffnen, befürchte aber davon müde zu werden, und trinke lieber kühles Wasser aus einer Gerba. Nach dem Essen genieße ich eine ausgiebige Siesta und lasse die größte Mittagshitze verstreichen, bevor ich weiterfahre.

Die Hamada erstreckt sich flach bis zum Horizont. Größere Steine, die dem Auto gefährlich werden könnten, liegen gut sichtbar und nur vereinzelt herum. Der Gedanke an meine erste Nacht unter freiem Himmel erfüllt mich mit Vorfreude, und ich suche einen passenden Platz zum Lagern. Davon gibt es unendlich viele in der ebenen Wüste. Rundum nur Horizont. Die Tageszeit bestimmt, wann und wo ich mein Lager aufschlage. Im matten Licht der Dämmerung stelle ich mein Feldbett auf. Der Schlafsack wird gegen die Kälte der Nacht unverzichtbar sein. Jetzt ist der richtige Moment gekommen, den Wein zu öffnen. Der Korken wird zum Wiederverschließen sorgfältig gehütet. Zusammen mit ein paar Bissen von dem köstlichen Proviant bemächtigt sich meiner tiefer Friede.

Inzwischen ist es schlagartig dunkel geworden. Touareg hätten ein Lagerfeuer angezündet, ich begnüge mich mit einer Taschenlampe und der Innenbeleuchtung des Rovers. Das Feldbett steht dicht am Auto, das Schutz vor aufkommenden Wind bietet. In greifbarer Nähe das geladene Jagdgewehr. Da die Luft noch recht warm ist, also lege ich mich auf den Schlafsack und blicke in den unendlichen Sternenhimmel. Ohne den Mond, der noch unter dem Horizont steht, wirken selbst die kleinsten und entferntesten Sterne hell und eindringlich. Großes Gedränge herrscht da oben bei den funkelnden Lichtern, viele liegen so eng beieinander, als wären sie miteinander verschmolzen. Endlich zeigt sich der Mond im Geglitzer des Himmels und taucht die Wüste ringsum in unwirklich erscheinendes Licht. Aus weiter Ferne höre ich Schakale, die durch ihr unverkennbares Jaulen miteinender kommunizieren, manchmal von Kläffen unterbrochen. Solche Raubtiere sind für den Teil der Sahara eher ungewöhnlich. Vermutlich hat sich die Mischung von Wolf und Wildhund vom Süden her in diese Enklave zu dem hier lebenden Wild durchgeschlagen. Ein sichernder Griff zum Jagdgewehr wirkt beruhigend. Das Zusammenspiel von Sternen, Mondlicht und Tierlauten erfüllt mich mit einer tiefen Zufriedenheit, die sich zu einem selten empfundenen Glücksgefühl steigert. Ich gleite in einen ruhigen Schlaf. Da ich die Arme zur Vorsicht außerhalb des Schlafsacks behalte, weckt mich die Nachtkälte. Die Luft ist still, keine Schakale sind mehr zu hören, so schlupfe ich vollends in den Daunensack und schlafe tief bis zum Morgengrauen. Später entdecke ich die Spuren der Schakale, die in der Nacht lautlos um mein Lager geschlichen sind.

Am Morgen ist es empfindlich kalt. Der Himmel im Westen und ober mir erscheint schwarz, mit verblassenden Sternen. Im Osten wird es zügig heller. Das Feldbett und die anderen Habseligkeiten sind schnell im Auto verstaut, die Piste führt mich weiter in Richtung des westlichen großen Ergs. Die Sonne heizt schon heftig, die verdorrten Pflanzen und Büsche in dem Gebiet werden seltener. Gefährliche Steine auf der nicht vorhandenen Piste werden weniger. Ich fühle mich unbeschwert zufrieden und steige aufs Gas. Das Navi hängt am Zigarettenanzünder und zeigt mir auf einer gelben Fläche ohne Merkpunkten recht genau die Fahrtrichtung an. Ungebremst fahre ich wie und wo es mir Spaß macht, und so schnell das Auto es vermag. Bis zu einer leichten Bodensenke, die sich von der Umgebung durch hellere Farbe unterschied, war es reiner Fahrspaß. Ach was, bedenkenlos drüber, bei dem Tempo ist das kein Thema! Typischer Fehler, den in der Wüste nur Anfänger machen. Der Wagen wird langsamer, gräbt sich in den losen Flugsand ein, ruckelt ein paarmal, und bleibt stehen. Mitten drin. Kein Problem, der Landrover hat ein Zwischengetriebe, das die volle Motorkraft auf die Räder bringt. Ich schalte es ein, der Motor startet anstandslos und der Wagen bewegt sich. Aber nicht in Fahrtrichtung, sondern auf allen vieren senkrecht in Richtung Erdmittelpunkt. So lange, bis die gesamte Karosserie voll aufsitzt.

Dafür kommen mir meine Erfahrung der früheren Fahrten durch die Sahara zu Hilfe. Jetzt heißt es aussteigen, Sandbleche abnehmen, Schaufel in die Hände nehmen und graben. Reine Routine. Der schwere Wagen bewegt sich vorwärts, immer um die Länge der Bleche, zwei Meter, wieder und wieder. Ein beschwerlicher Rhythmus: graben, Bleche legen, Motor starten, fahren, anhalten. Das steht in keiner Relation zu den einhundertsechzig Kilometern Fahrleistung der letzten Stunden. Geduld ist eine der wichtigsten Tugenden in Afrika, doch angesichts der Ausdehnung des Sandfeldes und der Strecke, die vor mir liegt, wird sie erheblich auf die Probe gestellt. Mittlerweile ist es Mittag geworden, die Sonne steht senkrecht über mir und brennt unerbittlich. Der Landrover und ich werfen kaum mehr Schatten. Sind seit meiner letzten Wüstenfahrt während der Jahre in Europa wichtige Erfahrungen verloren gegangen? Verschwitzt und verbissen schaufle ich weiter, meine Bewegungen automatisiert, der Blick starr auf die nächste Aufgabe gerichtet.

Doch plötzlich ändert sich alles. Eben noch dabei, das rechte Vorderrad freizuschaufeln, überkommt mich unerwarteter Schwindel. Es ist, als befände ich mich auf einem Schiff inmitten eines stürmischen Meeres. Der Boden unter mir schwankt, und ich gleite am Kotflügel entlang hinunter, bis ich im heißen Sand sitzen bleibe. Ringsum gibt es nur bewegte See vortäuschende Fata Morgana. Benommen verbringe ich hockend eine Weile regungslos, den Kopf fest gegen das Autoblech gedrückt, denn nur dann dreht sich die Wüste nicht wie ein Karussell. Intensiver Durst macht sich immer quälender bemerkbar. Ein Versuch, die hoch oben am Wagen hängende, mit kühlem Wasser gefüllte Gerba zu erreichen, scheitert auf halben Weg, mein Körper versagt. Schnell lasse ich den Halt bietenden Rückspiegel wieder los und sinke zurück in den Sand. In dieser Position verharrend, den Kopf am Auto angelehnt, bewahre ich mühsam das Gleichgewicht. Der Schweiß, der meinen Körper bedeckte, ist längst verdunstet, und das Hemd trocknet in der glühenden Hitze. Erste Angst regt sich, leise und schleichend, und ich bemühe mich, sie zu unterdrücken. Mittlerweile erscheinen die in Afrika allgegenwärtigen Fliegen. Sie sind lästig und lassen sich nur für Sekunden vertreiben. Sie setzen sich auf mein Gesicht, krabbeln an den Augenlidern entlang und versuchen, die Feuchtigkeit meiner Augen zu stehlen. Diese Insekten sind es, welche Infektionen übertragen, die bei vielen Kindern in Afrika zur Blindheit führen. Zwinkern stört sie nicht, ich scheuche sie mit den Händen, auf deren verschwitzten Rücken Sand vom Graben klebt. Doch es bringt nichts. Eine Fliege sitzt auf meinem angewinkelten Knie und putzt sich, indem sie ihre Vordergliedmaßen, die Organe für ihren Geschmackssinn, verschränkt bewegt. So wie ein seiner Verantwortung bewusster Bürger gründlich die Hände wäscht, um sich vor Krankheiten zu schützen. Gedanken über Händewaschen beginnen meinen Geist zu besetzen, seltsam unwirklich und doch eindringlich. Händewaschen, es wiederholt sich endlos, monoton und unerbittlich wie ein Mantra, Händewaschen, Händewaschen klingt es ausschließlich, allen verfügbaren Platz weiteren Denkens für sich einnehmend. Endlich wird es sogar den Fliegen in der prallen Sonne zu heiß und sie verstecken sich an irgendeinem Ort. Dafür rasen rötliche Silberameisen in unerhörter Geschwindigkeit um mich herum, die einzigen Tiere, welche die Mittagssonne in der Sahara zum Futter sammeln nützen, weil sie da vor Fressfeinden sicher sind. Hochbeinig, um den Körper vor Verbrennungen durch den glühend heißen Sand zu schützen, jagen sie scheinbar sinnlos Haken schlagend durch die Gegend. Ich bleibe regungslos, bewege mich nicht, um Kraft zu sparen, ein instinktives Verhalten, das ich bei den Wüstennomaden gelernt habe. Die in der Wüste lebenden Touareg stellen in solchen Situationen möglichst viele Körperfunktionen ein, damit sie ja keine Flüssigkeit verbrauchen, und so Chancen haben zu überleben. Alles steht still, selbst meine Gedanken, bis auf das immer wiederkehrende Händewaschen.

Wie ich so dahin döse, drängt sich plötzlich ein alter Freund in meine Erinnerung, Max, genannt Mackie, dessen Asche vor vielen Jahren im l’Aïr verstreut wurde. Zwischen seiner Asche und mir liegen etwa tausend Kilometer Luftlinie. Aber hier in der Hamada, herrscht die gleiche Ruhe und Einsamkeit, wie dort im Gebirge. Der Gedanke, hier zu verdorren, nimmt Gestalt an. Ich versuche Schatten unter dem Auto zu finden, doch da ist kein Platz zwischen ihm und dem Sand. Die Vorstellung, hier in der Sonne auszutrocknen, wird schnell präsenter. Händewaschen halluziniert es in mir, immer wieder Hände waschen. Spitze Schmerzen in meinem Fußgelenk bringen mich etwas in die Wirklichkeit zurück. Die Schrauben, Platten und Nägel, die man mir vor vielen Jahren wegen eines Drehbruches auf und in die gesplitterten Knochen montiert hat, dehnen sich in der Hitze aus. Der Schmerz ist so real, so durchdringend, dass er mich etwas in die Gegenwart zurückholt. Der nächste Versuch aufzustehen, scheitert schon im Ansatz. Die Welt verschwimmt, und ich gleite in eine tiefe Agonie.

Langsam kehrt das Bewusstsein zurück. Ich vermeine, kühlendes Wasser an den Handgelenken und Handflächen zu spüren. Das Wasser brauche ich doch im Gesicht! Bevor sich die Hände reflexartig heben, rinnt es schon kalt auf meinen Kopf, den Hals und unter das Hemd. Erschrocken öffne ich die Augen. Vor mir kniet eine junge Frau, die Wasser aus einer Kalebasse über mich leert. Ihr zauberhaftes Antlitz gleicht dem der Carità des antiken Malers Guido Reni. Diese Targia ist geschminkt, auf die Art, wie es nur bei den Imohar, den Adeligen der Touareg, üblich ist. An meiner anderen Seite bemerke ich einen hochgewachsenen Targi, der mir mit seiner blauen Gandura (Überwurf) Schatten spendet. Er ist mit einem Litham (weißes Tuch) unter seinem prächtigen Tegelmust (geschlungener Turban) verschleiert. Mit seiner Haltung und dem Schatten, den er über mich wirft, strahlt er eine stille Würde aus. Einige Stunden dürften seit den Schwindelanfällen und meiner Ohnmacht vergangen sein, denn die Sonne steht nicht mehr im Zenit. Ein zartes Lächeln ziert das Gesicht der Targia, als sie die Lebenszeichen bemerkt. Die beiden wechseln ein paar Worte in ihrer Sprache Tamaschek. Ich richte mich etwas auf und sie reicht mir die Kalebasse, in der eine bescheidene Menge kühles Wasser schwappt.

Trotz des höllischen Durstes vermag ich nur in kleinen Schlucken zu trinken. Da ich ein Roumi, ein Fremder bin, spricht sie mich auf Französisch an. Ob sie von der Gerba am Auto nachfüllen darf, fragt sie, ich nicke kurz. Sie füllt die Kalebasse halbvoll, ohne nur einen Tropfen zu verschütten. Das Wasser ist nicht so kalt wie das von vorhin, trotzdem angenehm kühl. Es wundert mich, dass der Umhang des Targi ausreichend Schatten wirft. Sicher war ich ein paar Stunden in der Sonne gelegen. Der Versuch aufzustehen, missglückt wieder. Zumindest das Schwindelgefühl ist verschwunden. Die Targia blickt mich besorgt an und fragt, ob ich verletzt sei. Mit einem schwachen Kopfschütteln kann ich sie beruhigen. In einiger Entfernung lagern Kamele in der Ebene und dazwischen laufen geschäftig Menschen. Einer von ihnen kommt mit langen Holzstangen und einer großen gebündelten Wolldecke auf uns zu. Der Targi sagt ihm irgendetwas auf Tamaschek und die beiden bauen eine Art Sonnendach über den Platz, wo ich liege.

In dieser unvergleichlichen Stimmung verliere ich mich in Gedanken für das anschließende Kapitel des Buches. Dieser vorletzte Abschnitt meiner ersten größeren Afrikaexpedition gilt hauptsächlich dem Bemühen, das uns verbliebene Auto möglichst vollständig nach Hause zu bringen.

Targia

Oh ja, wir hatten genug vom Standort Niamey und wünschten uns sehnlichst, weiterzufahren. Endlich waren alle Vorbereitungen für die Abfahrt getroffen. Wir hatten in der Werkstatt eines Franzosen einen Dachträger aufs Auto montieren lassen. Das gesamte Gepäck für die zukünftige Reise war zusammengestellt und wartete nur darauf, in oder auf das Fahrzeug geladen zu werden. Aber wir haben nicht mit dem Eigenleben des IFA gerechnet. Sein Vergaser begann ohne sichtbaren Grund zu rinnen und der Motor starb bei jedem Mal Gas geben ab. Anstatt vergnügt die Piste nach Südosten unter die Räder zu nehmen, schoben wir das Auto im Kreis herum, da folgerichtig durch die vielen Versuche die Starterbatterie leer war. Mackie und Schani trieben ein Ladegerät auf. Die Stimmung hatte die Minusgrade eines kalten Wintertages an der Spitze des Nordpols erreicht. Mit irgendeiner erfundenen Ausrede spazierten die drei Freunde nochmals in die Stadt. Ich blieb mit dem kranken Auto und dem Äffchen Joko allein. Es brauchte Stunden, bis ich den Motor zumindest zu stotterndem Laufen brachte. Was immerhin reichte, das Fahrzeug in die nahe gelegene Werkstatt des Franzosen zu bringen. Drei Mechaniker kümmerten sich dort um den Vergaser. Gegen Abend lief der Wagen wieder und ich begab mich zufrieden und glücklich auf den Heimweg. Im Quartier angekommen, waren die drei Expeditionsteilnehmer schon zurückgekehrt und saßen in engem Kreis, in philosophische Gespräche verstrickt. Weil der mildtätige Apotheker Louis Mouren ihren Frust mit zahlreichen Whiskys zu verringern geholfen hatte, waren sie stockbesoffen. Für meine aufopferungsvolle Arbeit erhielt ich weder Lob noch Dank, sondern den Auftrag, etwas Essbares zu beschaffen. Zumindest brachten sie von der Post eine Sendung der AEG aus Wien mit der Kupplung für das Tonbandgerät KL 25 mit. Was mich daran erinnerte, wozu ich genau genommen nach Afrika aufgebrochen war.

Einer Abfahrt am nächsten Morgen stand nichts mehr im Wege. Frühzeitig beluden wir frohgemut und fachgerecht nochmals das Fahrzeug. Bis sich die Federn so weit durchgebogen hatten, dass die Karosserie auf den Achsen aufsaß und das Heck den afrikanischen Sandboden nur um Millimeter verfehlte. Das aber ohne Passagiere mit zusammen an die 350 Kilogramm Lebendgewicht. So fuhren wir zu den drei Mechanikern zurück, um alles Entbehrliche in ihrem Büro zu deponieren. Sie versprachen uns die verlässliche Nachsendung nach Cotonou. Endlich war der IFA mit Arbeitsgepäck und Insassen abfahrbereit. Schwer fiel der Abschied vom Boy Kindo, der uns mit seiner Intelligenz und seinem Fleiß ans Herz gewachsen war. Wir hätten ihn gerne mit nach Wien genommen, doch der IFA war für zusätzliche Fahrgäste zu klein. Das Heck des Autos hatte keine Berührung mehr mit der Straße, die Watfähigkeit betrug etwas über einen Zentimeter. Eine Ausgangsposition, nicht unbedingt ideal für die Bewältigung der folgenden tausend Kilometer afrikanischer Pisten in Richtung Süden zur Küste. Ganzkörpergepflegt, angetan mit nach Waschmittel duftender Kleidung und frischer Unterwäsche, selbst Joko, der Affenjunge war sauber gebadet, beschlossen wir, den Abschied von der Stadt mit Stil zu feiern. Das waren geeignete Voraussetzungen für einen Besuch des vornehmen Restaurants „Relais“ am Flugplatz von Niamey. Dieses Lokal bisher ungestillter Sehnsüchte aller Expeditionsteilnehmer, in das wir in den Wochen des Aufenthaltes nie einkehren durften. Aus Kostengründen und wegen unseres Kassenwartes unergründlicher Abneigung gegen Ernährung, die über Ölsardinen und einem Mehl/Wassergemisch, das er Palatschinke nannte, hinausging. Praktischerweise lag der Flughafen gleich neben der geplanten Strecke, die wir zur Weiterfahrt nehmen mussten. Außerdem wurde seit dem Abflug Walters unsere Barschaft vom Expeditionsleiter verwaltet. Das Mahl war opulent, fünf Gänge in klimatisiertem Ambiente, auf mit weißen Tüchern gedeckten Tischen auf Porzellan serviert. Selbst Joko benahm sich, von der außerordentlichen Atmosphäre beeindruckt, äußerst gesittet.

Gegen Mitternacht kehrten wir gesättigt und zufrieden unter den dicht herabstürzenden Wassermassen eines heftigen Tornados der Stadt Niamey und damit jedwedem Luxus den Rücken. Schani, unser Ältester, saß am Steuer. Eine Fahrt ins Ungewisse, denn die gebündelten Lichtstrahlen der Scheinwerfer beleuchteten nur eine undurchsichtige Regenwand. Die Scheibenwischer arbeiteten ohne sichtbaren Nutzen mit Höchstgeschwindigkeit, feiner Sprühregen drang durch die Spalten der abgenützten Fensterdichtungen. Joko suchte Zuflucht bei demjenigen, der im Moment am wenigsten durchnässt war. Keiner dachte daran, umzudrehen oder auf besseres Wetter zu warten. Der Gedanke, nochmals in Niamey festzusitzen, war wohl abschreckender als jede Flut. Im Schritttempo tastete sich unser Belgier weiter voran. Wie er es trotz der miserablen Sicht schaffte, auf der Straße zu bleiben, bleibt wohl ein Geheimnis, oder dem vortrefflichen Abendessen und dem dazu gereichten Wein zu verdanken. Nach einigen Kilometern endete der Asphalt und die Wellblechpiste bestimmte das Fahrtempo. Wir hatten Glück, der Regen hörte ebenso schnell wieder auf, wie er begonnen hatte, denn langsames Fahren über die Wellen der Sandpiste hätte unser Auto wohl in seine Einzelteile zerlegt. Wir kamen bis Dosso und fielen todmüde in die frisch überzogenen Betten eines Campement de chasse, einem Jagdlager. Am nächsten Tag verbrachten wir dort die Zeit bis Mittag mit diversen kleineren Reparaturen. Diese angenehme Pause nützte Kopecky, um ein Perlhuhn zu erjagen.

Im Jagdlager

Die dreihundert Kilometer bis Gaya, der Grenze zu Dahomey, jetzt Benin genannt, bewältigten wir in der Rekordzeit von fünf Tagen. Es gab tatsächlich einige Strecken, in der die Zündung des Autos nicht streikte. Vermutlich war es eine Mischung aus Gewöhnungseffekt und der motivierenden Aussicht, dem Meer näherzukommen, die unsere Nerven einigermaßen in Schach hielten. In der Zeit, in der Schani und ich versuchten, das Auto immer wieder in Gang zu bringen, begaben sich die anderen lieber zur Jagd. Das änderte für einen längeren Zeitraum entschieden die Gewohnheiten unserer Ernährung. Zu jedem Frühstück wurden ein oder zwei Perlhühner verzehrt. Wir durchquerten ein Gebiet mit einer bedeutenden Population an Löwen, trotzdem übernachteten wir meistens im Freien, in großer Feuchtigkeit, umschwirrt von Moskitos und mit etwas mulmigen Gefühlen. Die Geräusche der Wildtiere hingegen, die aus fern oder nah vor dem Einschlafen an die Ohren drangen, haben sich unauslöschlich in unser Gedächtnis gebrannt.

Kurz vor der eigentlichen Grenzstation setzte dann wieder der obligatorische sintflutartige Regen ein. Wann immer das Auto sich erbarmte, zu funktionieren, fuhren wir weiter. Bei der mit Wasser getränkten Luft war es kaum verwunderlich, dass unser Fahrzeug häufiger stillstand, als uns lieb war. In der Zeit, in der die anderen schliefen, legte im Turnus einer von uns den Verteiler trocken. Das brachte zwar den jeweiligen Biorhythmus in Unordnung, war aber dem Weiterkommen zuträglich.

Die Administrationen der Gebiete, die wir zu durchqueren hatten, waren in der Regenzeit dazu angehalten, Straßensperren zu errichten. Sie sollten Autos davon abhalten, die mühsam hergerichteten Pisten zu zerstören oder im Morast zu versinken. Da außer uns kein vernünftiger Mensch bei Nacht und Regen die Straßen benützte, waren die Regenbarrieren nicht beleuchtet. Was fast ein unrühmliches Ende der Expedition herbeiführte. Zu spät sah Schani bei hohem Tempo das Bollwerk, die abgenützten Bremsen griffen kaum, der Wagen rutschte seitwärts in den frisch ausgehobenen Straßengraben. Mackies Kopf knallte unsanft gegen die Windschutzscheibe, Kopecky und ich wurden an die Vordersitze geschleudert. Es herrschte absolute Dunkelheit in und um das Auto. Niemand kannte unseren Standort und wo sich diese Barrière de pluie befand. Nur die aufgeregten Schreie des hyperaktiven Joko unterbrachen die Stille. Zu allgemeinem Missvergnügen bekam er darüber hinaus heftigen Durchfall. Der dadurch entstandene Gestank trieb uns ins Freie, wo wir in knöchelhohem Wasser landeten.

Keiner von uns war verletzt, nur Mackie hatte eine kleine Beule. In ungewohnter Gefasstheit hob der Expeditionsleiter zu fluchen an. Selbst der ihm bei solchen Gelegenheiten eigene Einfallsreichtum war ihm in dieser Situation abhandengekommen. Er wiederholte in Endlosschleife nur ein Fäkalwort in oftmals geübtem Crescendo. Der Himmel war von tiefen Wolken verhangen, die Luftfeuchtigkeit betrug bei hoher Temperatur geschätzte hundert Prozent. Es war eine dieser Nächte, in denen man sich fragt, wie man hier gelandet ist, und warum man nicht einfach zu Hause geblieben ist.

Gegen Morgen zeigte sich am Horizont ein heller Streifen, der die Szenerie der misslichen Lage in all ihrer dramatischen Pracht offenbarte. Der IFA steckte tief im Schlamm, der die Kühlerhaube halb bedeckte. Es sah hoffnungslos aus. Die Gewissheit dämmerte, dass unser ambitioniertes Versprechen, den Wagen heil nach Hause zu bringen, in diesem Moment wie der Morgennebel dahin schwand. Im ersten Licht des Tages machten wir uns daran, das Auto zu entladen und das Material auf der Piste aufzutürmen. Das musste auf jeden Fall gerettet werden. Aber wie? Die Straßensperre, die uns diese Misere eingebrockt hatte, war bei den Einheimischen bekannt, folglich gab es hier keinen Verkehr. Wir bereiteten uns mental auf einen längeren Gepäckmarsch vor. In einer rational nicht zu begründenden Anwandlung kletterte ich zurück in den IFA und drehte den Zündschlüssel. Der Motor sprang bei der ersten Umdrehung des Anlassers an und reagierte auf das Gaspedal! In schweißtreibender Arbeit brachten wir mit Motorkraft und Manpower das Fahrzeug wieder auf die Piste. Mackie und Kopecky erkundeten die Umgebung und fanden kurz vor der Barriere eine Abzweigung, die in den Busch führte und bei Dunkelheit nicht zu erkennen war. Die könnte unsere Rettung sein. Autofahrer in Afrika suchen Hindernisse und Absperrungen zu umfahren und legen dabei eigene Fahrspuren an. Kopecky zauberte aus einem seiner Gepäckstücke die lange vermisste Flasche Rossbacher Magenbitter hervor, die reihum ging. Niemand war ihm böse.

Das Beladen des Expeditionsfahrzeuges war schnell erledigt. Die Vorderachsen schienen nichts abbekommen zu haben, der Wagen spurte präzise bis zu der Abzweigung, die wir vertrauensvoll unter die Räder nahmen. Sie war zwar voraussichtlich sicherer als der abgesperrte Abschnitt der Hauptpiste, hatte aber den Nachteil, dass sie nicht existierte. Viele Stunden verbrachten wir mit schieben, fluchen und dem Bau von Knüppeldämmen über tiefen Morast. Einen Tag später erreichten wir Kandi und besuchten in stolzem Bewusstsein über das Geleistete, umgehend den Commandant-Cercle. Der aber wollte uns überhaupt nicht. Nicht nur, dass er uns keinen Empfang gewährte, wir durften nicht einmal sein Haus betreten. Offensichtlich missfiel ihm unsere Erscheinung, abstoßend verschmutzt, mit Schweiß durchzogen und von Erschöpfung gezeichnet. Wahrscheinlich war er sauer, weil wir seine sorgfältig errichtete Straßensperre ignoriert hatten. In seiner Respekt gebietenden sauberen Uniform mit messerscharfen Bügelfalten und glatt rasiertem Kinn wies er uns, damit die inneren Werte der Expeditionsteilnehmer missachtend, die Türe.

Gekränkt und zornig ob der ungewohnten Abfuhr zogen wir ab und fanden im Ort die Missionsstation irgendeiner amerikanischen protestantischen Glaubensrichtung. Dort lebten drei Missionare, welche davon überzeugt waren, dass sie die schwarzen Schäfchen eher bekehren könnten, indem sie sich dem Lebensstil der autochthonen Bevölkerung anpassten. Ungeachtet unseres Äußeren wurden wir freundlich aufgenommen. Nach einer dringend nötigen Dusche und in frischer Kleidung, holte man uns zu einem ungewöhnlichen Abendessen. Es gab panierte Zwiebelscheiben in honigsüßer Soße und eine kleine Auswahl anderer Gemüse, ebenfalls großzügig mit Sirup verfeinert. Dazu bekamen wir glasklares gefiltertes Wasser, dessen Herkunft aus einem lehmigen Brunnen sich trotz aller Bemühungen nicht ganz verbergen ließ. In munterem Gespräch offenbarten wir den guten Menschen den Zweck unserer Reise. Ob wir einen Sohn des Königs von Abomey, einen Prinzen, kennenlernen möchten? Begeistert bejahten wir, denn man war ja nicht nur zum Autobewegen nach Afrika gefahren. Die lange Pause hat unsere Arbeitsmoral keineswegs vermindert. Mich juckte es in den Fingern, beziehungsweise in den Ohren. Wir erwarteten ein in höchstem Maße erhellendes Interview mit einem echten afrikanischen Prinzen. Ich durfte an der hauseigenen Station über Nacht meine Zwölfvoltbatterie aufladen. Bei dieser Gelegenheit überprüfte ich die Betriebsbereitschaft des Tonbandgerätes.

Der Morgen brachte Sonnenschein und eine Art Müsli zum Frühstück. Eine gute Seele über die Nacht unsere verschmutzte Kleidung gewaschen und im Hinterhof zum Trocknen aufgehängt. Ein Anblick, der uns wirklich rührte. In Erwartung des Prinzen und der kommenden Aufnahme holte ich einige Stühle für den Hofstaat, schraubte das Mikrofon auf ein Stativ und platzierte daneben die Geräte. Wir warteten gespannt auf das höfische Ereignis. Dann erschien einer der Missionare mit einem eher kleinwüchsigen Mann und stellte uns diesen als eben den Prinzen vor. Es wurde ein kurzes Gespräch. Er erzählte uns, dass er, verstreut im gesamten Gebiet von Dahomey einige Geschwister habe. Alles direkte Nachkommen des mächtigen Königs des Volkes der Dan, Aho. Er selbst sei Fahrer eines Lastwagens, der vom Hafen Cotonou Waren in den Norden des Landes, ja bis Niamey liefere. Das war es auch schon.

Die Missionare, die durch unsere Erzählungen die Anliegen des Unternehmens kannten, erzählten uns von einer weiteren Missionsstation in Sinendé, die Interessantes für uns bieten könnte. Spät am gleichen Tag fuhren wir los. Die Strecke war recht gut befahrbar, bis zu dem Moment, an dem sich ein unvorstellbares Gewitter über uns entlud. Bis es sich verzogen hatte, war finstere Nacht hereingebrochen, und wir beschlossen diese an Ort und Stelle zu verbringen. Logischerweise unter freiem Himmel. Eine Entscheidung, die sich schnell als fatal erwies. Da unsere Moskitonetze dem Übergewicht geopfert wurden, waren wir den Myriaden von Moskitos schutzlos ausgeliefert. Wir flüchteten in das Innere des IFA. Man stelle sich die Luft in einem Auto der unteren Mittelklasse, eine ganze Nacht von vier Männern und einem Äffchen besetzt, bei einer Außentemperatur von etwa dreißig Grad Celsius und geschlossenen Fenstern vor. Wir vertrieben uns die Zeit bis zum Morgengrauen mit Abwehren von geschätzten hundertfünfzig von draußen mitgebrachten Moskitos, die selbst Joko fast zum Wahnsinn brachten.

Unter schieben, graben und Brückenbauen kamen wir unserem Ziel näher. Die Zündkerzen wollten wieder einmal gereinigt werden. Bei diesem Halt erschienen zwei weißhäutige Damen wie Engel in einem riesigen Power-Wagon und brachten uns Tee in einer Thermoskanne. Sie hätten erfahren, dass eine Gruppe Europäer auf der Piste feststeckte, und waren sofort aufgebrochen uns zu suchen. Der Buschtelegraph schien vortrefflich zu funktionieren, obwohl weit und breit keine Menschenseele zu sehen war. Wir sagten ihnen, dass die Mission von Sinendé unser Ziel war. Die zwei netten Damen boten an, uns dorthin leiten, wir brauchten nur ihrem Wagen zu folgen. Einige Kilometer fuhren wir durch landwirtschaftlich genutztes Gebiet, Bauern bearbeiteten ihre kleinen Felder, dann erreichten wir das Dorf.

Die Mission, das größte Haus am Platz, war aus rotbraunem Lehm gebaut und vermittelte einen gepflegten Eindruck. Es stellte sich heraus, dass die jungen Damen die gesuchten Missionare waren. Nach einem Aperitif wurden wir zum Essen eingeladen und waren heilfroh, nicht vegetarisch ernährt zu werden. Mit großem Appetit genossen wir das Mahl und ebenso die geistreiche Gesellschaft der ausnehmend gebildeten und charmanten Gastgeberinnen. Voll Interesse hörten sie den Erzählungen zu, nur unseren Zugang zu den Fetischglauben vermochten sie nicht nachzuvollziehen. Die Atmosphäre wurde richtig frostig. Es stellte sich heraus, dass der hiesige Zauberer sie schikanierte und ihrer Arbeit alle erdenklichen Hindernisse in den Weg warf. Das wäre doch etwas für uns, und wir besprachen, dem Feticheur gemeinsam mit den Damen einen Besuch abzustatten. Wir waren vollzählig bei Tisch, einzig Joko war bei diesem wichtigen Beschluss nicht anwesend. Der kleine Ausreißer war spurlos verschwunden. Schani, kein großer Tierfreund, meinte lakonisch, der Affe würde schon wiederkommen, stieß damit aber bei den anderen, inklusive den Missionarinnen, auf Unverständnis. Als die Fahndung nach dem Flüchtling im Haus erfolglos blieb, schwärmten wir aus, um ihn zu suchen. Da ich wusste, dass Joko Märkte liebte, zog es mich dorthin. Und tatsächlich, dort war er. Umringt von Kindern, Halbwüchsigen und Erwachsenen produzierte er sich, zeigte Kunststücke, genoss den Applaus und kleine Happen, die man ihm reichte. Die Menschenmenge öffnete sich bei meinem Näherkommen, Joko sah mich, quietschte laut und sprang mir auf die Schulter. Aus schlechtem Gewissen zitternd klammerte er sich an meinen Hals und ließ ihn über den gesamten Weg bis zur Missionsstation nicht mehr aus. Fast gleichzeitig trafen ebenfalls die anderen Affensuchenden ein.

Wir schliefen herrlich die Nacht durch, geschützt unter Moskitonetzen. Nach dem Frühstück fuhren wir auf der Ladefläche des Wagens der Damen zum Zauberer. Der wohnte in einer Hütte, die sich von den anderen des Dorfes nicht unterschied. Ein missmutiger alter Mann saß davor. Beim Anblick der Konkurrenz wurde er passiv freundlich, vermittelte aber weiterhin einen grantigen Eindruck. Er war ein Feticheur, der im Krokodil den Meister der Fruchtbarkeit und des Lebens überhaupt sah. Dem Dorf nahe sollte es einen unterirdischen See geben, in dem ein bemerkenswert großes Exemplar dieser Exen lebte. Manche gaben ihm ein Alter von über dreihundert Jahren. Der Zauberer hatte die Pflicht, diesem lebenden Fabelwesen regelmäßig Opfer darzubringen, was er unter reger Beteiligung der Dorfbewohner zelebrierte. Wir hatten vor dabei zusehen, wie er das Krokodil an die Oberfläche lockt und füttert. Doch er blieb absolut unzugänglich und lehnte den Wunsch entschieden ab. Wahrscheinlich sah der Feticheur in unserer Anwesenheit ein Problem, das selbst durch seine magischen Kräfte nicht lösen war. Ohne Beisein der Missionarinnen hätte er vermutlich zugestimmt. Er war einer der wenigen Menschen, die wir uns nicht zum Freund machen konnten. So wurde darüber beratschlagt, ob wir zu einem späteren Termin nochmals allein kommen sollten. Doch verwarfen wir dieses Vorhaben, weil im Süden des Landes einige konkrete Aufgaben auf uns warteten. Wir mussten unbedingt weiter.

Von Sinendé bohrte sich der Kombi durch den weichen Boden nach Westen. Unser Ziel war Savalou, das abseits der ausgebauten Nord-Südhauptverbindung lag. Auf der Michelin-Karte war diese Strecke zwar kürzer, aber als Nebenstraße eingezeichnet. Bei Kilometer vierzig ging dem IFA buchstäblich die Luft aus. Zwei Reifen waren zugleich platt. Wir hatten für die Schläuche Klebezeug mit. Um zu diesem zu gelangen, war es erforderlich, das Fahrzeug teilweise zu entladen. Die beiden Tuben Klebstoff, auf die wir uns verlassen hatten, waren mittlerweile steinhart geworden. Um Ersatz aufzutreiben begab sich Mackie auf den Weg, die Piste entlang. Er traf einen Jungen, der ihn angesichts seines Vollbartes für einen Missionar hielt. Der Expeditionsleiter nützte seine neue Würde und sandte den Buben die vierzig Kilometer zurück zum Kommandanten von Sinendé. Der durfte Hilfe nicht verweigern, selbst wenn er uns gar nicht lieb hatte. Der Bote war flott unterwegs, er bewältigte die Marathonstrecke bis zum Abend. Es war schon finstere Nacht, da zeigten sich in der Ferne die Scheinwerfer eines herankommenden Autos. Das war der Materialwagen des Commandant cércle mit dem Jungen, der mit fürstlichen zehn CFA entlohnt wurde und damit in der Dunkelheit verschwand. Wir entnahmen dem reichhaltigen Werkzeug eine Tube Paragummi und schickten den Rest mit Dank zurück.

In der Umgebung hat sich unser Doppelpatschen schnell herumgesprochen, und Bewohner der Gegend hielten um die Unglücksstätte eine Versammlung ab. Die Seelen der Reifen hatten wir frühmorgens luftdicht geflickt. Dann stand die große Herausforderung des Aufpumpens an. Die Fußpumpe bot sich als gemeinschaftliches Erlebnis an, und wir luden die Umstehenden der Reihe nach ein, sich daran zu versuchen. Mit dem ihnen angeborenen Gefühl für Rhythmus pumpten sie die Reifen unter Lachen und Geschnatter voll, schneller, als wir es je geschafft hätten. Joko hatte im herumliegenden Gepäck den Rest Rossbacher Magenbitter in der Flasche entdeckt und das süße Getränk begeistert genossen. Dann raste er wie gesengt umher. Er wollte unbedingt alle Erreichbaren küssen. Doch seine gezielten Sprünge waren jedes Mal um ein Weniges zu kurz. Es wurde recht lustig im Auto, denn er sprang völlig unkontrolliert herum, wobei er regelmäßig umfiel. Den nächsten Tag über verhielt er sich auffällig still.

Am Straßenrand tauchten bald die ersten Mitglieder des Volkes der Somba auf. Diese faszinierenden Menschen zogen unsere Aufmerksamkeit unweigerlich auf sich, besonders die Männer. Nicht nur, dass sie völlig nackt daherkamen, hatten sie für alles, was Europäer aus Gründen der Schicklichkeit zu verbergen trachten, wohlgeformte und weithin sichtbare Futterale. Deren Größe und Länge richtete sich dabei weniger nach den biologischen Notwendigkeiten, sondern zeugten von des Trägers Reichtum und Bedeutung. Diese Gebilde aus Holz oder Leder trugen sie mit Stolz. Auf dem von ihnen besiedelten Hochplateau haben Sie sich ihre Eigenständigkeit bewahrt, trotz aller Bemühungen der französischen Kolonialmacht und der Missionare, die Afrikas Bevölkerung fast überall in Hemd und Hose europäischen Zuschnitts gezwängt hatten.

Auf der Fahrt durch die Berge zogen wir an Rinderherden vorbei. Rinderzucht auf den höher gelegenen Weiden war hier möglich, gab es doch in diesem Klima keine Tsetsefliegen. Wir hatten bereits reichlich ethnologisches Material über diesen faszinierenden Volksstamm gesammelt, sodass unser Weg durch das Land der Somba direkt bis Natitingou führte. Diese charmante Kleinstadt, bot uns gleich mehrere Überraschungen. Beim dort stationierten Kommandanten trafen wir eine Gruppe deutscher Touristen. Darüber freute sich hauptsächlich Kopecky, unserem für Fremdsprachen untalentierten Fotografen, weil er mit ihnen einige Worte zu wechseln vermochte. Wegen des verwilderten Aussehens der österreichischen Expeditionsteilnehmer war ein gewisses Misstrauen uns gegenüber festzustellen. Für den tropengeeichten Commadant du cercle war so ein Outfit nichts Ungewohntes. Von seinen eigenen Jagdausflügen kannte er die Gegebenheiten im Busch und die Sitten der Eingeborenen seines Distrikts. Inmitten der Stadt traf man Männer der Somba, die in natürlicher Nacktheit, allein mit Penisfutteralen ausgerüstet, völlig ungeniert durch die belebten Straßen stolzierten.

Im vornehmen Hotel der Stadt hatte man für die Touristen ein „Tamtam“, eine Vorführung afrikanischer Folklore bestellt. Hierzu wurden Einwohner aus der nächsten Umgebung beordert, die gegen etwas Geld Tänze aus dem Urwald zeigten. Ohne Choreographie und Rücksichtnahme auf echte landesbezogene Volksmusik fabrizierten sie mit ihren Trommeln ungeheuren Lärm. Dazu tanzten und sprangen sie zwischen rosa gedeckten Frühstückstischen wild herum und beeindruckten damit die enthusiastisch fotografierenden und mit 8mm-Kameras filmenden Globetrotter. Das Trinkgeld fiel dem Augenschein nach reichlich aus, denn es gab Zugaben. Wir aber wünschten gute Unterhaltung und verließen den Ort schleunigst in Richtung Süden, die Stadt Savalou zum Ziel.

Eine ausgezeichnet gepflegte breite Piste ließ den IFA-Kombi anstandslos Kilometer um Kilometer fressen. Bis wir eines Nachts eine Abzweigung übersahen. Anfangs schien die Fahrspur noch halbwegs passabel, doch allmählich verschwand sie im hohen Elefantengras und bald schließlich ganz. Die bittere Wahrheit wurde offensichtlich, wir hatten uns gründlich verfahren! Eine erzwungene Pause wurde eingelegt. Das Auto war von der vorderen Stoßstange und den Rädern bis zur Kühlerhaube ein einziger Lehmklumpen. Die Nerven bis zum Zerreißen angespannt war die Stimmung unter den Expeditionsteilnehmern höchst aggressiv. Der ewig hungrige Kopecky rettete die Situation, indem er eine Baguette aufschnitt und genüsslich eine Konserve mit Sardinen öffnete. Es war, als würde er damit ein versöhnliches Zeichen setzen, nämlich das Frühstück einzunehmen. In Anbetracht der erbrachten physischen Leistungen, leisteten wir uns jeder eine ganze Dose Ölsardinen. Die friedliche Szene wurde kurz gestört, als sich Joko eine der frisch geöffneten öltriefenden Konserven schnappte und unter lautem Gekreische hinter einem Busch verschwand. Niemand hatte Lust und die Energie dem Affen die Menschennahrung abzujagen.

An ein Zurückfahren auf der bisher bewältigten Strecke war nicht zu denken. Nachdem Joko ins Auto gefunden hatte, ging es nach dieser kurzen Ruhepause im Schritttempo weiter. Mit ölverschmierten Pfoten und fettigem Fell klammerte sich das Affentier voll des schlechten Gewissens an mich, was mir zusätzlich zu meinen natürlichen Ausdünstungen eine hauchzarte Note nach Fisch bescherte.

Da es zu gefährlich war, in der Nacht zu fahren, folgten wir der angedeuteten Fahrspur bei Tageslicht. Der IFA reagierte darauf mit ständiger Überhitzung, was bei der hohen Luftfeuchtigkeit und vierzig Grad im Schatten keineswegs verwunderlich war. Wir zollten dem VEB-Sachsenring höchsten Respekt für die Qualität des Materials, das es schaffte, das Auto nicht in kleine Teile zerfallen zu lassen. Über Stellen, an denen sich Wasserläufe quer zum Weg Abflüsse gegraben hatten, bauten wir Brücken. Mit oftmaligem, kraftraubendem Schieben vermochten wir eine große Strecke zurückzulegen. Die Nächte wurden immer heißer, und die Stechmücken zunehmend kreativer in ihrer Jagd. Die Tropen rückten näher. Da wir nicht mehr im Besitz von Moskitonetzen waren, verdoppelten wir die tägliche Ration an Resochin, in der Hoffnung, damit der Malaria zu entgehen. Wie auch immer, irgendwann wurde erneut die Hauptpiste erreicht. In Savalou eingetroffen, glich unser Aussehen nicht mehr menschlichen Wesen. Weder optisch, noch olfaktorisch. Im Hof des Campements mit seinen sauberen, in weiß gehaltenen Mauern, ließen wir das Auto stehen, wie es war. Zimmer mieten, Klimaanlage abdrehen und in voller Adjustierung unter die Dusche stellen, war eins. Das Wasser aus dem Metallbehälter am Dach war zwar durch die Sonne ordentlich aufgeheizt, aber immer noch erfrischend genug. Nach dem schnellen Genuss einiger Flaschen Bier verzichteten wir auf Essen, ebenso auf den Pflichtbesuch bei der Kommandantur, und machten uns direkt auf den Weg in die Doppelzimmer. Sorgfältig wurden die Moskitonetze auf kleinste Löcher geprüft und über uns geschlossen. Wir schliefen einen halben Tag und eine Nacht durch.

Savalou wäre an sich für unsere Arbeit wichtig gewesen, wenn wir nur mehr Zeit gehabt hätten. Aber hier zu verweilen bedeutete zu riskieren, dass in der Regenzeit der Schlamm grundloser geworden wäre. Wir besuchten dennoch den Kommandanten, der uns, nachdem er erfahren hatte, wozu wir hierher gekommen waren, bei geeistem Tee über die Region informierte. Savalou war einst das Zentrum eines der wesentlichsten Königreiche Dahomeys. Bis zum Jahr 1894, in dem Capitaine Horaz Pentel für das französische Expeditionschor einen Schutzvertrag mit dem damaligen König unterzeichnete. Von da an war das Reich ein Kanton und der Herrscher Chef de Canton. Ein ähnliches Schicksal ereilte zu jener Zeit das südlich gelegene Königreich Abomey. Darüber hinaus erzählte er von einer Spezialität der Gegend. Es gab im Land richtige Klöster, in welchen Fetischpriester ausgebildet wurden. Das durften wir uns auf keinen Fall entgehen lassen.

An diesem Morgen regnete es auf der Weiterfahrt. Nicht zu heftig, aber doch so, dass unsere Fröhlichkeit darunter litt. Von einer Buschlandschaft war keine Rede mehr, denn die Baumgruppen waren schon vor Savalou enger zusammengerückt. Stellenweise fuhren wir durch herrlichsten Urwald, Bäume von ungewohnter Höhe mit dichtem Blätterdach säumten die Piste. Hitze und enorme Luftfeuchtigkeit erschwerten das Atmen. Nicht lange nach einem Dorf trafen wir auf eine Lichtung, in deren Mitte eine Art Vierkanthof stand. Eine über mannshohe Mauer schützte einen Platz, der von außen nicht einsehbar war. Gekrönt wurde sie von unheimlichen Symbolen aus Metall. Das waren Figuren auf kleinen Türmchen, die dieses Fetischkloster zu bewachen schienen.

Wächter des Fetischklosters

Hinter dem Gebäude erhob sich ein steiler, zerklüfteter Berg, auf dem, wie wir später erfuhren, Geister zu Hause waren. Er sah aus, als hätte man riesige Felsen mühelos auf einen Haufen geworfen. Keine besonders einladende Vorstellung, wenn man an Geister denkt. Das Tor zum Kloster wurde von zwei imposanten Männern bewacht. Sie trugen weiße Boubous, das waren lange Gewänder mit kostbaren Stickmustern und vermittelten den Eindruck, als würden sie alles, was sich ihnen näherte, sofort zur Strecke bringen. Mackie steuerte entschlossen auf das Tor zu, und ich selbst war voll Hoffnung, endlich mal wieder etwas anderes zu tun, als ein Auto über endlose Distanzen zu schaukeln.

Wir hatten für hier keine speziellen Empfehlungen, außer der mit Befürwortungsschreiben wissenschaftlicher Institute aus Österreich gefüllten Mappe. Die meisten davon in Deutsch gehalten. Mackie holte unter dem wallenden roten Bart seinen unwiderstehlichsten Charme heraus und marschierte forsch auf die Wächter zu. Was und in welcher Sprache er mit ihnen geredet hatte, war auf die Entfernung nicht zu erkennen. Gleichwohl öffnete einer der beiden das Tor und verschwand mit unserem Expeditionsleiter in den Hof. Die Türe wurde wieder zugezogen. Es verging etwa eine halbe Stunde, bis sich das Tor von Neuem auftat und Mackie beschwingten Schrittes und grinsend herauskam. Der Buschtelegraph hatte hatte zum wiederholten Male bestens funktioniert. Zugegeben, mit einem leistungsstark motorisierten Geländewagen wären wir flotter unterwegs gewesen, aber keinesfalls so rasch, wie es Nachrichten in Afrika waren. Auf diesem Kontinent läuft eben vieles anders, und die Nachrichtenübermittlung ist definitiv ein eigenes Kapitel. Obwohl die Priester Bescheid wussten, waren sie dennoch misstrauisch. Mackie erzählte ihnen von unserer Arbeit und erwähnte so nebenher, dass wir die Geschichte ihrer Könige und deren über lange Zeit erfolgreichen kriegerischen Widerstand gegen die Kolonialtruppen kannten. Dank der zahllosen Gespräche mit Dozent Walter Hirschberg vom Institut für Völkerkunde der Universität Wien, konnte Mackie den Fetischeuren sein Wissen über Dahomeys Nationalhelden eindrucksvoll zur Schau stellen. Das war nicht ungefährlich, denn die Franzosen hörten das naturgemäß nicht gerne. Wir jedenfalls durften das Innere des Klosters betreten, und die Opferfetische fotografieren.

Götter des Fetischklosters

So lud man uns ein, an einem kleinen religiösen Fest auf dem Berg der schwarzen Geister teilzunehmen. Es werde ein Opferfest zu Ehren des Prinzen Hinougan geben, der vor langer Zeit aus den unzähligen anderen Königssöhnen von Savalou eine machtvolle profane und spirituelle Kaste gründete. Da jeder König zahlreiche Frauen hatte, gab es adelige Kinder in großer Zahl, die, bis auf wenige Auserwählte, alle zu Statistenrollen verurteilt waren. Hinougan war der oberste Fetischpriester und ausschließlich er hatte die Berechtigung, Orakel zu werfen und zu lesen. Er erfuhr dieselbe Wertschätzung wie die Könige, die nach ihrem Tod auf den Geisterberg gebracht wurden. Dort vollzog man eine eigenwillige Zeremonie. Die Knochen der Verstorbenen zerschlug man, nahm die größten heraus, und der verbleibende Körper wurde geräuchert. Anschließend hing man die Überreste über eine Flamme, bis sie auf die Größe eines Kindes geschrumpft waren. Eine kleine wesentliche Verbrämung der Zeremonie bestand darin, dass man die guten Könige an den Händen aufhing, die schlechten aber an den Füßen. Sobald der Tote derart mumifiziert war und die vorgeschriebene Größe erreicht hatte, wurde er in einen kleinen Holzsarg gelegt. Man bestattete ihn in der Erde und grub nach Schluss der Zeremonien rund um das Grab labyrinthartige Gänge. Die Geister der toten Könige werden durch die verwirrenden Wege daran gehindert, ihre Grabstätten zu verlassen. Man hatte große Angst vor ihnen und schob die meisten Unglücksfälle auf Königsgeister, die sich freimachten. An der Grabstelle des Hinougan waren die Feierlichkeiten geplant. Aber wir hätten eine Woche darauf warten müssen, was weder unseren Nerven, noch den Finanzen zuträglich gewesen wäre. Mit dem Versprechen wiederzukommen, verabschiedeten wir uns.

Der Weg nach Abomey führte uns vorbei an unzähligen Opferstätten, jede ein Zeugnis des tief verwurzelten Glaubens der Bevölkerung. Die Variationen der Fetische waren erstaunlich. Manche waren liebevoll mit bunten Stoffresten behängt, andere wirkten eher roh und ungeschlacht, als wären sie erst gestern aus einem Holzklotz gehauen worden. Vor vielen fanden sich frische Opfergaben: Früchte, Hirsebrei, vereinzelt auch kleine, kunstvoll geflochtene Körbchen mit Münzen oder Tierblutspuren. Der Respekt vor diesen Orten war allgegenwärtig. Wir achteten darauf, weder etwas zu berühren noch unachtsam umherzutreten, ein stiller Tribut an die spirituelle Kraft, die diesen Plätzen innewohnte. Da es sich um Fruchtbarkeitsfetische handelte, hatten die Künstler die Figuren mit unnatürlich großen Geschlechtsmerkmalen ausgestattet. Da waren sowohl Nachbildungen schlanker Menschenfiguren neben fast kugeligen, unförmigen Gebilden, denen man nur schwer ansah, was sie darstellen sollten. Diese Abbildungen schützten jede Familie vor Witterungseinflüssen. So wurden auf rohen, senkrecht in die Erde getriebenen Ästen Grasdächer über sie errichtet. Begüterte bauten kleine Häuschen um die Fetische. Und immer wieder wurde ihnen geopfert.

Hausfetische in Benin

Auf den vierhundert Kilometern gepflegter Piste, für deren Bewältigung nur eine Woche benötigt wurde, hörten wir immer wieder Sagenhaftes über Aho, dem König von Abomey. Das stachelte die langsam erlahmende wissenschaftliche Neugierde der Teilnehmer der Expedition nochmals an und vertrieb die aufkommende Reisemüdigkeit. Daran änderte auch nicht das durch Unachtsamkeit herbeigeführte Bersten der Heckscheibe des Kombis, die kurzerhand durch eine Decke ersetzt wurde.

F9 erschöpft, aber fahrbereit

Abomey war einst das Zentrum des mächtigen Königreichs Dahomey, bekannt für seine kriegerischen Amazonen und seine kunstvollen Paläste. Die Dynastie hatte eine eigenwillige Tradition: Jeder König ließ für sich einen neuen Palast errichten, der oft direkt an den seines Vorgängers grenzte. So entstand ein riesiger Komplex aus Höfen, Mauern und Schreinen, der sich über weite Teile der Stadt erstreckte. Viele der Gebäude waren inzwischen Ruinen, doch die Aura von Macht und Pracht war noch immer spürbar. Besonders beeindruckend waren die Geschichten über die sogenannte „Königsstraße“. Diese unscheinbare Allee aus festgetretenem Lehm soll einst mit den Schädeln von Feinden gesäumt gewesen sein – eine grausame Demonstration von Stärke und Abschreckung. Die Atmosphäre war gleichzeitig ehrfurchtgebietend und beklemmend. Hier, an diesen Orten, schienen die Geister der Vergangenheit noch lebendig zu sein.

Die Stadt der Könige empfing uns mit strahlend schönem Wetter. Dem Hof einen Besuch abzustatten, hat sich zur Pflicht ausgebildet. Die Erzählungen über den König Aho waren allgegenwärtig. Vor allem deswegen, weil es in Dahomey sicher nur wenige Menschen gab, die nicht adeligen Geblütes waren. Schließlich besaß der Herrscher einen bedeutenden Harem. Da nur der älteste Sohn ein Anrecht auf den Thron hatte, galten alle weiteren Nachkommen des Königs nicht mehr als jeder andere Untertan.Wir hatten kurz vor der Stadt, die eher ein größeres Dorf war, angehalten. Schani hatte gestreikt. Er erklärte kategorisch, dass er sich in solch desolatem Aufzug nie im Leben zu einem Monarchen begeben wolle. Wir sahen es ein, so schauerlich verdreckt und zerlumpt, durfte man nicht zu einer Audienz. Wir fuhren also bis zum Palast, parkten an der Mauer und verließen in Gestalt blütenweiß gekleideter Beaus unseren zerschundenen, aber liebgewonnenen Metallhaufen. Der Königspalast war überwältigend romantisch. Das Gebäude erinnerte lebhaft an ein abgebranntes Dorfgasthaus. Ein Lehmbau, mit nur einem Tor. Wir waren doch recht enttäuscht, obwohl bekannt war, dass der König seinen Titel ablegen musste, nachdem er den Schutzvertrag mit Frankreich unterschrieben hatte. Aber so einen Abstieg hatten wir nicht vermutet.

Wir betraten das Haus und wurden sogleich von einem pflichtbewussten Pförtner gemeldet. Nicht etwa seiner Majestät, sondern dem Sekretär. Kurz darauf trat ein junger Schwarzer mit charismatischem Auftreten auf uns zu und stellte sich als der älteste Prinz von Dahomey vor. Er würde einmal der Nachfolger seines Vaters werden. Sympathisch und äußerst liebenswürdig begrüßte er uns und nahm die Bitte um eine Audienz bei seiner Majestät freundlich auf. Er würde uns melden. Ein Gespräch im Moment sei sicher nicht möglich, doch wenn wir warten könnten? Keinesfalls ginge es am Vormittag. Wir waren sprachlos über die Etikette in diesem Saal, beschlossen aber, mangels einer anderen Option, ebenso freundlich zu akzeptieren. Da uns nun einige Stunden zur freien Verfügung blieben, schlenderten wir durch die Umgebung des Palastes, besuchten den Kommandanten und ließen uns nebenbei über die hiesigen Gepflogenheiten aufklären. Dabei erfuhren wir von einem Museum in der Nähe. Unser Interesse war sofort geweckt, und wir machten uns auf den Weg. Mitten in der Besichtigung kam ein keuchender Boy angelaufen, der uns mitteilte, ihre Majestät wären jetzt bereit.

König Aho

In größeren Ortschaften waren wir gezwungen, Joko an die Leine zu nehmen, denn er plünderte, was nicht niet- und nagelfest war. Er stahl aus Liebe zur Sache, verwüstete die Beute und sah sich dann nach etwas anderem um. Dieses Mal jedoch protestierte er mit einer solchen Leidenschaft, dass wir ihm zähneknirschend erlaubten, in Gottes Namen seine eigene Verbeugung zu machen. Der Prinz, souverän und unbeeindruckt von unserem rebellischen Begleiter, führte uns durch das leicht verfallene Gebäude. Dann erreichten wir einen Hof, der uns augenblicklich den Atem raubte.

Hof des Königspalastes

Die Wände waren mit prächtigen, farbenfrohen Reliefs geschmückt, die von einer vergangenen Pracht zeugten. Gegenüber lag erst der eigentliche Palast. Die Bogengänge, reich verziert in der ursprünglichen Tradition der afrikanischen Kunst, durchquerten wir zügig, hatten jedoch kaum Gelegenheit, die kunstvollen Details zu würdigen. Durch zwei geräumige Hallen folgten wir dem Prinzen, bis wir das Gemach des Königs erreichten. Beim Eintritt fiel der Thronfolger vornüber auf den Bauch, robbte einige Meter weiter und meldete seinem Vater den Besuch. Der, ein netter älterer Herr, saß entspannt auf einem geschnitzten Thron. In bemerkenswert einwandfreiem Französisch lud er uns mit einer einladenden Geste zum Näherkommen ein. Er beteuerte, dass das Hofzeremoniell zwar vorschrieb, niemand dürfe sich dem König aufrecht annähern, wir aber von dieser Regel ausgenommen wären. Diese Bemerkung trug er mit einer Mischung aus Würde und augenzwinkerndem Humor vor, was seine Autorität nicht im Geringsten schmälerte. Sein Gesicht strahlte, weil wir ihn mit Majestät ansprachen. Es schien, als sei er von der französischen Administration eine deutlich nüchternere Ansprache gewohnt. Als wir schließlich erklärten, dass wir aus Österreich kamen, freute er sich erneut. Er erzählte begeistert von einer Tagung in Paris, auf der er einige Regierungsmitglieder unseres Landes kennengelernt hatte. Ihre Freundlichkeit und ihre Manieren, so betonte er, hätten ihn zutiefst beeindruckt.

Audienz beim König Aho

Vor dem Thron nahmen wir auf bestickten Matten Platz und es entspann sich ein faszinierendes Gespräch. Der König erzählte uns von seinem leidvollen Kampf gegen den Ischias, der ihm schwer zusetzte. Wir versuchten alles, ihm eine Kur in Bad Gastein einzureden, die heilenden Quellen und die frische Alpenluft würden, so unsere Versicherung, Wunder wirken. Eingehend erkundigte er sich nach unserer Arbeit und langsam drehte sich das Thema. Der Fetischkult wurde berührt und es stellte sich heraus, dass seine Majestät AHO ein glühender Anhänger dieser Tradition war. Im Geisterglauben erzogen, hatte er nie im Traum daran gedacht, diesen abzulegen. Sein Bruder, erklärte er uns mit sichtbarem Stolz, sei der Hauptfetischeur, der größte Fetischpriester des Landes, und verkörpere, wenn auch in etwas verzerrter Form, die ehrwürdige HINOUGAN-Tradition. Der König war begeistert von unserem Wissen über den Kult. Während des prächtig französisch gekochten Mahls, dessen mehrere Gänge wir auf der Matte hockend genossen, wurde er immer aufgeräumter. Wir erfuhren, dass seine Dynastie bis ins vierzehnte Jahrhundert zurückreichte, und waren begierig, etwas über die Geschichte des Reichs zu erfahren. Er sagte uns darauf, dass wir alles von den Reliefs im Hof ablesen könnten, die er uns später persönlich zeigen würde. Der Raum war angefüllt mit den prächtigsten Schnitzereien, die das Gebiet von Dahomey aufzuweisen hatte. An den Wänden hingen Schwerter, die sofort unsere Aufmerksamkeit erregten.

Wir befragten ihn über diese Waffen. Der König lächelte bei seinen Erklärungen. Es waren Amazonenschwerter. Wir glaubten, nicht richtig verstanden zu haben. Doch er bestätigte es, die Herrscher von Abomey hatten früher bis zu vierhundert Frauen – er selbst hätte nur mehr vierzig – fügte er bescheiden hinzu. Wenn Kriege ausbrachen, sei es gegen die Europäer oder die Yoruba im Norden, dann stellten diese Frauen eine physische Kapazität dar, die unmöglich brach liegengelassen werden durfte. Man beschloss, ihnen Waffen in die Händchen zu geben und sie im Kriegshandwerk zu schulen. Anfangs waren manche dagegen, weil doch die Frauen unbedingt an Gewicht verlieren, wenn sie aus dem beschaulichen Dasein im Harem gerissen würden. Das bedeutete eine Wertminderung des herrschenden Schönheitsideals. Aber das genaue Gegenteil trat ein. Die Damen gediehen bei der ungewohnten Tätigkeit prächtig. Es war wie ein Ausgleichssport fürs Kinderkriegen. Bald entwickelten sie sich zu gefürchteten Halsabschneiderinnen und das Reich konnte mit dieser Truppe zufrieden sein. In unzähligen Schlachten bewährte sich diese Frauenarmee. Sie waren ausgezeichnete Speer- und Einzelkämpferinnen im Busch. Unbarmherzig und grausam, todesverachtend und zäh. Bei keinem Krieg fehlten sie und kämpften in vorderster Linie. Sie waren stolz auf ihren Kriegerinnenstand und schufen sich ihre eigenen Kampfgesänge. Immer mehr traten ihre Frauenpflichten in den Hintergrund. Kampfspiele und kriegerische Ertüchtigung wurden zu ihrer Hauptbeschäftigung. Daraus resultierte, dass ihr Äußeres weibliche Züge verlor. Sie entwickelten sich zu Riesinnen mit stählernen Muskeln, die ihrem König so treu ergeben waren, wie keine andere Truppe.

Abordnung der 40 Königsfrauen

Das alles gehörte seit Jahrzehnten der Vergangenheit an. Doch die Kriegsgesänge, die Kampflieder der Amazonen haben sich erhalten. Sie werden heute genauso gesungen und Aho bot uns an, seine Frauen für uns singen zu lassen. Nach dem Essen, zum Kaffee, entwickelten sich Gespräche, die des Königs Bildung und Weltoffenheit unter Beweis stellten. Er hatte den Zweiten Weltkrieg von hier aus in relativer Sicherheit mitverfolgt. Sogar über die Rolle, die Österreich dabei spielte, hatte er eine eigene Meinung. In Dahomey selbst war der Krieg hauptsächlich dadurch bemerkbar geworden, weil die Franzosen den Ausbau der Infrastruktur, wie breitere und neu errichtete Pisten und Straßen vorantrieben.

Gegen zwei Uhr erhob sich seine Majestät und erklärte, dass er uns rasch die Reliefs zeigen und erklären wolle, bevor er sich zu seiner wohlverdienten Mittagsruhe zurückziehe. Die plastischen Wandbilder, die wir nun bewundern durften, stellten nicht etwa eine fortlaufende Geschichte des Hauses dar, sondern einzelne Ausschnitte und Begebenheiten sowie symbolhafte Figuren. Vor einem Bild verharrte der König länger. Es zeigte den Kopf eines schwarzen Mannes, der anscheinend einen hohen spitzen Hut trug. In Wirklichkeit verhielt sich die Geschichte aber so: Einmal hatte ein prahlerischer Krieger der Yoruba überall ausposaunt, er werde den König von Abomey fangen und grausam richten. Sein Plan war, dem König den Kopf abzuschlagen, ihn in einen Hirsemörser zu legen und zu Brei zu zerstampfen. Der König erfuhr von den Prahlereien dieses Yoruba. Majestät waren empört und sandte Krieger aus, besagten Mann lebendig vor den Thron zu führen. Wochen später war der Auftrag erfüllt. Der König sprach ein salomonisches Urteil: „Wie du mir, so ich dir.“ Man zerstieß seinen Kopf in einem Mörser, aber ohne ihn vorher abgeschlagen zu haben. Der spitze Hut auf dem Relief stellte den Hirsestößel dar. Aber nicht alles, was die Palastmauern schmückte, war so blutrünstig. Da waren die schönsten Symbolfiguren. Vor einem Relief, das ohne Zweifel einen Büffel darstellte, verweilten wir ebenfalls. Unerklärlicherweise aber hatte dieses Tier ein rotes Beinkleid an. Der König erklärte das so: Es ist genauso unmöglich, einem Büffel eine Hose auszuziehen, wie den Herrscher seiner Macht und Würde zu entkleiden.

Reliefs im Königspalast

Die Einladung des Königs für den Abend haben wir gerne angenommen. Joko schien sich ebenso darüber zu freuen, er spürte offenbar die majestätische Zuneigung. Die Leckerbissen und die Ration Rotwein, die ihm zu Mittag freundlich zugeteilt wurden, hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Ich schleppte Tongerät, Kabel und Mikrofon vom Auto in den Palast. AHO kam uns erfreut bis an die Tür entgegen. Dieses Abendessen fand nicht im Audienzsaal, sondern in einem etwas kleinerem Raum statt. Hier standen Stühle um einen makellos gedeckten Tisch gruppiert. Wir waren erfreulicherweise nicht mehr wie zu Mittag gezwungen, uns auf die Erde niederzulassen. Ein Stuhl ist im Busch ein Luxus, den der Europäer am meisten vermisst. Von AHO war es eine Geste größter Liebenswürdigkeit, dass er an diese Sitzgelegenheiten gedacht hatte.

Es gab gebratenen Hammel, den man sicher viele Stunden neben den Flammen am Spieß gedreht hatte, so zart und gar waren die Stücke. Dazu gab es Salat und Weißbrot. Rotwein stand in großen Karaffen überall, wohin man blickte. Während des Essens begann Mackie, den König über die Gebräuche des Fetischkults in seinem Reich zu befragen. Zum Aufwärmen gab er mit unseren im Niger erworbenen diesbezüglichen Erkenntnissen schrecklich an. AHO schien amüsiert und lud uns daraufhin ein, für ein halbes Jahr seine Gäste zu sein. Er wolle eigens ein Haus für uns bauen lassen, in dem es uns an nichts fehlen solle. Schweren Herzens schlugen wir das Angebot aus, denn die Zeit drängte. Aber wir versprachen, im nächsten Jahr wiederzukommen. AHO wirkte sichtlich enttäuscht. Er hatte uns ins Herz geschlossen und wollte wenigstens unsere Namen und Adressen haben. Schallend klatschte er in die Hände. Augenblicklich erschien sein Sohn,robbte auf dem Bauch heran, empfing eine Order, und verschwand wieder auf die gleiche Art. Kurze Zeit später kehrte er ebenso zurück und brachte einen Notizblock und einen Bleistift mit.

Wir wurden gebeten, ihm unsere Adressen zu diktieren. Der Prinz aber zeigte vor uns einen derartigen Respekt, dass wir ihm die Angaben auf etliche Meter zuzurufen hatten. Das Buchstabieren über die Entfernung gestaltete sich mühsam, so klärte Schani die Situation, indem er freundlich bat: “Wollten Eure Hoheit nicht ein wenig näher rutschen?“ (Ein Satz, den wir bis zu unserer endgültigen Heimkehr oft als erheiternden running gag gebrauchten.) Seine Prinzenhoheit schlich heran und wir nahmen die Eintragungen selber vor. Unterdessen gab König Aho einige Befehle, die wir nicht verstanden. Kaum war der Prinz verschwunden, öffnete sich der Türvorhang und etwas verschämt zögernd, erschienen die 40 Schönen des Palastes. Auf einen Wink AHO’s platzierten sie sich hinter seinem Sessel.

Kniefall der Königsfrauen

Eiligst bereitete ich die technischen Voraussetzungen für die Aufnahme vor. Zwar gab es im Palast elektrischen Strom in geeigneter Spannung, der schwankte aber so stark, dass ein Gleichlauf des Tonbandes nicht mehr gegeben war. Ich holte Umformer und Batterie aus dem Auto, wobei Kopezky mir schleppen half. Er verstand ohnehin kein Wort von dem, was gesprochen wurde. König AHO hatte das Fehlen von Joko während des Essens bemerkt. Wir holten ihn bei der Gelegenheit herein. Sein erstes Werk war die Vernichtung einer Rotweinkaraffe, in dessen am Boden verschütteten Inhalt er ausgiebig plantschte. Uns war das äußerst peinlich, aber der König lachte herzlich darüber. Joko wurde mit Kopezky in einen Nebenraum verbannt, denn die Darbietungen der Amazonen begannen.

Singende Königsfrauen

Die Texte, wie man uns später übersetzte, waren teilweise von erstaunlicher Blutrünstigkeit. Feinde wurden grausam gequält oder getötet, Heldinnen vhingegen erherrlicht und zu Krieg und Kampf aufgeputscht. AHO zeigte sich sichtlich stolz auf seinen Harem. Wenn es seine Finanzen erlaubt hätten, dann wäre er sicher auf die vierhundert Gattinnen seiner Vorfahren gekommen. Aber die Zeiten waren schwer für einen König, der letztlich von Frankreichs Gnaden regierte. Und offiziell war er es ohnehin nicht einmal, sondern Chef de canton.

Wie es am Hofe weiterging folgt im nächsten Kapitel 23.

Fotos alle Rechte: H. M. Prasch, Ton: Herbert M. Prasch

Verwertungsrechte Tonaufnahme: Phonogrammarchiv der Akademie der WissenschaftenT

23. KAPITEL – Abschied – König Aho – und Heimfahrt

Obwohl es nicht spät ist, bricht die Dunkelheit schnell herein. Die außerordentliche Hitze dieses Tages lässt allmählich nach, hält aber noch eine Weile an. Die Anwesenheit der Touareg-Familie wirkt dabei beruhigend. Allein ihre Gegenwart vermittelt ein Gefühl von Schutz und Geborgenheit, etwas, das ich bislang nie für möglich hielt. Dieses unverhoffte Sicherheitsgefühl gibt mir den Anstoß, intensiver zu reflektieren. Ich denke über den Abschluss dieses ersten Buches nach und überlege, wie ich die darauf folgenden Jahre meiner Tätigkeiten in Europa, Afrika, Peru, USA und wieder zurück schildern könnte. Auf Reisen prägen sich die primären Eindrücke stärker als die nachfolgenden ein. Glasklar erinnere ich mich an die ersten Forschungsreisen in Afrika aus den Jahren 1954 bis – 63 und die dabei gewonnenen Erfahrungen. Wobei die Grenzen zwischen der zweiten und dritten Expedition schon recht unscharf geworden sind. Faszinierend finde ich die mannigfaltigen Ausprägungen der religiösen Kulte Afrikas, die wir entdeckten und teilweise dokumentierten. Doch die rasante politische Entwicklung seit 1960, jenem Jahr, in dem die Kolonialmächte begannen, sich offiziell aus Afrika zurückzuziehen, hatte diese tief in den Völkern verwurzelten Glauben und Bräuche marginalisiert. Viele religiöse Traditionen wurden teils kommerzialisiert, wie Voodoo, oder zogen sich in schwer erreichbare Gegenden zurück. Ein Prozess, wozu der radikale Islamismus mit seinen salafistischen Idealen maßgeblich beigetragen hat. Seit vielen Jahrzehnten breitete sich der friedliche Islam, der seinen Ursprung im Norden des Kontinents hat, über weite Teile Afrikas aus. Er koexistierte gleichberechtigt mit den uralten afrikanischen Glaubenssystemen sowie mit importierten und autochthonen Religionen.

Die Nacht wird kühl, und ich ziehe mich in den wärmenden Schlafsack zurück. Die politischen Einflussnahmen, vor allem durch streng islamische Länder, mindern das Gefühl der relativen Sicherheit, das ich während meiner ersten Expeditionen hatte. Das Vorgehen Chinas zur Wahrung seiner wirtschaftlichen Interessen lässt Vergleiche mit den kolonialistischen Bestrebungen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts absolut zu. Gewiss mit dem Unterschied, dass diese chinesischen Investitionen, vor allem diejenigen in die jeweilige Infrastruktur der Länder, ausschließlich populistischen Zwecken dienen. Ich schätze mich glücklich, meinen Aufenthalt in einem wegen seiner Abgelegenheit sicheren Gebiet gewählt zu haben. Obwohl es ohne Zweifel anderswo in Afrika ebenso geschützte Möglichkeiten gibt; die Qualität der Sahara ist kaum zu ersetzen. Erschöpft von den heutigen Erlebnissen werden die Gedanken langsam und verschwommen. Bevor ich in einen erholsamen Schlaf gleite, nehme ich den Mond wahr, der sich, für diese Gegend ein ungewöhnlicher Anblick, einen großen Hof zugelegt hat.

Das Gefühl, beobachtet zu werden, wirkt wie ein Weckruf. In respektvoller Entfernung stehend, sehen mich Dayak Aïscha und seine Tochter an. Ob sie tatsächlich miteinander verwandt sind, weiß ich nicht, aber es wäre so passend. Als sie merken, dass ich die Augen öffne, kommen sie näher. Sie fragt, wie es mir geht und ob etwas benötigt würde. Mühsam schlüpfe ich aus dem Schlafsack, begrüße die Besucher und verneine dankend. Wir wechseln einige belanglose Worte über den seltsamen Mond heute Nacht. Die Familie wird jetzt weiterreisen, sie würden aber zwei Männer zurücklassen, um mir behilflich zu sein. Ein großzügiges Angebot, das ich aber dankend ablehne. Im Hintergrund herrscht geschäftige Bewegung, die Zelte sind längst abgebaut und mit den Holzstangen auf die Kamele geladen. Was haben sie angestellt, die Wüstenschiffe zu beladen, ohne deren gurgelndes Brüllen zu provozieren. Diese Geräusche hätten mich unweigerlich geweckt. Meine Verlegenheit ist groß, weil ich nichts Passendes habe, was ein würdiges Abschiedsgeschenk für die Lebensretter wäre. Schnell räume ich die Lebensmittel aus der Aluminiumkiste lose in den Rover. Mit der Bemerkung, dass dies ein Andenken sei, stelle ich diese vor ihre Füße. Damit habe ich offensichtlich ins Schwarze getroffen, denn nach einigen Abschiedsfloskeln eilten sie in ihren wallenden Gewändern mit der Kiste zur Karawane zurück. Vermutlich werden sie darin den für sie wichtigen Kamelmist transportieren.

Die letzten Nachzügler, ein paar Ziegen führende Kinder, verschwinden hinter dem Horizont, und die absolute Stille der Sahara legt sich wie ein Mantel um mich. Ich spüre ein Jucken an der Stirn und werfe deshalb einen Blick in den Rückspiegel des Landrovers. Aus dem Glas blickt mir ein Greis entgegen. Die grauen Haare am Kopf und der Bart wirken auf der von der Sonne hoch geröteten Haut schneeweiß, die Falten darin haben sich in der Nacht vertieft und zerklüften scharfkantig mein Gesicht. Es gleicht dem eines lebenslang von Witterungen gegerbten, weit über hundert Jahre alten Targi. Verstärkt wird der Eindruck biblischen Alters durch den darauf klebenden Wüstensand. Es ist fast wie ein Sakrileg, aber ich wasche mir mit kaltem Wasser aus der Gerba den Sand von der verbrannten Haut. Ein erneuter Blick in den Spiegel zeigt ein leicht verjüngtes Gesicht. Ich beschließe, den heutigen Tag in aller Ruhe anzugehen. Das Feldbett mit dem zusammengerollten Schlafsack wird zur bequemen Sitzgelegenheit, und dort nehme ich mein Frühstück ein. Ein leichter Wind erhebt sich in kurzen Böen, weich, aber dennoch laut genug, um die Stille der Umgebung zu durchbrechen. An den Ohren wirkt er doch recht vernehmlich.Das Die Bemerkung des zukünftigen Amenokal, dem gewählten Oberhaupt aller Touareg, über den merkwürdigen Mond, beschäftigt mich. Es gibt eine Weissagung, dass ein Hof um den Mond Uneinigkeit unter den Mächtigen der Welt ankündigt, und dass sie gegeneinander kämpfen werden. Soll das Krieg bedeuten? Ähnliches habe ich schon früher im Sudan über das Erscheinen eines Hofes um den Mond gehört.

Trotz leichten Unwohlseins beschließe ich, bis zum „Grand Erg“ zu fahren. Nach ein paar Kilometern schneller Fahrt steigt Unlust in mir hoch, außerdem erfasst mich ein Gefühl der Schwäche. In großem Bogen drehe ich in der scheinbar endlosen Weite der Hamada den Kühler des Rovers auf Süd-Ost. Der Motor brummt brav und gleichmäßig. Da es keine Vorratskiste mehr gibt, haben sich ein paar Konservendosen verselbstständigt. Ihr geräuschvolles Hin- und herrollen auf der Ladefläche nervt gewaltig, doch deshalb anzuhalten kommt nicht infrage. Das Ziel ist klar: die Auberge, mein Zuhause in dieser Region. In nicht zu weiter Entfernung taucht eine Gruppe Gazellen auf. Das wäre ein nettes Mitbringsel für Michelle und François. Leider äsen die Tiere rechts von der Fahrtrichtung, zwischen der untergehenden Sonne und mir. So ist ein unbemerktes Näherkommen unmöglich. Sie würden flüchten, bevor ich in sichere Schussentfernung käme. Aber es gibt morgen früh in der Dämmerung eine weitere Chance. Mit diesem Gedanken schlage ich in einem mit wenigen Büschen bewachsenen Gebiet das Nachtlager auf. Ein inzwischen beinhart gewordenes Stück Baguette, mit dem Inhalt einer der herumrollenden Dosen Paté bestrichen, stillt meinen Hunger. Damit das Essen besser rutscht, trinke ich dazu eine halbe Flasche extrem erwärmten Rotwein. Der Schlafsack lockt. Neben dem effizienten Schutz vor Kälte vermittelt er ein trügerisches Gefühl der Geborgenheit, selbst in dieser nächtlich kühlen Wüste.

Der Gedanke, mit einer frisch erlegten Gazelle meinen Wirtsleuten Freude zu bereiten, lässt mich nicht los. Kaum zeigt sich die erste Dämmerung, fahre ich hoch, packe eilig zusammen. Leider erweist sich die Gegend, in der ich die Nacht verbrachte, zum Jagen für absolut unergiebig. Ungeordnet werfe ich die Schlafsachen ins Auto und fahre sofort los. Da meine Rückreiseroute anders liegt, als die der Anreise, wende ich den Rover direkt nach Osten. Das funktioniert problemlos, denn in der flachen Hamada benötigt man in dieser Jahreszeit keine vorgezeichneten Pisten. Dieses bedenkenlose Herumkurven in unendlicher Einsamkeit lässt ein lange vermisstes Gefühl von Freiheit hochkommen. Ich erinnere mich an die frühere Durchquerung einer leichten, zart begrünten Senke, in der ich eine Anzahl Gazellen nebst Antilopen gesehen hatte. Dorthin trachte ich zu fahren. Nach kurzer, schneller Fahrt liegt eben diese paradiesische Tiefebene vor mir. Die Sonne steigt gerade eben über den Horizont. Aber leider komme ich von der falschen Seite, denn die Erfahrung hat mich gelehrt, bei Jagden das Tagesgestirn möglichst im Rücken zu haben. In respektvollem Abstand von den scheuen Tieren umrunde ich sie. Nur einige von ihnen äugen reaktionslos zu mir herüber. Solange ich fahre, besteht aus ihrer Sicht keine Gefahr für sie. Sie scheinen sich an fahrende Autos gewöhnt zu haben, denn allgemein flüchten diese Tiere vor bewegten Objekten. Die Fenster des Fahrzeugs sind alle geöffnet, kühler Luftzug lässt Kopfhaar und Hemd flattern. Der Drilling liegt, provisorisch vor einem Sturz gesichert, griffbereit am Beifahrersitz. Endlich habe ich die Sonne exakt im Rücken und das Anpirschen im Auto beginnt. Spätestens jetzt stellen sich ehrlichen Jägern, die auf europäische Jagdgesetze und deren Ethik geschult sind, die Haare zu Berge. Doch in Afrika herrschen andere Gesetze. Hier schießt man nicht, um Trophäen zu erhalten, sondern zur Nahrungsbeschaffung. Außerdem würde es Tage brauchen, um sich dem Wild auf erfolgversprechende Schussentfernung zu Fuß anzunähern. Es gibt keine Bäume oder größere Steine, die Deckung bieten würden.

Es folgt Routine. Äußerst vorsichtig an die Gruppe Gazellen heranfahren, das Auto in Schussposition bringen, sich währenddem trotz weit überhöhter Pulsfrequenz nur in Zeitlupe bewegend. Dabei wird einem nicht bewusst, dass man zu atmen aufgehört hat. Das Zielfernrohr hat den ausgewählten Bock längst erfasst, der Finger liegt am Druckpunkt des Abzugs ……, das mit eingelegtem Gang langsam dahinrollende Fahrzeug ruckelt zweimal, nach einer Fehlzündung bewegt es sich nicht mehr. Diese Geräusche lösen bei der Herde eine kurze Fluchtbewegung aus, der Bock gerät aus dem Schussbereich. Verwundert, aber keineswegs alarmiert spannen ein paar Prachtexemplare mit aufgestellten Lauschern zu mir herüber, um dann gemütlich weiter zu äsen. Das Warnlicht der Tankuhr blinkt aufgeregt. Um die Benzinkanister zu erreichen, muss ich aussteigen. Mit äußerst langsamen Bewegungen jedes Geräusch vermeidend öffne ich die Wagentüre – mit einem bellenden Ruf warnt ein Bock die Herde, die sofort flüchtet. Wie zum Hohn bleiben die Tiere nach wenigen Metern erwartungsvoll stehen und beäugen mich voll Interesse. Kaum setze ich einen Fuß auf den Wüstenboden, jagen sie mit gewaltigen Sprüngen davon. Ihre weißen Spiegel leuchten im Morgendunst, bis sie endlich in der Ferne verschwinden und mit ihnen die letzte Hoffnung auf eine erfolgreiche Jagd.

Schwer verärgert und enttäuscht über die verpasste Gelegenheit fülle ich Benzin in den Tank. Nach einigen Startversuchen geht es wieder Richtung Süden. Konsequent weise ich mein Versagen keinesfalls mir selbst zu, sondern verteile die Schuld recht großzügig: Vor allem der Sonne, die meinen Körper in einen leicht funktionsgestörten Zustand versetzte, der Firma Landrover, die es scheinbar für unnötig hält, größere Tanks in ihre Fahrzeuge einzubauen, dem minderwertigen Benzin, den nachlässigen Schutzengeln und schließlich der Erziehung durch meine Eltern bis zu den unfähigen Lehrern meiner Volksschulzeit.

Eine leise Trauer überkommt mich, denn ich möchte noch einmal in die Schönheit der Wüste eintauchen. Ich hole mir eine Kleinigkeit zu essen, die halb geleerte Flasche Rotwein, nehme auf der Ladefläche des Rovers Platz und lasse die Beine baumeln. Die absolute Stille und die unendliche Weite wirken wie Balsam auf meine verwundete Seele. All der Ärger und die Trübsal weichen einem tiefen Glücksgefühl. Die Ewigkeit könnte jetzt beginnen, und ich wäre damit zufrieden. In solch gehobener Stimmung setze ich die Reise fort. Spuren anderer Fahrzeuge kreuzen meinen Weg oder laufen parallel dazu, stille Zeugen motorisierten Lebens in der Sahara. Nach einer Weile wird die schmale Piste durch unregelmäßig gesetzte Steinhäufchen erkennbar. Bis zum Abend wird die Strecke zur Auberge geschafft sein. Obwohl ich früher als geplant unterwegs bin, drängt mich ein unbestimmtes Gefühl zur vorzeitigen Rückkehr.

Offenkundig habe ich zu lange in die Wüste gestarrt, denn ohne Überleitung bricht die Dunkelheit herein. Die Häufchen aus Steinen, von vorsorglichen Menschen am Rande der Piste aufgebaut, werden stetig größer und leiten mich sicher. Im Licht der Scheinwerfer erreiche ich endlich das breite Band der Wellblechpiste, die an der Auberge vorbeiführt. Der leistungsstarke Motor des Landrovers lässt zügiges Tempo zu. Bald sehe ich am Horizont die Lichtstrahlen des Hauses der Mouloudjis. Kurz vor der Abzweigung in den Weg zum Ziel queren drei Gazellen gemütlich die Straße. Ich fühle mich verhöhnt, denn hier, in dieser Gegend, dürfte es sie eigentlich gar nicht geben. Im Haus hat man mein Kommen schon längst gehört und gesehen. Wie von Geisterhand öffnet sich das Tor der Einfahrt, François winkt freundlich, was mir ein Gefühl des Geborgenseins in einer Familie gibt. Im weiträumigen Hof parkt ein grau lackierter Toyota, ein Auto der algerischen Polizei. Die Anwesenheit solcher Beamten, weit entfernt jeder Zivilisation, löst stets Unbehagen aus. Ich stelle den Motor ab, lösche die Lichter und steige aus. François schließt das Tor und kommt schnellen Schrittes auf mich zu. Nach einer herzlichen Begrüßung deutet er mit einer Kopfbewegung in Richtung des Toyotas und erzählt, die Polizisten seien wegen mir hier. Sie sind schon gestern frühmorgens aufgetaucht und wollten unbedingt auf mich warten. Damit erklärt sich ebenfalls der nicht gewöhnliche Aufwand an Licht im und um das Haus. Merde, denke ich, was wollen sie von mir, dass sie sogar bereit sind, Tage ihrer Zeit zu opfern?

Obwohl keiner Schuld bewusst, betrete ich mit mulmigem Gefühl die Gaststube. Da sitzen alte Bekannte bei einem Kaffee. Es sind drei der Polizisten, die vor einigen Wochen hier waren. Sie sind diesmal erstaunlich freundlich, der Anführer erhebt sich und reicht mir die Hand. Der Offizier trägt eine adrette Uniform, ein Überbleibsel aus der französischen Zeit Algeriens. Es gab Überfälle in seinem Distrikt, meint er, weshalb er die Pflicht habe, mit mir darüber zu reden. Michelle begrüßt mich mit einer kurzen, demonstrativen Umarmung. Angewandter Mutterinstinkt: „Tut ihm nichts, sonst habt ihr es mit mir zu tun.“ Der Polizeioffizier und ich setzen uns an einen Tisch. Er bekommt eine Tasse Kaffee hingestellt, die Wirtin bringt mir augenzwinkernd einen Whisky mit Eis. Er erkundigt sich nach meinem Aufenthalt der letzten Tage und, fast beiläufig, ob die Waffe noch zu meiner Ausrüstung gehört. Ich bitte Françoise, das Gewehr aus dem Landrover zu holen. Währenddem erzähle ich dem Algerier, etwas ausgeschmückt, von den Erlebnissen der vergangenen Tage. Wichtigtuerisch betrachtet er die Waffe, klappt sie auf, um sicherzustellen, dass sie ungeladen ist. Zufrieden mit dem Ergebnis seiner Inspektion gibt er sie mir wieder zurück. Meinem Schutzengel der volle Dank für das Pech bei der Gazellenjagd. Wäre ich mit Beute heimgekommen, hätte das peinlich werden können. Algerien hat verschiedene Gebiete zu Reservaten erklärt, deren Grenzen oft schwer erkennbar sind. Der großzügig bemessene Whisky wirkt, die Augen brennen vor Müdigkeit. Beruhigt über den Ausgang des Gesprächs verabschiede ich mich allgemein und strebe meinem Turmgemach entgegen. Oben angekommen versperre ich vorsorglich die Türe, stelle das Gewehr in die Ecke. Angezogen falle ich aufs Bett und schlafe sofort ein.

Arabische Laute, die vom unteren Stockwerk heraufklingen, holen mich aus tiefem Schlaf. Kurz darauf höre ich das Polizeiauto, das geräuschvoll abfährt. Jetzt aber duschen und frühstücken. Das Wasser hat in der Nacht beachtliche Kälte gespeichert, weshalb ich mich nur notdürftig wasche. Mit frischer Kleidung am provisorisch gewaschenen Körper steige ich in die Gaststube hinunter. Der Frühstücksplatz ist wie gewohnt vorbereitet. Ich rücke den Stuhl hörbar zurecht, um meine Anwesenheit anzukündigen. Aus der Küche klingen klappernde Geräusche und die Stimme Michelles, die fragend meinen Namen ruft. Dank ihrer arabischen Abstammung, kann sie den Anfangsbuchstaben „H“, von Herbert aussprechen, was bei François, dem gebürtigen Franzosen, stets wie “ärbär“ klingt. Ich antworte mit einem gerufenen oui und Guten Morgen. Sie erscheint mit einem voll beladenen Tablett. Obwohl ich kein großer Frühstücker bin, freue ich mich diesmal darauf. Sie hat sicher geahnt, dass ich heute mehr Appetit habe als sonst. denn es ist üppig, was sie mir da auf den Tisch stellt. Sie schenkt den Tee in die Tasse und meint dabei: ils font la guerre en Europe. Ja, sie sagt es tatsächlich so: Sie machen Krieg in Europa! Da diese Idee nach so vielen Jahrzehnten Frieden derart absurd ist, denke ich zuerst an einen Scherz. Oder möchte sie mir damit andeuten, dass ich doch lieber hier in der Wüste bleiben soll? Sie bestätigt es aber nochmals und erzählt mir Details. Russland fiel mit einer Übermacht in die Ukraine ein. Doch diese wehrt sich mit Unterstützung des Westens. Jetzt erklärt sich der unvorhergesehene Besuch der Polizei. Die angeblichen Überfälle waren nur ein Vorwand. Ich kann und mag es nicht glauben, dass es im einundzwanzigsten Jahrhundert zivilisierte Menschen gibt, die einen dritten Weltkrieg heraufbeschwören. Dessen ungeachtet steht mein Entschluss fest, mich nach dem opulenten Frühstück konzentriert dem Schreiben zu widmen. Dennoch spuken die beunruhigende Gedanken im Hinterkopf herum.

An diesem Abend frage ich um die Erlaubnis, mit fernsehen zu dürfen. In dem Raum, in dem sich das Fernsehgerät befindet stehen zwei Lehnsessel, fast unverrückbar schwer aus massivem Holz gefertigt. Man findet diese gleich aussehenden, mit weichen Polstern ausgelegten Möbelstücke überall in Afrika. Die breiten Armlehnen wären ideal zum Abstellen von Gläsern geeignet, wenn sie nicht schräg nach hinten zur Lehne steil abfielen. Die Szene ist gespenstisch. Ich sitze, bequem angelehnt, in der Hand ein Glas mit Pastis, worin die frischen Eiswürfel knackend in Stücke springen. Ein Ambiente des Wohlfühlens. Die Fernsehbilder zeigen eine andere Realität, die brutale Zerstörung und das Leid des Krieges. Kaum siebenhundert Kilometer von Wien entfernt, das ist in etwa die Fahrtstrecke von Wien nach Berlin, töten Menschen auf Geheiß von Politikern andere Menschen zu Tausenden. Jeden Abend treffen wir uns jetzt zu den Nachrichten. Täglich zeigen die Bilder brutale Zerstörungen, Leid und Gewalt. Stunden- und tagelang in moderigen Kellern ausharren, am näherkommenden Geräusch der explodierenden Bomben die Entfernung abschätzen. Ich habe es selbst erlebt. Es war qualvoll, bei Treffern in der Nachbarschaft im flackernden Licht der nackten Glühbirne den durch die undichten Türen eindringenden Staub einzuatmen. Das alles ist in Europa wieder eingekehrt. Von den Leuten einer Generation verursacht, die das Glück hatten, in eine siebenundsiebzig Jahre dauernde Zeit des Wohlstands durch prosperierende Wirtschaft geboren worden zu sein. Sie lebten in dem Luxus, den ihre Eltern oder Großeltern aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs geschaffen hatten. Ähnlich wie die Covid-Pandemie erschüttert dieser Krieg alle Länder dieser Erde und wir sehen voraussichtlich großen globalen Veränderungen entgegen.

Diese Gedanken beschäftigen mich so ausschließlich, dass ein konzentriertes Weiterschreiben nicht mehr möglich scheint. Dann fällt mein Entschluss, hier abzubrechen und nach Hause zu fahren. Der fehlende Schluss des ersten Teiles der Zeitgeister kann daheim geschrieben werden. Ich setze meine Entscheidung umgehend in die Tat um. Der Abschied von Michelle und François gestaltet sich etwas sentimental, doch der Hinweis auf die Länge der zurückzulegenden Strecke, lässt weitere emotionale Peinlichkeiten nicht aufkommen. Die Fahrt wird zehn Tage dauern und ich verspreche, mich sofort nach meiner Ankunft in Wien zu melden.

Sahara
Sahara Dünen

König Aho, Herrscher über das Volk der Fon in Dahomey, blickte nach den gesanglichen Darbietungen eines Teiles seines Harems, stolz in die Runde. Wir kannten uns nicht so recht aus, ob Applaus angebracht wäre, immerhin ist ein König kein Kabarettist. Doch Mackie rettete die Situation, indem er sich mit höflichen Worten bedankte. Es war erstaunlich, dass Aho, dieser weitgereiste Mann, der alles über Europa und die Welt wusste, der die etwas veralteten Zeitungen las, sobald sie hier in Abomey eintrafen, war gleichzeitig ein aktiver Anhänger der Geisterwelt. Kurz vor Mitternacht erhob sich Aho abrupt. Er werde jetzt zu seinem Bruder, dem berühmtesten Fetischpriester des Landes fahren. Der würde in ein paar Stunden DAN, die große Regenbogenschlange befragen, wann sie zu essen gedenkt, somit Opfer annimmt. Ob wir mitkommen wollen? Spontan stimmten wir zu. Ich hatte Sorgen, denn der Akkumulator war durch die vergangenen Aufnahmen fast leer. Standesgemäß besaß der König eine blitzsaubere Peugeot 203- Limousine.

Er wartete, bis wir unser Gefährt beladen und bestiegen hatten. Aho fuhr nicht selbst, aber ließ seinen Fahrer forsches Tempo halten. Damit wir den Vordermann nicht verloren, brachte ich die 28 PS des IFA bis an ihre Grenzen. Mehrmals musste der König warten, bis wir ihn einholten. Irgendwann einmal waren die Hecklichter seines Wagens nicht mehr zu sehen. Im Lichte unserer völlig verstellten Scheinwerfer tastete ich mich weiter, bis wir das Staatsgefährt wieder sahen. Oft stellten sich uns nachtaktive Tiere in den Weg, die zu umfahren mir knapp gelang. Bei einer Abzweigung hatte er gewartet, fuhr aber sofort los, als unsere Lichter für ihn zu sehen waren. Glücklicherweise fanden wir in der Dunkelheit die richtige Weggabelung.

Auf einer Lichtung vor uns brannten die Feuer eines kleinen Dorfes. Dort stand der Wagen des Königs. Er war umgeben von einer großen Menschenmenge, die sich bei unserem Näherkommen teilte. Aho hatte im Auto auf uns gewartet. Sein Sinn für dramatische Effekte war recht ausgeprägt, denn er wollte uns das Schauspiel seines Aussteigens bieten. Der Wagenschlag öffnete sich und wir hörten ein gewaltiges Rauschen. Es waren die Boubous, die bodenlangen Gewänder der Umstehenden. Wie von einem Orkan hingestreckt, fielen hunderte Menschen im Umkreis in sich zusammen. Das ergab eine gespenstische Szene. Der Herrscher stand aufrecht inmitten einer sich auf dem Boden windenden Masse. Niemand erhob sich. Ein Mann, geschätzte vierzig Jahre alt, kroch durch die Liegenden auf den König zu. Er erweckte einen muskulösen und gedrungenen Eindruck. Es war der Bruder Ahos, der große Medizinmann. Kniend küsste er dem Herrscher die Hand. Es schien aber Unstimmigkeiten zu geben. Es gab Rede und Widerrede, bis Aho’s Stimme lauter wurde. Seine Worte klangen wie ein Befehl. Er wandte sich uns zu und berichtete kurz, dass wir jetzt die Erlaubnis hätten, am Fest teilzunehmen. Hier war er König. Der große allmächtige Herrscher, dessen Wille für alle Gesetz war. Unvorstellbar, dass er in Abomey in seinem Palast Hof hielt, aber jeder französische Beamte durfte ihm diktieren, was erlaubt ist. Seit Jahrzehnten bemühte sich die Kolonialmacht Frankreich vergeblich, Maßnahmen und Neuerungen durchzudrücken. Vor allem im Gesundheitssystem und agrarpolitisch. Überall stießen sie auf unüberwindliche Schwierigkeiten, die dann letztlich dazu führten, dass man laufen ließ, wie es eben läuft. Ein einziger Wink mit dem kleinen Finger von diesem König, und der Dschungel lag ihm zu Füssen. Die Franzosen nahmen an, dem Monarchen alle Machtbefugnisse genommen zu haben. Hier sahen wir das Volk vor ihrem wirklichen Herrscher liegen, obwohl sein Reich seit einem Jahrhundert nicht mehr bestand. Es war vermutlich seiner politischen Klugheit und seiner internationalen Erfahrung zu verdanken, dass Dahomey vor den blutigen Aufständen verschont geblieben war, die andere Kolonien erschütterten.

Wir hatten uns mit Aho auf dem Dorfplatz niedergelassen. Kopezky fotografierte und ich schleppte meine etwa sechzig Kilo an Geräten herbei. In einer Ecke des Platzes stand, etwas erhöht, der Fetisch. Diese Figur war wie der Klosterfetisch von getrocknetem Blut überkrustet, ihre ursprüngliche Form ließ sich nur erahnen. Immer mehr Menschen kamen aus dem Busch. Die vom aufgewirbelten Staub gesättigte Luft durchströmte der nur Afrikanern eigene Schweißgeruch. Ich habe diesen ausschließlich in Afrika bemerkt. Ein Phänomen, das durch die spezifische Ernährung der Schwarzen zu entstehen schien. Er wirkte keineswegs unangenehm, gehörte zum Ambiente. Nach kurzer Wartezeit erschien der Feticheur, umringt von Gehilfen. Ohne uns nur eines Blickes zu würdigen, schritt er vor den Fetisch und ließ sich nieder. Sofort verstummte in der versammelten Menge jedes Gespräch, gespannte Ruhe kehrte ein. Unterstützt von seinem Gefolge murmelte er Beschwörungsformeln und stellte ein hölzernes Tablett vor sich auf den Boden. Er griff in die Tasche seines Gewandes und holte drei Kolanüsse heraus. Unter weiteren Beschwörungen brach er die Nüsse an deren Nähten auseinander, hielt sie einen Augenblick über seinen Kopf und ließ sie dann zusammen auf das Brett fallen. Tief beugte er sich darüber, murmelnd betrachtete er das Tablett, um gleich bedächtig aufzustehen. Er übergoss den Fetisch mit Palmöl aus einer Kalebassel, wandte sich ab, ohne die Menge auch nur zu beachten. Zielstrebig ging er zu einer erhöhten Stelle, von wo er zu der atemlos lauschenden Menge sprach. Es waren nur einige Worte, doch die Wirkung war gewaltig. Ein Freudengeheul brach aus, die Menschen und gebärdeten sich wie eine Schar glücklicher Kinder. Er hat ihnen mitgeteilt, dass Dan, die große Regenbogenschlange zufrieden sei und demnächst zu essen wünsche. Der Bann war gebrochen, die Spannung entlud sich in fröhlicher Ekstase.

Diese Orakelzeremonie, die wir Europäer ausnahmsweise beobachten durften, diente dazu, die Wudu nicht zu erzürnen. Das ist das Wort für Geister. Kam uns bekannt vor. Das klang doch so ähnlich wie Voodoo? Ja, diese zwei Kulte sind miteinander verwandt. Die Sklaven, die von Westafrika nach Südamerika gebracht wurden, haben die Rituale mitgenommen und dort wieder aufleben lassen. Ebenso stammen die grundlegenden Rhythmen der afrobrasilianischen Musik von hier. Der Priester kehrte zurück, hinter ihm drei weitere Männer in gleichen Gewändern, die Unterpriester. Sie waren beauftragt, die Gebete zu unterstützen, welche eine Gruppe Frauen sangen. Normal sind es elf Strophen, doch das Orakel hat diesmal einundvierzig verlangt. Nur äußerst selten werden alle gesungen, ein ausgesprochener Glücksfall für uns.

In dem Wissen, eine fast leer gefahrene Batterie zu haben, fuhr ich den Umformer hoch und schaltete das Tonbandgerät ein. Es gelang mir, schnell das Mikrofon an einem geeigneten Platz aufzustellen, da erklang schon der erste Gesang. Der Frequenzmesser zeigte stabil 50 Hertz, das Instrument zur Aussteuerung der Tonaufnahme, ein magisches Auge, flackerte grün, das Band drehte sich, zumindest der Anfang dieser einzigartigen Aufführung war gesichert. Eingekrampft und in Schweiß gebadet starrte ich ausschließlich auf die Messinstrumente, um bei einem etwaigen Abfall der Spannung gleich zu reagieren. Ich hatte zwar Kopfhörer auf, war aber so auf die Technik konzentriert, dass ich akustisch faktisch nichts wahrnahm. Unvermittelt hielt das Band an, das Leuchten der Anzeige erlosch, der Umformer schwieg …. die Batterie war leer. Mein ohnehin nicht ungeheuer ausgeprägtes Selbstbewusstsein schmolz mit dem Sterben der Autobatterie dahin. Geschockt und wie paralysiert kniete ich vor den jetzt nutzlosen Geräten. Bis mir Mackie auf die Schulter klopfte und fragte, was ich denn hier weiterhin machen wolle, die Gesänge seien schon lange vorbei. Das war natürlich übertrieben, aber ich hatte alle Strophen auf Band und dankte den Geistern, vielleicht DAN selbst, für die unwirkliche Kapazitätssteigerung der Batterie.

Chor der Frauen

Inzwischen wurden die Feuer neu geschürt. Übermannshohe Flammen schossen empor und tauchten die umliegenden Hütten in lebendiges, flackerndes Licht. Der König hatte in seinem Auto Kognak und Gläser mitgebracht. Zwei seiner Diener, oder waren es Prinzen, brachten sie zu uns und schenkten ein. An einer Feuerstelle versammelten sich die Musiker, die Tamtamiers. Mit bemerkenswerter Hingabe und rhythmischer Präzision bearbeiteten sie ihre umgedrehten Kalebassen und Trommeln. Mit gemischten Gefühlen, weil ungewohnt untätig, hörte ich der Musik zu. Es war ein intensives Erlebnis, da ich mich erstmals voll auf Rhythmus und Klang dieser natürlichen Instrumente konzentrieren konnte, ohne Ablenkung durch die Aufnahmetechnik. Auf dem gesamten Platz wurde getanzt, Männer wie Frauen, selbst Kinder waren dabei. Wir verbrachten noch eine Zeit lang im Dorf, während der unsere Gläser, sobald sie leer waren, stets mit Kognak nachgefüllt wurden. Aber da uns zuschauen alleine nicht genügte, baten wir Aho, nach Hause fahren zu dürfen. Er bot uns sein Geleit an und wir folgten ihm. Vor Tagesanbruch erreichte der kleine Konvoi Abomey. Im Campement schloss ich die komplett leere Batterie ans Ladegerät an, dann kroch ich, wie die anderen vor mir, in meinen Schlafsack und schlief etliche Stunden.

Am kommenden Tag gab es einen herzlichen Abschied von seiner Majestät König Justin Aho, Chef de Canton von Abomey. Nochmals wiederholte er seine Einladung und Nochmals wiederholte er seine Einladung und er nahm uns das Versprechen ab, dass wir bei einer neuerlichen Expedition unbedingt auf einen Sprung vorbeikommen werden. Joko erhielt zum Abschied eine Flasche Cognac überreicht, über die er vor Freude außer sich geriet. Vorsichtshalber nahmen wir sie ihm sofort ab, um sie bis zu seiner Großjährigkeit zu verwalten.

Nur 130 Kilometer trennten uns von den Gestaden des Atlantiks. Nichts hielt uns mehr. Nach zwei Tagen erreichten wir Cotonou. Es war Nacht, als wir die ersten Wellen erblickten. Der Geruch des Meeres, die Sterne, die sich in den dunklen Wellen spiegelten, setzten unaussprechliche Gefühle in jedem von uns frei. Achteinhalb Monate Arbeit und Strapazen haben wir hinter uns gebracht. Wenig bekleidet rannten wir zum Wasser. Es war genauso warm wie die uns umgebende Lufttemperatur. Dessen ungeachtet planschten wir lange darin, wie vergnügte Kinder. Unsere Luftmatratzen lagen eng beieinander, die Regelmäßigkeit der Brandung rauschte uns in glücklichen Schlaf. Am Morgen brachen wir zeitig auf, da sich, zwar in respektvollem Abstand, Neugierige um uns versammelt hatten. Schwere graue Wolken lagen über Meer und Strand. Die große Regenzeit hielt sich eben nicht strikt an den gregorianischen Kalender. Bei extrem hoher Luftfeuchtigkeit und tropischer Temperatur fuhren wir in das Stadtgebiet. Beim Erreichen des Zentrums klebte die vom Schweiß getränkte Kleidung am Körper. Der französische Automechaniker in Niamey hatte eine Adresse in Cotonou angegeben, wohin er unsere Sachen schicken wollte. Nach einigen Irrfahrten fanden wir das Haus. Da die Straßen asphaltiert waren, wagten wir es, den IFA zusätzlich mit Gepäck zu beladen. Er tat zwar wie ein Kamel seinen Unmut darüber kund, indem er in seinen strapazierten Blattfedern ächzte, aber er schluckte brav die hinzugekommene Last.

Mehrfach haben wir an Häusern der Vororte Nischen und kleine Vorbauten mit Figuren darin gesehen. Nicht erlahmender Forschergeist drängte uns, diese zu untersuchen. Was wir fanden, war höchst erstaunlich. Offensichtlich waren es Fruchtbarkeitsfetische. Menschenfiguren stellten den Zeugungsvorgang und die dazugehörenden Präliminarien beachtenswert eindeutig, ideenreich und in vielen möglichen Varianten dar.

Fruchtbarkeitsfetisch
Fruchtbarkeitsfetisch

Hier genauer nachzufragen wäre sicherlich unterhaltsam und möglicherweise aufschlussreich gewesen. Doch unsere Vorfreude auf die Heimfahrt und die nachfolgende, längst geplante Expedition verdrängte alle weiteren beruflichen Ambitionen. So fuhren wir gegen Westen, der Grenze zum englischen Kolonialgebiet Goldküste entgegen. Der Zustand der Straßen war erfreulich und unser Wagen, der nach der Schinderei in Wüste, Busch und Urwald wieder Asphalt unter seinen Sohlen merkte, zeigte sich von seiner bestgelaunten Seite.

Unsere Ernährung während der Strecke von Abomey bis zur Küste bestand ausschließlich aus Fleisch und wenigen Früchten. Letztere hatten wir in den Trockengebieten des Niger und im nördlichen Dahomey merklich vermisst. Hier aber vertilgten wir Kokosnüsse, Ananas und Wassermelonen in solchen Mengen, dass Eingeborene bedenklich die Köpfe schüttelten. Über lange Strecken der Fahrt an der Küste entlang herrschte Schweigen im IFA. Langsam wurden uns die Erlebnisse und das Ausmaß dessen, was wir geleistet haben, bewusst. Fünfzigtausend Meter bespieltes Tonband schleppten wir mit und Tausende Fotos. Ausreichend Material, um das Phonogrammarchiv der Akademie der Wissenschaften, die Universität und das Museum für Völkerkunde über längere Zeit damit zu beschäftigen. Jetzt bereuten wir es, dass niemand daran gedacht hatte, eine Filmkamera mitzunehmen. Die intensiven Vorbereitungen und Organisationsarbeiten, sowie der Zeitaufwand zum Beschaffen von Geräten für die Tonaufnahmen, hatten mich voll ausgelastet. Da kam Film überhaupt nicht infrage. Jetzt, am Ende der Expedition, waren wir zwar gescheiter, aber auch ohne professioneller Filmkamera zufrieden. Wir waren in höchstem Maße müde, dennoch ein bisschen stolz auf unser Kollektiv.

Am Meer entlang, auf gepflegtem Asphalt, ging es zügig nach Westen. Durch die ehemals deutsche Kolonie Togo und deren Hauptstadt Lomé zum Übergang in die britisch dominierte Goldküste. An der Grenze, nur wenige Kilometer nach der Stadt, wurden wir äußerst liebenswürdig empfangen. Unser Eintreffen war, wie üblich, telegrafisch angekündigt worden, und der französische Posten verabschiedete uns freundlich. Eingetroffen auf der anderen Seite grinste der schwarze Zöllner so lange, bis er die Gewehre sah. Jetzt wurde er amtlich und nahm eine Haltung ein, die Autorität vermitteln sollte. Für die Einfuhr von Waffen bedürfe es einer Erlaubnis aus Accra, erklärte er. Alle Versuche, ihm klarzumachen, dass wir nur durchfahren und es international üblich wäre, ohne Aufwand die Gewehre in das Carnet einzutragen, prallten an seiner Wichtigkeit ab. Dem gewohnten, eher jovialen Umgang der französischen Kolonialbeamten standen hier angelsächsische Disziplin und Sturheit gegenüber. Nur wenige Meter trennten uns vom blauweißroten Zollhaus. Die Regierung und alle offizielle Macht der Goldküste lagen in den Händen von Ureinwohnern der Goldküste. So war es ebenfalls mit dem Zoll.

Einen derart konsequenten Widerspruch gegen das Verlangen eines Europäers gab es in den von Franzosen verwalteten Gebieten nicht. Wir erwarteten und hofften, dass jede Sekunde der weiße Chef des Postens auftauchen müsse, mit dem man normal und logisch sprechen könne. Einen solchen gab es aber nicht. Die Debatte lief sich heiß. Wir hatten Glück, denn zufällig war ein Beamter der britischen Kolonialbehörden anwesend. Unter der Oberhoheit der Afrikaner führten Engländer die Administration dort weiter, wo sie wegen ihrer Erfahrung in Schlüsselpositionen gebraucht wurden. Wir erklärten ihm die Situation und er sprach mit dem Zöllner. Daraufhin trug dieser die Waffen mit allen Nummern und Merkmalen in das Carnet ein. Das beanspruchte ihn so umfänglich, dass er vergaß, die Visa zu verlangen. Ein wenig Glück gehört zu so einer Expedition dazu, denn wir hatten keine.

Das zügige Tempo auf ungewohnt glattem Asphalt ließ etliche Meilen vor Accra einem Reifen die Luft ausgehen. Kaum war der Radwechsel geschafft, zeigte sich ein weiterer Pneu mit ihm solidarisch und wurde ebenfalls platt. Da keine Reserve mehr da war, auf die wir zurückgreifen hätten können, entlud sich die aufkeimende Erbitterung über Mackie. Zu Recht, denn er hatte sich in Abomey in einem Anfall übertriebener Sparsamkeit geweigert, einen Reservereifen zu kaufen. Vielleicht war es auch sein absolutes Unverständnis Technik gegenüber. Max stellte sich missmutig an den Urwaldrand und hielt den nächsten Wagen an, der uns passierte. Es war ein luxuriöser Amerikaner, der ihn bis Accra mitnahm. Voll Neid sahen wir hinterher. Der freundliche Fahrer war der Neffe des Finanzministers der Goldküste, und Mackie begeisterte ihn auf der vierstündigen Fahrt in die Hauptstadt für unsere Arbeit. Dies bescherte dem Forscher eine Zeit üppigster afrikanischer Gastfreundschaft. Zwei Tage brauchte Max, in denen er auserlesenen Mahlzeiten und ebensolchem Trinken eifrig zusprach, bis er mit einem neuen Pneu wieder auftauchte. Wir hatten eben das Essen für den Abend fertig, aber Max lehnte freundlich dankend ab. Wir bissen in die gewohnten Sardinenbrote, die so hart waren, dass wir um unsere Zähne bangten. Selbst Joko küsste Max andauernd und schlief dann Nase an Nase mit ihm ein, sorglich umhüllt von der Whiskyfahne des Expeditionsleiters.

Gegen Mittag fuhren wir in die Hauptstadt ein. Die Wellblechhütten der Slums hinter uns lassend, war esplötzlich wie auf einem Filmset in Hollywood. Die Stadt Accra präsentierte sich als getreues Abbild einer Goldgräberstadt aus dem wilden Westen Amerikas. Mit ihren „Saloons“, den Fassaden aus Holzplanken und Balken zum Anbinden von Pferden, fehlte nur John Wayne, der mit rauchenden Colts durch die Pendeltüren trat. Störend an diesem Idyll war nur die gedrängte Menge von amerikanischen Straßenkreuzern. Im geschundenen IFA-Zweitakter knatterten wir, die Sechs- und Achtzylinder um uns nicht beachtend, durch das Wohnviertel. Zartblaue, nach verbranntem Öl riechende blaue Wölkchen hinterlassend, näherten wir uns dem Zentrum der Stadt. Mackie kannte sich hier aus und lotste die Expedition zu einem Hotel, das uns wie aus einem Traum erschien. Ein in weiße Livree gezwängter eifriger Boy eilte herbei und versuchte mit aller Entschlossenheit, den verzogenen Wagenschlag zu öffnen. Verzweifelt zog er an der Schnalle, erst kräftiger Druck von innen brachte den gewünschten Erfolg. Eher unvorteilhaft gekleidet und eindeutig nach Dschungel riechend, entstiegen wir dem Fahrzeug. Für einen Moment erstarb die dezente Unterhaltung der Gäste auf der Terrasse. Herren im Tropensmoking und Damen in tief dekolletierten Kleidern saßen im kühlen Schatten perfekt gepflegter Urwaldgewächse, in ihren Rohrstühlen, und starrten.

Es war ein Auftritt, wie ihn weiland Attila nicht besser hätte erleben können. Doch unbeeindruckt schob sich unsere überzeugend verdreckte Kompanie an den Erstarrten vorbei ins weiße Gebäude. Die Formalitäten an der Rezeption wurden kurzerhand vertagt. Der Geschäftsführer verschwand durch eine Seitentür, während die Dame hinter dem Tresen uns die Zimmerschlüssel mit spitzen Fingern reichte und sich dann sofort bis an die Wand zurückzog. Der Boy draußen stand verzweifelt vor dem Berg an unansehnlichem Gepäck.

In den jeweiligen Zimmern angekommen, widmeten wir uns sofort intensiver Körperpflege und kleideten uns so sauber wie möglich aus den von Niamey nachgesandten Koffern. Der Besuch beim hauseigenen Hairdresser bescherte uns eine Einheitsfrisur, die uns wie Brüder erscheinen ließ. Mackie, der Expeditionsleiter, hob sich durch seinen knallroten Bart von uns ab, ein Markenzeichen, das ihm keiner streitig machen konnte. Am Nachmittag verließen wir das Hotel, frisch gebügelt und geschniegelt, und begaben uns auf einen Anstandsbesuch zum österreichischen Honorarkonsul. Nach reiflicher Überlegung legten wir die kurze Strecke zu Fuß zurück. Mit unserem Auto konnte man nirgends mehr vorfahren. Der Der Herr Konsul empfing uns mit größter Herzlichkeit. Die Einladung zum Dinner konnten wir demnach nicht ausschlagen.

Mit Einheitsfrisur und zivilisiert, Kopezky, Ich, Schani u. Mackie
Kopezky, ich, Schani u. Mackie mit Einheitsfrisur und zivilisiert, dahinter unser liebgewonener F9.

Der Koch des aus Londonderry gebürtigen Konsuls zauberte ein Festmahl, das uns die Freudentränen in die Augen trieb. Mag sein, dass Mackies gepflegter roter Bart ausschlaggebend für dieses Festessen war. Lange hatten wir nicht mehr so vorzüglich gespeist. Es wurde ein harmonischer Abend, in dessen Verlauf die Sprache auf unsere Weiterfahrt kam. Der Herr Konsul, er war hauptberuflich Geschäftsmann, wusste von einem Frachtschiff, das demnächst mit Waren nach Hamburg ablegen würde. Am nächsten Morgen nahm sein Büro Kontakt mit dem Kapitän der „Lucy Essberger“ auf. Die Verhandlungen verliefen zu unseren Gunsten, und bald stand fest, dass wir zu einem überaus vorteilhaften Preis mitfahren konnten. Wir bezahlten diesen aus der von IFA überwiesenen Reisekasse. Nach Abzug der Hotelkosten blieben uns noch stolze vierzig englische Pfund, eine Summe, die angesichts unserer bisherigen Abenteuer fast nach Reichtum klang. Das Schiff sollte in zwei Tagen ablegen. Um Hotelkosten zu sparen, schifften wir uns umgehend ein.

Es war ein erhebender Augenblick, als unsere 27 PS afrikanischen Boden verließen. Von kräftigen Gurten gehalten und von einem Kran vorsichtig gehoben, schwebte der Kombi in die Höhe und wurde sicher an Deck des Frachters vertäut. Ein letzter Gruß an die afrikanische Erde, und schon bezogen wir unsere geräumigen, für jeweils zwei Personen vorgesehenen Kajüten. Das Schiff war für die Mitnahme von Passagieren eingerichtet. Die Zivilisation hat uns wieder. Die Stille der Nächte in der Wüste, im Busch und im Urwald schien plötzlich unendlich fern. Stattdessen begleiteten uns nun das Brummen von Motoren und das gleichmäßige Summen der Lüftungen, die in einem großen Schiff nie ganz verstummen. Erinnerungen an meine erste Hochseeschifffahrt stiegen hoch.

Kaum an Bord, begann Mackie zu husten und sich unglücklicherweise auch zu übergeben. Bei einem schnell arrangierten Arztbesuch in der Stadt diagnostizierte man Gelbsucht. Zusätzlich war bei ihm die Malariaprobe positiv ausgefallen. Ich selbst hatte mit einer schmerzhaften Stirnhöhlenentzündung zu kämpfen, während Kopezky ebenfalls unter gesundheitlichen Problemen litt. Nur Jean-Pierre, von uns liebevoll Schani genannt, zeigte keinerlei Krankheitssymptome. Mit dem Verlassen des Hafens besserten sich die Symptome der Patienten schlagartig. Vielleicht war es die frische Seeluft oder die Aussicht auf die baldige Heimkehr. Die täglichen Mahlzeiten nahmen wir in Gesellschaft des Kapitäns und seiner Offiziere ein und unterhielten sie mit den abenteuerlichsten Anekdoten der Expedition. Wir taten unser Möglichstes, um die Schiffsvorräte zu reduzieren. Eine akute Zunahme des Lebendgewichtes aller Expeditionsteilnehmer im Verlauf der vierzehntägigen Reise war deshalb nicht zu übersehen.

Ohne jeglichen Zwischenfall, als wäre er zufrieden, wieder Europas Straßen unter seinen Rädern zu haben, brachte der treue IFA F9 die Expedition an die heimatliche Grenze. Durch halb Deutschland ging die Fahrt, da wir das Queren der vom Osten beherrschten Gebieten aus zolltechnischen Gründen meiden mussten. Erwartungsvoll freuten wir uns darauf, heimzukommen. Doch die Herzlichkeit der österreichischen Zöllner war bei unserem Anblick eher zurückhaltend. Während sich meine drei Mitstreiter im Zollgebäude um gute Stimmung und eine schnelle Abfertigung bemühten, hütete ich im Auto sitzend das Gepäck. Nicht nur dieses. Auch Joko, unser äffischer Begleiter musste stillgehalten und neugierigen Blicken verbogen werden. Da wir keine Beruhigungsmittel in der Apotheke mitführten, wickelte ich den erstaunlich geduldigen kleinen Kerl fest in eine Decke. Kein Laut kam von ihm, als ich das Paket mit den Füßen auf dem Boden des Autos fixierte. Dieser war mit verschiedenen Muscheln und getrockneten Seesternen übersät, die wir bei unseren Besuchen am Meer gesammelt hatten. Ein am heruntergelassenen Fenster vorbeigehender Zollbeamter entdeckte diese Sammlung und zeigte sich überaus interessiert. Er sei ein Liebhaber dieser Dinge und würde gerne eines davon näher betrachten. Höflich erlaubte ich ihm, sich etwas auszusuchen. In der Angst, Joko dadurch an die veterinärdienstliche Stelle des Zollamtes abgeben zu müssen, drückte ich fester auf das Paket unter meinen Füssen. Der Zöllner beugte sich durchs Fenster und begann im Wirrwarr der Meerestiere nach einem besonderen Exemplar zu suchen. Doch da schnellte aus dem losen Bündel ein kleines Händchen heraus und umfasste den Zeigefinger des Beamten. Jetzt ist es geschehen, der versuchte Schmuggel war aufgeflogen, ich sah mich schon in Handschellen! Zu meinem Erstaunen und meiner Erleichterung, reagierte der Zollbeamte nicht empört, sondern begeistert. Also wickelte ich Joko aus, der mir sofort schnatternd auf den Schoß sprang. Sich bei mir sicher fühlend, legte er sein einnehmendes Lächeln an, indem er seine zusammengebissenen Zähne komplett herzeigte. Was zwar gefährlich aussah, aber in der Affensprache außerordentliche Freundlichkeit bezeugte. Nachdem ich dem Uniformierten dies erklärt hatte, wollte er das Tier streicheln. Joko flüchtete auf den Fahrersitz. Ich lockte ihn wieder zu mir, er musste sich berühren lassen! Von mir festgehalten ließ er sich vom Grenzhüter kraulen, der das unter Ausrufen des Entzückens ausgiebig tat. Nach dem Austausch verschiedener Zärtlichkeiten zwischen den beiden, wurde mir Joko mit herzlichem Lachen zurückgegeben.

Meine Kollegen hatten inzwischen die Grenzformalitäten zu ihrer Zufriedenheit erledigt und stiegen wieder in unser Auto ein. Begleitet von freundlichen Wünschen der Zöllner fuhren wir nach Österreich ein. Zügig bewegten wir uns auf der Bundesstraße 1 mit nur einem Tank- und Trinkaufenthalt nach Osten. Die Autobahn war damals erst im Stadium der Planung. Am 8. September 1956 erreichten wir ausgeruht, gut genährt und voller Pläne Wien. Der Abschluss einer Reise, die uns nicht nur die Welt, sondern ebenso uns selbst ein Stück nähergebracht hatte.

Schon am 13. September dieses Jahres erschien im „NEUEN KURIER“ ein Artikel über diese erste größere erfolgreiche österreichische Expedition nach dem Kriegsende. Unter dem reißerischen Titel „Wir sind Tiroler Fetischmänner“ wurden unsere Erlebnisse journalistisch aufbereitet. Auch der „Stern“ ließ es sich nicht nehmen, gleich drei Ausgaben mit unseren Erlebnissen und Fotos als Titelstory zu bringen.

Das erarbeitete Material wurde unverzüglich bei den wissenschaftlichen Institutionen abgeliefert, die es mit sichtlicher Zufriedenheit entgegennahmen, allen voran das Phonogrammarchiv der Akademie der Wissenschaften, das den Löwenanteil erhielt. Eine Pause gönnten wir uns nicht. Umgehend begannen wir mit den Vorbereitungen für unser nächstes Abenteuer: Eine Expedition, die uns über eine Zeit von annähernd zwei Jahren durch die anglophonen und frankophonen Länder des afrikanischen Kontinents führen sollte. Doch darüber, einer weiteren Expedition und meine Jahrzehnte beim Film, werde ich in einem zweiten Teil der „Zeitgeister“ berichten.

(Die Musikaufnahmen zu diesem Kapitel sind im Katalog des Phonogrammarchivs der Akademie der Wissenschaften zu finden)   

Alle Rechte auf Text, Bild und Ton bei Herbert M. Prasch