11. KAPITEL – Akamouk in Mali, Neue Achse, Endlich wieder mobil

Gemütlich und in guter Stimmung sitzen wir drei, Michelle, Francois und ich in den etwas bequemeren Stühlen mit Armlehnen, vor uns jeder ein Glas roten Weines aus den Weingärten von Muaskar (Mascara), im Norden Algeriens. Mich freut es , dass es in diesem Haus keine Klimaanlage gibt. Die drei großen Deckenventilatoren verwirbeln fast unhörbar die Luft und kühlen damit ausreichend. Ich erzähle François und Michelle einige Geschichten aus meinen Erinnerungen, die ich demnächst niederschreiben möchte. Ihre Reaktionen darauf helfen mir bei der Entscheidung, tatsächlich in mein Buch aufgenommen werden sollten. Der Wein ist getrunken, die Vergangenheit wieder zum Leben erweckt, es ist Zeit zu Bett zu gehen. Doch der Schlaf stellt sich nur zögernd ein und die Nacht wird unruhig. Meine eigenen Erzählungen haben mich so aufgewühlt, dass ich mehrmals aufwache. Schließlich stehe ich noch in der Dunkelheit auf und setze mich an den Computer. Das Schreiben läuft heute ganz wunderbar und ich merke darüber nicht einmal die beginnende Morgendämmerung. Die ersten Sonnenstrahlen fallen irritierend ins Zimmer auf den Bildschirm. Ich blinzele hinaus in die Wüste, die Wüste erscheint in warmem Orange. In der Ferne entdecke ich eine kleine Gruppe Kamele, fünf an der Zahl. Die Tiere werfen in der Morgensonne lange Schatten und scheinen zusammen zu gehören. Doch woher kommen die, freilaufende Kamele sind in dieser Gegend äußerst selten anzutreffen. Ein Blick in den Hof des Anwesens erklärt alles, dort stehen drei Gestalten beisammen und unterhalten sich leise. Akamouk ist wieder da! Neben ihm ein weiterer, in einen Tegelmust verhüllter Targi und François. Ich mache mich mit einem laut gerufenen „Guten Morgen“ bemerkbar und erhalte von unten dreifache Antwort. Vergessen ist das Schreiben für den Moment, ich klappe den Computer zu und eile hinunter in den Hof. 

Die Begrüßung ist herzlich. Der Begleiter von Akamouk stellt sich als Iyad vor, ein Verwandter, der zurück in den Hoggar möchte, wo er geboren wurde. Die beiden sind in der Nacht eingetroffen und standen vor verschlossenem Tor. Die Kamele wurden von ihrer Last befreit und sie warteten bis François wie jeden Tag das Tor öffnet. Im Moment sind sie dabei die wertvollen Sättel und einige Bündel mit ihrem Hab und Gut in die Garage zu bringen. Michelle kommt aus dem Haus, begrüßt die beiden Männer gerührt, die Freude Akamouk heil wiederzusehen, ist ihr anzumerken. Zu François und mir gewandt teilt sie uns mit, dass das Frühstück fertig sei. Michelle hat einen besonders starken Kaffee zubereitet, der selbst François, der notorisch verschlafen ist, rasch in die Gegenwart holt. Es wird ein schnelles petit déjeuner, denn unsere Neugier auf Neuigkeiten aus Mali ist groß.

Zum Verständnis des Folgenden ist es notwendig, in groben Zügen über die komplizierte Situation in Mali informiert zu sein. Fünf Kräfte (ohne der Untergruppen) mit unterschiedlichen Zielsetzungen kämpfen dort um ein riesiges Gebiet, das weder fruchtbar noch besonders reich an Bodenschätzen ist, mit Ausnahme von Uran, jedoch touristische und strategische Bedeutung hat:

  1. Säkulare Tuareg für mehr Selbstbestimmung,

  2. “              “      für einen eigenen Staat Azawad,

  3. Islamistische Tuareg für eigenen islamischen Staat,

  4. Regierung Mali (Bamako) plus den schwarzen Völkern im südlichen Azawad und

  5. natürlich Frankreich

AZAWAD-1
Azawad, das umkämpfte Gebiet Malis

Das Nomadenvolk Tuareg lebt in einem kargen Gebiet, das in seiner Ausdehnung etwa der Fläche Europas gleicht, in der Sahara und Teilen des Sahel im Süden. Ihr Einzugsgebiet umfasst Mali, Algerien, Libyen, Tschad, Niger und Burkina Faso. Es ist ein hellhäutiges nomadisierendes Reiter- und Hirtenvolk, das sich Sklaven aus Schwarzafrika hielt und noch heute hält. Woraus sich ergibt, dass sie sich von der durchwegs schwarzen Regierung in Bamako nicht beherrschen lassen wollen. Die Kel Tamaschek, wie sich die Tuareg selbst nennen, sind staaten- und stammesübergreifend durch ihre einheitliche Sprache und Kultur miteinander verbunden. Die von den Kolonialmächten im neunzehnten Jahrhundert willkürlich gezogenen Staatsgrenzen, welche Völker, Stämme und sogar Familien geteilt und über ganz Afrika Nationalstaaten gegründet haben, stören den Zusammenhalt der Tuareg überhaupt nicht. Viele Kämpfer im Azawad waren ehemalige Anhänger von Muammar al-Gaddafi. Sie flüchteten nach seinem Sturz mit großen Mengen Waffen und Munition nach Mali.

Die islamistischen Tuareg werden von der al-Quaida des Maghreb unterstützt und versuchen im Azawad durchgehend die Scharia einzuführen. Sie übernahmen kurz die Führung und zogen im Namen der Schari‘a raubend, mordend und plündernd durch das Land.

Die Regierung von Mali in der Hauptstadt Bamako, die in sich selbst zerstritten und durch ausufernde Korruption geschwächt, will den Norden Malis nicht verlieren.

Frankreich, das mit ihrer vierzehn afrikanische Staaten umfassenden Währungsunion, dem Franc CFA, auch Mali unter Kontrolle hat, will Frieden haben und selbstverständlich keinen islamischen Staat in ihrem Einflussbereich.

Zwei Revolten der Tuareg im vorigen Jahrhundert blieben ohne entscheidende Folgen für den Azawad. Der aktuelle Aufstand von 2012 wurde von den Franzosen zu einem trügerischen Stillstand gebracht. Truppen der UNO aus verschiedenen Ländern, darunter auch Deutschland, übernahmen die Kontrolle.

Flagge von Azawad

Nach dem gemeinsamen Frühstück begeben wir uns zu Akamouk in den Hof. Dort ist Iyad dabei ein für die Sahara typisches Lederzelt aufzustellen. Faktisch ist das kein Zelt, sondern eher ein Schutz gegen die Sonne. Über ein paar in die Erde gerammte Zeltpfosten werden imprägnierte Felle von Schafen oder Ziegen gespannt, die nur auf einer Seite bis zum Boden reichen, die anderen drei Seitenflächen bleiben meistens frei. Akamouk kocht währenddessen auf einem schnell entfachten Feuer Tee. Er hat seinen Tegelmust zu einem großen Teil abgenommen und zeigt seinen frisch gewachsenen, nicht gerade üppigen Bart.

Akamouk Bart004
Targi mit Bart

Den bewundern wir gehörig, erfahren aber den Grund dafür erst nach dem dritten Glas Tee. Dann beginnt Akamouk zu erzählen: Iyad wurde von Islamisten entführt und als Geisel für die Freilassung Gefangener benützt. Da er ein Verwandter ist, war es für den Targi Verpflichtung, ihn zu befreien. Das Versteck dieser Gruppe von Jihadisten lag unweit von Kidal entfernt, der durch die säkularen Tuareg zurückeroberten Stadt im Norden Azawads. Um als gläubiger Muslim zu erscheinen, ließ er sich den Bart wachsen. Er ritt mit zwei Kamelen durch bergige Landschaften zum Lager der Islamisten und meldete sich beim Kommandanten, indem er sich als Kämpfer für die Scharia bekannte. Die Kommunikation war kein Problem, da alle Tamaschek, die gleiche Sprache verstanden. Akamouk erhielt nach intensiver Prüfung eine Tarnjacke aus russischer Produktion und einen Karabiner mit Munitionsgürtel ausgehändigt. Er bekam die Aufgabe, das Lager zu bewachen. Automatische Waffen wurden ausschließlich an aktive Kämpfer verteilt. In den nächsten Tagen musste er, von anderen streng beobachtet, fünfmal am Tag beten. Er machte sich mit der Gegend vertraut und konnte es einrichten, mit Iyad zu sprechen. Ein Raubzug der Gruppe nach Süden, an dem fast alle Kämpfer aus diesem Versteck teilnahmen, brachte in einer Nacht die Gelegenheit zu verschwinden. Da Akamouk seine Kamele darauf trainiert hatte beim Satteln nicht zu maulen, und die Jihadisten mit allen motorisierten Fahrzeugen unterwegs waren, entkamen sie unbemerkt. Sie ritten im schnellsten Tempo, das die Meharis hergaben, durch die Nacht und erreichten morgens das sichere Kidal. Dort besorgten sie innerhalb weniger Tage Proviant und füllten die Gerbas mit frischem Wasser.

Bei diesem Aufenthalt erfuhr Akamouk von den enttäuschenden Entwicklungen im Azawad. Die Tuareg waren allein zu schwach, so paktierten sie mit den Jihadisten der al-Quaida. Das führte dazu, dass sie gezwungen waren, gegen ihre ursprünglichen Absichten, um mehr Autonomie zu kämpfen, einen islamischen Staat Azawad auszurufen. Die Islamisten übernahmen bald danach die Führung, terrorisierten das ganze Land und setzten die Scharia durch. Die Frauen gingen aller ihrer angestammten Rechte verlustig. Sie wurden zu totaler Verschleierung genötigt, was bei den an ein gemäßigtes Matriarchat gewöhnten Tuareg nicht gut ankam. Die säkularen Tuareg waren zu einem großen Teil gezwungen, nach Niger oder Ober Volta zu flüchten. Französische Fremdenlegionäre und Truppen aus dem Tschad setzten diesem Spuk ein Ende.

Die zwei mussten auf ihrem Weg nach Osten das Gebiet des einflussreichen Clans der Kel Ifoghas durchqueren. Akamouk hatte dort einmal geheiratet und suchte seine ehemalige Familie, die er in Frieden verlassen hatte. Er traf sie an, aber seine geschiedene Frau ist eine neue Verbindung eingegangen und war weggezogen, Teile ihres Eigentums zurücklassend. Ihr Bruder, der das Hab- und Gut der Frau übernommen hatte, starb bei Kämpfen im Azawad. Zurück blieben verwaist ein Mehari und zwei weitere Kamele, sowie ein Zelt. Der Führer des Clans sprach Akamouk diese Hinterlassenschaften zu, und so luden sie das zerlegte Zelt auf eines der Lastkamele und setzten ihre Reise fort. In langen Tagesrittenerreichten sie mit der kleinen Herde schließlich die Auberge. Hier möchten sie nun eine Weile rasten, bevor sie ihre Reise in den Hoggar fortsetzen. Akamouk ist enttäuscht über die Absichten seiner Tuaregbrüder in Mali. Sie wollen dort trotz des Widerstandes einen eigenen Staat gründen. Das brächte doch nur Arbeit und würde sehr viel Geld kosten. Es müssten Ministerien, Polizei, Militär aufgebaut werden, es gäbe Zwangssteuern und Gesetze zu befolgen die sich irgendwelche Leute ausdenken. Ein eigener Staat kompliziert doch alles, das freie Leben der Nomaden wäre vorbei.

Die Sonne steht schon recht hoch und es ist Zeit sich in den Schatten zurückzuziehen. Das Zelt ist aufgebaut, als Zeichen, dass das Gespräch beendet ist, reicht uns Akamouk ein zusätzliches viertes Glas Tee. François und ich begeben uns ins Haus. Am Weg hinauf in meine Stube überlege ich mir, dass ich ebenfalls gerne einmal gleich wie die Nomaden so durch die Wüste reisen würde. Aber ich verwerfe diesen Gedanken sofort wieder. Animiert von den Erzählungen Akamouks arbeite ich bis Mittag an meinem Manuskript:

In Oued Djer war Walter dran, an meine Wache anschließend den Père Ubu zu beschützen. Wir hatten uns angewöhnt, den nächstfolgenden Wachhabenden mit einem heißen Getränk zu versorgen. Damit dieses bei der herrschenden Kälte trotz Thermosflasche lange warm bleibt, wurde es in der Stube erst etwa eine Stunde nach Beginn des neuen Turnus frisch zubereitet und zum Auto gebracht. Ich verließ das Haus mit der Flasche heißer Ovomaltine unter dem Arm, in der Jackentasche meine 7,65er – Pistole und einer Taschenlampe. Keine wirklich furchterregende Ausrüstung. Aber da wir hier mitten im Zentrum der Aufständischen festsaßen, vermittelte die Hand an der Waffe Mut und Zuversicht.
Es war eine erbarmungslos finstere Nacht. Der Himmel von tiefhängenden Wolken bedeckt, kein Mondschein, da Neumond herrschte, in beißender Kälte. Das ergab eine Dunkelheit, die schwärzer nicht hätte sein können. „Man kann die Hand nicht vor den Augen sehen“. Dieses Sprichwort habe ich bei dieser Gelegenheit tatsächlich ausprobiert und fand es bestätigt.

Im Scheine der Taschenlampe tastete ich mich die gewundene Rampe hinauf. Ironischerweise fand ich die absolute Dunkelheit durchaus vorteilhaft, denn man könnte sich im Falle eines Angriffs links oder rechts die Böschung hinunterrollen und in der Dunkelheit verschwinden. Doch es sollte anders kommen. Auf halben Weg nach oben, mitten aus der Finsternis, ertönte plötzlich der Befehl: „Fermé la lumière“, mach‘ das Licht aus! Jetzt war der Moment gekommen, wie geplant davon zu laufen. Ich löschte die Taschenlampe und griff zur Waffe in der Tasche. Doch während ich überlegte, welche Seite der Böschung am besten geeignet wäre, hörte ich ringsum das mir bekannte Repetieren von Maschinenpistolen. Ich war umzingelt. Jetzt stand ich da, mit einer Thermosflasche heißer Ovomaltine und einer bescheidenen Pistole bewaffnet, umringt von unsichtbaren Gestalten, die mit schußbereiten Waffen auf mich zielten. Die Dunkelheit war ihre Verbündete, meine Augen mussten sich erst an die Finsternis gewöhnen, ich war blind und ausgeliefert. Eine Stimme befahl mir, weiterzugehen. Ab und zu blitzte eine Lampe auf und einer der sich gespenstisch geräuschlos fortbewegenden Herren beleuchtete damit nur kurz den Weg zum Auto.

Oben auf der Straße war es etwas heller, oder ich hatte mich an die Finsternis gewöhnt. Schemenhaft waren die Konturen des Autos und der Männer zu erkennen. Man bedeutete mir, ich solle in den Wagen steigen. Doch ich wusste, Walter war darin mit einer geladenen Schrotflinte, jeden Eindringling mit einer Ladung Zwölferschrot zu empfangen. Wie ausgemacht, würde er sofort schießen, sobald sich die Türe öffnete. Mein Zögern blieb nicht unbemerkt. Um mich zu beruhigen, zeigten sich im Lichte von Taschenlampen Männer in Djellabas, den längs gestreiften braunen Kaftans der Einheimischen, die Kapuzen übergestülpt, also Angehörige der FLN. Einer der Männer trat vor, hob sein arabisches Gewand hoch und offenbarte eine französische Uniform darunter. Was mich keineswegs beruhigte, denn es war bekannt, dass die Fellaghas toten Soldaten die Kleidung auszogen, und in dieser Verkleidung ihre Überfälle tarnten. Mit angelegter Maschinenpistole deutete er mir, die Wagentüre zu öffnen. Es gab keinen Ausweg. Im Vertrauen auf die Besonnenheit Walters rief ich laut seinen Namen. Nicht die Spur eines Lebenszeichens kam aus dem Père Ubu. Sicher wollten sie, dass ich einsteige, um mich dann im Auto zu erschießen. In Erwartung, im Inneren des Fahrzeugs eine blutüberströmte Leiche vorzufinden, öffnete ich die Türe. Doch der Wagen war leer, bis auf die sorgsam in eine Ecke gelehnte Ferlacher Schrotflinte. Aber, wo bitte, ist Walter?

Der Anführer der Truppe sagte irgendetwas vermutlich in Französisch und deutete mir zurück zum Haus zu gehen. Mit Herzklopfen stieg ich, begleitet von meinen lautlosen Bewachern, wieder hinunter zur Villa. Im Vorraum angekommen bedeutet man mir durch Gesten still zu sein und das Zimmer zu betreten. Jetzt stand ich vor der gleichen Konstellation wie oben beim Père Ubu. Verteidigung war sicher, nur dass Mackie wesentlich impulsiver war, als der in jeder Situation ruhig überlegende Walter war. Ich durfte vor dem Öffnen das zwischen uns ausgemachte Klopfzeichen nicht geben. Mit sehr gemischten Gefühlen und den schussbereiten Maschinenpistolen im Rücken öffnete ich betont lässig die Zimmertüre und überlegte, ob ich mich im Fall des Falles nach links oder rechts werfen sollte, um einer Kugel auszuweichen. Doch Max saß gegenüber dem Eingang beim Kamin und war konzentriert damit beschäftigt, sich knallrote Wintersocken anzuziehen. Mein Eintreten ignorierte er. Waffen gab es auch keine in seiner Reichweite. Allerdings erschrak er gewaltig und sprang mit einem roten Socken bekleidet auf, als er des Algeriers hinter mir ansichtig wurde. Der aber grüßte höflich und erklärte, sie seien eine mobile Kampftruppe und hätten Walter mit ihrem Fahrzeug in die Polizeistation der nächsten Ortschaft zur Überprüfung seiner Papiere geschickt. Es folgte ein kurzes klärendes Gespräch, währenddem sich Mackie ankleidete. Unsere nächtlichen Besucher entpuppten sich als Goumiers, Algerier im Solde Frankreichs, die die Dunkelheit meisterhaft für ihre Zwecke nutzten. Ihre Patrouillen hatten wir schon oft aus sicherer Distanz beobachtet, doch diesmal waren sie uns nähergekommen, als uns lieb war. Dann stieg Makie mit der Gruppe zum Auto hinauf. Oben angekommen funkte der Chefgoumier die Daten unserer Dokumente nach El Affroun. Wenig später kam Walter von einer Abteilung Polizisten bewacht, unversehrt in einem Dienstwagen der Polizei angefahren.

Während ich allein war, legte ich mich zur Sicherjeit mit dem Karabiner in Deckung hinter das Ölfass, weil ich war fest entschlossen, die Stellung zu halten, komme, was wolle! Es stellte sich aber heraus, dass unsere nächtlichen Besucher einer Spezialtruppe angehörten, den Goumiers. Das waren wilde algerische Kämpfer, vom französischen Militär speziell zu Partisanen ohne Hemmungen zu töten ausgebildet. Bei ihren Patrouillen in der Nacht bewegten sie sich auf den Gummisohlen ihrer Springerstiefel leise wie Katzen. Näherte sich ein Fahrzeug, verschwanden sie blitzartig von der Straße, bevor die Scheinwerfer die Truppe erfassen konnte. Spurlos tauchten sie in die Finsternis, ihre Position damit geheim haltend. Dieses Schauspiel beobachteten wir fast jede Nacht aus unserem Auto heraus, denn sie klopften bei ihren Kontrollgängen im Vorbeigehen regelmäßig freundlich an. Im Algerienkrieg auf der Seite der Franzosen kämpfend, waren sie nach der Befreiung Algeriens erbitterten Verfolgungen ausgesetzt.

In den langen Stunden der folgenden nächtlichen Wachen vernahmen wir oft deutliches Kratzen an der Karosserie des Père Ubu. Bei jedem Auftreten dieses Geräuschs sprangen wir mit entsicherter Waffe aus dem Wagen, um das Fahrzeug zu umrunden. Doch niemand war zu sehen. Eines Nachts wurde das Geheimnis gelüftet. Ich beobachtete, wie ein großer Vogel vom Dach des Wagens aufflog. Anscheinend hatte er sich den Aufbau des Gepäckträgers als perfekten Ausgangspunkt für seine nächtlichen Jagden ausgesucht.

Weit über drei Wochen waren wir jetzt an diesem Ort festgenagelt, das brachte unsere Nerven dazu, dass wir die Beherrschung schon aus geringstem Anlass verloren. Jeder auf seine Art. Mackie ließ seiner Frustration freien Lauf, indem er immer wieder „verdammt, verdammt!“ wie ein brünstiger Stier brüllte, bis seine Narbe im Gesicht rot zu leuchten begann. Ich hingegen setzte auf kinetische Entladung, indem ich den nächstliegenden zerbrechlichen Gegenstand in die Ecke schleuderte, wobei sich leider herausstellte, dass selbst Tische nicht unzerstörbar sind. Meine Uhr, der einzigen neben der von Walter, fiel unabsichtlich durch die heftige Berührung mit einer Tischkante einer solchen Aktion zum Opfer. Walter zeigte seine Unzufriedenheit dadurch, indem er über seinen eigenen Schatten sprang, in den Expeditionsschatz griff und ein „Bidon“, eine große Flasche mit fünf Litern Rotwein aus El Affroun anchleppte. Der Verlust meiner Uhr hatte zur Folge, dass wir uns auf die Zeitangabe der letzten halbwegs funktionierenden Uhr verlassen mussten. Walters Uhr blieb in vierundzwanzig Stunden grob geschätzte fünfzehn Minuten zurück. Allerdings nicht ganz so regelmäßig, wie man hoffen würde. Er löste das Problem, indem er sie jeden Tag manuell um eine viertel Stunde vordrehte. Dadurch stand im Laufe einiger Tage unsere Zeitrechnung in einem eigenwilligen Verhältnis zur Normalzeit. Dazu kam, dass in diesen Tagen ohne unser Wissen die algerische Zeit der MEZ angeglichen und eine Stunde vorgestellt wurde.

Das Chaos kulminierte, als Walter wegen eines avisierten Anrufes aus Wien zu einer bestimmten Zeit bei der Cabine telephonique im Postamt sein sollte. Da er sich nach seiner Uhr richtete, war dieser Weg vergebens. Am nächsten Tag klappte es jedoch, in Algier wurde noch eine Achse für den Humber gefunden, und meine liebe und tüchtige Mutter hat auf Grund schriftlicher Erzählungen über unsere Nöte vom Unterrichtsministerium eine Aufstockung der Subvention erbeten und erhalten. Unsere Verluste durch die nicht vorherzusehenden recht kostspieligen Aufenthalte waren somit ausgeglichen. Darüber hinaus sind die Achsen aus Wien endlich angekommen. In Hochstimmung begaben wir uns am Abend auf eine wilde Rattenjagd und brachten binnen einer viertel Stunde fünf gewaltige Exemplare zur Strecke. Es war Zeit für meine Wache, Mackie begleitete mich bis zum Auto. Am Rückweg gab er aus purem Übermut einen Schuss in die Luft ab, was den Gardien mit einem Gewehr auf den Plan rief. Doch der Erschrockene hatte Verständnis für diesen Ausdruck von Freude.

Am nächsten Morgen wurden wir mit prächtigem Wetter belohnt. Es war der 15. Februar, und die Sonne hatte endlich genug Kraft, um den Tag zu einem kleinen Fest zu machen. Nach einem ausgiebigen Frühstück beschlossen wir, uns einer umfassenden Körperreinigung hinzugeben, ein Bad im Bach eingeschlossen. Am Nachmittag, ich hatte eben mit der Reinigung des Père Ubu begonnen, hörten wir endlich das unverkennbare Motorgeräusch des IFA, der die Ersatzteile brachte.

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Die neue Achse (Walter, Gardien und ich v.l.n.r.)

Der Abend endete gemütlich bei einem Plausch mit Sekt und der großzügig von der Familie Halali gespendeten Flasche Pastis. Schani und Kopezky verabschiedeten sich später in Richtung Algier, während wir uns wieder unserem bewährten Leibgetränk zuwandten: halb Anisette, halb Wasser, ein Rezept, das ebenso simpel wie effektiv war. Die Nacht verlief ruhig, der Morgen brachte miserables Wetter mit Hagel, Schnee und Regen abwechselnd und dann wieder alles gleichzeitig. Um dennoch die Montagearbeiten im Trockenen durchführen zu können, hatten wir über dem rückwärtigen Teil des Père Ubu eine provisorische Überdachung aus Planen gespannt. Lange Kolonnen offener Lastwagen fuhren in hohem Tempo mit frierenden Fremdenlegionären auf der Ladefläche in Richtung Sidi-Bel-Abbès vorbei. Grüße in deutscher Sprache wurden uns zugerufen. Manchmal verwehte der Fahrtwind unsere „Garage“ und musste neu befestigt werden. Wir hatten in unserem handwerklichen Eifer einen Dichtungsring bei seinem Einbau zerstört, wir brauchten einen neuen. Schani, Hans und ich fuhren am frühen Nachmittag nach Algier. Doch kaum hatten wir die ersten Häuser der Stadt erreicht, versagte wegen der uungewöhnlichen Wetterbedingungen der IFA seine Dienste und wollte nicht mehr starten. In einer unerklärlichen und bei ihm nicht gewohnten Regung von Kameradschaft bot Kopezky an, beim Auto zu bleiben und es wieder flott zu machen. Er schickte Jean-Pierre und mich mit dem Bus zu den Halalis, die uns herzlich aufnahmen. Hans übernachtete im wassergetränkten IFA, aber ich schlief nach drei Wochen Luftmatratze wieder einmal in einem liebevoll vorbereiteten sauberen Bett! Frisch und ausgeruht wurde der Morgen danach der Trockenlegung des F9 gewidmet. Wir mussten die Dichtungsringe vom Flugplatz holen, um gleich von dort nach Oued Djer aufzubrechen. Auf der Verpackung der Ringe war die Anweisung zu lesen, diese vor dem Einbau in heißem Öl anzuwärmen. Am darauffolgenden Vormittag, nachdem wir einige der Dichtungen in siedendem Öl verbrennen ließen, war die Achse montiert. Unser treuer Père Ubu war bereit für die nächste Etappe.

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Einbau der Achse, von l. nach r.: ich, Walter, Schani, Mackie u. Gardien.
Einbau der Achse

Die ersten Startversuche schlugen fehl, weil beide Batterien leer und erschöpft waren, wie unsere Geduld nach den Wochen des Wartens. Da es kein Ladegerät gab, blieb uns nur die kreative Lösung, wir schleppten die Batterien ins Haus und platzierten sie in respektvoller Nähe des Kaminfeuers. Wenig später erhielten wir Besuch von den Fouberts, die ein köstliches Mittagessen mitbrachten, das uns nach Tagen des Genusses von Palatschinken (Pfannkuchen) aus Mehl und Wasser, belegt mit einer Ölsardine, besonders mundete. Nach ein paar Stunden im wohlig-warmen Schein des Kamins hatten auch die Batterien ihre Lebensgeister zurückgewonnen. Wir setzten sie ein, hielten kurz die Luft an, und siehe da, der Motor des Ubu erwachte nach einigem Gurgeln, einem röhrenden Rülpsen und einer beherzten Fehlzündung endlich wieder zum Leben. Es war ein unglaublich erhebendes Gefühl, nach vier Wochen wieder mobil zu sein. So fuhr ich das erste Mal die Auffahrt hinunter zur Villa Achsbruch und stellte den Wagen davor. Wir lobten bei einem gemütlichen Abend die Bärenbatterien, den guten Gardien und uns selbst. Letztendlich hatten wir das drohende Gespenst des Scheiterns der Expedition für diesmal vertrieben.

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Kurz vor Abfahrt aus Oued Djer: Ich, Walter, Schani, Mackie v.l.n.r.

Unser Tätigkeitsdrang kannte keine Grenzen. Schon früh am Morgen beluden wir die Autos. Da dies äußerst sorgfältig mit speziellem Augenmerk auf die Gewichtsverteilung in den Fahrzeugen zu geschehen hatte, verließen wir Oued Djer erst zu Mittag. Die Gefahr von Schneelawinen im Atlasgebirge zwang uns zu einem landschaftlich reizvollen, aber beschwerlichen Umweg. Selbst in den Bergen bei Schnee und Glatteis verhielt sich der IFA vorbildlich und der Allrad angetriebene Ubu sowieso. Alle Warnungen vor Überfällen in den Wind schlagend und ebensolche Unkenrufe ignorierend fuhren wir bei Nacht bis Mascara, wo es ein schnelles Abendessen gab. Der Drang weiterzukommen war stärker als die Verlockung des Schlafs. Uns zog es nur weiter, dorthin, wo Aufgaben warteten, die zu erfüllen waren. Und vor allem dorthin, wo es wärmere ist. Der ersehnte erste Anblick des Beginns der Wüste blieb uns bei dieser Fahrt in der Nacht verwehrt. Wir erreichten Mechéria nach drei Uhr morgens und blieben bis Tagesanbruch erschöpft in den Fahrzeugen. Der dort diensthabende Garde Champetre, er war so eine Art von den Franzosen eingesetzter Kommandant, empfing uns am frühen Morgen freundlich. Walter war ihm bereits bekannt, da er im Vorjahr hier durchgekommen war. Von ihm erfuhren wir, dass der belgische Großwildjäger, der sich uns in Algier anschließen wollte, ein gesuchter Verbrecher sei. Den Rest der Nacht schliefen wir im Haus des Franzosen, wo wir uns zu fünft auf drei Luftmatratzen verteilten. Ein logistisches Problem, das wir aber nach den Strapazen der letzten Tage gerne hinnahmen.

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Wasserentnahme aus dem zugefrorenen Brunnen in Mécheria

Der Brunnen vor dem Haus war an diesem Morgen von einer Eisschicht überzogen, die fast einen Zentimeter dick war. Eine frostige Erinnerung daran, dass wir uns noch nicht im warmen Süden befanden.Wir konnten aber nicht weiterfahren, weil kurz vor der Ankunft in Mechéria die Bremsleitung beim IFA ein Loch bekam. Der Wagen war derart überladen, dass der Benzintank die Leitung aus Kupfer aufgescheuert hatte. Nach einstündiger Reparatur durch einen autochthonen Mechaniker wollten wir uns wieder auf die Piste begeben. Unsere Hoffnung auf eine reibungslose Weiterfahrt währte jedoch nicht lange. Walters Probefahrt endete frontal an einer Palme, er benutzte sie geistesgegenwärtig anstatt der Bremse, denn anders wäre der Wagen nicht stehengeblieben. Nach einer nochmaligen Instandsetzung der Bremsleitung, diesmal durch uns, ging es endlich weiter. Schani übernahm das Steuer des Père Ubu und fuhr uns, an Rechtslenkung nicht gewöhnt, in ein tiefes, aber ausgetrocknetes Flussbett. Dank Allradantriebs holte ich das Fahrzeug wieder auf das Niveau der Straße.

Das nächste Ziel war Colomb-Béchar, der letzte größere Ort vor der Einfahrt in die eigentliche Sahara. Unsere Stimmung war euphorisch zuversichtlich. Unterwegs trafen wir einen Schakal, den Mackie vergeblich mit seiner 9 mm Radom zu erlegen suchte. Da wir aus stoffwechseltechnischen Bedürfnissen sowieso stehen blieben, war eine Rast bei Haferschleim und Schießübungen angesagt. Ich nutzte die Gelegenheit, die von mir mitgebrachte Pistole Pistole zu testen. Zu meiner Freude stellte ich fest, dass sie nicht nur funktionierte, sondern auch äußerst präzise schoss. Auch mit meiner Zielsicherheit war ich zufrieden. Während wir im Auto saßen und weiterfuhren, freuten wir uns alle auf Schwarzafrika und waren sicher, dass wir die größten Herausforderungen hinter uns hatten. So dachten wir wenigstens.

One thought on “11. KAPITEL – Akamouk in Mali, Neue Achse, Endlich wieder mobil

  1. Lieber Herbert, danke für deine lebendigen Berichte. Sie sind eine besondere Vorbereitung auf meine baldige Trekkingtour mit Kamelen in den SO von Algerien. Visum ist beantragt und kommt hoffentlich rechtzeitig! Inschallah!
    LG manfred

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