Obwohl es nicht spät ist, bricht die Dunkelheit schnell herein. Die außerordentliche Hitze dieses Tages lässt allmählich nach, hält aber noch eine Weile an. Die Anwesenheit der Touareg-Familie wirkt dabei beruhigend. Allein ihre Gegenwart vermittelt ein Gefühl von Schutz und Geborgenheit, etwas, das ich bislang nie für möglich hielt. Dieses unverhoffte Sicherheitsgefühl gibt mir den Anstoß, intensiver zu reflektieren. Ich denke über den Abschluss dieses ersten Buches nach und überlege, wie ich die darauf folgenden Jahre meiner Tätigkeiten in Europa, Afrika, Peru, USA und wieder zurück schildern könnte. Auf Reisen prägen sich die primären Eindrücke stärker als die nachfolgenden ein. Glasklar erinnere ich mich an die ersten Forschungsreisen in Afrika aus den Jahren 1954 bis – 63 und die dabei gewonnenen Erfahrungen. Wobei die Grenzen zwischen der zweiten und dritten Expedition schon recht unscharf geworden sind. Faszinierend finde ich die mannigfaltigen Ausprägungen der religiösen Kulte Afrikas, die wir entdeckten und teilweise dokumentierten. Doch die rasante politische Entwicklung seit 1960, jenem Jahr, in dem die Kolonialmächte begannen, sich offiziell aus Afrika zurückzuziehen, hatte diese tief in den Völkern verwurzelten Glauben und Bräuche marginalisiert. Viele religiöse Traditionen wurden teils kommerzialisiert, wie Voodoo, oder zogen sich in schwer erreichbare Gegenden zurück. Ein Prozess, wozu der radikale Islamismus mit seinen salafistischen Idealen maßgeblich beigetragen hat. Seit vielen Jahrzehnten breitete sich der friedliche Islam, der seinen Ursprung im Norden des Kontinents hat, über weite Teile Afrikas aus. Er koexistierte gleichberechtigt mit den uralten afrikanischen Glaubenssystemen sowie mit importierten und autochthonen Religionen.
Die Nacht wird kühl, und ich ziehe mich in den wärmenden Schlafsack zurück. Die politischen Einflussnahmen, vor allem durch streng islamische Länder, mindern das Gefühl der relativen Sicherheit, das ich während meiner ersten Expeditionen hatte. Das Vorgehen Chinas zur Wahrung seiner wirtschaftlichen Interessen lässt Vergleiche mit den kolonialistischen Bestrebungen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts absolut zu. Gewiss mit dem Unterschied, dass diese chinesischen Investitionen, vor allem diejenigen in die jeweilige Infrastruktur der Länder, ausschließlich populistischen Zwecken dienen. Ich schätze mich glücklich, meinen Aufenthalt in einem wegen seiner Abgelegenheit sicheren Gebiet gewählt zu haben. Obwohl es ohne Zweifel anderswo in Afrika ebenso geschützte Möglichkeiten gibt; die Qualität der Sahara ist kaum zu ersetzen. Erschöpft von den heutigen Erlebnissen werden die Gedanken langsam und verschwommen. Bevor ich in einen erholsamen Schlaf gleite, nehme ich den Mond wahr, der sich, für diese Gegend ein ungewöhnlicher Anblick, einen großen Hof zugelegt hat.
Das Gefühl, beobachtet zu werden, wirkt wie ein Weckruf. In respektvoller Entfernung stehend, sehen mich Dayak Aïscha und seine Tochter an. Ob sie tatsächlich miteinander verwandt sind, weiß ich nicht, aber es wäre so passend. Als sie merken, dass ich die Augen öffne, kommen sie näher. Sie fragt, wie es mir geht und ob etwas benötigt würde. Mühsam schlüpfe ich aus dem Schlafsack, begrüße die Besucher und verneine dankend. Wir wechseln einige belanglose Worte über den seltsamen Mond heute Nacht. Die Familie wird jetzt weiterreisen, sie würden aber zwei Männer zurücklassen, um mir behilflich zu sein. Ein großzügiges Angebot, das ich aber dankend ablehne. Im Hintergrund herrscht geschäftige Bewegung, die Zelte sind längst abgebaut und mit den Holzstangen auf die Kamele geladen. Was haben sie angestellt, die Wüstenschiffe zu beladen, ohne deren gurgelndes Brüllen zu provozieren. Diese Geräusche hätten mich unweigerlich geweckt. Meine Verlegenheit ist groß, weil ich nichts Passendes habe, was ein würdiges Abschiedsgeschenk für die Lebensretter wäre. Schnell räume ich die Lebensmittel aus der Aluminiumkiste lose in den Rover. Mit der Bemerkung, dass dies ein Andenken sei, stelle ich diese vor ihre Füße. Damit habe ich offensichtlich ins Schwarze getroffen, denn nach einigen Abschiedsfloskeln eilten sie in ihren wallenden Gewändern mit der Kiste zur Karawane zurück. Vermutlich werden sie darin den für sie wichtigen Kamelmist transportieren.
Die letzten Nachzügler, ein paar Ziegen führende Kinder, verschwinden hinter dem Horizont, und die absolute Stille der Sahara legt sich wie ein Mantel um mich. Ich spüre ein Jucken an der Stirn und werfe deshalb einen Blick in den Rückspiegel des Landrovers. Aus dem Glas blickt mir ein Greis entgegen. Die grauen Haare am Kopf und der Bart wirken auf der von der Sonne hoch geröteten Haut schneeweiß, die Falten darin haben sich in der Nacht vertieft und zerklüften scharfkantig mein Gesicht. Es gleicht dem eines lebenslang von Witterungen gegerbten, weit über hundert Jahre alten Targi. Verstärkt wird der Eindruck biblischen Alters durch den darauf klebenden Wüstensand. Es ist fast wie ein Sakrileg, aber ich wasche mir mit kaltem Wasser aus der Gerba den Sand von der verbrannten Haut. Ein erneuter Blick in den Spiegel zeigt ein leicht verjüngtes Gesicht. Ich beschließe, den heutigen Tag in aller Ruhe anzugehen. Das Feldbett mit dem zusammengerollten Schlafsack wird zur bequemen Sitzgelegenheit, und dort nehme ich mein Frühstück ein. Ein leichter Wind erhebt sich in kurzen Böen, weich, aber dennoch laut genug, um die Stille der Umgebung zu durchbrechen. An den Ohren wirkt er doch recht vernehmlich.Das Die Bemerkung des zukünftigen Amenokal, dem gewählten Oberhaupt aller Touareg, über den merkwürdigen Mond, beschäftigt mich. Es gibt eine Weissagung, dass ein Hof um den Mond Uneinigkeit unter den Mächtigen der Welt ankündigt, und dass sie gegeneinander kämpfen werden. Soll das Krieg bedeuten? Ähnliches habe ich schon früher im Sudan über das Erscheinen eines Hofes um den Mond gehört.
Trotz leichten Unwohlseins beschließe ich, bis zum „Grand Erg“ zu fahren. Nach ein paar Kilometern schneller Fahrt steigt Unlust in mir hoch, außerdem erfasst mich ein Gefühl der Schwäche. In großem Bogen drehe ich in der scheinbar endlosen Weite der Hamada den Kühler des Rovers auf Süd-Ost. Der Motor brummt brav und gleichmäßig. Da es keine Vorratskiste mehr gibt, haben sich ein paar Konservendosen verselbstständigt. Ihr geräuschvolles Hin- und herrollen auf der Ladefläche nervt gewaltig, doch deshalb anzuhalten kommt nicht infrage. Das Ziel ist klar: die Auberge, mein Zuhause in dieser Region. In nicht zu weiter Entfernung taucht eine Gruppe Gazellen auf. Das wäre ein nettes Mitbringsel für Michelle und François. Leider äsen die Tiere rechts von der Fahrtrichtung, zwischen der untergehenden Sonne und mir. So ist ein unbemerktes Näherkommen unmöglich. Sie würden flüchten, bevor ich in sichere Schussentfernung käme. Aber es gibt morgen früh in der Dämmerung eine weitere Chance. Mit diesem Gedanken schlage ich in einem mit wenigen Büschen bewachsenen Gebiet das Nachtlager auf. Ein inzwischen beinhart gewordenes Stück Baguette, mit dem Inhalt einer der herumrollenden Dosen Paté bestrichen, stillt meinen Hunger. Damit das Essen besser rutscht, trinke ich dazu eine halbe Flasche extrem erwärmten Rotwein. Der Schlafsack lockt. Neben dem effizienten Schutz vor Kälte vermittelt er ein trügerisches Gefühl der Geborgenheit, selbst in dieser nächtlich kühlen Wüste.
Der Gedanke, mit einer frisch erlegten Gazelle meinen Wirtsleuten Freude zu bereiten, lässt mich nicht los. Kaum zeigt sich die erste Dämmerung, fahre ich hoch, packe eilig zusammen. Leider erweist sich die Gegend, in der ich die Nacht verbrachte, zum Jagen für absolut unergiebig. Ungeordnet werfe ich die Schlafsachen ins Auto und fahre sofort los. Da meine Rückreiseroute anders liegt, als die der Anreise, wende ich den Rover direkt nach Osten. Das funktioniert problemlos, denn in der flachen Hamada benötigt man in dieser Jahreszeit keine vorgezeichneten Pisten. Dieses bedenkenlose Herumkurven in unendlicher Einsamkeit lässt ein lange vermisstes Gefühl von Freiheit hochkommen. Ich erinnere mich an die frühere Durchquerung einer leichten, zart begrünten Senke, in der ich eine Anzahl Gazellen nebst Antilopen gesehen hatte. Dorthin trachte ich zu fahren. Nach kurzer, schneller Fahrt liegt eben diese paradiesische Tiefebene vor mir. Die Sonne steigt gerade eben über den Horizont. Aber leider komme ich von der falschen Seite, denn die Erfahrung hat mich gelehrt, bei Jagden das Tagesgestirn möglichst im Rücken zu haben. In respektvollem Abstand von den scheuen Tieren umrunde ich sie. Nur einige von ihnen äugen reaktionslos zu mir herüber. Solange ich fahre, besteht aus ihrer Sicht keine Gefahr für sie. Sie scheinen sich an fahrende Autos gewöhnt zu haben, denn allgemein flüchten diese Tiere vor bewegten Objekten. Die Fenster des Fahrzeugs sind alle geöffnet, kühler Luftzug lässt Kopfhaar und Hemd flattern. Der Drilling liegt, provisorisch vor einem Sturz gesichert, griffbereit am Beifahrersitz. Endlich habe ich die Sonne exakt im Rücken und das Anpirschen im Auto beginnt. Spätestens jetzt stellen sich ehrlichen Jägern, die auf europäische Jagdgesetze und deren Ethik geschult sind, die Haare zu Berge. Doch in Afrika herrschen andere Gesetze. Hier schießt man nicht, um Trophäen zu erhalten, sondern zur Nahrungsbeschaffung. Außerdem würde es Tage brauchen, um sich dem Wild auf erfolgversprechende Schussentfernung zu Fuß anzunähern. Es gibt keine Bäume oder größere Steine, die Deckung bieten würden.
Es folgt Routine. Äußerst vorsichtig an die Gruppe Gazellen heranfahren, das Auto in Schussposition bringen, sich währenddem trotz weit überhöhter Pulsfrequenz nur in Zeitlupe bewegend. Dabei wird einem nicht bewusst, dass man zu atmen aufgehört hat. Das Zielfernrohr hat den ausgewählten Bock längst erfasst, der Finger liegt am Druckpunkt des Abzugs ……, das mit eingelegtem Gang langsam dahinrollende Fahrzeug ruckelt zweimal, nach einer Fehlzündung bewegt es sich nicht mehr. Diese Geräusche lösen bei der Herde eine kurze Fluchtbewegung aus, der Bock gerät aus dem Schussbereich. Verwundert, aber keineswegs alarmiert spannen ein paar Prachtexemplare mit aufgestellten Lauschern zu mir herüber, um dann gemütlich weiter zu äsen. Das Warnlicht der Tankuhr blinkt aufgeregt. Um die Benzinkanister zu erreichen, muss ich aussteigen. Mit äußerst langsamen Bewegungen jedes Geräusch vermeidend öffne ich die Wagentüre – mit einem bellenden Ruf warnt ein Bock die Herde, die sofort flüchtet. Wie zum Hohn bleiben die Tiere nach wenigen Metern erwartungsvoll stehen und beäugen mich voll Interesse. Kaum setze ich einen Fuß auf den Wüstenboden, jagen sie mit gewaltigen Sprüngen davon. Ihre weißen Spiegel leuchten im Morgendunst, bis sie endlich in der Ferne verschwinden und mit ihnen die letzte Hoffnung auf eine erfolgreiche Jagd.
Schwer verärgert und enttäuscht über die verpasste Gelegenheit fülle ich Benzin in den Tank. Nach einigen Startversuchen geht es wieder Richtung Süden. Konsequent weise ich mein Versagen keinesfalls mir selbst zu, sondern verteile die Schuld recht großzügig: Vor allem der Sonne, die meinen Körper in einen leicht funktionsgestörten Zustand versetzte, der Firma Landrover, die es scheinbar für unnötig hält, größere Tanks in ihre Fahrzeuge einzubauen, dem minderwertigen Benzin, den nachlässigen Schutzengeln und schließlich der Erziehung durch meine Eltern bis zu den unfähigen Lehrern meiner Volksschulzeit.
Eine leise Trauer überkommt mich, denn ich möchte noch einmal in die Schönheit der Wüste eintauchen. Ich hole mir eine Kleinigkeit zu essen, die halb geleerte Flasche Rotwein, nehme auf der Ladefläche des Rovers Platz und lasse die Beine baumeln. Die absolute Stille und die unendliche Weite wirken wie Balsam auf meine verwundete Seele. All der Ärger und die Trübsal weichen einem tiefen Glücksgefühl. Die Ewigkeit könnte jetzt beginnen, und ich wäre damit zufrieden. In solch gehobener Stimmung setze ich die Reise fort. Spuren anderer Fahrzeuge kreuzen meinen Weg oder laufen parallel dazu, stille Zeugen motorisierten Lebens in der Sahara. Nach einer Weile wird die schmale Piste durch unregelmäßig gesetzte Steinhäufchen erkennbar. Bis zum Abend wird die Strecke zur Auberge geschafft sein. Obwohl ich früher als geplant unterwegs bin, drängt mich ein unbestimmtes Gefühl zur vorzeitigen Rückkehr.
Offenkundig habe ich zu lange in die Wüste gestarrt, denn ohne Überleitung bricht die Dunkelheit herein. Die Häufchen aus Steinen, von vorsorglichen Menschen am Rande der Piste aufgebaut, werden stetig größer und leiten mich sicher. Im Licht der Scheinwerfer erreiche ich endlich das breite Band der Wellblechpiste, die an der Auberge vorbeiführt. Der leistungsstarke Motor des Landrovers lässt zügiges Tempo zu. Bald sehe ich am Horizont die Lichtstrahlen des Hauses der Mouloudjis. Kurz vor der Abzweigung in den Weg zum Ziel queren drei Gazellen gemütlich die Straße. Ich fühle mich verhöhnt, denn hier, in dieser Gegend, dürfte es sie eigentlich gar nicht geben. Im Haus hat man mein Kommen schon längst gehört und gesehen. Wie von Geisterhand öffnet sich das Tor der Einfahrt, François winkt freundlich, was mir ein Gefühl des Geborgenseins in einer Familie gibt. Im weiträumigen Hof parkt ein grau lackierter Toyota, ein Auto der algerischen Polizei. Die Anwesenheit solcher Beamten, weit entfernt jeder Zivilisation, löst stets Unbehagen aus. Ich stelle den Motor ab, lösche die Lichter und steige aus. François schließt das Tor und kommt schnellen Schrittes auf mich zu. Nach einer herzlichen Begrüßung deutet er mit einer Kopfbewegung in Richtung des Toyotas und erzählt, die Polizisten seien wegen mir hier. Sie sind schon gestern frühmorgens aufgetaucht und wollten unbedingt auf mich warten. Damit erklärt sich ebenfalls der nicht gewöhnliche Aufwand an Licht im und um das Haus. Merde, denke ich, was wollen sie von mir, dass sie sogar bereit sind, Tage ihrer Zeit zu opfern?
Obwohl keiner Schuld bewusst, betrete ich mit mulmigem Gefühl die Gaststube. Da sitzen alte Bekannte bei einem Kaffee. Es sind drei der Polizisten, die vor einigen Wochen hier waren. Sie sind diesmal erstaunlich freundlich, der Anführer erhebt sich und reicht mir die Hand. Der Offizier trägt eine adrette Uniform, ein Überbleibsel aus der französischen Zeit Algeriens. Es gab Überfälle in seinem Distrikt, meint er, weshalb er die Pflicht habe, mit mir darüber zu reden. Michelle begrüßt mich mit einer kurzen, demonstrativen Umarmung. Angewandter Mutterinstinkt: „Tut ihm nichts, sonst habt ihr es mit mir zu tun.“ Der Polizeioffizier und ich setzen uns an einen Tisch. Er bekommt eine Tasse Kaffee hingestellt, die Wirtin bringt mir augenzwinkernd einen Whisky mit Eis. Er erkundigt sich nach meinem Aufenthalt der letzten Tage und, fast beiläufig, ob die Waffe noch zu meiner Ausrüstung gehört. Ich bitte Françoise, das Gewehr aus dem Landrover zu holen. Währenddem erzähle ich dem Algerier, etwas ausgeschmückt, von den Erlebnissen der vergangenen Tage. Wichtigtuerisch betrachtet er die Waffe, klappt sie auf, um sicherzustellen, dass sie ungeladen ist. Zufrieden mit dem Ergebnis seiner Inspektion gibt er sie mir wieder zurück. Meinem Schutzengel der volle Dank für das Pech bei der Gazellenjagd. Wäre ich mit Beute heimgekommen, hätte das peinlich werden können. Algerien hat verschiedene Gebiete zu Reservaten erklärt, deren Grenzen oft schwer erkennbar sind. Der großzügig bemessene Whisky wirkt, die Augen brennen vor Müdigkeit. Beruhigt über den Ausgang des Gesprächs verabschiede ich mich allgemein und strebe meinem Turmgemach entgegen. Oben angekommen versperre ich vorsorglich die Türe, stelle das Gewehr in die Ecke. Angezogen falle ich aufs Bett und schlafe sofort ein.
Arabische Laute, die vom unteren Stockwerk heraufklingen, holen mich aus tiefem Schlaf. Kurz darauf höre ich das Polizeiauto, das geräuschvoll abfährt. Jetzt aber duschen und frühstücken. Das Wasser hat in der Nacht beachtliche Kälte gespeichert, weshalb ich mich nur notdürftig wasche. Mit frischer Kleidung am provisorisch gewaschenen Körper steige ich in die Gaststube hinunter. Der Frühstücksplatz ist wie gewohnt vorbereitet. Ich rücke den Stuhl hörbar zurecht, um meine Anwesenheit anzukündigen. Aus der Küche klingen klappernde Geräusche und die Stimme Michelles, die fragend meinen Namen ruft. Dank ihrer arabischen Abstammung, kann sie den Anfangsbuchstaben „H“, von Herbert aussprechen, was bei François, dem gebürtigen Franzosen, stets wie “ärbär“ klingt. Ich antworte mit einem gerufenen oui und Guten Morgen. Sie erscheint mit einem voll beladenen Tablett. Obwohl ich kein großer Frühstücker bin, freue ich mich diesmal darauf. Sie hat sicher geahnt, dass ich heute mehr Appetit habe als sonst. denn es ist üppig, was sie mir da auf den Tisch stellt. Sie schenkt den Tee in die Tasse und meint dabei: ils font la guerre en Europe. Ja, sie sagt es tatsächlich so: Sie machen Krieg in Europa! Da diese Idee nach so vielen Jahrzehnten Frieden derart absurd ist, denke ich zuerst an einen Scherz. Oder möchte sie mir damit andeuten, dass ich doch lieber hier in der Wüste bleiben soll? Sie bestätigt es aber nochmals und erzählt mir Details. Russland fiel mit einer Übermacht in die Ukraine ein. Doch diese wehrt sich mit Unterstützung des Westens. Jetzt erklärt sich der unvorhergesehene Besuch der Polizei. Die angeblichen Überfälle waren nur ein Vorwand. Ich kann und mag es nicht glauben, dass es im einundzwanzigsten Jahrhundert zivilisierte Menschen gibt, die einen dritten Weltkrieg heraufbeschwören. Dessen ungeachtet steht mein Entschluss fest, mich nach dem opulenten Frühstück konzentriert dem Schreiben zu widmen. Dennoch spuken die beunruhigende Gedanken im Hinterkopf herum.
An diesem Abend frage ich um die Erlaubnis, mit fernsehen zu dürfen. In dem Raum, in dem sich das Fernsehgerät befindet stehen zwei Lehnsessel, fast unverrückbar schwer aus massivem Holz gefertigt. Man findet diese gleich aussehenden, mit weichen Polstern ausgelegten Möbelstücke überall in Afrika. Die breiten Armlehnen wären ideal zum Abstellen von Gläsern geeignet, wenn sie nicht schräg nach hinten zur Lehne steil abfielen. Die Szene ist gespenstisch. Ich sitze, bequem angelehnt, in der Hand ein Glas mit Pastis, worin die frischen Eiswürfel knackend in Stücke springen. Ein Ambiente des Wohlfühlens. Die Fernsehbilder zeigen eine andere Realität, die brutale Zerstörung und das Leid des Krieges. Kaum siebenhundert Kilometer von Wien entfernt, das ist in etwa die Fahrtstrecke von Wien nach Berlin, töten Menschen auf Geheiß von Politikern andere Menschen zu Tausenden. Jeden Abend treffen wir uns jetzt zu den Nachrichten. Täglich zeigen die Bilder brutale Zerstörungen, Leid und Gewalt. Stunden- und tagelang in moderigen Kellern ausharren, am näherkommenden Geräusch der explodierenden Bomben die Entfernung abschätzen. Ich habe es selbst erlebt. Es war qualvoll, bei Treffern in der Nachbarschaft im flackernden Licht der nackten Glühbirne den durch die undichten Türen eindringenden Staub einzuatmen. Das alles ist in Europa wieder eingekehrt. Von den Leuten einer Generation verursacht, die das Glück hatten, in eine siebenundsiebzig Jahre dauernde Zeit des Wohlstands durch prosperierende Wirtschaft geboren worden zu sein. Sie lebten in dem Luxus, den ihre Eltern oder Großeltern aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs geschaffen hatten. Ähnlich wie die Covid-Pandemie erschüttert dieser Krieg alle Länder dieser Erde und wir sehen voraussichtlich großen globalen Veränderungen entgegen.
Diese Gedanken beschäftigen mich so ausschließlich, dass ein konzentriertes Weiterschreiben nicht mehr möglich scheint. Dann fällt mein Entschluss, hier abzubrechen und nach Hause zu fahren. Der fehlende Schluss des ersten Teiles der Zeitgeister kann daheim geschrieben werden. Ich setze meine Entscheidung umgehend in die Tat um. Der Abschied von Michelle und François gestaltet sich etwas sentimental, doch der Hinweis auf die Länge der zurückzulegenden Strecke, lässt weitere emotionale Peinlichkeiten nicht aufkommen. Die Fahrt wird zehn Tage dauern und ich verspreche, mich sofort nach meiner Ankunft in Wien zu melden.

König Aho, Herrscher über das Volk der Fon in Dahomey, blickte nach den gesanglichen Darbietungen eines Teiles seines Harems, stolz in die Runde. Wir kannten uns nicht so recht aus, ob Applaus angebracht wäre, immerhin ist ein König kein Kabarettist. Doch Mackie rettete die Situation, indem er sich mit höflichen Worten bedankte. Es war erstaunlich, dass Aho, dieser weitgereiste Mann, der alles über Europa und die Welt wusste, der die etwas veralteten Zeitungen las, sobald sie hier in Abomey eintrafen, war gleichzeitig ein aktiver Anhänger der Geisterwelt. Kurz vor Mitternacht erhob sich Aho abrupt. Er werde jetzt zu seinem Bruder, dem berühmtesten Fetischpriester des Landes fahren. Der würde in ein paar Stunden DAN, die große Regenbogenschlange befragen, wann sie zu essen gedenkt, somit Opfer annimmt. Ob wir mitkommen wollen? Spontan stimmten wir zu. Ich hatte Sorgen, denn der Akkumulator war durch die vergangenen Aufnahmen fast leer. Standesgemäß besaß der König eine blitzsaubere Peugeot 203- Limousine.
Er wartete, bis wir unser Gefährt beladen und bestiegen hatten. Aho fuhr nicht selbst, aber ließ seinen Fahrer forsches Tempo halten. Damit wir den Vordermann nicht verloren, brachte ich die 28 PS des IFA bis an ihre Grenzen. Mehrmals musste der König warten, bis wir ihn einholten. Irgendwann einmal waren die Hecklichter seines Wagens nicht mehr zu sehen. Im Lichte unserer völlig verstellten Scheinwerfer tastete ich mich weiter, bis wir das Staatsgefährt wieder sahen. Oft stellten sich uns nachtaktive Tiere in den Weg, die zu umfahren mir knapp gelang. Bei einer Abzweigung hatte er gewartet, fuhr aber sofort los, als unsere Lichter für ihn zu sehen waren. Glücklicherweise fanden wir in der Dunkelheit die richtige Weggabelung.
Auf einer Lichtung vor uns brannten die Feuer eines kleinen Dorfes. Dort stand der Wagen des Königs. Er war umgeben von einer großen Menschenmenge, die sich bei unserem Näherkommen teilte. Aho hatte im Auto auf uns gewartet. Sein Sinn für dramatische Effekte war recht ausgeprägt, denn er wollte uns das Schauspiel seines Aussteigens bieten. Der Wagenschlag öffnete sich und wir hörten ein gewaltiges Rauschen. Es waren die Boubous, die bodenlangen Gewänder der Umstehenden. Wie von einem Orkan hingestreckt, fielen hunderte Menschen im Umkreis in sich zusammen. Das ergab eine gespenstische Szene. Der Herrscher stand aufrecht inmitten einer sich auf dem Boden windenden Masse. Niemand erhob sich. Ein Mann, geschätzte vierzig Jahre alt, kroch durch die Liegenden auf den König zu. Er erweckte einen muskulösen und gedrungenen Eindruck. Es war der Bruder Ahos, der große Medizinmann. Kniend küsste er dem Herrscher die Hand. Es schien aber Unstimmigkeiten zu geben. Es gab Rede und Widerrede, bis Aho’s Stimme lauter wurde. Seine Worte klangen wie ein Befehl. Er wandte sich uns zu und berichtete kurz, dass wir jetzt die Erlaubnis hätten, am Fest teilzunehmen. Hier war er König. Der große allmächtige Herrscher, dessen Wille für alle Gesetz war. Unvorstellbar, dass er in Abomey in seinem Palast Hof hielt, aber jeder französische Beamte durfte ihm diktieren, was erlaubt ist. Seit Jahrzehnten bemühte sich die Kolonialmacht Frankreich vergeblich, Maßnahmen und Neuerungen durchzudrücken. Vor allem im Gesundheitssystem und agrarpolitisch. Überall stießen sie auf unüberwindliche Schwierigkeiten, die dann letztlich dazu führten, dass man laufen ließ, wie es eben läuft. Ein einziger Wink mit dem kleinen Finger von diesem König, und der Dschungel lag ihm zu Füssen. Die Franzosen nahmen an, dem Monarchen alle Machtbefugnisse genommen zu haben. Hier sahen wir das Volk vor ihrem wirklichen Herrscher liegen, obwohl sein Reich seit einem Jahrhundert nicht mehr bestand. Es war vermutlich seiner politischen Klugheit und seiner internationalen Erfahrung zu verdanken, dass Dahomey vor den blutigen Aufständen verschont geblieben war, die andere Kolonien erschütterten.
Wir hatten uns mit Aho auf dem Dorfplatz niedergelassen. Kopezky fotografierte und ich schleppte meine etwa sechzig Kilo an Geräten herbei. In einer Ecke des Platzes stand, etwas erhöht, der Fetisch. Diese Figur war wie der Klosterfetisch von getrocknetem Blut überkrustet, ihre ursprüngliche Form ließ sich nur erahnen. Immer mehr Menschen kamen aus dem Busch. Die vom aufgewirbelten Staub gesättigte Luft durchströmte der nur Afrikanern eigene Schweißgeruch. Ich habe diesen ausschließlich in Afrika bemerkt. Ein Phänomen, das durch die spezifische Ernährung der Schwarzen zu entstehen schien. Er wirkte keineswegs unangenehm, gehörte zum Ambiente. Nach kurzer Wartezeit erschien der Feticheur, umringt von Gehilfen. Ohne uns nur eines Blickes zu würdigen, schritt er vor den Fetisch und ließ sich nieder. Sofort verstummte in der versammelten Menge jedes Gespräch, gespannte Ruhe kehrte ein. Unterstützt von seinem Gefolge murmelte er Beschwörungsformeln und stellte ein hölzernes Tablett vor sich auf den Boden. Er griff in die Tasche seines Gewandes und holte drei Kolanüsse heraus. Unter weiteren Beschwörungen brach er die Nüsse an deren Nähten auseinander, hielt sie einen Augenblick über seinen Kopf und ließ sie dann zusammen auf das Brett fallen. Tief beugte er sich darüber, murmelnd betrachtete er das Tablett, um gleich bedächtig aufzustehen. Er übergoss den Fetisch mit Palmöl aus einer Kalebassel, wandte sich ab, ohne die Menge auch nur zu beachten. Zielstrebig ging er zu einer erhöhten Stelle, von wo er zu der atemlos lauschenden Menge sprach. Es waren nur einige Worte, doch die Wirkung war gewaltig. Ein Freudengeheul brach aus, die Menschen und gebärdeten sich wie eine Schar glücklicher Kinder. Er hat ihnen mitgeteilt, dass Dan, die große Regenbogenschlange zufrieden sei und demnächst zu essen wünsche. Der Bann war gebrochen, die Spannung entlud sich in fröhlicher Ekstase.
Diese Orakelzeremonie, die wir Europäer ausnahmsweise beobachten durften, diente dazu, die Wudu nicht zu erzürnen. Das ist das Wort für Geister. Kam uns bekannt vor. Das klang doch so ähnlich wie Voodoo? Ja, diese zwei Kulte sind miteinander verwandt. Die Sklaven, die von Westafrika nach Südamerika gebracht wurden, haben die Rituale mitgenommen und dort wieder aufleben lassen. Ebenso stammen die grundlegenden Rhythmen der afrobrasilianischen Musik von hier. Der Priester kehrte zurück, hinter ihm drei weitere Männer in gleichen Gewändern, die Unterpriester. Sie waren beauftragt, die Gebete zu unterstützen, welche eine Gruppe Frauen sangen. Normal sind es elf Strophen, doch das Orakel hat diesmal einundvierzig verlangt. Nur äußerst selten werden alle gesungen, ein ausgesprochener Glücksfall für uns.
In dem Wissen, eine fast leer gefahrene Batterie zu haben, fuhr ich den Umformer hoch und schaltete das Tonbandgerät ein. Es gelang mir, schnell das Mikrofon an einem geeigneten Platz aufzustellen, da erklang schon der erste Gesang. Der Frequenzmesser zeigte stabil 50 Hertz, das Instrument zur Aussteuerung der Tonaufnahme, ein magisches Auge, flackerte grün, das Band drehte sich, zumindest der Anfang dieser einzigartigen Aufführung war gesichert. Eingekrampft und in Schweiß gebadet starrte ich ausschließlich auf die Messinstrumente, um bei einem etwaigen Abfall der Spannung gleich zu reagieren. Ich hatte zwar Kopfhörer auf, war aber so auf die Technik konzentriert, dass ich akustisch faktisch nichts wahrnahm. Unvermittelt hielt das Band an, das Leuchten der Anzeige erlosch, der Umformer schwieg …. die Batterie war leer. Mein ohnehin nicht ungeheuer ausgeprägtes Selbstbewusstsein schmolz mit dem Sterben der Autobatterie dahin. Geschockt und wie paralysiert kniete ich vor den jetzt nutzlosen Geräten. Bis mir Mackie auf die Schulter klopfte und fragte, was ich denn hier weiterhin machen wolle, die Gesänge seien schon lange vorbei. Das war natürlich übertrieben, aber ich hatte alle Strophen auf Band und dankte den Geistern, vielleicht DAN selbst, für die unwirkliche Kapazitätssteigerung der Batterie.
Inzwischen wurden die Feuer neu geschürt. Übermannshohe Flammen schossen empor und tauchten die umliegenden Hütten in lebendiges, flackerndes Licht. Der König hatte in seinem Auto Kognak und Gläser mitgebracht. Zwei seiner Diener, oder waren es Prinzen, brachten sie zu uns und schenkten ein. An einer Feuerstelle versammelten sich die Musiker, die Tamtamiers. Mit bemerkenswerter Hingabe und rhythmischer Präzision bearbeiteten sie ihre umgedrehten Kalebassen und Trommeln. Mit gemischten Gefühlen, weil ungewohnt untätig, hörte ich der Musik zu. Es war ein intensives Erlebnis, da ich mich erstmals voll auf Rhythmus und Klang dieser natürlichen Instrumente konzentrieren konnte, ohne Ablenkung durch die Aufnahmetechnik. Auf dem gesamten Platz wurde getanzt, Männer wie Frauen, selbst Kinder waren dabei. Wir verbrachten noch eine Zeit lang im Dorf, während der unsere Gläser, sobald sie leer waren, stets mit Kognak nachgefüllt wurden. Aber da uns zuschauen alleine nicht genügte, baten wir Aho, nach Hause fahren zu dürfen. Er bot uns sein Geleit an und wir folgten ihm. Vor Tagesanbruch erreichte der kleine Konvoi Abomey. Im Campement schloss ich die komplett leere Batterie ans Ladegerät an, dann kroch ich, wie die anderen vor mir, in meinen Schlafsack und schlief etliche Stunden.
Am kommenden Tag gab es einen herzlichen Abschied von seiner Majestät König Justin Aho, Chef de Canton von Abomey. Nochmals wiederholte er seine Einladung und Nochmals wiederholte er seine Einladung und er nahm uns das Versprechen ab, dass wir bei einer neuerlichen Expedition unbedingt auf einen Sprung vorbeikommen werden. Joko erhielt zum Abschied eine Flasche Cognac überreicht, über die er vor Freude außer sich geriet. Vorsichtshalber nahmen wir sie ihm sofort ab, um sie bis zu seiner Großjährigkeit zu verwalten.
Nur 130 Kilometer trennten uns von den Gestaden des Atlantiks. Nichts hielt uns mehr. Nach zwei Tagen erreichten wir Cotonou. Es war Nacht, als wir die ersten Wellen erblickten. Der Geruch des Meeres, die Sterne, die sich in den dunklen Wellen spiegelten, setzten unaussprechliche Gefühle in jedem von uns frei. Achteinhalb Monate Arbeit und Strapazen haben wir hinter uns gebracht. Wenig bekleidet rannten wir zum Wasser. Es war genauso warm wie die uns umgebende Lufttemperatur. Dessen ungeachtet planschten wir lange darin, wie vergnügte Kinder. Unsere Luftmatratzen lagen eng beieinander, die Regelmäßigkeit der Brandung rauschte uns in glücklichen Schlaf. Am Morgen brachen wir zeitig auf, da sich, zwar in respektvollem Abstand, Neugierige um uns versammelt hatten. Schwere graue Wolken lagen über Meer und Strand. Die große Regenzeit hielt sich eben nicht strikt an den gregorianischen Kalender. Bei extrem hoher Luftfeuchtigkeit und tropischer Temperatur fuhren wir in das Stadtgebiet. Beim Erreichen des Zentrums klebte die vom Schweiß getränkte Kleidung am Körper. Der französische Automechaniker in Niamey hatte eine Adresse in Cotonou angegeben, wohin er unsere Sachen schicken wollte. Nach einigen Irrfahrten fanden wir das Haus. Da die Straßen asphaltiert waren, wagten wir es, den IFA zusätzlich mit Gepäck zu beladen. Er tat zwar wie ein Kamel seinen Unmut darüber kund, indem er in seinen strapazierten Blattfedern ächzte, aber er schluckte brav die hinzugekommene Last.
Mehrfach haben wir an Häusern der Vororte Nischen und kleine Vorbauten mit Figuren darin gesehen. Nicht erlahmender Forschergeist drängte uns, diese zu untersuchen. Was wir fanden, war höchst erstaunlich. Offensichtlich waren es Fruchtbarkeitsfetische. Menschenfiguren stellten den Zeugungsvorgang und die dazugehörenden Präliminarien beachtenswert eindeutig, ideenreich und in vielen möglichen Varianten dar.

Hier genauer nachzufragen wäre sicherlich unterhaltsam und möglicherweise aufschlussreich gewesen. Doch unsere Vorfreude auf die Heimfahrt und die nachfolgende, längst geplante Expedition verdrängte alle weiteren beruflichen Ambitionen. So fuhren wir gegen Westen, der Grenze zum englischen Kolonialgebiet Goldküste entgegen. Der Zustand der Straßen war erfreulich und unser Wagen, der nach der Schinderei in Wüste, Busch und Urwald wieder Asphalt unter seinen Sohlen merkte, zeigte sich von seiner bestgelaunten Seite.
Unsere Ernährung während der Strecke von Abomey bis zur Küste bestand ausschließlich aus Fleisch und wenigen Früchten. Letztere hatten wir in den Trockengebieten des Niger und im nördlichen Dahomey merklich vermisst. Hier aber vertilgten wir Kokosnüsse, Ananas und Wassermelonen in solchen Mengen, dass Eingeborene bedenklich die Köpfe schüttelten. Über lange Strecken der Fahrt an der Küste entlang herrschte Schweigen im IFA. Langsam wurden uns die Erlebnisse und das Ausmaß dessen, was wir geleistet haben, bewusst. Fünfzigtausend Meter bespieltes Tonband schleppten wir mit und Tausende Fotos. Ausreichend Material, um das Phonogrammarchiv der Akademie der Wissenschaften, die Universität und das Museum für Völkerkunde über längere Zeit damit zu beschäftigen. Jetzt bereuten wir es, dass niemand daran gedacht hatte, eine Filmkamera mitzunehmen. Die intensiven Vorbereitungen und Organisationsarbeiten, sowie der Zeitaufwand zum Beschaffen von Geräten für die Tonaufnahmen, hatten mich voll ausgelastet. Da kam Film überhaupt nicht infrage. Jetzt, am Ende der Expedition, waren wir zwar gescheiter, aber auch ohne professioneller Filmkamera zufrieden. Wir waren in höchstem Maße müde, dennoch ein bisschen stolz auf unser Kollektiv.
Am Meer entlang, auf gepflegtem Asphalt, ging es zügig nach Westen. Durch die ehemals deutsche Kolonie Togo und deren Hauptstadt Lomé zum Übergang in die britisch dominierte Goldküste. An der Grenze, nur wenige Kilometer nach der Stadt, wurden wir äußerst liebenswürdig empfangen. Unser Eintreffen war, wie üblich, telegrafisch angekündigt worden, und der französische Posten verabschiedete uns freundlich. Eingetroffen auf der anderen Seite grinste der schwarze Zöllner so lange, bis er die Gewehre sah. Jetzt wurde er amtlich und nahm eine Haltung ein, die Autorität vermitteln sollte. Für die Einfuhr von Waffen bedürfe es einer Erlaubnis aus Accra, erklärte er. Alle Versuche, ihm klarzumachen, dass wir nur durchfahren und es international üblich wäre, ohne Aufwand die Gewehre in das Carnet einzutragen, prallten an seiner Wichtigkeit ab. Dem gewohnten, eher jovialen Umgang der französischen Kolonialbeamten standen hier angelsächsische Disziplin und Sturheit gegenüber. Nur wenige Meter trennten uns vom blauweißroten Zollhaus. Die Regierung und alle offizielle Macht der Goldküste lagen in den Händen von Ureinwohnern der Goldküste. So war es ebenfalls mit dem Zoll.
Einen derart konsequenten Widerspruch gegen das Verlangen eines Europäers gab es in den von Franzosen verwalteten Gebieten nicht. Wir erwarteten und hofften, dass jede Sekunde der weiße Chef des Postens auftauchen müsse, mit dem man normal und logisch sprechen könne. Einen solchen gab es aber nicht. Die Debatte lief sich heiß. Wir hatten Glück, denn zufällig war ein Beamter der britischen Kolonialbehörden anwesend. Unter der Oberhoheit der Afrikaner führten Engländer die Administration dort weiter, wo sie wegen ihrer Erfahrung in Schlüsselpositionen gebraucht wurden. Wir erklärten ihm die Situation und er sprach mit dem Zöllner. Daraufhin trug dieser die Waffen mit allen Nummern und Merkmalen in das Carnet ein. Das beanspruchte ihn so umfänglich, dass er vergaß, die Visa zu verlangen. Ein wenig Glück gehört zu so einer Expedition dazu, denn wir hatten keine.
Das zügige Tempo auf ungewohnt glattem Asphalt ließ etliche Meilen vor Accra einem Reifen die Luft ausgehen. Kaum war der Radwechsel geschafft, zeigte sich ein weiterer Pneu mit ihm solidarisch und wurde ebenfalls platt. Da keine Reserve mehr da war, auf die wir zurückgreifen hätten können, entlud sich die aufkeimende Erbitterung über Mackie. Zu Recht, denn er hatte sich in Abomey in einem Anfall übertriebener Sparsamkeit geweigert, einen Reservereifen zu kaufen. Vielleicht war es auch sein absolutes Unverständnis Technik gegenüber. Max stellte sich missmutig an den Urwaldrand und hielt den nächsten Wagen an, der uns passierte. Es war ein luxuriöser Amerikaner, der ihn bis Accra mitnahm. Voll Neid sahen wir hinterher. Der freundliche Fahrer war der Neffe des Finanzministers der Goldküste, und Mackie begeisterte ihn auf der vierstündigen Fahrt in die Hauptstadt für unsere Arbeit. Dies bescherte dem Forscher eine Zeit üppigster afrikanischer Gastfreundschaft. Zwei Tage brauchte Max, in denen er auserlesenen Mahlzeiten und ebensolchem Trinken eifrig zusprach, bis er mit einem neuen Pneu wieder auftauchte. Wir hatten eben das Essen für den Abend fertig, aber Max lehnte freundlich dankend ab. Wir bissen in die gewohnten Sardinenbrote, die so hart waren, dass wir um unsere Zähne bangten. Selbst Joko küsste Max andauernd und schlief dann Nase an Nase mit ihm ein, sorglich umhüllt von der Whiskyfahne des Expeditionsleiters.
Gegen Mittag fuhren wir in die Hauptstadt ein. Die Wellblechhütten der Slums hinter uns lassend, war esplötzlich wie auf einem Filmset in Hollywood. Die Stadt Accra präsentierte sich als getreues Abbild einer Goldgräberstadt aus dem wilden Westen Amerikas. Mit ihren „Saloons“, den Fassaden aus Holzplanken und Balken zum Anbinden von Pferden, fehlte nur John Wayne, der mit rauchenden Colts durch die Pendeltüren trat. Störend an diesem Idyll war nur die gedrängte Menge von amerikanischen Straßenkreuzern. Im geschundenen IFA-Zweitakter knatterten wir, die Sechs- und Achtzylinder um uns nicht beachtend, durch das Wohnviertel. Zartblaue, nach verbranntem Öl riechende blaue Wölkchen hinterlassend, näherten wir uns dem Zentrum der Stadt. Mackie kannte sich hier aus und lotste die Expedition zu einem Hotel, das uns wie aus einem Traum erschien. Ein in weiße Livree gezwängter eifriger Boy eilte herbei und versuchte mit aller Entschlossenheit, den verzogenen Wagenschlag zu öffnen. Verzweifelt zog er an der Schnalle, erst kräftiger Druck von innen brachte den gewünschten Erfolg. Eher unvorteilhaft gekleidet und eindeutig nach Dschungel riechend, entstiegen wir dem Fahrzeug. Für einen Moment erstarb die dezente Unterhaltung der Gäste auf der Terrasse. Herren im Tropensmoking und Damen in tief dekolletierten Kleidern saßen im kühlen Schatten perfekt gepflegter Urwaldgewächse, in ihren Rohrstühlen, und starrten.
Es war ein Auftritt, wie ihn weiland Attila nicht besser hätte erleben können. Doch unbeeindruckt schob sich unsere überzeugend verdreckte Kompanie an den Erstarrten vorbei ins weiße Gebäude. Die Formalitäten an der Rezeption wurden kurzerhand vertagt. Der Geschäftsführer verschwand durch eine Seitentür, während die Dame hinter dem Tresen uns die Zimmerschlüssel mit spitzen Fingern reichte und sich dann sofort bis an die Wand zurückzog. Der Boy draußen stand verzweifelt vor dem Berg an unansehnlichem Gepäck.
In den jeweiligen Zimmern angekommen, widmeten wir uns sofort intensiver Körperpflege und kleideten uns so sauber wie möglich aus den von Niamey nachgesandten Koffern. Der Besuch beim hauseigenen Hairdresser bescherte uns eine Einheitsfrisur, die uns wie Brüder erscheinen ließ. Mackie, der Expeditionsleiter, hob sich durch seinen knallroten Bart von uns ab, ein Markenzeichen, das ihm keiner streitig machen konnte. Am Nachmittag verließen wir das Hotel, frisch gebügelt und geschniegelt, und begaben uns auf einen Anstandsbesuch zum österreichischen Honorarkonsul. Nach reiflicher Überlegung legten wir die kurze Strecke zu Fuß zurück. Mit unserem Auto konnte man nirgends mehr vorfahren. Der Der Herr Konsul empfing uns mit größter Herzlichkeit. Die Einladung zum Dinner konnten wir demnach nicht ausschlagen.

Der Koch des aus Londonderry gebürtigen Konsuls zauberte ein Festmahl, das uns die Freudentränen in die Augen trieb. Mag sein, dass Mackies gepflegter roter Bart ausschlaggebend für dieses Festessen war. Lange hatten wir nicht mehr so vorzüglich gespeist. Es wurde ein harmonischer Abend, in dessen Verlauf die Sprache auf unsere Weiterfahrt kam. Der Herr Konsul, er war hauptberuflich Geschäftsmann, wusste von einem Frachtschiff, das demnächst mit Waren nach Hamburg ablegen würde. Am nächsten Morgen nahm sein Büro Kontakt mit dem Kapitän der „Lucy Essberger“ auf. Die Verhandlungen verliefen zu unseren Gunsten, und bald stand fest, dass wir zu einem überaus vorteilhaften Preis mitfahren konnten. Wir bezahlten diesen aus der von IFA überwiesenen Reisekasse. Nach Abzug der Hotelkosten blieben uns noch stolze vierzig englische Pfund, eine Summe, die angesichts unserer bisherigen Abenteuer fast nach Reichtum klang. Das Schiff sollte in zwei Tagen ablegen. Um Hotelkosten zu sparen, schifften wir uns umgehend ein.
Es war ein erhebender Augenblick, als unsere 27 PS afrikanischen Boden verließen. Von kräftigen Gurten gehalten und von einem Kran vorsichtig gehoben, schwebte der Kombi in die Höhe und wurde sicher an Deck des Frachters vertäut. Ein letzter Gruß an die afrikanische Erde, und schon bezogen wir unsere geräumigen, für jeweils zwei Personen vorgesehenen Kajüten. Das Schiff war für die Mitnahme von Passagieren eingerichtet. Die Zivilisation hat uns wieder. Die Stille der Nächte in der Wüste, im Busch und im Urwald schien plötzlich unendlich fern. Stattdessen begleiteten uns nun das Brummen von Motoren und das gleichmäßige Summen der Lüftungen, die in einem großen Schiff nie ganz verstummen. Erinnerungen an meine erste Hochseeschifffahrt stiegen hoch.
Kaum an Bord, begann Mackie zu husten und sich unglücklicherweise auch zu übergeben. Bei einem schnell arrangierten Arztbesuch in der Stadt diagnostizierte man Gelbsucht. Zusätzlich war bei ihm die Malariaprobe positiv ausgefallen. Ich selbst hatte mit einer schmerzhaften Stirnhöhlenentzündung zu kämpfen, während Kopezky ebenfalls unter gesundheitlichen Problemen litt. Nur Jean-Pierre, von uns liebevoll Schani genannt, zeigte keinerlei Krankheitssymptome. Mit dem Verlassen des Hafens besserten sich die Symptome der Patienten schlagartig. Vielleicht war es die frische Seeluft oder die Aussicht auf die baldige Heimkehr. Die täglichen Mahlzeiten nahmen wir in Gesellschaft des Kapitäns und seiner Offiziere ein und unterhielten sie mit den abenteuerlichsten Anekdoten der Expedition. Wir taten unser Möglichstes, um die Schiffsvorräte zu reduzieren. Eine akute Zunahme des Lebendgewichtes aller Expeditionsteilnehmer im Verlauf der vierzehntägigen Reise war deshalb nicht zu übersehen.
Ohne jeglichen Zwischenfall, als wäre er zufrieden, wieder Europas Straßen unter seinen Rädern zu haben, brachte der treue IFA F9 die Expedition an die heimatliche Grenze. Durch halb Deutschland ging die Fahrt, da wir das Queren der vom Osten beherrschten Gebieten aus zolltechnischen Gründen meiden mussten. Erwartungsvoll freuten wir uns darauf, heimzukommen. Doch die Herzlichkeit der österreichischen Zöllner war bei unserem Anblick eher zurückhaltend. Während sich meine drei Mitstreiter im Zollgebäude um gute Stimmung und eine schnelle Abfertigung bemühten, hütete ich im Auto sitzend das Gepäck. Nicht nur dieses. Auch Joko, unser äffischer Begleiter musste stillgehalten und neugierigen Blicken verbogen werden. Da wir keine Beruhigungsmittel in der Apotheke mitführten, wickelte ich den erstaunlich geduldigen kleinen Kerl fest in eine Decke. Kein Laut kam von ihm, als ich das Paket mit den Füßen auf dem Boden des Autos fixierte. Dieser war mit verschiedenen Muscheln und getrockneten Seesternen übersät, die wir bei unseren Besuchen am Meer gesammelt hatten. Ein am heruntergelassenen Fenster vorbeigehender Zollbeamter entdeckte diese Sammlung und zeigte sich überaus interessiert. Er sei ein Liebhaber dieser Dinge und würde gerne eines davon näher betrachten. Höflich erlaubte ich ihm, sich etwas auszusuchen. In der Angst, Joko dadurch an die veterinärdienstliche Stelle des Zollamtes abgeben zu müssen, drückte ich fester auf das Paket unter meinen Füssen. Der Zöllner beugte sich durchs Fenster und begann im Wirrwarr der Meerestiere nach einem besonderen Exemplar zu suchen. Doch da kam aus der gerollten Decke eine winzige, rosa Hand und umklammerte seinen Zeigefinger. Jetzt ist es geschehen, der versuchte Schmuggel war aufgeflogen! Zu meinem Erstaunen und meiner Erleichterung, reagierte der Zollbeamte nicht empört, sondern begeistert. Ich befreite Joko aus seinem Gefängnis, der sich sofort an die Uniform des Beamten klammerte und freundlich grinste. Nach dem Austausch verschiedener Zärtlichkeiten zwischen den beiden, wurde mir Joko mit herzlichem Lachen zurückgegeben.
Am 8. September 1956 erreichten wir ausgeruht, gut genährt und voller Pläne Wien. Der Abschluss einer Reise, die uns nicht nur die Welt, sondern ebenso uns selbst ein Stück nähergebracht hatte.
Schon am 13. September dieses Jahres erschien im „NEUEN KURIER“ ein Artikel über diese erste größere erfolgreiche österreichische Expedition nach dem Kriegsende. Unter dem reißerischen Titel „Wir sind Tiroler Fetischmänner“ wurden unsere Erlebnisse journalistisch aufbereitet. Auch der „Stern“ ließ es sich nicht nehmen, gleich drei Ausgaben mit unseren Erlebnissen und Fotos als Titelstory zu bringen.

Das erarbeitete Material wurde unverzüglich bei den wissenschaftlichen Institutionen abgeliefert, die es mit sichtlicher Zufriedenheit entgegennahmen, allen voran das Phonogrammarchiv der Akademie der Wissenschaften, das den Löwenanteil erhielt. Eine Pause gönnten wir uns nicht. Umgehend begannen wir mit den Vorbereitungen für unser nächstes Abenteuer: Eine Expedition, die uns über eine Zeit von annähernd zwei Jahren durch die anglophonen und frankophonen Länder des afrikanischen Kontinents führen sollte. Doch darüber, einer weiteren Expedition und meine Jahrzehnte beim Film, werde ich in einem zweiten Teil der „Zeitgeister“ berichten.
(Die Musikaufnahmen zu diesem Kapitel sind im Katalog des Phonogrammarchivs der Akademie der Wissenschaften zu finden)