Die aufgehende Sonne schickt rotgoldene Strahlen durch die Fenster meines Zimmers in der Auberge de Soleil. Vor sechs Wochen und einigen Tagen hatte ich voll Vorfreude und Zuversicht Wien verlassen. Doch heute erwache ich mit Hoffnungslosigkeit und Zweifel, ungewöhnlich für mein sonst recht positiv eingestelltes Gemüt. Ich zögere aus dem Bett zu steigen. Gedanken an die erdrückende Anzahl der weiterhin zu beschreibenden Jahrzehnte dieses Lebens bedrängen mich und türmen sich wie unüberwindliche Gebirge vor mir auf. Ungeordnetes Geschehen, Abenteuer und Erfahrungen von vielen Jahren tauchen aus vernebelter Vergangenheit auf, werden deutlicher und drängen sich vor und verlangen von mir als wichtigste Ereignisse wahrgenommen zu werden. Wie in einem klebrigen Spinnennetz verfange ich mich in dem Berg der Erinnerungen. Das Chaos der Eindrücke aus zahlreichen bereisten Ländern, Namen, Expeditionen, Filmproduktionen, verlassenen Geliebten und Neuanfängen, sowie von glückhaften Anerkennungen, schmerzlichen Misserfolgen und Enttäuschungen, versuche ich mit Gewalt im Kopf zu ordnen. Die dadurch entstehende Verwirrung führt zu totaler Lähmung. Das giftige Ungetüm des Scheiterns in greifbarer Nähe fühlend, bin ich bereit aufzugeben.
Der stets konkreter werdende Entschluss, dieses Experiment zur schriftlichen Vergangenheitsbewältigung endgültig abzubrechen, steht jetzt fest. Gründlich überlegt, bilde ich mir ein. Um diese Entscheidung den liebenswerten Wirtsleuten mitzuteilen, steige ich nach kurzer Morgentoilette hinunter in den Gastraum. Michelle hat, es war die gewohnte Zeit, mein Kommen erahnt und das Frühstück vorbereitet. François ordnet Gläser in den hohen Geschirrschrank ein und wünscht mir über die Schulter hinweg freundlich einen guten Morgen. Die übliche Antwort darauf scheint nicht der erwarteten gewohnten Norm auszufallen, denn er dreht sich um und sieht mich erstaunt an. Seine Frage nach meinem Befinden wische ich mit einer Handbewegung weg. Er schließt die Schranktüren sorgfältig und kommt auf den Tisch zu, an dem ich das Frühstück erwarte. Die Hemmungen, ihn von der bevorstehenden Abreise zu informieren, werden immer stärker. Vermutlich haben sich in der Zeit des Aufenthaltes unauffällig eine Art Freundschaft und Vertrauen zwischen uns aufgebaut. Der Mann ist kaum zwei Jahre älter, hat gewiss weniger von der Welt gesehen, aber die aus seinem Leben gewonnenen Erfahrungen sicher besser verarbeitet.
Trotzdem teile ich ihm meine unumstößliche Entscheidung mit, den Ort hier verlassen und unverrichteter Dinge heimzukehren. Spontan meint er, dass diese Idee Scheiße sei. Ja, genau so sagt er es. Doch in französischer Sprache klingt das anders, denn „merde“ lässt da wesentlich mehr Deutungen zu, als übelriechende Exkremente. Seine Reaktion ist verständlich, weil es ist mir zur Gewohnheit geworden, den Wirtsleuten regelmäßig über die Themen zu berichten, die ich im Moment bearbeite. Dennoch bleibe ich bei meiner Absicht. Kopfschüttelnd steht er auf und schlurft in die Küche. Nach einigen Minuten bringt er den Frühstückstee und setzt sich zu mir an den Tisch. Ich esse und trinke schweigend. Er sitzt locker im Stuhl zurückgelehnt und sagt ebenso nichts. Über längere Zeit. Seine Frage, ob ich immer so schnell aufgäbe, unterbricht die Stille. Bingo! Peinlich berührt antworte ich nicht sofort. Also nein, aber eher oft. Gründe für solch vorzeitige Kapitulationen gibt es ausreichend. Zum Beispiel Situationen falsch einzuschätzen, Richtiges zu spät zu erkennen, oder in Entwicklung befindliche visionäre Vorhaben vor deren endgültiger Reife aus Ungeduld abzubrechen. Ebenso verführt mangelndes Selbstvertrauen dazu, gut gemeinte Ratschläge zu befolgen, die zum Verlassen des eigenen Weges verleiten und damit die selbst gesteckten Ziele zu verfehlen. Das sind Umstände, die in der Vergangenheit oft anhaltende Selbstvorwürfe, sowie finanziellen Schaden brachten. Andererseits, beruhige ich mein Gewissen, gab es genauso objektiv zum Scheitern verurteilte Unternehmungen, die von mir gerettet wurden..
Nicht abweichend von dem festen Vorsatz, das Schreiben abzubrechen und heimzufahren, berichte ich von einigen Erfahrungen mit Niederlagen. Er ist ein angenehmer Zuhörer. Eine Erzählpause im Lauf meiner Klagen nützend, erzählt er von seinen eigenen Fehlschlägen und Triumphen. Wie von Engelshand geleitet erscheint Michelle mit einer Flasche gekühltem algerischen Chardonnay und zwei Gläsern, die sie lächelnd vor uns auf den Tisch stellt. Indem sie einschenkt, fragt sie, ob ich zu Mittag bei einem Stück Gazellenbraten dabei wäre. Eine derartige Einladung kann man unmöglich ablehnen!!
Meine Hoffnung auf Themenwechsel nach dieser Unterbrechung erfüllt sich nicht. Er lässt nicht locker. François verlangt eine Erklärung, woraus dieser plötzliche Sinneswandel entstanden ist. Ich will ihm nicht die ganze Wahrheit mitteilen und erzähle irgendeinen Schwachsinn. Die Gläser werden frisch gefüllt, und wir wünschen einander Gesundheit. Während er mit theatralischer Gebärde sein Weinglas auf den Tisch zurückstellt, meint er apodiktisch, ich dürfe keinesfalls zu schreiben aufhören. Hinterhältig fügt er hinzu, diese Rückblicke seien der beste Weg zur Selbsterkenntnis und jetzt zu kneifen kann bedeuten, dass sich mir nie mehr eine solche Chance böte. Wieder zwei Treffer. Je länger wir so offen miteinander reden, desto schwächer wird mein Widerstand. Mittlerweile sehen wir davon ab, ausschließlich über uns zu sprechen. Der Targi Akamouk wird zum Thema. Er fehlt hier und wir stellen fest, dass dieser wüstenerfahrene Mann für unser Verständnis des Lebens in der Sahara eine bedeutende Hilfe ist.
Michelle deckt am Nebentisch für das Mittagessen, aus der Küche strömen betörende Gerüche in den Gästeraum. Ob die Herren bereit wären? Aber sicher, denn gebratene Gazelle ist ein willkommener Grund für die Unterbrechung. Diese hochintelligente Nordafrikanerin scheint meinen Entschluss doch zu bleiben am Stimmungswechsel erkannt zu haben und prophezeit eine weitere Mahlzeit aus der von der Jagd heimgebrachten Gazelle für die folgenden Tage. Die Sonne steht im Zenit und brennt auf das Dach des Hauses. In der Gaststube wird es ordentlich heiß. François wirft deshalb die Deckenventilatoren an, die mit ihren langen Flügeln grade ausreichend Luft bewegen, um die schweißnasse Haut durch Verdunstung zu kühlen. Es ist mir bewusst, dass er das ausschließlich für mein Wohlbefinden macht. Ok, ich bleibe ja hier! Es wundert mich, woher Michelle die Mangos gezaubert hat, die sie zur Nachspeise kredenzt. Nach diesem fulminanten Essen ziehen sich alle zu wohlverdienter Siesta zurück. Ich finde keine Ruhe, denn meine Gedanken sind schon beim nächsten Kapitel der „Zeitgeister“:

Père Ubu („Übü“ gesprochen) Humber 4×4 Heavy Utility
Die erste Etappe der Expedition nach Westafrika führte uns auf der Bundesstraße 1 (in Österreich gab es zu dieser Zeit noch keine Autobahnen) von Wien in Richtung Westen. Die Reiseroute war über Salzburg – München – Straßburg bis Marseille geplant. Mehr als zweitausend Kilometer lagen vor uns. Von dort wollten wir die Fähre nach Algier nehmen, so wie ich es bei meiner ersten Afrikareise ausgekundschaftet und durchgezogen hatte. Die Plätze und das fixe Datum für die Überfahrt waren vorsorglich in Wien gebucht worden. Man wollte ja nichts dem Zufall überlassen. Der bewegte Abschied von den Herren Wollmarker und Feichtinger, Besitzer und Pächter des „Rondell“, gestaltete sich nicht nur bewegend, sondern auch lukrativ, sechs Flaschen Cognac fanden ihren Weg in unser Reiseproviant. Mit einem Hauch von Abenteuerlust und dem Bewusstsein für die ernsten Aufgaben, die vor uns lagen, kletterten wir frohgemut in das Expeditionsfahrzeug, einen Humber, den wir liebevoll „Père Ubu“ nannten. In Amstetten war der Benzintank fast leer und es wurde das erste Mal getankt. Wir schrieben von dort an unseren Kassenwart Walter eine Postkarte mit der erfreulichen Botschaft, dass der Humber nur 19,5 Liter Benzin auf hundert Kilometer braucht. Für seine sechs Zylinder unter der Motorhaube sowie der deutlichen Überladung, kein so schlechtes Ergebnis.
Kurz vor Salzburg hielt uns ein querstehender LKW auf schneeglatter Straße auf. Eingedenk unseres Termins in Marseille verlangte ich Père Ubu die erste Probe seiner Geländefähigkeit ab. Trotz der unüberhörbaren Proteste der anwesenden Gendarmeriebeamten verließen wir die Straße und umfuhren die Unfallstelle über den holperigen, tief verschneiten angrenzenden Acker. Der Allradantrieb pflügte zuverlässig durch den meterhohen Schnee, und wir waren heilfroh über die britische Ingenieurskunst. Ohne Schwierigkeiten passierten wir frech die Zollstationen am Walserberg nach Deutschland.
Wie wegen seiner sandfarbenen Lackierung zutreffend angenommen, war unser Humber ein tropentaugliches Geländefahrzeug aus britischen Armeebeständen. Er hatte weder eine wirksame Heizung, noch eine geeignete Belüftung der Windschutzscheiben von innen. Père Ubu zeigte sich in der winterlichen Kälte wenig kompromissbereit. Durch unseren Atem liefen die Scheiben dauernd an und vereisten. Um die Straße vor uns zu erkennen, waren wir über eine Strecke von etwa zwanzig Kilometern gezwungen, mit hochgeklappten Frontscheiben zu fahren. Die Gesichtsfarbe der drei Insassen schwankte zwischen dunkelrot und violett. Die erste der liebevoll gespendeten Flaschen Cognac half uns nicht nur, diese eisige Zumutung zu überstehen, sondern darüber hinaus deren unverzichtbaren Platz in unserem Überlebenskit.
Nach längerer Nachtfahrt gönnten wir uns eine Stunde Aufenthalt in München. Ein schnelles Frühstück, und wir verließen um neun Uhr die Stadt, nicht bevor Jean-Pierre Brüssel dreimal telefonisch zu erreichen suchte. Kurz vor Leipheim überholte uns mehrmals ein Mercedes 170 D und blieb dann wieder hinter uns. Es hatte den Anschein, dass er mit uns reden will. Der Fahrer dieses Fahrzeugs brachte es fertig, den Expeditionswagen auf einem Parkplatz der Autobahn zum Halten zu bringen. Ein heftig gestikulierendes Männchen mit Pelzmütze, die dem Aussehen nach aus Sibirien stammte. Er versuchte uns davon zu überzeugen, dass so ein Unternehmen erst durch seine Teilnahme an Wert gewinnen würde. Vermutlich hat er bei dem Aufenthalt in München die nicht zu übersehende Beschriftung unseres Wagens gelesen. Das Repertoire des Herrn Nikolaus Muttar (Moutarde) Helmhausen war reichhaltig. Die drei Expeditionsteilnehmer bekamen neben einer mit großer Geste überreichten Flasche Tokajer eine richtige Kabarettvorstellung zu sehen, in der er die Vorzüge seiner Person darstellte. Das Rezept, wie man aus einem zehn Karat schweren Diamanten einen mit fünfzehn macht, war ihm leider nicht zu entreißen. Bewegt nahmen wir Abschied. Die anschließenden Lachkrämpfe verursachten etwas Unordnung im Wagen, sodass wir bei der Raststation Leipheim einen Stopp einlegten.
Père Ubu parkte im Lichte der Tanksäulen. Ein anderes Auto mit Wiener Kennzeichen hielt zum Tanken gleich daneben. Unvermittelt verschwand unser Jean-Pierre in die Dunkelheit. Er machte die wichtige Erfahrung, dass Toiletten günstige Verstecke vor urplötzlich und unvermutet in Deutschland auftauchenden Gläubigern bilden. In Ulm wärmten wir uns mit heißer Suppe und frisch gekauftem Brot, indes Jean-Pierre erneut versuchte, Brüssel telefonisch zu erreichen, um In Ulm wärmten wir uns mit heißer Suppe und frisch gekauftem Brot, während Jean-Pierre erneut versuchte Brüssel telefonisch zu erreichen, um mit seiner Frau zu telefonieren. Auf der Weiterfahrt erzählte Mackie, dass Feichtinger von ihm verlangt habe, mich in Wien zurückzulassen, damit ich weiter Jazzkonzerte im Rondell organisiere. Eine wenig subtile Strategie, denn dieser Mann hatte durch meine Veranstaltung recht anständig Geld verdient, aber offenbar vergessen, dass er mich bei den Eintrittskarten heftig betrogen hatte.
Kurz vor Rottenmann meldete sich Père Ubu mit Verdauungsproblemen, seine Benzinleitung war verstopft.Mit einer ordentlichen Portion Luftdruck befreiten wir seinen „Darm“ und setzten unsere Reise fort. Spät am Abend passierten wir bei Kehl die Grenze nach Frankreich. Dank einer Mappe voller Unterstützungsschreiben verlief der Zoll erstaunlich reibungslos.. Selbst die mitgeführten Jagdwaffen sorgten für keine schweißtreibenden Diskussionen. Trotz gebotener Sparsamkeit beschlossen wir in Straßburg, Hotelbetten statt der Autopolsterung unsere durchfrorenen Knochen anzuvertrauen. Jean-Pierre versuchte wiederholt, mit Brüssel zu telefonieren. Er schlief mit Max im Ehebett, ich ungestört am Boden zu ihren Füßen auf meiner Luftmatratze.
Hustend und niesend erhoben wir uns am nächsten Morgen. Jean-Pierre unternahm erneut heldenhafte Versuche, seine Ehe via Hotelleitung zu retten. Kurz vor Colmar genossen wir unser erstes gemeinsames Campingessen auf der heruntergeklappten Autorückwand. Gulasch- und Reisfleischkonserven aus Inzersdorf wurden ohne Rücksichtnahme auf etwaige Geschmacksirritationen vermischt und mit Appetit verspeist. In Besançon genehmigten wir uns den ersten Drink auf französischem Boden, dieweil Jean-Pierre, der arme Kerl, nochmals seine Frau zu erreichen suchte. Stunden später in Dijon, warteten wir vor dem Postamt erneut geduldig, bis der Belgier weitere erfolglose Anstrengungen, mit Brüssel zu kommunizieren getätigt hatte. In dem ihm eigenen unnachahmlichen Kauderwelsch aus belgischem Französisch und wienerischem Deutsch, vermeinte er „im Pischerle“ zu spüren, dass dies der letzte Versuch gewesen sei, die Scheidung zu vermeiden. Mitfühlend nahmen wir jeder einen kräftigen Schluck aus der nächsten Cognacflasche und fuhren bei stürmischen Regen bis etwa zweihundert Kilometer vor Marseille. Das Unwetter war so heftig, dass wir beschlossen, dessen Besserung im schützenden Auto abzuwarten und schliefen bis Tagesanbruch.
In zügiger Fahrt erreichten wir endlich diese faszinierende Hafenstadt. Wir begaben uns auf Hotelsuche. Direkt am Hafen, im „Terminus des Portes“ fanden wir ein preisich günstiges Zimmer im fünften Stock, zwangsläufig ohne Aufzug. Da für die Überführung nach Algerien aus Gewichtsgründen das Auto vollkommen leer zu sein hatte, hob sich der Vorteil des geringen Mietpreises mit dem zweimaligen Transport des gesamten Equipments die Treppen hinauf und am nächsten Tag hinunter wieder auf. Max und Jean-Pierre mussten dringend zum Zollamt, sowie zu diversen anderen Behörden und zur Schiffsagentur. Sie sahen sich durch ihr grundlegendes Beherrschen der französischen Sprache dazu legitimiert, damit das sportliche Treppensteigen dem Benjamin der Gruppe überlassend. Im Laufe meiner Arbeit, den Wagen zu entladen und mehrmals mit schwerem Gepäck die Stiegen zu erklimmen, reifte in mir die Erkenntnis, dass das Erlernen von Fremdsprachen Muskelkater vermeiden hilft.
Beim Besuch im Zollbüro lernten Max und Jean-Pierre einen Monsieur Maissu kennen und, da es just Mittagszeit war, luden sie ihn zu einem opulenten Dienstessen ein. Mit Erfolg. Hinterher lief alles reibungslos, bis auf die Einfuhr der Waffen. Herr Maissu, seines Zeichens Zollinspektor, beseitigte souverän diese Hürde mit einer Unterschrift auf einem Formular. Père Ubu wurde für die Überfahrt präpariert, der Tank fast komplett geleert und das Gewicht auf 2.400 Kilo reduziert, das waren 100 Kilo unter der für die Überfuhr erlaubten Höchstgrenze von 2.500 Kilo. So wurde er am Hafen abgegeben. Die umfangreiche Expeditionsausrüstung wurde kreativ als „Diplomatengut“ deklariert und so ebenfalls an Bord gebracht. Nach diesem turbulenten Tag schliefen wir tief den Schlaf der Gerechten. Sollte uns die Sache mit den 700 Kilo unbezahltem Übergepäck ein schlechtes Gewissen bereiten? Nicht wirklich. Schließlich diente alles einem höheren Zweck, unserer Expedition.
Es war der vierundzwanzigsten Dezember und der Tag begann zeitig morgens mit Packen. Wieder ergaben die Gewehre am Zoll, diesmal bei der Ausfuhr, Schwierigkeiten. Doch der allgegenwärtige Monsieur Maissu, unser Retter in allen Zollfragen, wischte dieses Problem mit einer Handbewegung vom Tisch. Das Gepäck wurde in der vierten Klasse der „Ville de Alger“ verstaut. Nach längeren Verhandlungen sah sich der verwunderte Mackie dazu gezwungen, statt einen, zwei dunkelhäutige Gepäckträger zu bezahlen. Ich hielt mich aus dem Streit weitgehend heraus und versuchte, einen möglichst unbeteiligten Eindruck zu vermitteln, waren doch meine Kenntnisse der französischen Sprache nur marginal. Dennoch beeindruckte mich die arabische Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft zutiefst. Denn direkt aufgedrängt hatten sich die freundlichen Burschen, um die umfangreiche Ausrüstung für mich schleppen zu dürfen!
Bevor die Fähre bei bedecktem Himmel pünktlich um 12 Uhr Mittag vom Peer ablegte, tranken wir mit Monsieur Maissu einen letzten, ausführlichen Aperitif im Café du Port. An Bord schlug ein Steward vor, uns für FFr (französische Franc) 2.000,– in die Touristenklasse zu schmuggeln. Nur zu gerne verließen wir das lichtlose, übelriechende Unterdeck über die Durchreiche des Buffets. Sie war der einzig mögliche Fluchtweg, denn Passagieren der vierten Klasse war es verboten, das unterste Deck auf normalem Weg zu verlassen. Es herrschte am Schiff zwischen den jeweiligen Decks strenge Apartheid. Schwitzend aber dankbar schleppten wir Teile des umfangreichen Hab und Guts in eine komfortable Kabine mit Bullauge und vier Betten. Allerdings fielen wir beim anschließenden Mittagsessen mit fünf Gängen durch unsere auf die vierte Klasse abgestimmte Kleidung auf. Dem Herrn Expeditionsleiter wurde bei der Hauptspeise des fünfgängigen Menüs schlecht, da ihn der Gedanke überfiel, die Summe vom FFr 2.000,– könnte womöglich nicht für alle gemeinsam zu bezahlen sein. Die später stattfindende Verrechnung mit dem Stewart bestätigte seinen Verdacht. 6.000,00 FFr wechselten zum Matrosen. Die Frage, wie wir diese Ausgabe unserem streng budgetierten Kassenwart Walter Eder erklären sollten, blieb vorerst ungelöst.
Nach einem kurzen Spaziergang am Deck, die Luft hatte im Verhältnis zu Mitteleuropa recht angenehme mediterrane Temperaturen aufzuweisen, wurde bis zur Dämmerung geschlafen. Gestärkt erschienen drei sauber geduschte und gekleidete Expeditionsteilnehmer zum Dinner im Speisesaal. Wir waren uns der Verantwortung unserem Heimatland gegenüber bewusst und fühlten uns als einzige Österreicher hier am Schiff dazu verpflichtet, korrekt aufzutreten. Dem gerecht werdend leerten sich die diskret aufgestellten Weinflaschen mit der Geschwindigkeit, die den an den Flaschenhälsen angeschriebenen zollfreien Preisen entsprach. Jean-Pierre, in düsterer Stimmung über die ihm sicher erscheinende Trennung von seiner Gattin, organisierte und bezahlte einen Rundgang durch sämtliche Bars des Schiffes. Er allein besaß Privatvermögen. Wir nannten ihn ab da zärtlich und zeitsparend ausschließlich „Schani“.
Die Schiffsleitung lud zu einer Filmvorführung im Speisesaal, aber Mackie kam erst eine Viertelstunde nach Beginn an. Es konnte nach der Vorstellung nicht gänzlich geklärt werden, ob sein schwankender Gang im Korridor dem Seegang, oder inzwischen eingenommenem Hochprozentigem zugeschrieben werden sollte. Nebenbei verschwand auf mysteriöse Weise eine weitere unserer Cognacflaschen, die man uns in Wien geschenkt hatte. Es war der Heilige Abend und ich zog mich in den am Deck vertäuten Père Ubu zurück. Das Mittelmeer um das Schiff herum in der Dunkelheit erahnend, hörte ich über Kurzwelle deutschsprachige Weihnachtslieder. Bald fand man mich dort, und der Weihnachtsabend wurde in gemeinsamem Einverständnis mit der übriggebliebenen Flasche Cognac bis in die Morgenstunden würdig beendet. Zu diesem letzten Schluck haben wir zwei aus San Francisco zurückgekehrte Algerier eingeladen. Sie waren sieben Jahre von zu Hause abwesend gewesen und voll Vertrauen, am Morgen von ihren Bräuten vom Schiff abgeholt zu werden. Ihre Erwartungen waren euphorisch, unsere eher skeptisch.
Es folgten ein paar Stunden tiefen Schlafs auf wahrscheinlich ruhiger See. Am Morgen weckte uns die Stille der abgeschalteten Schiffsmotoren. Durch das Bullauge erblickten wir das strahlend weiße Algier im Sonnenlicht. Ich empfand so etwas wie Glück darüber, diese Stadt wiedersehen und afrikanischen Boden nochmals betreten zu dürfen. Sie hat mir bei meinem letzten Aufenthalt so viel Ungewöhnliches geboten, ich wünschte mir, es wird diesmal so ähnlich sein. Das Ausladen und die Zollabfertigung wurden reibungslos erledigt, nur die Gewehre mussten wir abgegeben. Mit einer provisorischen Waffenerlaubnis der Präfektur könnten sie hier wieder abgeholt werden. Mackie hat die afrikanischen Verhältnisse schnell durchschaut und zahlte dem Gepäckträger statt der verlangten FF 2.000,– die Hälfte, wofür er unfreundliche Blicke erntete.
Im frisch beladenen Humber fuhren wir durch die Rue Sadi Carnot zur Auberge de Jeunesse, wo ich bei meinem letzten Aufenthalt bereits als Gast war. Die Mère de l’auberge, die Herbergsmutter, begrüßte mich und meine Freunde herzlich. Die grau melierten Haare unseres Jean-Pierre erstaunten sie unverhohlen. Im Alter von fünfzig Jahren darf man die schon haben, aber in keine Jugendherberge einziehen. Doch zwei Umstände ließen sie diese Tatsache übersehen, sie mochte mich aus nicht erfindlichen Gründen von meinem letzten Aufenthalt, und wurde darüber hinaus vom umwerfenden männlichen Charme und den strahlend hellblauen Augen des Belgiers gefangen. Gemeinsam entluden wir den Wagen. Anschließend fielen die Mitglieder der Expedition auf die ihnen zugewiesenen Stockbetten und kurierten schlafend ihren Kater aus.
Am Nachmittag wurde Père Ubu gesäubert und kleinere Reparaturen vorgenommen. Wir luden einige der fröhlichen Herbergsbewohner in das Auto und starteten eine erste Erkundungsfahrt durch die Stadt. Algier hat sich seit meinem letzten Besuch nicht auffällig verändert. Geschäftigkeit der Einwohner, Straßenverkehr und Sauberkeit waren dieselben geblieben. Selbst die Präsenz von Polizei und Militär hat sich in der Zwischenzeit nicht merklich erhöht. Die Front de Libération Nationale, kurz FLN genannt, fand ihre Hauptunterstützung bei der zu etwa dreißig Prozent analphabetischen Landbevölkerung. Ben Bella, der Gründer der FLN und seine Mitstreiter waren im Exil in Kairo und Tunis und leiteten von dort, unterstützt von der kommunistischen Partei Frankreichs, die Aktionen in Algerien. Ihre Kämpfer nannte man Fellagha, was auf Arabisch übersetzt Räuber heißt. Der gebildetere Mittelstand in den großen Städten wie Algier, Constantine und anfänglich Oran war eher gegen die Trennung von Frankreich. Dort lebten im Einklang mit den Berberstämmigen die „Pied Noir“, so nannte man die in Algerien geborenen Franzosen. In der Hauptstadt Algier, außer in der Altstadt, herrschte durchwegs gespannte Ruhe.
Gegen neun Uhr abends kehrten wir in die Herberge zurück. Um den Kamin der Herberge haben sich Jugendliche aus zehn verschiedenen Nationen zu einer harmonischen Weihnachtsfeier versammelt. Trotz des in der Jugendherberge normal herrschenden Alkoholverbotes gab es reichlich Rotwein, von dem selbst die Chefin des Hauses und ihr Gemahl nippten. War Weihnachten eine Ausnahmesituation oder wirkten wir etwa demoralisierend?
Die folgenden Tage waren geprägt von hektischen Vorbereitungen. Bei der Überprüfung meines Equipments entdeckte ich, dass das von der AKG zur Verfügung gestellte Mikrofon (D 12 Spezial) die strapaziöse Fahrt mechanisch nicht ausgehalten hat. Die auf Metallfedern befestigte Membrane war abgebrochen und flog innerhalb des Gehäuses frei herum. Glücklicherweise konnte die gebrochene Aufhängung durch die Vertretung der Firma in der Stadt repariert werden, und ich bekam darüber hinaus ausreichend Ersatzteile mit. Man kann ja nie wissen. Gemeinsam waren wir auf der Präfektur, um Waffenscheine und um Schanis ausstehende Visa für die Reise in die geplanten Staaten einzureichen. Belgien hatte in Wien keine eigene Vertretung. Ich zeigte meinen Freunden die runde Bar Unic, wo wir zu Mittag speisten. Es war alles unverändert geblieben, lediglich die Bedienung hatte gewechselt. Nach dem Essen folgten Besuche bei einigen Konsulaten, das österreichische war an diesem Tag geschlossen. In der Santé Maritime ließen wir uns gegen Gelbfieber impfen und fuhren anschließend zum Institut Pasteur und wollten die von Wien aus bestellten Schlangenseren für Westafrika abholen. Doch die richtigen Präparate waren immer noch nicht verfügbar. Wenigstens konnten wir beim Zoll unsere Waffen abholen und bei Shell ein 200-Liter-Fass Benzin zu einem reduzierten Preis erstehen.
Als selbstbewusste Besitzer eines in Afrika erprobten Geländewagens wollten wir dessen Allradantrieb ausprobieren und in den Dünen am Meer entlang spazieren fahren. So fuhren wir bei prächtigem Wetter nach Fort de l’Eau, einem Vorort von Algier, zum Strand. Die erste Hürde, ein Stacheldrahtverhau, nahm Ubu in souveräner Manier. Doch nur wenige Meter weiter erhielt unser Vertrauen in britische Fahrzeugtechnik einen harten Stoß. Wie ein Maulwurf grub er sich in den feuchten Sand und wir vermochten, ohne uns auf die Zehenspitzen zu stellen, sein sonst nicht erreichbares Dach umfassend betrachten. Selbst graben mit der mitgebrachten Schaufe, brachte keinen wirklichen Erfolg. In Reichweite wuchsen wild Kakteen aus dem Sand. Wir beschlossen, diese abzuschneiden und wie Sandbretter unter den Rädern zu verwenden. Zwei Einheimische näherten sich neugierig, doch als Max mit entschlossener Miene und einer für die Pflanzen gedachten riesigen Machete aus dem Wagen sprang, suchten sie eilig das Weite. Es dauerte nur einige Minuten, da versammelte sich gefühlt die gesamte Bevölkerung aus dem östlichen Algerien plaudernd und scherzend um den Grabungsort. Darunter zwei Polizisten, die gewissenhaft unsere Personalien aufnahmen. Nach Stunden anstrengender Buddelarbeit, Ubu hatte schon die Tendenz gezigt, komplett im feuchten Meeresstrand zu verschwinden, holten wir einen Traktor. Der zog unseren Geländewagen mithilfe eines langen Drahtseiles wie eine Feder aus dem unwirtlichen Sand. Die Besitzer der Landmaschine, eine einheimische Farmerfamilie, luden uns hinterher zu einem Imbiss ein, den wir nach dieser Anstrengung dringend benötigten und kräftig zusprachen. Wieder in der Herberge angelangt, fielen wir erschöpft und todmüde in unsere Betten. Mein Vertrauen in den Humber war erschüttert. Doch hatte ich gelernt, feuchter Sand ist trotz Allradantrieb grundsätzlich zu vermeiden.
Am nächsten Tag machten wir uns auf den Weg zum Touringclub, um genauere Informationen für unsere geplante Fahrt durch die Sahara zu sammeln. Im Institute Pasteur erhielten wir endlich die fehlenden Schlangenseren und gleich nach dem Abendessen holten wir den Wiener Fußballklub Rapid vom Bahnhof ab. Die prominenten Spieler Robert Dienst, Mittelstürmer, und Robert Körner, Linksaußen, brachten wir ins Hotel „Tourist“. Dabei halfen Jean-Pierre und Mackie tatkräftig als Dolmetscher
Es war der 31. Dezember 1955, Silvester. Kurz vor Mittag brachten wir den Trainer und das Gepäck zum Stadion St. Eugénie. Rapid legte ein packendes Spiel hin und siegte mit 4:3 gegen die Algerier. Zum Abendessen fanden wir uns mit dem bekannten Stürmer Robert Dienst in der Auberge de Jeunesse ein. Für lächerliche 350 FFr pro Person gab es ein Menü, das wir mit drei Flaschen Rotwein auf Rapids Sieg krönten, und großzügig weitere drei für die übrige Herbergsrunde spendierten. Nachdem die geleert waren, schliefen alle Mitbewohner selig ein. Wir brachten Dienst in sein Hotel, worauf Mackie und ich nach alter Strohkoffertradition eine Stadtrundfahrt antraten, um den Jahreswechsel in reizvollerer Umgebung zu feiern. Wir landten in einer Bar, in der wir mit Champagner das neue Jahr begrüßten. Doch die Nacht sollte eine Anekdote für die Ewigkeit bereithalten: Max wollte unsere Rechnung begleichen, doch die Pistole in seiner Brusttasche hinderte ihn daran, an die Brieftasche zu kommen. Zu meinem entsetzten Erstaunen knallte er die Radom 9 mm vor sich auf die Bartheke und griff nochmals in das Sakko zum Geld. Schreckensbleich verhinderte das der Barmixer, indem er meinte, die konsumierten Getränke gingen selbstverständlich auf die Rechnung des Hauses!
Wieder in der Herberge angekommen, wollte Mackie der Herbergsmutter diese Episode anschaulich erzählen. Leider geriet seine Präsentation mit der Waffe in der Hand eher einschüchternd als illustrativ. Die arme Frau stieß einen entsetzten Schrei aus, und Mackie musste die Erzählung sofort abbrechen. Er erklärte die Szene nur kurz, und wir zogen uns schuldbewusst, aber zufrieden, in unsere Stockbetten zurück. So begann 1956 für uns, mit Champagner, Waffenshow und einer erstaunlich nachsichtigen Herbergsmutter.
Madame Foubert war beim österreichischen Konsulat angestellt und europäischer Kultur höchst verbunden. Wir haben ihr im Auftrag der Fremdenverkehrswerbung in Wien Plakate und von uns Blumen mitgebracht, was zu einer Einladung in ihr Haus führte. Nach einem wegen der herrschenden kompromisslosen Etikette etwas anstrengendem Essen hörten wir eine Beethovensymphonie, eingespielt von den Wiener Philharmonikern unter dem Dirigat von Karl Böhm, zu dem meine Familie verwandtschaftliche Beziehungen pflegte. Wenn ich mich recht erinnere, war es die Fünfte mit dem Ta-ta-ta-taa. Dann stiegen wir mit unseren Gastgebern für eine Spazierfahrt in den Père Ubu. Es waren steile Wege im nahegelegenen Wald zu überwinden. Zurück kamen wir nur knapp an einem Unfall vorbei, dessen mögliches katastrophales Ausmaß aber nur ich, der den Wagen steuerte, erfasst hatte. Bergab waren die Bremsen total ausgefallen. Mit Hilfe von Hand- sowie Motorbremse doch glücklich am Haus der Fouberts angekommen, schüttete ich zwei Eimer kalten Wassers über die glühenden Bremsklötze, und sie funktionierten wieder. Nach Anhörung des vierten Brandenburgischen von Schallplatte verabschiedeten wir uns, nicht ohne eine Einladung zu einem weiteren Musikabend bei den Fouberts erhalten zu haben. Anschließend fuhren wir direkt zu unseren Freunden vom Sportklub Rapid und feierten mit den Fußballern ausgiebig und übermütig Abschied.
Bei meiner ersten Reise nach Nordafrika hatte ich zwei in der Herberge wohnende Mädchen kennengelernt, Saleka, die Sonja gerufen wurde, und Salima. Sie wohnten dort, weil die eine in der nahe gelegenen Universität einem Studium nachging, die andere ein paar Straßen weiter in einem Büro arbeitete. Die waren beide noch immer da. Sie luden uns zu ihren Eltern auf ein Essen ein, deren herzliche Gastfreundschaft wir dann über den gesamten langen Aufenthalt in Algier ausgiebig beanspruchten. Wir waren diesen ersten Abend bei der Familie Halali, das war allen Ernstes ihr Name, und wohnten in einem großen Haus, der „Villa Polo“ in Pointe Pescade am Rande von Algier. Sie nannten ein Weingut in Mascara ihr Eigen. Außer den beiden Eltern gab es die Töchter, die vorhin erwähnten Saleka, Rachida und die Jüngste, Salima. Alle drei waren ausnehmend reizvolle und bildschöne Geschöpfe. An Söhnen gab es Benamar, Larbi und Boualem. Ich hatte das Tonbandgerät und einige Tonbänder mit Jazz und Mitschnitten von Sendungen des Popsenders Ö3 mitgebracht, was die Stimmung gleich von Beginn an locker gestaltete. Vornehmlich das Band mit einer Stunde Sidney Bechet fand Anklang. Den Titel „Les Onions“ musste ich immer wieder abspielen, und das bei jedem Besuch. Selbst wenn das Erklingen der ersten Töne von diesem Band bei mir allergische Reaktionen auslöste, es war mein kleines persönliches Dankeschön für die bezaubernde Gastfreundschaft dieser algerischen Familie. Prompt verliebte ich mich so nebenbei in Rachida, die sich durch einen leichten Pigmentfehler, zart gelbliche Hautfärbung und blondes Haar von den anderen berberstämmigen Familienmitgliedern unterschied und dazu außergewöhnlich attraktiv und intelligent war. Leider blieb meine Liebe konstant unerwidert.
In diesem Hause lernte ich die beste Zubereitung für die Nationalspeise kennen, das Couscous – Royal. Da sich das Essen, wie bei arabischer Gastfreundschaft üblich, beträchtlich in die Länge zog, standen wir bei der Heimkehr um Mitternacht vor fest verschlossenen Türen. Die Herbergsmutter war rigoros in der Durchsetzung der Regel, um 22:00 Uhr das Eingangstor abzusperren. Mein Versuch, ein Fenster zwecks Einstiegs von außen zu öffnen, endete mit einem Absturz in einen zwei Meter tiefen ausbetonierten Graben, den ich mit leichter Gehirnerschütterung überlebte. Wir beschlossen, notgedrungen im Auto zu schlafen. Daraufhin kletterten wir und die drei mit uns ausgesperrten Töchter Halali wieder in den Père Ubu und fuhren in das Stadtzentrum, weil es dort sicherer war. Zu sechst übernachteten wir im ausreichend geräumigen Humber.
Nach elf Tagen in Algier traf endlich die Besatzung des IFA F9 ein, der zweite Teil der Expedition mit Walter Eder und Hans Kopezky. Wir wohnten alle gemeinsam in der Jugendherberge, dieser wegen des Durchschnittsalters der Expeditionsteilnehmer den ursprünglichen Sinn eines Quartiers für Jugendliche nehmend. Nach einer schnell angerührten Instantsuppe von Inzersdorfer berichtete Hans mit schauriger Theatralik von seiner bisherigen Reiseverpflegung: gigantische Brotschnitten, jede mit exakt zwei Ölsardinen belegt. Eine kulinarische Ödnis, die unser Kassenwart für ausreichend hielt und vehemnt vertreidigte. Uns schwante Schlimmes für die Zukunft. Walter brachte mir Grüße meiner Eltern, und die dringende Bitte von Feichtinger, ob ich nicht doch ein zweites Jazzkonzert im Rondell veranstalten könne. Es hieß, er würde sich erkenntlich zeigen, wie auch immer das gemeint war.
Unser unfreiwillig verlängerter Aufenthalt in Algier setzte uns täglich mehr zu. Es gab zwar eine Menge administrativer Arbeit zu erledigen, aber unserer Hauptaufgabe, phonetische Dokumentationen in Westafrika zu erarbeiten, konnten wir hier nicht nachgehen. Deshalb wurde das Hauptaugenmerk auf Fotoreportagen verlegt. Wir waren glücklich über die nahrhaften Verbindungen zu den Fouberts und Halalis, die unser Reisebudget erheblich entlasteten. Bei einem weiteren Besuch im Touringclub lernten wir zwei eben in Algier angekommene Reisende im besten Mannesalter kennen. Sie kamen aus Köln und glaubten ernsthaft, in ihrem Volkswagencabriolet Afrika entdecken zu können. Ihr rheinischer Humor und die Einladung auf eine Runde Bier machten Ernst Beding und Hermann Bartscherer sofort zu Ehrenmitgliedern unserer Expedition. Daraufhin liierten wir uns mit den Kölnern und sie zogen zu uns in die Herberge, damit den Altersdurchschnitt der Herbergsbewohner weiter hinaufsetzend. Als waschechte Kölner, sprachen sie den gleichen liebenswerten Dialekt wie der unvergleichliche Willy Millowitsch und brachten ebenso dessen Humor mit.
Nachmittags traf die inzwischen zu einer illustren Gruppe von sieben Personen angewachsene Gruppe auf Larbi Halali und alle fuhren miteinander auf einen vergnüglichen Abend zum Haus seiner Eltern. Dort servierte man uns wieder das legendäre Couscous. Neben der milden Sauce für unsere mitteleuropäischen Gaumen gab es eine scharfe Variante, die sicher direkt aus den tiefsten Kreisen der Hölle stammte, die man nur wie ein Gewürz mit ersterer vermischt genießen vermochte. Die Farbe und Konsistenz waren zum Verwechseln ähnlich. Der Zufall wollte es, dass die Schüssel mit der pikanten, scheinbar aus reinem Capsaicin zubereiteten Soße vor den Plätzen der zwei Deutschen landete. Aufmerksam unserem Beispiel folgend, nahmen sie davon genau die gleiche Menge auf ihre Teller, wie wir von der milden Sauce. Nach den ersten Bissen und extremen Schweißausbrüchen erklärten wir den beiden besorgt, dass sie das unbedingt aufessen müssten, denn sonst würden sie die arabische Gastfreundschaft verletzen. Was äußerst unangenehme Folgen haben könnte! Diese Unterweisung akzeptierten sie bedenkenlos, letztendlich waren wir erfahrene Afrikaner! Unter den bewundernden Blicken der Halalis würgten die beiden die schmerzhafte Speise hinunter, bis sich Yamina, die Hausfrau, ihrer erbarmte und ihnen die milde Soße anbot. Nach einigen kühlenden Bieren wurden sie wieder lebendig. Nach dem Essen fuhren die Deutschen, sie hatten inzwischen von uns den Spitznamen „die Teutonen“ erhalten, mit Walter und Hans in die Herberge, wir Anderen durften in dem gastfreundlichen Haus übernachten. Da die Heimschläfer zu spät kamen und vor verschlossenen Türen standen, versuchten sie durch ein Fenster einzusteigen. Nachdem es Ernst, er war von etwas korpulenter Statur, eben geschafft hatte, bis zur Hälfte einzudringen, wurde er von der resoluten Mère-aub, die zufällig dort auftauchte, wieder nach außen gestoßen. Mit dem ihnen eigenen typischen Kölner Humor wurde die Sache letztendlich friedlich geklärt.
Um sieben Uhr morgens des nächsten Tages erschien ein Belgier in der Herberge, der angeblich als Tierfänger arbeitete. Er wollte sich unserer Expedition anschließen und bot 100.000 FFr für seinen Platz an. Walter bekam bei Nennung dieser Summe verträumte Augen und kalkulierte innerlich gleich die Platzaufteilung in den Autos. Doch er vertröstete ihn mit einer Entscheidung auf einen anderen Tag, sobald wieder alle Expeditionsteilnehmer versammelt sein werden.
Im Laufe der Stunde, in der ich mit Max und Hans im Studio von Radio Algier zu einem Interview war, rammte ein LKW unseren „Père Ubu“. Eine umständliche Aufnahme des Unfalls durch die Polizei folgte, bevor wir die Erlaubnis zum Wegfahren erhielten. Später drängte ich zu einem Besuch des Museums „Le Bardo“, weil ich mir dort weitere Anregungen für Musikaufnahmen erwartete. Mein Bekannter mit dem unaussprechlichen Namen war nicht mehr da. Ob er der „französischen Doktrin“ zum Opfer gefallen war? Wir erhielten eine Empfehlung an den arabischen Sender in Algier, zu einem Monsieur Saphir, wo ich endlich meine eigentliche Arbeit aufnehmen konnte. Da die mir zur Verfügung stehende Ausrüstung mit einem Mikrofon für Orchesteraufnahmen nicht ausreichend war, bekam ich die Erlaubnis einige Einspielungen von den Bändern des Senders zu kopieren. Hier im Studio war der Klang dieser Musik aus den entsprechenden Lautsprechern nicht mit dem der quäkenden Radios der Märkte zu vergleichen. Während sich zu jener Zeit die europäischen und amerikanischen Tonstudios mit nach Blechdosen klingenden Hallplatten zur Verschönerung ihrer Aufnahmen quälten, waren diese Musikstücke in einen unvergleichlich natürlichen Halleffekt gebettet. Sie klangen wie in einem gotischen Dom aufgenommen. Leider vergaß ich, nach der Herkunft dieses beeindruckenden Sounds zu fragen. Ein Versäumnis, das mich bis heute ärgert.
Arabische Musik (Musique andalouse)

Mich wunderte, warum diese Sinfonien „andalusisch“ genannt wurden. Professeur Saphir war ein profunder Kenner der klassischen arabischen Musik und nahm sich Zeit für Erklärungen. Es würde den Rahmen hier sprengen, alle Informationen anzuführen. Doch bemerkenswert ist die Tatsache, dass diese Musikrichtung, die ihren Ursprung im Spanien des 14. Jahrhunderts hat, mit der Vertreibung der Mauren aus Europa nach Afrika gekommen ist. Aus diesem reichen Erbe arabischer Kultur hat sich in Andalusien der Flamenco entwickelt. Ein faszinierendes Beispiel dafür, wie Geschichte und Musik ineinanderfließen.
Gesang aus Algerien (Musique andalouse)
Der Hebel der Lenkradschaltung des IFA brach, als Makie bei einem Schaltversuch zu beherzt zupackte. Walter und ich fuhren daraufhin in die Stadt, um einen brauchbaren Ersatz zu besorgen und gleich einzubauen. Kurz nach dieser Reparatur machte uns das nächste Fahrzeug zu schaffen. Beim Anfahren vor dem Rathaus mitten im Stadtzentrum brach die linke Hinterachse des Humber. Zufällig kam der VW-Käfer mit Hermann aus Köln, Max und Jean-Pierre vorbei. Hermann, der Gute, begann sofort fachmännisch die Achse auszubauen. Dabei erfuhren wir, dass beide in Deutschland ein Team Rallyefahrer bildeten. Wo sollten wir in Algerien eine Ersatzachse für dieses seltene englische Automodell bekommen? Bei einem einheimischen Gebrauchtwagenhändler fanden wir eine Achse, die dem Original entsprach, sie war erheblich angerostet, aber funktionsfähig. Wahrscheinlich stammte sie aus einem Ersatzteillager der britischen Armee, die vierzehn Jahre vorher in Nordafrika gegen die Truppen Rommels kämpfte. Hermann und ich bauten die neue Achse ein, während sich Larbi, der Sohn der Halalis, Mackie, Hans und Jean-Pierre für eine Fotoreportage in die Kasbah wagten. Die Einwohner in den romantisch engen Gässchen betrachteten in der Zeit seit Beginn der Auflehnung jeden Europäer feindlich. Dank der Vermittlung Larbis kam die Gruppe knapp mit dem Leben davon. Der Aufstand der FLN gegen die französische Kolonialherrschaft hatte sich damit gleichfalls für uns empfindlich bemerkbar gemacht.
In den Monaten seit meinem letzten Aufenthalt in Algerien hatte sich die allgemeine Stimmung im Land deutlich verändert. In der modernen Stadt Algier war nichts davon zu bemerken, dafür kamen speziell aus der Altstadt und von außerhalb regelmäßig beunruhigende Nachrichten. Weil das Unternehmen Kasbah keinen Erfolg brachte, wollten Max und Hans die Djurdjura, das tief verschneite Wintersportzentrum Algeriens, für eine Fotoreportage aufsuchen. Das Gebiet war nur hundert Kilometer von der Hauptstadt entfernt, in zweitausend Metern Höhe vormals mit Hotels und Skiliften touristisch aufgeschlossen, war es jetzt verlassen und gefährlich. Die direkte Verbindung von Algier nach Constantine, die Hauptroute von Ost nach West des Landes, führte durch dieses wildromantische Gebirge. Fellaghas sprengten Strommaste, überfielen dort Transporte und töteten alles, was ihnen vor die Gewehre kam. In einem der aufgelassenen und nicht zerstörten Hotels hatte sich eine Abteilung französischer Gebirgsjäger festgesetzt, abgeschlossen von der Umwelt. Im letzten Ort vor dem Anstieg aus der Ebene war ein Bäcker, der sich weigerte, weiterhin dort hinauf zu liefern. Beladen mit fünfzig Kilogramm Brot wurden die zwei angemeldeten Fotoreporter von den Soldaten mit schussbereiten Maschinenpistolen im Anschlag freudig begrüßt. Die Ausbeute an Bildern war, außer einigen im Fahren aus dem Auto geschossenen Landschaftsaufnahmen, eher gering. Mackie und Hans beeilten sich nach einer Übernachtung im Schutz der Gebirgsjäger, so schnell als möglich Algier wieder zu erreichen. Unversehrt kamen sie in der Herberge an.
Unser Aufenthalt in dieser schönen Stadt zog sich hin. Da für Walter und Hans in Wien die Zeit zu knapp geworden war, mussten jetzt für sie die ausstehenden Visa besorgt werden. Die Formalitäten für die Erlaubnis zur Durchquerung der Sahara kosteten Zeit und Nerven. Beitrittserklärungen zum Touringclub, Treibstoffverträge, Verpflichtung zu gegenseitiger Hilfeleistung, sowie Versicherungen kosteten Gebühren, die vor Entgegennahme der Dokumente bezahlt werden mussten. Die Verpflichtung zur gegenseitigen Hilfe wurden auf die beiden Reisenden aus Köln erweitert. Wir hatten die sympathischen Herren so ins Herz geschlossen, dass wir nichts dagegen hatten, wenn sie sich uns für die nächsten Abenteuer anschlossen.
Nach genau einem Monat Aufenthalt in Algier war es endlich so weit! Die Vorbereitungen für die Weiterreise waren abgeschlossen. Ich hatte eine Holzkiste organisiert, in der man den zum Betrieb des Tonbandgerätes notwendigen, schweren Einankerumformer festschrauben konnte. Die Autos wurden am Vortag der geplanten Abfahrt nochmals überprüft und beladen. Auch die „Teutonen“ packten. Der überaus vorsichtige Walter bestand darauf, die Nacht im Auto zu verbringen, damit er über unser Equipment in den Fahrzeugen wache. Der Abschied von den Halalis driftete ins Sentimentale, sie waren uns gegenüber wirklich großzügig gewesen und ich freue mich, dieser Familie hiermit nach so vielen Jahren ein Denkmal setzen zu können. Die Verabschiedung von den Herbergseltern artete in ein unkontrolliertes Fest aus, das bei den sonst so duldsamen und freundlichen Menschen Missstimmung hinterließ. Was soll‘s, es war ja der letzte Abend in Algier.
(Die Musikaufnahmen zu diesem Kapitel sind im Katalog des Phonogrammarchivs der Akademie der Wissenschaften zu finden)