19. KAPITEL – Gedanken . Die Fliege – Zauber und Magie

François erkundigt sich beim Frühstück nach dem Ergebnis der Kamelsuche, die Akamouk und ich gestern unternommen haben. Ich erzähle ihm von den Erlebnissen und von der durch eine Düne verschütteten Siedlung, die mein Mitgefühl für die armen vom Sand vertriebenen Menschen weckte. Er meint, das sei eine typisch europäische Betrachtungsweise solcher Ereignisse. Die Wüstenbewohner betrachten das als Kismet, ihr Schicksal. Diese Einstellung erspart ihnen eine Menge Aufregung. Dazu sind die Bewohner dieser Oasen Halbnomaden und emotional nicht an Orte gebunden. Sie suchen in den Weiten der Sahara eine andere Stelle, die für sie das zum Überleben notwendige Wasser und genügend Nahrung für ihr Vieh bereit hält. Eine derart gewaltige Wanderdüne ist eine unaufhaltsame Katastrophe, für jeden sichtbar und abzuschätzen. Die Bewohner eines dem Untergang geweihten Dorfes wissen das und treffen rechtzeitig Vorkehrungen. Obwohl der Sand mit dem drohenden Wandel des Klimas nichts zu tun hat, vergleicht François die im Grunde verschiedenen Faktoren miteinander. Die Afrikaner, egal welcher Hauttönung, haben ihre natürlichen Sensoren trotz des kolonialistischen Einflusses bewahrt. Sie erahnen vielfach, was auf sie zukommt. Im Fall des wandernden Sandes können sie das Herannahen des aus Erfahrung Unvermeidlichen sehen, ja greifen. Bei uns liegt die Sache anders. Wir sind in unseren Kulturkreisen ausschließlich auf Informationen bezahlter oder freier Wissenschaftler angewiesen. Die liegen in ihren Aussagen aber weit auseinander, sodass sich Unsicherheit und Sorgen aufbauen.   

François ist so richtig in Fahrt, er kommt zu meinem Tisch herüber. Ich versuche, das Frühstück in Ruhe zu genießen, vor allem den ausgezeichneten Ziegencamembert, den Michelle nur selten herausrückt, weil der Transport dieser Köstlichkeit hierher schwierig und kostspielig ist. Der alte Pied noire macht sich Sorgen um Europa, denn er kann einige Fernsehsender von Satelliten empfangen, und verbringt nicht wenig Zeit mit Radiohören. Obwohl seit Jahrzehnten von arabischer Kultur umgeben, hat er seine französische Identität nie abgelegt. Er beklagt sich, dass verschiedene Umweltorganisationen radikale Züge anzunehmen scheinen. Sicher nicht ohne Absicht wurden die beiden, zwar nahe beieinander liegenden, dennoch unterschiedlichen Themen Umweltschutz und Klimawandel zu dem Begriff „Klimaschutz“ zusammengefasst. Weltweit werden nach dem Vorbild der ehemaligen Kulturrevolution in China ungezügelte Demonstrationen organisiert. Die durch den natürlichen Klimawandel ausgelösten Katastrophen vermischt man mit den durch die Menschen herbei geführten. Inzwischen ist Michelle aus der Küche gekommen. Sie hört eine Weile zu und verdreht hinter seinem Rücken komisch ihre Augen zu einem unsichtbaren Himmel. Den Redeschwall unterbricht sie mit der Mitteilung, dass ein paar Lebensmittel zur Neige gingen, die bestellt oder in Bordij Mokhtar eingekauft werden müssten. Das sollte mir Ruhe für den Verzehr des Restes der Mahlzeit verschaffen. Im Weggehen wirft mir François die Bemerkung hin, dass es sicher von Bedeutung sei, dass man heranwachsende Mädchen und junge Frauen als Galionsfiguren für diese Bewegung heranzieht.

Mit dem von ihm angesprochenen, aber nicht aufgelösten Thema verschwindet er und ich wende mich den letzten Bissen meines Frühstücks zu. Michelle meint entschuldigend, ihr Mann würde täglich Fernsehen und es gäbe niemand, dem er sich mitteilen könne. Im Verlauf seines eruptiven Vortrags hat er nie um eine Stellungnahme von mir gebeten. Demnach schwieg ich. Es ist auffallend, dass sich die „Wilden“ Afrikas diesen Problemen wesentlich pragmatischer nähern, als die „Zivilisierten“ Europas. Afrika war der erste Kontinent, der dem beginnenden Klimawandel durch lange Perioden von Dürre, abwechselnd mit verheerenden Überschwemmungen ausgesetzt war. Ganze Regionen wurden dadurch unbewohnbar. Zuerst waren Eritrea und Äthiopien betroffen, später Somalia und die Sudanstaaten. Von Ostafrika bewegten sich die Katastrophen gegen Westen. Am schwersten wurden die Gebiete der Sahelzone in Mitleidenschaft gezogen. Kolonialmächte und einflussreiche Kunstdüngerfirmen ersetzten widerstandsfähige, einheimische Getreidesorten durch ertragreichere Varianten, die aber für gemäßigte Klimazonen gezüchtet worden waren. Diese erwiesen sich für afrikanische Klimabedingungen als ungeeignet. Damit wurden die ursprünglichen, wetterresidenten Sorten schrittweise nahezu ausgerottet. Die neu eingeführten Getreide müssen jedes Jahr frisch gesät werden, was für die afrikanischen Bauern wegen der hohen Kosten unerschwinglich ist. Seit einiger Zeit baut man die bodenständigen Getreidesorten wieder an, da die Samen selbst ein paar Jahre Dürre unbeschadet überstehen. Darüber hinaus hat man vor einem Jahrzehnt das internationale Projekt gestartet, im gesamten Sahelgebiet Millionen Bäume zu pflanzen, in der Erwartung, Feuchtigkeit anzuziehen und damit die Wüstenbildung durch Aufforstung zu bekämpfen. Ein wissenschaftlich absolut begründetes Verfahren. Doch trotz erheblicher Investitionen wurden bisher nur etwa 15 bis 18 Prozent des Vorhabens realisiert. Die Überlebensrate der gepflanzten Setzlinge liegt mancherorts bei lediglich 40 Prozent. Es ist ein unterschiedliche Völker und Staaten übergreifendes Unternehmen, bei dem allerdings der Erfolg im erhofften Umfang bisher ausblieb. Man verlegt sich zurzeit darauf, kleinere, überschaubare Gebiete zu bewalden. Dadurch sind die Aussichten auf Bewässerung etwas größer. Die Bauern, die solches realisieren, werden von den jeweiligen Regierungen in der Absicht unterstützt, in einigen Jahren die gesamte Sahelzone von jenen Grünzellen aus wieder fruchtbar zu machen.

In Gedanken verloren klettere ich die Stiege hinauf in das Refugium. François’ emotional aufgeladene Worte hallen nach, und ich spüre Ärger in mir aufsteigen. In solcher Stimmung kann man nicht schreiben. Ich lasse mich auf mein Bett fallen und starre zur Decke. Eine Fliege zieht dort oben ihre Bahnen, krabbelt hektisch im Zickzack auf dem Verputz. Gelegentlich hebt sie mit Gebrumm ab, um gleich darauf wieder zu landen und ihre eckigen Krabbelbewegungen fortzusetzen. Meine Sympathien gehören diesem munteren Insekt. Diese Spezies hat über Jahrmillionen überlebt, Eiszeiten und Hitzeperioden getrotzt, sich weder von Überschwemmungen noch von Dürrezeiten vertreiben lassen. Bewundernswert, Zeiten, in denen viele Arten ausgestorben sind.

Doch meine Gedanken kehren zurück zu dem eigentlichen Vorhaben, das mich hierher geführt hat. Die Fahrt in die Wüste war von der Überlegung geleitet, weit weg von solchen Ereignissen und medialen Nachrichten in abgeschiedener Ruhe an den Erinnerungen zu arbeiten, diese niederzuschreiben und dadurch gewisse Selbsterkenntnis zu erfahren. Dach an die ersehnte Unerreichbarkeit, und damit uneingeschränkte Selbstbestimmung ist im Zeitalter allgegenwärtiger Kontrolle nicht einmal hier mehr zu denken. François’ gefühlsbetonter Ausbruch hat Themen berührt, die weit über unser kleines Leben hinausgehen, Themen, die die ganze Welt betreffen, Menschen, Tiere, den Planeten selbst. Sogar hier in der Abgeschiedenheit gibt es davon kein Entkommen. Diese Gedanken kreisen in meinem Kopf, bis sie schwerer werden und mich in leichten Schlaf ziehen.

Lästiges Kitzeln im Gesicht setzt dem Schläfchen nach einigen Minuten ein Ende. Die Fliege hat ihren emsigen Arbeitsplatz auf mich verlagert und scheint Gefallen an meinen Segregationen gefunden zu haben. Mehrmals verscheuche ich sie, sie bleibt ein Weilchen weg, um sich gleich darauf mit Gebrumm wieder auf die Stirn zurückzukehren. Dieses Spielchen wiederholen wir öfters, wobei die Abstände zwischen Flucht und Wiederkommen immer kürzer werden. Ich vermute, sie testet die Schnelligkeit meiner Reaktionen. Da der Kampf gegen das kleine Biest aussichtslos erscheint, begebe ich mich zum Arbeitstisch, starte den Computer und habe vor, zu schreiben. In bewährter Sitzposition müssten Konzentration und Kreativität von selbst kommen. Endlich finde ich eine ausgezeichnete Formulierung für den Beginn des Kapitels, da spüre ich einen zarten Luftzug über der Hand, welche die Maus führt. Die Fliege landet auf dem Handrücken. Eine kurze Bewegung vertreibt die „musca domestica“, doch sie macht sich keine Mühe, weit wegzufliegen. Sekunden später ist sie zurück, unermüdlich und lästig. Meine Konzentration und die eben gefundene Formulierung sind verloren.

Ärger ergreift langsam von mir Besitz, und ich fasse den Entschluss, das anhängliche und lästige Biest zu fangen. Ich habe mir den Trick angeeignet, Fliegen mit einer schnellen Bewegung von vorne zu erwischen. Das erfordert Geschick und Schnelligkeit. Ohne sie zu verletzen gelingt es mir, die sich heftig Sträubende nach draußen zu transportieren und in die Freiheit zu entlassen. Sekunden später, ist sie wieder da. Wie zu erwarten, landet sie und hebt an, genüsslich Nahrung von meiner Haut zu saugen. Sie hat erkennbar eine schmackhafte Stelle gefunden, denn ihr winziger Rüssel bewegt sich saugend wie wild auf und ab. Als Rechtshänder ist es unmöglich Fluginsekten, noch dazu derart clevere, mit der linken Hand zu erwischen. Aus Begeisterung über das Festmahl merkt sie nicht, dass ich mit ihr behutsam zum Eingang gehe. Langsam drücke ich die Türklinke hinunter, trete einen Schritt hinaus und schüttle mit einer heftigen Bewegung den Quälgeist ab. Lautstark fällt die Türe ins Schloss, und ich genieße den Erfolg, endlich allein zu sein. Habe ich schon erwähnt, dass dieses Tier schlau ist? Auf jeden Fall summt sie trotz meiner taktisch genialen Aktion wieder bei mir im Zimmer herum. Doch scheint sie begriffen zu haben, dass ich sie, zumindest bei der Arbeit, nicht auf mir haben will. Jetzt macht sie dort oben abermalsihre Lauf- und Flugübungen und zieht ihre Platzrunden. Erneut wirkt Ihr Summen beruhigend auf mich, die Konzentration kehrt zurück und ich hacke meine Sätze in den Computer. Nach einer Pause ungewöhnlicher Stille stattet sie dem Bildschirm einen kurzen Besuch ab. Sie sucht sich eine geeignete Stelle, hinterlässt eine winzige Fäkalie als grammatikalisch völlig falsch gesetzte Interpunktion und verschwindet rasch aus meiner Reichweite. Ob das ihre Art von Kritik an meiner Arbeit ist?

Die Versunkenheit ins Schreiben und die bewegenden Erinnerungen an die tief eindrucksvollen Ereignisse aus mehreren Jahrzehnten, lassen mich Raum und Zeit vergessen. Der Nachmittag schreitet voran, und erst jetzt bemerke ich, dass die Fliege aufgehört hat zu summen. Absolute Stille umfängt mich. Vielleicht ist meine Zimmergenossin müde geworden, oder am Ende ihres kurzen Lebens angekommen. Apropos Leben, ich mache mir Sorgen um Akamouk, er ist schon zwei Tage unterwegs, und ich blicke in die Richtung, aus der er kommen sollte. Wenn er bis morgen früh nicht da ist, werde ich losfahren, um ihn zu suchen.

Junger Targi auf schönem Mehari

Das Fetischfest hatte noch nicht begonnen, aber auf dem Platz tummelten sich bereits viele Menschen. Unter den zahlreicher werdenden Gästen aus der näheren und weiteren Umgebung von Begouriou Tondo Kangé erkannte ich einen Marabut wieder, der in Téra, beim Fest zum Ende des Ramadans vor gläubigen Moslems gepredigt hatte. Weder Yabilan, der Fetischeur, noch der Häuptling des Dorfes waren zu sehen. Den Himmel überzog eine Dunstschicht, die zwar wie ein Streufilter wirkte und die Kontraste milderte, doch die Intensität der Sonnenstrahlen nicht verhinderte. Das Blech des IFA wurde derart erhitzt, man hätte sicher Eier darauf braten können. Unter den wallenden Gewändern und Boubous dampfte es, die Gesichter glänzten vom Schweiß. Der den schwarzen Afrikanern in Afrika eigene, ausgeprägt süßliche Geruch verbreitete sich wie Parfüm über den Platz. Ich hatte keine Zeit, weitere Beobachtungen anzustellen, denn ich musste meine Arbeitsgeräte zusammenstellen. Einen der schweren Akkumulatoren und die Kiste mit dem Einankerumformer stellte ich neben das Auto. Auf den Rücksitz kamen das Magnetophon und die beiden Messgeräte, der Spannungs- und der Zungenfrequenzmesser. Diese Geräte mussten in der richtigen Reihenfolge hintereinander angeschlossen werden. Vor allem der Frequenzmesser war von entscheidender Bedeutung, weil das Tonbandgerät auf Schwankungen empfindlich mit Störgeräuschen reagierte. Letztlich war alles aufgebaut und der Probelauf fiel zu meiner Zufriedenheit aus.

Banjou zeigte sich an Technik interessiert und hat mir beim Ausladen geholfen. Es gelang ihm sogar, die Menge davon abzuhalten, mir die Sicht zum Geschehen zu verstellen und eine Gasse für das am Boden schleifende Mikrofonkabel freizumachen. Wie er das schaffte, wusste ich nicht, vermutlich hat er den Leuten erzählt, ich sei ein weißer Zauberer. Der respektvolle Abstand, den die Menschen einhielten, sprach jedenfalls für diese Annahme. Ich stieg wieder aus dem aufgeheizten Wagen, der trotz offener Fenster einer Sauna glich. In dem Moment erschienen die ersten Hole N’Keinas, die Geistermusiker. Sie hatten Zugtrommeln und mit Schlangenhäuten bespannte Godijehs, das sind Streichinstrumente, die entfernt an unsere mittelalterlichen Gamben erinnern, die ähnlich wie diese, mit einem Bogen gestrichen werden. Daneben waren drei in den Erdboden eingelassene Hälften von Kalebassen. Die wurden mit speziell zusammengeflochtenen handlichen Besen geschlagen und verliehen der Begleitmusik einen ausgefallenen Reiz.

Kopecky streunte am Platz herum und fotografierte begeistert das bunte Treiben. Das Fest, das sicher einmalige Szenen bot hatte noch nicht einmal begonnen, und er verschwendete kostbares Filmmaterial? Unvermittelt trat rundum Stille ein, nur ein Hahn krähte in der Ferne. Yabilan erschien. Groß, schlank, in aufrechter Haltung, wie ein General der KuK-Armee. Ein paar graue Haare an der Spitze seines Kinns deuteten einen Bart an. Unter dem traditionellen dunkelblauen Überwurf der Touareg blitzte an der Seite sein weißer Boubou hervor. Auf dem Kopf trug er eine Mütze, ähnlich einer übergroßen Baskenmütze. Sich des ihm entgegengebrachten Respektes, der ihm entgegengebracht wurde, bewusstbewusst, strahlte er hypnotische Kraft aus. Begleitet wurde er von Frauen in weiten weißen Gewändern. Diese Gruppe übte dienende und schützende Funktionen aus. Ihre Frisuren, aus unzähligen feinen Zöpfchen geflochten, machten sie unverkennbar.

Yabilan, der große Fetischpriester

Mit dem Erscheinen Yabilan’s begannen die Hole N’Keinas ihre Zugtrommeln zu bearbeiten.

Hole N’Keina (Geistermusik)
Hole N’Keina (Zugtrommel)

Sobald der Zauberer mit Gefolge bei ihnen Platz genommen hatte, steigerte sich das Tamtam. Ich lief sofort zu meinen Geräten und fuhr den Umformer hoch. Da kam auch schon der aufgeregte Mackie heran und holte das Mikrofon, ein AKG D 12, ab. Auf dem von der Menschenmenge freigelassenen Platz begannen sich vier Frauen mit langsamen, gemessenen Schritten zu bewegen. Das waren die „Hole Tams“, die Geisterpferde. Hole heißt Geist und Tam ist das Pferd. Das waren Yabilans Medien, durch sie sollten die mächtigen Geister sprechen.

In dieser Phase des Aufwärmens geschah zunächst nichts Außergewöhnliches. Lediglich das Tamtam wurde schneller, und mit ihm wandelte sich das gemessene Schreiten allmählich zum Tanz. Die Mittagshitze nahm zu, und die Hole Tams tanzten in der prallen Sonne. Die Füße der immer rasanter und wilder werdenden Medien wirbelten dichte Staubwolken auf, dass ich in Sorge um meine Geräte die Fenster des Autos fest verschloss. Die Tänzerinnen beugten im Rhythmus der Trommeln ihre Körper, rissen die Arme in die Höhe und warfen sie nach hinten. Sogar die Umstehenden blieben von der Wirkung der Musik und dem wilden Tanz nicht verschont. Erregt bewegten sie sich, vereinzelt klatschten einige in die Hände. Alle Gespräche waren verstummt. Die Menschen standen voll im Bann des Geschehens.

Hole Tam (Geisterpferde)

Weil Banjou die Gasse für das Mikrofonkabel von Menschen freihielt, konnte ich das Geschehen mitverfolgen. Über eine Stunde änderte sich nichts, außer dass Rhythmen und Tanz immer rascher wurden. Yabilan saß die gesamte Zeit stumm inmitten seiner Gehilfinnen, ignorierte die sich wild bewegenden Gestalten und blickte scheinbar unbeteiligt vor sich auf den Boden.

Yabilan scheint teilnahmslos, vorne: Kalebasse

Die Hitze wurde immer unangenehmer, die Medien keuchten vor Anstrengung, doch ihre Augen waren klar geblieben und voller Konzentration. Ein Mann, gekleidet in ein langes, makellos weißes Gewand, trat mit fließenden Bewegungen in den Kreis der Tänzerinnen. Die Hole N’Keinas bearbeiteten ihre Zugtrommeln wie rasend und wurden lauter und schneller, ohne auf die Bespannungen Rücksicht zu nehmen, die ebenso an ihre Grenzen zu stoßen schienen, wie meine Technik. Ich hatte Mühe, mit dem Aussteuern nachzukommen, das „Magische Auge“ befand sich fast ständig im Bereich des Übersteuerns. Doch die Tonbänder von BASF bewährten sich einmal mehr, boten ausreichend Headroom und zeigten keine Schwächen, trotz der tropischen Bedingungen. Einer der Geistermusiker löste sich aus der Gruppe, begab sich in die Nähe der wild Tanzenden und begann sie laut in singendem Ton zu beschwören. Das war ein professioneller Sänger und Lobpreiser, der mit kräftiger Stimme die Medien in ihrer Ekstase unterstützte. In unzähligen, über Generationen überlieferten Strophen pries er die Geister, beschwor ihre Macht und heizte die Stimmung weiter an. Die Intensität des Geschehens steigerte sich unaufhaltsam, ein Gefühl von etwas Großem und Unausweichlichem lag in der Luft.

2. Lobpreiser

Die Medien schleppten ihre Körper durch die Gluthitze, die mich selbst, gefangen im glühend aufgeheizten Auto, an meine Grenzen brachte. Es war, als hätten sie ihre menschliche Natur hinter sich gelassen, die Gesichter qualvoll verzerrt stöhnten sie wie unter Schmerzen. Statt der verstummten Zugtrommeln erklangen jetzt die Godijes und die Hole N’Keinas schlugen die Halbschalen der Kalebassen in ungewöhnlichen, durchdringenden Rhythmen, die das Geschehen noch gespenstischer machten.Grade erhob sich Yabilan, der berühmte Zauberer, dessen Ruf weit über die Grenzen dieser Region hinausreichte. Mit einer theatralischen Geste warf er einen Teil seines dunkelblauen Umhangs über die Schulter und trat langsam und erhaben auf die Tanzfläche. Ihm folgten zwei Priesterinnen, die mit gesenkten Köpfen respektvoll hinter ihm hergingen. Yabilan stellte sich dem Louagen-Sänger (Lobpreiser) gegenüber, seine Gestalt strahlte Autorität aus. Mit heiserer, dabei eindringlicher Stimme begann er die Geister zu zitieren, vor allem Zaberi, den Gott der Flüsse und des Wassers:

„Du, die du die Augen krank hast, du wirst Feuer sehen können!“
„Du, beruhige dich, Zaberi zuliebe, der dein Vater ist!“
„Du, die du das Meer mit der Stange misst, schätze nicht, ohne vorher gemessen zu haben!“
„Du hast die Zähne faulend, aber du wirst Steine essen können!“

Mit diesen letzten Worten schien er das Unsichtbare zu adressieren, seine Stimme war ein Brückenschlag zwischen dieser und einer anderen Welt. Die Spannung auf dem Platz war greifbar, jede Bewegung, jedes Geräusch schien Teil eines Rituals, das tiefer reichte, als es Worte allein zu erfasse vermochten.

Hole Tam
Hole Tams in Trance

Yabilan näherte sich den tanzenden Medien mit langsamen, eindringlichen Schritten, seine Bewegungen wirkten wie die eines Jägers, der seine Beute umkreist. Die Stirnadern traten prall hervor, krochen wie lebendige Würmer über seinen kahl geschorenen Schädel. Er brüllte auf die Medien ein, die sich verkrampften und die Ohren zuhielten. Ekstatisch zuckten sie und verdrehten die Augen, und begannen gequält zu schreien. Mackie, das Mikrofon fest in der Hand, war mitten im Geschehen. Am anderen Ende des langen Kabels saß ich im glühend heißen Wagen, die Kopfhörer über den Ohren. Der Lärm, das Brüllen Yabilans, das Geschrei der Medien und die eindringlichen Schläge der Kalebassen dröhnten in ungeheurer Lautstärke direkt in meinen Kopf. Es war, als würde die rohe Kraft dieses Rituals durch das Kabel bis zu mir transportiert, mich überwältigend und zugleich faszinierend. Inzwischen hatte das Fest seinen Höhepunkt erreicht. Die Tänzerinnen schienen wie aus einer anderen Welt, ihre Gesichter grotesk verzerrt, ihre Bewegungen jenseits jeder menschlichen Anmut. Unvermutet stand Mackie neben dem Auto, sein Gesicht war schweißüberströmt, seine Augen von Erschöpfung gezeichnet. Ich kurbelte das Fenster herunter und er bat mich um eine Pause. Es war nicht zu übersehen, er war am Ende seiner Kräfte. Die Aufnahme lief dabei weiter, wir hatten beide das gleiche Gefühl, nämlich selbst der Trance zu verfallen:

Ich war dankbar für diese kurze Unterbrechung. Die enorme Hitze im Auto, meine verkrampfte Haltung und der unaufhörlich dröhnende Klang des Rituals mitten im Kopf hatten mich in einen irrealen Zustand versetzt. Wie in einem Rausch bewegten sich reflexartig Muskeln, wie Blutstropfen fielen Schweißperlen aus meinen Haaren aufs Gerät. Ich öffnete die Wagentüre, nahm das Mikrofon und legte es auf den Vordersitz. Dann stieg ich mehr fallend als kontrolliert aus dem Auto. Obwohl es in der direkten Sonne des Nachmittags sicher weiterhin siebzig Grad hatte, erschien es mir dort kühler zu sein. Typischer Schweißgeruch erfüllte die von Staub geschwängerte Luft. Banjou brachte erfrischendes Wasser aus unserer Gerba. Wir tranken die trüb gewordene Brühe dankbar wie Leitungswasser aus einer Wiener Hochquellenleitung. Die Ritualgeräusche kamen aus der Entfernung wohltuend gedämpft und wir erholten uns rasch. Mit Hilfe des Boys Banjou wechselte ich die verbrauchte Batterie gegen die geladene. Mackie und ich grinsten uns verstehend an, er warf sich wieder ins Getümmel und ich stieg in mein überhitztes „Studio“. Wir wollten dieses in Afrika selten gewordene Ritual so umfassend wie möglich dokumentieren. Hier, mitten im Herzen Westafrikas, bot sich uns die Gelegenheit, eine Tradition zu erfassen, die womöglich bald für immer verschwinden würde.

Hole Tam in Trance
Hole Tam in Trance

 

Der große Zimma Yabilan setzte sein unnachgiebiges Brüllen fort, jede seiner Beschwörungen ein neuer, nie wiederholter Text, der die Medien tiefer in den Bann zog. Ihre Zuckungen nahmen an Intensität zu, ein verzweifelter Ausdruck völliger Aufgabe. Sie hatten keine Chance, sich dem dominierenden Willen des Zauberers zu entziehen. Der wischte den Schreienden mit einem Tuch den Schweiß und den Schaum vom Gesicht, indem er auf sie weiter einsprach. Eine der Frauen stürzte wie vom Blitz getroffen zu Boden, schrie gellend und wand sich wie bei einem epileptischen Anfall. Ihr durchdringendes Geschrei mischte sich mit dem dumpfen Stöhnen der anderen, während Yabilan und seine Gehilfen unaufhörlich ihre Sprechgesänge fortsetzten. Die Godiehs ließen ihre unheimlich klagenden Töne erklingen, und die Kalebassen, mit rhythmischen Schlägen der Besen bearbeitet, verliehen dem Szenario eine fast unerträgliche Intensität. Das gesamte Ritual steigerte sich zu einem wahnwitzigen Klanginferno, das jeden, der Zeuge wurde, unweigerlich mitriss. Die Grenzen zwischen Mensch und Geist, Realität und Vision schienen zu verschwimmen, und der Platz vibrierte unter der Wucht dieser uralten, unbändigen Kräfte.

Ein „Geisterpferd“
Sie sieht Geister in Trance

 

Die Gruppe versammelte sich vor den beiden Gefäßen, dem Hampi.

Nach dem Opfer

Eine der Frauen begann, zwischen Stöhnen und Schreien, immer wieder dieselben Worte zu wiederholen: „Gebt mir den schwarzen Bock, gebt mir den schwarzen Bock …!“ Damit war unmissverständlich klar, was die Geister verlangten. Ein Mann, tief in Trance, schrie mit unbändiger Kraft: „Geht nie zu meinen Zeiten auf die Felder!“ Seine Augen waren ins Leere gerichtet, und seine Worte schienen weniger an die Menge als an eine unsichtbare Macht gerichtet zu sein. Zwei Gehilfen eilten mit dem geforderten schwarzen Ziegenbock herbei. In einer schnellen, geübten Bewegung hielten sie das Tier fest, und noch bevor die Trommeln einen Schlag ausließen, wurde der Bock geschächtet. Sie hoben das Tier hoch und ließen das Blut in ein Gefäß rinnen, der Körper verschwand in der anderen Kalebasse.

Totale Erschöpfung

Die Medien hatten sich beruhigt. Sie umstanden das Hampi, bewegten sich unangestrengt tanzend und starrten mit verglasten Augen gebannt auf Yabilan, den Zimma. Dieser trat vor die beiden Gefäße und bat den Donnergott Dongo um Wohlstand und Fruchtbarkeit für alle. „Ia“ kam es von seinen Lippen. Das bedeutete so viel wie: es ist geschehen, oder es ist getan.

Obwohl die Trommler ihre Energie in den letzten Stunden verbraucht hatten, spielten sie weiter, denn alle tanzten. Dieser Tanz war nicht mehr dämonisch, er schien Freude auszudrücken über den positiven Erfolg der Zeremonien und dass Dongo ihnen gut gesinnt war. Einzeln und gruppenweise lösten sich Menschen aus dem wirren Haufen der Tanzenden. Ein Feuer wurde entzündet, in dessen Schein ich meine Technik einpacken konnte. Mackie war mit Banjou unterwegs, Informationen einzuholen und Fragen zu klären. Ich fuhr allein die kurze Strecke bis zu unserer Hütte. Kopecky hatte sich schon vorher zurückgezogen und mit der Petroleumlampe den bescheidenen Raum beleuchtet. Er öffnete eine stattliche Flasche Rotwein, deren Herkunft unklar war und reichte sie mir. Ich nahm einen langen ausgiebigen Schluck, fiel auf meine Luftmatratze und schlief bis zum nächsten Morgen durch.  

 

Die Rechte für die akustischen Beispiele und Originale davon findet man im Phonogrammarchiv der Akademie der Wissenschaften oder über mich.

Die Rechte aller Fotos liegen bei H. M. Prasch

 

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