Mit etwas mulmigen Gefühlen, doch mit Vorfreude erfüllt, bin ich vor sechs Tagen allein im fast neuen Landrover zur Durchquerung der Sahara über die Tanezrouft-Linie, der Route National Nr. 6 gestartet. Vor etwa sechzig Jahren kannte ich die Strecke „wie meine Hosentasche“. Diese Piste hatte ich fünfmal befahren, sowohl vom Norden nach Süden als auch umgekehrt. Die Orientierung war damals vermittels von Anhöhen, Sanddünen oder abgestellten „Bidons“ (Benzinfässern) problemlos. Eine genaue Standortbestimmung war mit Hilfe einer Landkarte ebenso präzise möglich, wie heute mit GPS. Aber Beträchtliches hat sich seit meiner letzten Fahrt durch die Sahara verändert, als es strenge Sicherheitsregeln gab. Niemand verwehrt mir als Einzelperson die Einfahrt, die Piste ist fast durchweg asphaltiert, allerdings ungepflegt und streckenweise von Sand verweht. Genau genommen eine langweilige Fahrt.
An vielen Plätzen ist das Vordringen von Zivilisation mit all ihren Vor- und Nachteilen zu bemerken. So paradox es klingt, selbst in der Wüste schreitet die Zerstörung der Umwelt durch den Menschen voran. Ein Vorteil dieser Strecke ist, dass genügend Plätze zur Wasserentnahme angelegt worden sind. So bin ich nicht gezwungen, auf meinen vorsorglich mitgeführten Vorrat an Trinkwasser zurückzugreifen. Ohne Probleme erreiche ich die Grenze von Algerien zu Mali.
Erinnerungen werden lebendig. In den frühen sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts fuhren die Wagen unserer Expedition in die französische Grenzstation Bordj Perez ein. Die wenigen Grenzpolizisten, die hier inmitten der Einsamkeit stationiert waren, empfingen uns überaus freundlich. Kein Wunder, dass wir – erschöpft und durstig nach der entbehrungsreichen Durchquerung des schwierigsten Teils der Sahara – ihr Weinkontingent mit ihnen gemeinsam bis zum letzten Tropfen leerten. Die Station war auf einem Hügel am Rande der blühenden Oasenstadt gelegen. Den Polizisten war bewusst, dass sie diesen Posten bald an Algerien übergeben müssten. Doch genau deshalb war die Stimmung ausgelassen, ja heiter. Nach der Übernahme benannten die Algerier den Ort in Bordj Mokhtar um. Bei Sonnenaufgang verlasse ich ihn auf der Route National 6 und nehme die Piste, die nach Tamanrasset führt. Gleich nördlich der Straße liegt ein etwa zwei Quadratkilometer großes, eingezäuntes rechteckiges Gebiet. Einst war es ein blühender Gemüsegarten der Region, doch seit Jahren wird es nicht mehr bewässert und versandet zunehmend. Nur die Spitzen der Steine, die aus dem Treibsand herausragen und einmal die Beete begrenzten, zeugen von vergangener Fruchtbarkeit.
Am Ende der Gartenmauer beginnt die schnurgerade Piste Richtung Osten. Das dürfte die Hauptroute sein, auf der Kanga Moussa, der Herrscher Malis im 16. Jahrhundert, mit riesigen Karawanen Gold und Handelswaren nach Libyen und Ägypten transportierte. Ich muss dem Landrover ordentlich Gas geben, um halbwegs gleichmäßig über die dol ondulé zu kommen, die wellenförmigen Querrillen auf der Sandstraße, die an ein überdimenionales Wellblech erinnern. Die endlosen Weiten der Hamada, der Steinwüste, scheinen den Horizont zu verschlucken. Die Piste verliert sich flirrend in der Unendlichkeit. Die Temperaturanzeige des Landrovers verharrt seit Stunden bei 41 Grad Celsius Außentemperatur. Trotz eines gewissen Glücksgefühls sehne ich mich nach Ruhe und Einsamkeit. Aber noch ist es nicht so weit. Im Wagen selbst herrscht Höllenlärm. Aufgewirbelte Steine schlagen gegen Kotflügel und Spritzwände. Hin und wieder wird die eintönige Landschaft von dunklen Erhebungen unterbrochen, hinter denen die von der Sonne beleuchteten, scharf abgegrenzten Höhenzüge der Sanddünen aufragen. Der Himmel ist von einem leichten Schleier bedeckt, der die Intensität der Sonnenstrahlen und die Lufttemperatur keineswegs mindert.
Nach stundenlanger Fahrt über die Autos mordende Wellblechpiste entdecke ich linker Hand ein angerostetes Schild mit fast unleserlich gewordenen Aufschriften in Französisch und Arabisch. Zwischen Einschusslöchern entziffere ich: „Auberge du soleil et genie“, die Herberge zur Sonne und Werkstatt. Es weist auf ein etwa zwei Kilometer abseits der Hauptstrecke gelegenes, recht umfangreiches Bauwerk hin. Da ich wegen der harten Piste schneller als geplant unterwegs war, habe ich mein Ziel früher als erwartet erreicht. Bis zum Sonnenuntergang bleiben ein paar Stunden, und so beschließe ich, zu einem Aussichtspunkt zu fahren, den mir Einheimische in Bordj Mokhtar empfohlen hatten.
Seit den frühen Morgenstunden bin ich völlig allein auf der Piste unterwegs gewesen. Jetzt begegne ich einem einsamen Targi mit zwei Kamelen, der mir aus östlicher Richtung entgegen kommt. Um ihm die von mir aufgewirbelte Staubwolke und Steinschlag zu ersparen, lenke ich den Landrover von der Piste weg und wechsle in die flache Wüste, wo langsameres Tempo möglich ist. Wieder zurück auf der Hauptstrecke erreiche ich den Aussichtspunkt. Doch dieser bietet nichts Außergewöhnliches.
Mit spielerischer Lust fahre ich den Landrover in unnötig großer Kurve durch den unberührten Sand und hinterlasse bleibende Spuren, bevor ich mich zurück auf die Wellblechpiste begebe. Jetzt ist mein Ziel die „Auberge du soleil“. Kurz darauf entdecke ich den Kamelreiter wieder, nur wenige Meter rechts von der Strecke. Ich umkurve ihn erneut rücksichtsvoll, winke ihm grüßend aus dem Fenster – doch der vermummte Targi reagiert nicht. Kerzengerade im Sattel sitzend, setzt er ungerührt seine Reise fort.

Am Ziel angekommen, führt eine schmale Zufahrt von der Piste weg zu einer kleinen Ansammlung von Gebäuden. Diese sind von einer Lehmmauer umgeben, die den Platz vor dem größten Haus von der Wüste trennt. Zwei Palmen und einige dornige Akazienbäume in dem Hof deuten darauf hin, dass hier Wasser verfügbar ist. Das Haupthaus ist einstöckig, hat einen breiten, quadratischen Turm mit Fenstern und Zinnen, einer kleinen mittelalterlichen Burg ähnlich. Links und rechts vom Eingang, den man über drei Stufen erreicht, befinden sich symmetrisch angeordnete Fenster mit Klappjalousien. Auf dem Turmdach erkenne ich eine Satellitenschüssel für den TV-Empfang, eine lange Kurzwellenantenne und einen runden Wasserbehälter. Einige Meter daneben steht ein weiteres Gebäude mit Sonnenkollektoren auf dem Flachdach. Ein großes Tor, breit genug für die riesigen Sahara-LKWs, führt vermutlich in eine Garage oder Werkstatt. An einer der Mauern entdecke ich zwei altmodische Zapfsäulen: eine für Benzin, die andere für Diesel.
Ich parke den Landrover vor dem Haupteingang und betrete das Gebäude. Mehrmals klatsche ich in die Hände, bis aus der Dunkelheit ein Mann gesetzten Alters erscheint, gekleidet in weite, schwarze Saharahosen mit weißer Stickerei an den Seiten, Sandalen und ein Unterhemd, das dringend einer Wäsche bedarf. Oder ist es gewaschen, nur durch das lehmhaltige Wasser gelb verfärbt? Er begrüßt mich in akzentfreiem Französisch. Meine Frage nach einer Unterkunft für ein paar Tage beantwortet er ebenso freundlich mit einem klaren „Oui“.
Der Wirt führt mich in den Gastraum, der mit vier Tischen und Stühlen aus gepresstem Metall ausgestattet ist. Das sind Möbel, wie man sie in allen ehemaligen französischen Kolonien findet, identisch in Form und Lackierung. An vielen Stellen ist die Beschichtung so abgesplittert, sodass die ursprüngliche Farbe kaum zu definieren ist. Die Decke zieren drei große Ventilatoren mit jeweils vier Blättern, die aber still stehen. Für die Belüftung sorgen gegenüberliegende Fensteröffnungen, die in über Mannshöhe eingelassen sind und mit hölzernen Jalousien verschlossen werden können. Der Raum ist angenehm kühl und still, mit einem kaum merklichen Luftzug, der durch diese Öffnungen zieht. Die Tische und Stühle fühlen sich wärmer an, als die leise bewegte Luft, die nur zart zu einem der Fenster herein und aus dem gegenüber liegenden auf der anderen Seite wieder hinauszieht. Dieser sanfte Windhauch bewirkt das Verdunsten des Körperschweißes und damit angenehme Kühlung und Erholung. Obwohl draußen die pralle Sonne scheint, herrscht im Gastraum ausreichend Licht, um das Anmeldeformular vor mir zu entziffern. Mein Kugelschreiber weigert sich zunächst, aber nach ein paar Strichen kann ich die persönlichen Daten eintragen. Es ist kaum vorstellbar, dass jemand in dieser abgeschiedenen Gegend Interesse an diesen Informationen hätte. Nach der rumpeligen und lauten Fahrt wirkt die herrschende Stille hier fast wie heilender Balsam. Innerhalb weniger Minuten spüre ich, wie sich ein dicker Knoten der angespannten Nerven in meiner Brust löst.
Die Frau des Wirtes, bei dem ich ihn bestellt hatte, bringt mir, einen Pernod 45. Mit Eis und Wasser verdünnt hat er die fluoreszierende Farbe und Transparenz von Perlmutt angenommen und verströmt einen herrlichen Duft nach Anis, der alte Erinnerungen weckt. Den von mir bevorzugten Pastis 51 gibt es hier offenbar nicht. Die Frau, eindeutig arabischer Herkunft, scheint aus Nordalgerien zu stammen: Ihre Haut ist hell wie die einer Europäerin, und sie hält ihr Haar unbedeckt, was vermuten lässt, dass sie Christin ist. Ihr Auftreten verrät Selbstbewusstsein, was mir sagt, wer hier im Hause das Sagen hat. Sie trägt ein schlichtes Kleid, das sowohl europäisch als auch beduinisch inspiriert sein könnte. Unter altersbedingt leicht hängenden Lidern blitzen wachsame Augen hervor, die mein Äußeres flink abschätzen. Ihre Figur ist etwas rundlich, aber nicht unförmig, wie man sie oft bei südländischen Frauen dieses Alters findet. Nachdem sie mich gemustert hat, verschwindet sie in Richtung des dunklen Vorraums. Ich bleibe allein sitzen und genieße den Pernod, zufrieden in die Stille lauschend. Hier gefällt es mir.
Kurze Zeit später kehrt der Wirt zurück, nimmt ohne es zu prüfen das ausgefüllte Formular an sich und fragt, ob ich mein Zimmer sehen möchte. Schnell trinke ich den inzwischen lauwarm gewordenen Aperitif aus und folge ihm durch einen angenehm kühlen, dunklen Korridor, der zu einer Treppe führt.
Oben angekommen, enden die Stufen vor einer hölzernen Tür, durch deren feine Ritzen Tageslicht dringt. Beim Eintreten fällt mir sofort die durchdachte Ausrichtung des Zimmers auf: Die fensterlose Wand zeigt in Richtung Süden, was die Sonneneinstrahlung und damit die Hitze auf ein Minimum reduziert. Der Raum besitzt an zwei Seiten Fenster mit eingesetzten Fliegengittern. Unter dem nach Osten gerichteten rostet eine Klimaanlage still vor ich hin, ein Relikt vergangener Tage, das längst seinen Dienst quittiert hat. Das Fenster nach Westen ist verschlossen. Durch dasGlas sehe ich hinaus auf den Hof, dessen Begrenzungsmauer sich in die Hamadawüste schmiegt. Im Hintergrund, weit entfernt, leuchten die Dünen des großen Erg in dem tief glühendem Orange, das nur der Sahara eigen ist. Das Bett ist schlicht, aber ordentlich mit weißen Laken bezogen. Die gekachelte Dusche in der Ecke zeigt Spuren rostigen Tropfwassers, die sich so eingeätzt haben, dass sie selbst chemische Bleichmittel nicht mehr entfernen könnten. Ein wenig rötlicher Saharasand hat sich um den Abfluss gesammelt, aber er stört mich nicht – dieser Sand ist sicher das reinste und hygienischste, was diese Region zu bieten hat. Leider ist keiner, der von mir so geliebten Deckenventilatoren vorhanden, neben einer funktionierenden Klimaanlage wäre er ja überflüssig. Dafür finde ich einen kleinen Schreibtisch mit passender Stehlampe und zwei Holzstühlen. Trotz der schlichten Ausstattung wirkt alles erfreulich funktional. Ich fühle mich äußerst luxuriös bedient und äußere dem Wirt meine Zufriedenheit. Dieser ist deutlich erleichtert darüber, dass ich die defekte Klimaanlage nicht moniert habe, und zieht sich wieder zurück. Beim Hinausgehen murmelt er etwas von der Freude, einen angenehmen Gast zu beherbergen.
Kaum alleingelassen untersuche ich den aus Blech gefertigten Spind, fabriqué en france, ein Überbleibsel französischer Kolonialzeiten. Neben dem Schrank entdecke ich hinter einer kleinen Türe aus Metall verborgen die Toilette, wenn man diese in den Boden eingelassene Spezialschlüssel so nennen mag. Werden Mann oder Frau älter, steigern sich bei dieser Art WCs die Schwierigkeiten den Stoffwechsel anstandslos und schmerzlos durchzuführen. Ich beschließe dieser technischen Herausforderung später auf den Grund zu gehen, und mich vorerst dem Entladen des Autos und dem Transport des Gepäcks ins Schlafgemach zu widmen.
Beschwingten Schrittes gehe ich zum Landrover zurück, um die mitgebrachten Habseligkeiten zu holen. Die sind überschaubar; ich habe nur das Nötigste mitgenommen. Es war keineswegs geplant, den Rest des Lebens in der Wüste zu verbringen. Nachdem ich die Taschen verstaut und alles notdürftig sortiert habe, gönne ich mir eine ausgiebige Dusche.
Erfrischt und hungrig geht es zurück in den Gastraum. Ich strebe den gleichen Tisch an, an dem ich vorhin saß und bestelle ein kühles Bier. Doch der Wirt hat mir einen anderen Platz zugewiesen, diesmal unter einer Glühlampe, die sich nach Sonnenuntergang als einzige Lichtquelle im Raum erweist. Während die Sonne am Horizont versinkt und das Licht langsam schwindet, setzen sich die Deckenventilatoren in Bewegung. Sanft drehen ihre Flügel, und die Luft kühlt spürbar ab. In diesen Breitengraden findet der Übergang vom Tag zur Nacht vergleichsweise abrupt statt. Es wird schnell finster und der Tisch, an dem ich nunmehr sitze, wird als einziger von einer nackten elektrischen Glühlampe beleuchtet. Jetzt verstehe ich diesen Platzwechsel.
Das Abendessen wird serviert: ein einfaches Cous-Cous mit Gemüsesauce. Dazu schenkt mir der Wirt ein Glas Rotwein ein, dessen Herkunft er stolz mit „von den Hügeln um Mascara“ angibt. Es ist ein vollmundiger, erstaunlich guter Tropfen, der meine müden Sinne belebt. Die von den französischen Winzern in Algerien erlernte Kunst des Weinkelterns wird hier deutlich.
Nach dem Abendessen schenke ich mir ein weiteres Glas des ausgezeichneten Rotweins aus algerischen Rieden ein und gedenke diesen anstrengenden Tag genüsslich und reinen Gewissens mit einem duftenden Zigarillo zu beenden. Animiert durch den wohlschmeckenden Rauch drängen sich mir Ideen für die geplante Arbeit, das Aufzeichnen von Erinnerungen aus meinem recht langen Leben auf. Die Ruhe des Ortes, gepaart mit dem warmen Licht der Lampe und dem Duft von Tabak, gibt mir das Gefühl vollkommener Zufriedenheit.
Während meine Schreibpläne langsam Form annehmen, ertönt aus dem Hof vor dem Fenster das laute unwirsche Gurgeln von Kamelen, die zum Hinlegen gezwungen werden. Durch die halb offene Eingangstüre kann ich hinaussehen. Im trüben Licht der Laterne vor dem Haus gleitet der reisende Targi, den ich auf der Piste überholt hatte, elegant aus dem Sattel. Unser Wirt kommt ihm entgegen und die zwei begrüßen sich wie alte Bekannte. Der Hausherr verharrt eingedenk seiner Körpergröße auf der untersten Stufe der Vortreppe und erreicht damit nur knapp die Augenhöhe des hochgewachsenen Targi. Sie unterhalten sich in Tamaschek, der Sprache der Tuareg. Trotz der böhmischen Anmutung dieser Bezeichnung ist das eine rein autochthone Sprache, die international in den von Tuareg benützten Gebieten: Algerien, Mali, Mauretanien, Burkina Faso, dem Süden Lybiens und im Niger verbreitet ist. Mir gefällt ihre Unterhaltung, obwohl ich kein Wort davon verstehe, sie klingt melodisch, fast wie ein sanftes Lied.Nach diesem kurzen Gespräch zieht sich der Targi mit seinen beiden Kamelen in die Dunkelheit des Hofes zurück.
Der Wirt betritt wieder das Haus und fragt mich, ob ich weitere Wünsche habe. Es ist ausreichend Rotwein in der Karaffe vorhanden, so bitte ich ihn zu mir an den Tisch und biete ihm davon an. Er nimmt mein Angebot an und holt schnell ein neues Glas. Wir beginnen ein Gespräch, das sich bald zu einer lebhaften Unterhaltung entwickelt, in deren Verlauf wir die zweite Flasche Mascara leeren.
Monsieur Mouloudij, so nennt sich der Wirt, hat schon die dritte Bouteille geöffnet. Bei deren Konsum tauschen wir einige unserer Lebenserinnerungen aus. Als ich François, so sein Vorname, heute das erste Mal sah, taxierte ich ihn vorschnell als „petit blanc“ ein, obwohl er seinem Namen nach Algerier sein müsste. Einen Petit blanc bezeichnet man in Afrika den vergammelten Weißen, der sich hier, in Europa meistens gescheitert, im Outfit und Lebensstil eines heruntergekommenen Afrikaners mit Mechaniker- oder Hilfsdiensten sein Auskommen schafft. Anfänglich versicherte er mir, dass er eben ein hellhäutiger Algerier sei und aus Oran stamme. Moslem ist er sicher nicht und sein Alter ist schwer zu schätzen, da sein Gesicht durch Sonne und Tabakgenuss gegerbt ist und viele Falten aufweist. Bei dem Gespräch stellt sich heraus, er ist ein „pied noir“, ein in Afrika geborener Franzose. Er war Soldat der französischen Armee und diente in Algerien während des Krieges in einer motorisierten Kompanie. Im Chaos des Rückzugs der Franzosen desertierte er, denn er wollte seine Heimat nicht verlassen. Einige Zeit lebte er im Untergrund. Nachdem etwas Ruhe im Land eingekehrt war, zog er zu seiner algerischen Frau Fatima auf einen kleinen landwirtschaftlichen Betrieb im Departement Oran. Es gab einen bekannten Chansonnier namens Mouloudij, dessen Vater Berber und die Mutter Französin waren. Er wurde 1954 mit dem Lied „Le Deserteur“ berühmt und von Frankreich deshalb verfolgt. Nach diesem Sänger nahm er den Decknamen Mouloudij an.
Bald wurde ihm aber der Boden im Norden zu heiß. Freunde hatten sie gewarnt, dass er als ehemaliger französischer Soldat an die neuen algerischen Machthaber verraten worden sei, so dass er und Fatima bei Nacht und Nebel flüchteten. Sie durchquerten auf abenteuerlichen Wegen die Sahara und landeten unerkannt in Bordj Mokhtar, viele Kilometer entfernt von politischer Willkür und Rachegelüsten im Norden Algeriens. Hier erfuhren die beiden, dass diese Station der französischen SATT (Société Africaine des Transport Tropicaux), in der wir uns eben befinden, verwaist war und jemand gesucht wurde, der sie übernehmen und weiterführen könne.
Die beiden ergriffen diese Chance und leben hier nunmehr seit Jahrzehnten und wurden zu angesehenen Einwohnern dieser Region. Fatima, erzählt er mit einem liebevollen Lächeln, sei die eigentliche Seele des Hauses. Sie habe den Betrieb aufgebaut, während er sich um die Gäste kümmerte. „Ohne sie wäre ich nie hier angekommen“, meint er mit einem Anflug von Stolz. Bei einem Zeitvergleich stellt sich unser gleiches Geburtsjahr heraus, was dazu führt, dass wir uns von dieser Stunde an mit dem freundschaftlichen „Du“ ansprechen. Es wäre jedenfalls möglich, dass wir uns schon früher einmal getroffen haben, und zwar im Norden Algeriens in der Zeit des Aufstandes der FLN (Front de Libération Nationale), der nationalen Befreiungsfront gegen Frankreich. So erzähle ich ihm ein bisschen aus meinem Leben und dass ich hierher gekommen sei, um in Ruhe an einem Buch zu arbeiten. Es scheint, dass er jetzt annimmt, einen zweiten Hemingway oder einen Schriftsteller gleichen Kalibers in seinem Haus zu haben. Ich lasse ihm seinen Glauben, er kann meine Ergüsse ohnehin nicht lesen. Die Anstrengungen der Reise und der Wein haben mich ermüdet. So klettere ich über die Stiegen hinauf in die Dachstube.
Ich lege mich auf das Bett, das überraschend bequem ist, und lasse den Tag Revue passieren. Die Begegnungen, die Eindrücke der unendlichen Landschaft, das Gefühl von Freiheit und zeitloser Ruhe. Ein angenehmes Schwindelgefühl, verstärkt durch den Wein, lullt mich langsam in den Schlaf. Zufrieden träume ich von der Wüste. Nicht von der kargen, trockenen Einöde, wie sie dem Durchreisenden erscheint, sondern von einer lebendigen, pulsierenden Welt. Ich sehe grüne Oasen mit schlanken Dattelpalmen, Karawanen, die sich wie endlose Schlangen durch goldenen Sand winden, und einen sternenübersäten Himmel, der die Erde wie eine schützende Decke bedeckt. Die Bilder sind so intensiv, dass sie sich wie real anfühlen.
Bin schon sehr gespannt auf die Fortsetzung der Reise durch die Sahara und bewundere den Autor ob seiner Geschichtskenntnisse und der Sicherheit in der fremdsprachlichen Kommunikation.
Sehr interessant zu lesen und in detailreich beschreibenden Bildern die Landschaft, die Örtlichkeiten imaginieren zu können. Ein wirklich spannend geschriebener Reiseerlebnisbericht.
Herbert, Du bist gur und das ist lesenswert. Hab mich in Dir ganz geiirt. Siegi
tja, jetzt finde ich endlich zeit und bin schon vom ersten kapitel sehr beeindruckt ! dunschreibst so plastisch, dass ich alles bildlich vor mir sehe …… nebstbei habe ich mich in jungen jahren in einen “ pied noir “ verliebt ?
Wenn Du mir mitteilen würdest wer Du bist, hätte ich viel mehr Freude über Deine Nachricht 🙂 !
Kommt noch etwas?
So! Alle (bisherigen?) zwanzig Kapitel gelesen. Interessant, lehrreich und durchwegs sehr unterhaltsam! Die vermutlich überwiegend authentischen Erlebnisse werden in einem angenehm flüssigen Erzählstil geschildert, welcher einen – besonders durch die gelegentlich eingestreuten Fotos aus dieser Zeit Mitte der 1950er-Jahre – als Leser nahezu mitleben lässt. Das Verweben der Schilderungen aus der Vergangenheit mit der Neuzeit, in der der Autor versucht, seine Erinnerungen neu aufleben zu lassen und aufzuzeichnen, machen diese noch ausdrucksvoller. Denn die abenteuerliche Durchquerung der Sahara mit aus der Not geborenen, nicht sehr tauglichen Mitteln fand in einer Zeit statt, in der es in Nordafrika noch weitgehend friedlich zuging. Niemand ahnte damals, dass die sich langsam formierende „Front de Liberation National“ bald Algerien in einen jahrelangen blutigen Bürgerkrieg stürzen würde, dessen Auswirkungen sich für das Land über die nächsten zwei Jahrzehnte erstrecken würden. In Wien geboren und aufgewachsen, sind mir viele der in den anfänglichen Kapiteln erwähnten Personen und Lokale zumindest namentlich bekannt. Das erweckt beim Lesen irgendwie ein Heimatgefühl. Hoffentlich gibt es bald noch weitere Kapitel!
Natürlich kommt noch etwas, d.h. ist schon auf dem Weg. Es ist eine späte Antwort, ich möchte mich trotzdem noch für Ihre Worte bedanken. Ihr Kommentar hat wesentlich dazu beigetragen, das dieses Kapitel jetzt online und das nächste bereits im Werden ist. An Stoff gibt es keinen Mangel, der Blog behandelt 1956, wir befinden uns im Jahr 2020!
Thank you. That gives me the courage to keep writing. So I will start again. It will be interesting, keep reading ;-).
Interessant und bildlich dargestellt!
LG, Johnny