4. KAPITEL – Strohkoffer – Loos-Bar und Max Lersch

Vor mir steht der geöffnete Computer, der mit seiner stoischen Unbeweglichkeit keinerlei Anstalten macht, eine Inspiration zu bieten. Das Schreibprogramm präsentiert mir eine blanke Seite, so leer wie der Kopf des Schreiberlings, ein Duett der Ideenlosigkeit. Ich bemühe mich krampfhaft, einen Einstieg in das nächste Kapitel zu finden, blättere durch bisher Geschriebenes und stoße auf Schreibfehler, die wie kleine Stolpersteine in meinen Sätzen ruhen. Sie werden ausgebessert, Syntax hier und da geschliffen, aber zurück auf der blanken Seite wird es zur Gewissheit: Das ist eine Blockade!

Ein Frontalangriff auf die Kreativität mit bewährten Mitteln muss her! Doch die Dusche, sonst eine treue Verbündete, bleibt heute erfolglos. Dann wären ein Frühstück mit anschließender Bewegung im Freien sicher Möglichkeiten, meine Schreiblust zu fördern. Eine etwas unorthodoxe Maßnahme für jemanden, der bisher Morgenmahlzeiten vermieden hat. Doch der Drang, die Blockade zu brechen, kennt keine Prinzipien. Aus Sorge vor nächtlichen Skorpionbesuchen klopfe ich meine Stiefel aus, was sowohl Routine, aber genauso instinktiver Selbstschutz ist. Statt des üblichen Poloshirts wird ein Hemd mit praktischen Brusttaschen gewählt, bevor ich die Stiegen hinabsteige.

Die Hamada, eine graubraune, steinige Ebene, erstreckt sich flach bis zum Horizont, stellenweise von kleinen Erhebungen durchbrochen. Die Luft ist kühl, und die aufgehende Sonne taucht die scharfkantigen Gipfel der Sanddünen hinter derdunklen Flächen ein goldgelbes Licht. Weil das Sonnenlicht morgens nicht seine volle Kraft entfaltet, ist der Himmel klar und intensiv blau. Die Staubpartikel, die später wie ein Schleier über der Wüste liegen, sind noch nicht aufgestiegen. Doch sobald Sonne ihre Intensität entfalten wird, beginnt der Sand zu kochen, und die kleinsten Körnchen werden aufsteigen, bis sie den Himmel in graues Zwielicht hüllen. Ein täglicher Tanz zwischen Erde und Firmament, der sich erst mit dem Sonnenuntergang umkehrt.

Die Kälte der Nacht wirkt etwas nach, nur wenige der sonst allgegenwärtigen Fliegen summen herum, die totale Stille durchbrechend. Ich versuche, mich von rückwärts an eine auf den Hinterbeinen sitzende Wüstenspringmaus anzuschleichen, die aber hört die vorsichtig gesetzten Schritte und verschwindet blitzschnell in ihrer Behausung. Es ist auf dieser Reise der erster Spaziergang in der Wüste, und die völlige Stille lässt mich innehalten. Ich lausche der Ruhe, lasse die Einsamkeit auf die Seele wirken und spüre, wie die Last der Blockade ein wenig schwindet.

Ich marschiere auf einen flachen Hügel zu, doch wie in einem surrealen Spiel scheint er sich mit jedem meiner Schritte weiter zu entfernen, bis er schließlich hinter dem Horizont verschwindet. Um die Orientierung nicht zu verlieren, werfe ich regelmäßig einen Blick zurück zur Auberge. Durch die ansteigende Wärme geweckt, werden die Fliegen zahlreicher. Einige der anhänglichen Insekten sind besonders lästig und belagern auf der Suche nach Flüssigkeit Nase und Augen. Die Sonne wird langsam stechend und es ist Zeit, zurückzukehren.

Den eigenen Fußspuren folgend, die im mittlerweile angewehten Sand zwischen den Steinen kaum mehr zu erkennen sind, überlege ich Inhalt und Form des nächsten Kapitels. Ironischerweise habe ich mich stets gegen die Theorie gewehrt, dass gleichmäßiges Gehen die Kreativität beflügelt. Jetzt scheint es aber, dass endlich der Faden zur Fortsetzung meiner Schreibarbeit gefunden ist. Inspiriert von diesem Spaziergang, fühle ich mich plötzlich mit Beethoven, Kant, Nietzsche und Rimbaud verbunden, allesamt glühende Verfechter des ziellosen Dahinschreitens. Schon möglich, dass Magie in diesem Rhythmus der Schritte liegt.

Zurück in meinem „Verlies“ sehe ich den Computer mit neuen Augen. Er zeigt sich jetzt weniger bissig, er scheint sogar aufmunternd zu lächeln. Mit leichter Verzögerung öffnet sich das Schreibprogramm, und ich bin bereit, den ersten Satz zu wagen.

Karawane in der Sahara (Herbert Bieser)
Karawane in der Sahara (Herbert Bieser)

 

Um dem kulturellen Anspruch dieser Aufzeichnungen ebenfalls Platz zu geben, muss unausbleiblich die Geschichte des Strohkoffers erzählt werden. Selbstverständlich in aller Kürze und so, wie ich sie erlebt habe. Es gibt Details, die selbst den Historikern dieses legendären Etablissements bis heute verborgen geblieben sind.

Nach den Kriegsjahren hatten vor allem Künstler, wie Maler, Bildhauer, Autoren und Musiker große Aufgaben zu bewältigen. Kunstwerke, die mehr als ein Jahrzehnt lang als „entartet“ galten und verboten waren, erlebten eine Wiedergeburt. Gleichzeitig wollte Neues geschaffen werden. Kaum ein Jahr nach Kriegsende entstanden in Wien zugleich zwei Gruppierungen von Künstlern. Der Art Club im Künstlerhaus und die Künstlervereinigung in der nahe gelegenen Sezession. Die einen waren Verfechter der abstrakten Kunst, die anderen Protagonisten und Gründer des Wiener phantastischen Realismus, der zu dieser Zeit seinen Durchbruch erlebte. Beide hatten große Visionen, doch wie das so ist, wo Kreative aufeinandertreffen, blieb Konkurrenz nicht aus. Bald standen sich die Vereinigungen unversöhnlich gegenüber, und es kam zur unvermeidlichen Trennung. Über allem schwebte wie ein Allvater Albert Paris Gütersloh.

Der Kunsthistoriker Alfred Schmeller fand für den Artclub ein neues Zuhause im Kärntnerdurchgang, den Keller unter der berühmten American Bar, die Alfred Loos im Jahre 1908 entworfen hatte. Der Eigentümer dieser Lokalitäten war Max R. Lersch. Die kahlen Wände des Gewölbes wurden pragmatisch mit Strohmatten ausgekleidet. Das waren Matten aus zusammengebundenem Stroh, wie man sie zu dieser Zeit auf Baustellen zum Abdecken brauchte. So entstand der Name „Strohkoffer“. Es gab einige Zugänge zu diesem Keller. Der Haupteingang war, von der Straße her gesehen, rechts von der Kärntnerbar gelegen. Durch einen mit Holz getäfelten, schmalen und dunklen Gang wurde der Besucher über eine enge gewundene Holzstiege zum eigentlichen Vereinslokal hinunter geführt. Durch die Loos-Bar selbst konnte man unterirdisch in das Kellerlokal gelangen. An den Toiletten vorbei kam man über eine Wendeltreppe aus Metall auf eine Plattform, von wo gerne Tasso, der Schäferhund des Max Lersch, das Treiben unter ihm beobachtete.

Tasso
Tasso in seinem Lieblingsplatz

Im Lokal gab es zwei Nischen mit Tischen, gepolsterte Bänke und ein paar Stühle. Mitten im Raum stand ein Bösendorfer-Flügel. Der Keller war ausreichend groß, da er nicht nur die Fläche unter der Loos-Bar, sondern weiter hinaus großteils die des gesamten Hauses darüber einnahm. Tagsüber hatte der Strohkoffer die Aufgabe eines Ausstellungslokals. An den Wänden und an Schnüren von der Decke hängend waren Bilder der jungen, aufstrebenden Künstlerschar zu besichtigen. Nahtlos, etwa ab achtzehn Uhr, wandelte er sich zu einem vergnüglichen, öffentlich zugänglichen Vereinslokal. Die dort ausgestellten Gemälde und Skulpturen waren von nächtlichem Tabakrauch gebeizt. Ein Geruch, der sich in den Strohmatten an den Wänden festsetzte und, kalt geworden, tagsüber die Nasen der Ausstellungsbesucher beleidigte. Die von den abendlichen Besuchern kaum beachteten Exponate repräsentieren heute einen Wert von einigen Millionen Euro. Doch zu dieser Zeit ging es weniger um den Marktwert, sondern um die Gemeinschaft. Hier trafen sich die Großen und die Noch-Nicht-Arivierten der Kunstszene aus gesamt Österreich. Unter ihnen H. C. Artmann, Friedensreich Hundertwasser, Helmut Qualtinger, Erni Mangold und Alfred Schmeller. Es war ein Ort, an dem nicht nur Kunst, sondern ebenfalls großartige Geschichten entstanden. Und ja, daneben oft heftiger Streit.

Die Gastronomie erschöpfte sich in belegten Brötchen und heißen Würstchen mit Senf. Dazu gab es Bier oder Wein aus den legendären Dopplerflaschen. Erhitzt wurden die Würstel in der unterirdischen Küche, die ursprünglich für das darüber liegende Lokal erdacht war. Deshalb gab es einen handbetriebenen Speisenaufzug nach oben. Der dritte Zugang führte durch diesen Küchenraum in den Keller des Nachbarhauses, der wiederum seinen Ausgang zur Seilergasse hatte. Das war ein Relikt aus dem Zweiten Weltkrieg, da wurden aus Gründen des Luftschutzes zwischen benachbarten Kellern der Wohnhäuser Durchgänge gebrochen. Diese geheime, durch eine Stahltüre gesicherte Öffnung, wird später einmal in dieser Geschichte eine wichtige Rolle spielen.

In diese Zeit des Aufbruchs stolperte ich als Youngster hinein, mitten in eine lebhaft-animierte Gesellschaft von Studenten und Professoren der Kunstakademien. Zugegeben, die bildende Kunst ließ mich damals kalt. Aber an Musik gab es im Keller Fulminantes zu erleben. Hier ereigneten sich magische Jamsessions, wie sie nur in dieser Epoche möglich waren. Zwanglos ergaben sich hinreißende Improvisationen mit Friedrich Gulda, Hans Kann, Uzzi Förster, Joe Zawinul und zahlreichen anderen Musikern. Unvergesslich bleiben Gulda und Zawinul vierhändig improvisierend! Unwiederbringliche Sternstunden des Jazz, die das Publikum in atemloses Staunen versetzten. Ein Jammer, dass ich damals von Tontechnik noch keine Ahnung hatte!

Ich mischte mich fast täglich unter diese illustre Runde, oft freundschaftlich, manchmal ehrfürchtig. Dabei begegnete ich Persönlichkeiten, die später Weltruhm erlangten: Alfred Schmeller, Kurt Moldowan, Friedensreich Hundertwasser, Helmuth Leherb, Rudolf Hausner, H. C. Artmann, Konrad Bayer und der unermüdlich Pfeife rauchende Heinz Leinfellner, stets flankiert von seinen Schülern. Helmut „Quasi“ Qualtinger war eine Naturgewalt für sich, ebenso wie Kurt „Sowerl“ Sowinetz. Erni Mangold, frisch gekürte Schönheitskönigin, glänzte neben Wolfgang Hutter, dessen Haar zu jener Zeit noch vollkommen dunkel war.

Und einige andere, später in Vergessenheit geratene Künstler. Doch jeder hatte seinen Platz in diesem Kaleidoskop. So etwa Ferdinand Kitt, den man manchmal zu einem Plausch überreden konnte, oder L. E. Pötzelberger, den Schriftsteller mit notorischem Hang zum Alkohol. Seine Frau Peggy pflegte ihn mit liebevoller Disziplin: Jeden Morgen brachte sie ihm ein Glas Rum ans Bett, ohne das er sich gar nicht erst zum Aufstehen bemüht hätte. Ein weiteres Original war Kurt Kobalek, Arbeiterdichter und Kohlenhändler, der die meisten Texte für Qualtinger lieferte und dabei vermutlich ebenso viel Kohlebriketts wie Gedichte durch seine Hände gleiten ließ.

Nicht zu vergessen die Schauspielerriege um Johanna „Hannerl“ Matz und ihrem späteren Ehemann Karl Hackenberg, sowie der liebenswerte Regisseur Erich Neuberg, der sich spektakulär das Leben nahm. Die Geschichte, er hätte sich auf der Bühne des Ronacher erhängt, trug viel zur Legendenbildung bei. Unter den berühmten Besuchern dieses Kultlokals war einmal der „dritte Mann“ Orson Welles, der sich im Suff wegen seines ungebührlichen Verhaltens von einem Gast eine Ohrfeige einhandelte, wie man mir erzählte. Es würde leichter fallen nur diejenigen aufzuzählen, die den Strohkoffer selten oder gar nicht frequentierten. Das waren die Glücklichen, die keine Beeinträchtigung ihrer Leberfunktionen zu befürchten hatten. Denn zur Freude des Lokalbesitzers Max „Mackie“ Lersch, floss reichlich Alkohol durch die Kehlen der arrivierten und potenziellen Berühmtheiten. Meist aus „Dopplern“ eingeschenkt, wie man die Flaschen mit einem Füllvolumen von zwei Litern nannte, servierte Kurt Baumgartl, der über eine beeindruckende Kundenbindung verfügte, den Besuchern grünen Veltliner. Flaschenbier wurde ebenfalls gerne genommen. Es waren seine Gäste, denn er hatte sie fest im Griff, stundete oft mittellosen Künstlern die Bezahlung, in verschiedenen Fällen vergaß er später die Schuld einzufordern. Was seinen Künstlerfreunden manchmal das Überleben sicherte. Kurt war ein menschliches Faktotum, gezeichnet von einer violetten Hautverfärbung, welche die gesamte rechte Gesichtshälfte überzog. Was aber seiner stillen Autorität keinen Abbruch tat.

Apropos Alkohol, irgendeinmal fuhr ich Freund H. C. Artmann nach Hause, der sturzbetrunken hinten auf der Ladefläche des Kombis die Fahrt verschlief. Wir hatten einige literarisch-philosophische Gespräche miteinander, doch aufgrund irgendwelcher Umstände trafen wir uns nach diesem nächtlichen Transport nie mehr wieder. Lange Zeit hatte ich das von ihm im Auto vergessene Buch „The Dean Of Scotland“ wie einen Schatz bis zu einem weiteren Treffen und zum Andenken aufgehoben und gehütet. Etwa sieben Jahre nach Kriegsende gab es bei den Künstlern kleine Unsicherheiten über die endgültige weltanschauliche Linie, in die sie ihre Bemühungen richten wollten. Ob sie sich mehr dem französischen Existenzialismus nach Jean-Paul Sartre näher verbunden fühlten, oder sich eher Eigenem, Wienerischem widmen mochten. Auf Grund einer Einladung war einmal Jean Cocteou, ein Vertreter des Existenzialismus, Gast im Strohkoffer. Was den nach Halt suchenden Kunstschaffenden genauso nicht weiter half. Diese Periode des Zwiespalts drückte sich selbst in ihrer unterschiedlichen Kleidung aus. Manche der jungen Protagonisten trugen beständig Sakko und Krawatte (wie Konrad Mayer,) andere waren schon recht legèr in ihrem Outfit. Alle hatten aber eines gemeinsam, den trendigen, der britischen Armee entlehnten, Dufflecoat in Kamelhaarfarbe. Ein unpraktisches Kleidungsstück. Die zwei aufgesetzten Taschen waren geräumig, allerdings unverschlossen, dadurch gingen deren Inhalte leicht verloren. Und durch den Spalt vorne, den ausschließlich drei Knebelverschlüssen zusammenhielten, zog es empfindlich kalt unter den Mantel.

Aus: Der Standard

Unter den Stammbesuchern des Strohkoffers hatte sich ein bemerkenswerter Zusammenhalt gebildet, der mir eines Abends buchstäblich das Gesicht rettete. Gemeinsam mit dem langen Journalisten und Schriftsteller Helmuth B. schlenderten wir die Kärntnerstraße entlang, als uns von der anderen Straßenseite einige betrunkene Halbwüchsige aus Niederösterreich lautstark provozierten. Zu zweit fühlten wir uns stark und konterten schlagfertig, was wir bald bereuen sollten. Die Burschen überquerten die Straße, und plötzlich war mein tapferer Mitstreiter wie vom Erdboden verschluckt. Vermutlich hatte er sich taktisch klug in die nahe gelegene „Adebar“ geflüchtet. Ich hingegen stand jetzt allein einer Gruppe gegenüber, die zahlenmäßig eindeutig überlegen war. Ein Passant, der meine missliche Lage offenbar erkannte, muss die Nachricht von der drohenden Eskalation rasch in den Vereinskeller getragen haben. Auf einmal quoll, einer Vulkaneruption gleich, eine Schar von etwa einem Dutzend Künstlern aus dem Strohkoffer. Diese bunte Truppe unterschiedlicher kreativer Strömungen klärte die Situation allein durch ihr massives Auftreten und verschonte mich damit vor einem gebrochenen Nasenbein.

Dann gab es in Wien die Unterwelt, die sich mit Stoß spielen und anderen verbotenen Tätigkeiten ihr täglich Brot verdienten. Die war es, welche Mackie Lersch und seine Lokale beschützte. Dafür bekamen diese Herren im dunklen Anzug, mit weißem Hemd und Krawatte in der Loos-Bar Kognak oder Whisky kostenlos, kamen aber nie zu den Verrückten in den Strohkoffer hinunter. In der eleganten Bar waren die Könige der „Galerie“, wie sie ihren Berufsstand selbst nannten, der G’schwinde, der Toch Heinzi, der Kriĉ Gustl und andere öfters präsent. Für Mackie Lersch war dieser Schutz ein zweischneidiges Schwert. So musste er gelegentlich handgreiflich werden, wenn einer der Herren mehr Alkohol als Selbstbeherrschung intus hatte. Trotz seiner wenig furchteinflößenden Statur gewann Mackie solche Auseinandersetzungen doch regelmäßig, was ihm Respekt und Ansehen in der Galerie einbrachte.

Daneben gab es die Kriminellen, die nicht zur Galerie der Gentlemen gehörten und einem anderen Kodex folgten. Die waren aber eher in den Außenbezirken zu Hause und kamen nur selten in die Innenstadt. Dennoch wurde Mackie einmal so schwer von einem solchen verletzt, dass er wochenlang im Krankenhaus bleiben musste.
Die Sache begann harmlos. Mackie und ich beschlossen die Nacht im Goesser-Keller bei Gulaschsuppe und Bier ausklingen zu lassen. Dabei erhielt Mackie den vertrauensvollen Auftrag, auf die attraktive Freundin von Kriĉ Gustl aufzupassen, der anderweitig in Geschäften unterwegs war. Wir saßen zu dritt an einem Tisch, unter dem friedlich der Schäferhund Tasso lag. Da tauchte ein verwahrlost wirkender Mann auf, der offenbar entschlossen war, das Mädchen abzuschleppen, ungeachtet unserer Anwesenheit. Solch frechen Einbruch in sein Revier konnte sich der Herr der Kärntnerbar nicht bieten lassen, außerdem war er für den Schutz der jungen Dame verantwortlich. Barsch versuchte er den ungebetenen Gast zu verscheuchen. Ein Wort gab das andere, die Aufforderung nach draußen zu kommen, schlug der siegesgewohnte Mackie nicht aus.

Ich blieb mit Tasso und der jungen Frau im Lokal zurück, doch ein mulmiges Gefühl ließ mich Mackie die Stufen hinauf folgen. Freudig mit dem Schwanz wedelnd folgte mir große Schäferhund zum Hintereingang des Goesserkeller. Ich kam rechtzeitig oben an, denn da war Max inmitten der äußeren Kärntner Straße, dort wo tagsüber die Straßenbahnen fahren, und wurde von drei Männern attackiert. Mein tief nach vorne gebeugter Freund vermochte sich der Übermacht nicht zu erwehren. Der schmächtigste von ihnen schlug mit der Faust auf seinen Rücken ein, erst auf den zweiten Blick erkannte ich, dass der Mann ein Messer in der Hand hielt! Ohne zu überlegen, stürmte ich los, leicht behindert durch den verspielt herumhüpfenden Hund. In vollem Tempo rannte ich näher, da ließ der kleinwüchsige Gauner von seinem Opfer ab, duckte sich, und richtete die Waffe auf mich. Abbremsen war nicht mehr möglich, so sprang ich im letzten Moment in die Luft. Dieser Sprung nach Martial Arts rettete mich vor einem Stich in den Bauch, aber vermutlich ebenso Mackies Leben. Die Angreifer ergriffen die Flucht und verschwanden in die Bösendorfer Straße..

Tasso stürzte sich freudig schwanzwedelnd auf Max, derweil ich den schwer Verletzten stützte und zurück zum Hintereingang des Goesserkellers führte. Dort hatte das Lokal auf Straßenebene zusätzlich einen kleinen Ausschank für die Laufkundschaft. Das zu beschützende Mädchen war ebenfalls heraufgekommen und brachte einen Stuhl mit auf die Straße. Da saß nun Max von der Stirne heftig blutend vor dem Lokal und wünschte sich einen Kognak. Während die junge Frau Rettung und Polizei rief, bestellte ich ihm ein Glas Brandy, das er in einem Zug leerte. Sein Gesicht war eine einzige klaffende Wunde. Ein Schnitt zog sich von der Stirn über das Auge bis zur Wange, und das leere Schnapsglas füllte sich ungewollt mit seinem Blut. Der Kellner hinter dem Schanktisch nahm es mit einer Mischung aus Pflichtbewusstsein und leichtem Entsetzen entgegen.

Rettung und Polizei trafen gleichzeitig ein. Zwei Polizisten liefen sofort in die Richtung, die ich ihnen angab. Mackie wurde umgehend verbunden und ins allgemeine Krankenhaus im alten Haus in der Spitalgasse gebracht. Die Stiche in den Rücken waren so tief, dass für ihn Lebensgefahr bestand. Es folgten Operationen, die über einige Stunden dauerten. Ein längerer Aufenthalt im Spital war unvermeidlich und der verspielte Wachhund Tasso blieb zur Pflege bei mir, treu und unbeeindruckt von den Ereignissen.

Noch in derselben Nacht wurden zwei der Angreifer verhaftet. Am nächsten Tag wurde ich ins Polizeikommissariat am Deutschmeisterplatz geladen, um als Zeuge auszusagen. Dort traf ich auf Kriĉ Gustl, der merklich in Rage war. Wir saßen in einem Vorraum, durch den Beamte die zwei Delinquenten hintereinander an uns vorbei in den Verhandlungsraum führten. Gustl, groß gewachsen und von kräftiger Statur, sprang unerwartet behände auf und streckte den ersten Kerl mit einem Fausthieb nieder. Totalschaden. Ich wollte nicht hintanstehen und desgleichen mit dem zweiten Kleineren, dem Messerstecher, anstellen. Doch bevor es dazu kam, war schon ein Polizist dazwischen gesprungen. Gustl wurde auf der Stelle verhaftet, aber nach einigen Stunden wieder frei gelassen.

Vierzehn Tage lag Mackie im Spital. Dann kam er zurück ins Leben, besser gesagt, ins Nachtleben. Die Narbe des langen Cuts, den Max sich bei diesem Gefecht neben dem linken Auge eingehandelt hatte, war gerötet und hob sich deutlich von der sie umschließenden Haut ab. Obwohl die Entzündung mit der Zeit zurückging, blieb die Narbe bis zu seinem Lebensende sichtbar. Er trug sie mit ein wenig Eitelkeit wie ein Student, der bei einer Mensur einen Schmiss davongetragen hat. Max war zehn Jahre älter, und ich mindestens so stolz ihn zum Freund zu haben, wie er auf seinen neu erworbenen „Cut“.

Ja, es war eine Freundschaft unter Männern, bedingungslos und verlässlich. Beide waren wir nie ernsthaft erwachsen geworden, daraus ergab sich eine gewisse Seelenverwandtschaft. Darüber hinaus war er erfahrener, stärker, draufgängerischer, hatte ungleich größeren Erfolg bei den Damen, trank mehr und würfelte besser. Aus diesen Qualitäten lernte ich und genoss den Vorzug, falls einmal ein Mädchen überzählig war, davon zu partizipieren. Nie hob er den Altersunterschied zwischen uns hervor und behandelte mich stets gleichberechtigt. Wenn das nicht genügend Gründe sind, uns Freunde zu nennen? ichberechtigt – das waren wir immer. Wenn das keine Freundschaft ist, was dann?

Seine verstorbenen Eltern waren Betreiber der legendären Loos-Bar und zwei anderer Lokale. Den Erzählungen Mackies zufolge fuhren sie lange nach Einführung des Automobils traditionell vierspännig vor. Er hatte von seiner Mutter die American Bar und die ein paar Stockwerke darüber liegende elterliche Wohnung geerbt. Das wirtschaftliche Talent seiner Eltern hatte er leider nicht übernommen. Die Einnahmen der Bar sah er als flüssiges Kapital, im wahrsten Sinne des Wortes. Sagen wir, wie es war, er versoff die täglichen Einnahmen und spendete davon großzügig netten Damen Drinks in anderen Bars und Nachtclubs. Zum großen Missvergnügen von Maria, einer gescheiten und im Nachtgeschäft bewanderten Frau, die er mit dem Lokal von seiner Mutter übernommen hatte, und welche die American-Bar weiterhin verantwortungsvoll führte. Dank ihr behielt die Loos-Bar ihren Ruf als verlässlicher Anlaufpunkt im Wiener Nachtleben, trotz Mackies Eskapaden.

Lersch mit Mutter

M. R. Lersch in jungen Jahren. Die Dame links ist wohl seine Mutter.

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