Kälte, die bis unter meine Bettdecke dringt, weckt mich. Dunkelheit rundum. Durch das offene Fenster sehe ich den sagenhaft klaren Sternenhimmel, aber es zieht die kühle Nachtluft der Sahara herein. Ich ziehe eine Jacke an, klappe den Fensterflügel zu und beschließe, bis Tagesanbruch weiter zu schlafen. Mit Sonnenaufgang steige ich aus dem Bett und bin mit dem Status quo durch und durch zufrieden. Da ergreift mich große Lust zu schreiben. Obwohl es mein Plan war, erst einmal die Gegend zu erkunden, packe ich den Laptop aus. Er fährt trotz der tagelangen, holperigen Transporte über die Wellblechpisten ohne Mucken hoch, ebenso das Schreibprogramm, und ich beginne dieses Kapitel in den Computer zu hacken.
Da die Geschichten, von denen ich erzählen will, mit meiner Person eng verwoben sind, erscheint es notwendig, die Leser über mich zu informieren. Man möge mir dabei das Fortlassen von Binnen-I, Sternchen und anderen feministischen Manifestationen verzeihen. Das generische Maskulinum ist dem Lesefluss der deutschen Sprache zuträglicher. Ich benütze traditionelle Methoden, um meine grundlegende Hochachtung und Verehrung des weiblichen Geschlechts zu dokumentieren. Zur Stabilisierung mühsam errungener Emanzipation waren solche Gleichstellungskennzeichen anfänglich sicher wichtig, die junge Generation unserer Kulturen hat die Gleichberechtigung längst verstanden und übernommen. Und in vielen Ländern, die einsichtslos patriarchalen Gesetze folgen, ist die Befreiung der Frauen nicht mehr aufzuhalten.
Die Sterne und meine Eltern haben mir unbändigen Gerechtigkeitssinn und Freiheitsliebe mitgegeben. Ständige Machtkämpfe mit der älteren dominanten Schwester erlaubten es mir nicht, diese Tugenden auszuleben. Meine hochanständigen und braven Erzeuger hatten keine Zeit, sich mit verschiedenen Problemen ihres Sohnes auseinanderzusetzen, oder verstanden sie ob ihrer eigenen selbst genossenen strengen Erziehung nicht. In ihrer elterlichen Sorge meinten sie sicher, dass geschulte Leute mit Autorität den geliebten Widerspenstigen zähmen könnten. Lehrer, Professoren und Präfekten wurden darüber informiert und die handelten dementsprechend autoritär. Prompt verfehlten sie damit das angestrebte Ziel. War ich deshalb missraten? Etwas mehr Empathie der diversen Lehrkörper hätte deutlich bessere Erfolge erzielt. Da war einmal ein Physiklehrer. Obwohl meine Leistungen in Mathematik immer bescheiden waren, zählte ich eine Zeit lang im Fach Physik zu den Besten der Klasse. Dieser Mann hatte es verstanden, Ehrgeiz und Freude am Lernen bei mir zu wecken.
Niemand kann behaupten, ich wäre ein unmöglicher Schüler gewesen. Genossen doch innerhalb kürzester Zeit etliche Gymnasien meine flüchtige Anwesenheit. Die Wechsel von einem Institut zum anderen fanden rasch hintereinander statt. Das war für meine schulische Weiterbildung keineswegs hilfreich. Da ich mit den seinerzeit üblichen Lehrmethoden nicht einverstanden war, bildete ich mich am Vormittag lieber in Lichtspieltheatern. Beispielsweise im Schäffer-Kino bei „Gentlemen with Guns“, oder konsumierte im Opernkino mehrmals die „Badende Venus“ mit Esther Williams, Red Skelton, Harry James und Xavier Cugat. Ein unrühmliches Ende fand mein Gastspiel bei den „Piaristen“. Nicht nur dass man mir fälschlicherweise das Verbreiten von Zeitschriften pornografischen Inhaltes anlastete, sprengte ich in der Zeichenstunde das Kanonenöfchen des Klassenzimmers in die Luft. Das enorme Ausmaß der Explosion war nicht beabsichtigt, es lag sicher an der Menge des dazu verwendeten Schwarzpulvers. Trotz anfänglich begeisterter Zustimmung der Klassenkameraden für das Vorhaben, verrieten sie mich, unter Druck gesetzt, unisono als Täter. Ich vermute, der erste und einzige Gymnasiast gewesen zu sein, der ein Nichtgenügend in „Betragen“ seines Zeugnisses vorfand.
Die darauffolgende Disziplinierungsmaßnahme war, mich in das Vollinternat der Schulbrüder in Strebersdorf bei Wien zu stecken. Ich war dort inmitten wohlgenährter Bauernsöhne aus der näheren und weiteren Umgebung der Anstalt. Kurz vor den Weihnachtsferien lud mich einer dieser freundlichen Buben ein, mit ihm in sein Elternhaus zu kommen. Nach dem Abendessen brachen wir auf. Es folgte ein Fußmarsch über etwa vier Stunden in finsterer Nacht durch die tief verschneite Landschaft. Wir kamen an toten Pferden vorbei, die vermutlich beim Ziehen der russischen Panjewagen zusammengebrochen waren. Die Kadaver waren an Ort und Stelle liegen gelassen, steif gefroren und ihre Bäuche waren aufgebläht.
Im warm geheizten Bauernhof gab es vorzügliches Essen und zwei Stunden Schlaf. Um Mitternacht wurde ich geweckt. Man schenkte mir für zu Hause ein Tannenbäumchen, das mich in der Länge um Wesentliches überragte. Vor dem Stall stand ein turmhoch mit Heu beladener, von zwei Pferden gezogener Leiterwagen bereit. Hoch oben auf der Ladung sollte mein Platz sein. Mittels angelegter Leiter kletterte ich hinauf und machte es mir in dem duftenden Heu mit einer Decke so gemütlich wie möglich. Es ist anzunehmen, dass sich tief unter mir im Heu vergraben Schmuggelwaren wie Speck, Würste und Honig befanden, die für den Schwarzmarkt in der Stadt bestimmt waren. Womöglich diente ich als Schutzschild bei Kontrollen oder räuberischen Handlungen durch Angehörige der sowjetischen Besatzungsmacht, da es bekannt war, dass sich die rauen Rotarmisten zu Kindern äußerst freundlich verhielten.
Das gleichmäßige Knirschen der Räder sowie das regelmäßige Klappern der Pferdehufe ließen mich trotz Eiseskälte bald einschlafen. Bei Tagesanbruch hielt der Bauer vor dem Parlament, wo ich in eine der ersten morgendlichen Straßenbahnen der Linie 49 stieg. Mich fror es erbärmlich, da ich bei der langen Fahrt auf dem Pferdewagen bei Minusgraden in die Hose genässt hatte. Zu Hause wurde ich von meinen Eltern, Vater war kurz vorher aus der Kriegsgefangenschaft heimgekommen, mit großer Liebe aufgenommen. Zur allgemeinen Enttäuschung hatten wir jetzt zwei Christbäume.
Nach den Feiertagen vergingen einige Wochen im Internat der katholischen Schulbrüder. Die Bauernbuben hatten von daheim Schmalz, Speck, Backwaren und alle die Köstlichkeiten, die liebende Mütter ihren Söhnen eben mitgeben. Selbst ich hatte ein paar von Weihnachten übrig gebliebene Kekse im Gepäck. Die siegreiche Sowjetunion hat die österreichische Bevölkerung in den ersten Monaten nach Kriegsende mit eiweißhaltigen, getrockneten Erbsen in großen Mengen versorgt. Hungrig saß ich im Speisesaal des Internats vor meinem Erbsengericht. Abwechslung war gegeben, denn da schwammen gelbe Hülsenfrüchte neben dunklen, fast schwarzen, in der breiartigen Speise. Voller Neugier, da ich schwarz schimmernde Erbsen nie vorher gesehen hatte, untersuchte ich nach einigen Happen eine davon genauer. Mein biologisches Verständnis sagte mir, dass Pflanzenprodukte niemals sechs Beinchen haben. Obwohl kein Vegetarier, zog ich daraus die Konsequenz und löffelte diese ernährungstechnisch sicher ausgewogene Mischkost, in ein leeres Einsiedeglas. Das versteckte ich in der Lade unter meinem Essplatz. Doch der strenge Präfekt beobachtete diesen Vorgang und zwang mich, das inzwischen kalt gewordene Gericht samt Käfern zu verspeisen. Bei nächster Gelegenheit lief ich davon und nach Hause.
Ein paar Jahre vorher. Es war in der dritten Klasse Volksschule, da betraten in der Zeit des Unterrichts drei Herren das Klassenzimmer. Zwei in hellbraunen Uniformen mit allen Attributen der NS-Partei, und einer in Zivil mit goldenem Parteiabzeichen im Knopfloch seiner Jacke. Obwohl ein intelligenter und aufgeweckter Schüler, ersparte mir meine ausgeprägte Aversion gegen Leibeserziehung, wie Turnen damals hieß, einige Jahre strengster Disziplin im Internat der NAPOLA (Nationalsozialistische politische Erziehungsanstalt), die Schule für den Parteikader. Die Volksschule hat bei mir einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Ich trug in dieser Zeit, wie alle Jungen, kurze Hosen. Die ermöglichten es dem Herrn Oberlehrer W. meine damals zarten Arschbäckchen direkt zu überprüfen, indem er mit der Hand von unten hineinfuhr. Ab diesem Erlebnis habe ich nie mehr kurze Hosen getragen. Selbst später, freiwillig dem Fanfarenzug vom Bann 501 des deutschen Jungvolks angehörend, trug ich entgegen der Norm lange Uniformhosen.
Ja, ich war ein „Pimpf“ mit all den dazugehörenden äußerlichen Zeichen. Ich trug zu schwarzen Hosen ein braunes Hemd, aber zusätzlich eine Koppel mit Schulterriemen und ein HJ-Fahrtenmesser. Attribute, die strenggenommen erst Hitlerjungen im Alter ab vierzehn Jahren zustanden. Dazu ein schwarzes Halstuch, das vorne am Hemdkragen durch einen aus hellbraunem Leder geflochtenen Ring zusammengehalten wurde. Vermutlich wegen meines jugendlichen Alters nahm niemand Anstoß daran. Ich lebte in einer eigenen kleinen Welt, was die Erwachsenen taten und sagten, war mir egal, solange sie mich nicht unsittlich berührten. Eines Tages bekam ich eine hellblaue Armbinde mit einem weißen „M“. Von da an war es amtlich, ich war „Melder“, freiwillig aber zu jung dafür, und hatte das Recht, bei Fliegeralarm auf der Straße herumzulaufen oder Dachböden zu besteigen. Die Aufgabenstellung war, bei Sichtung eines Brandes die Feuerwehr zu verständigen. Darüber hinaus wurde mir einen wesentlich zu großer chromglänzender Feuerwehrhelm verpasst, der mir das Aussehen etwa von Darth Vader gab.
Meine einzige tatsächlich verdiente und verliehene Auszeichnung war eine grünweiße Kordel, genannt Affenschaukel. Die wurde mir zuteil, weil ich nach der Bombardierung des Floridsdorfer Marktes den Fund eines Blindgängers oder einer Zeitbombe gemeldet hatte, die auf meinem Weg lag. Ich wurde damit zum Jungenschaftsführeranwärter. Das geschah aber Anfang 1945, da wurden bereits Buben unter vierzehn Jahren in Phantasieuniformen gesteckt, mit alten Karabinern und einer Handvoll Munition ausgestattet an die Front geschickt. Deshalb wurde diese Beförderung formlos überreicht. Doch das tat meinem Stolz keinen Abbruch.
Es war gegen Kriegsende, bei einem Besuch bei den Großeltern am Wiedner Gürtel, da gab es wieder einmal Fliegeralarm. Alle Hausbewohner begaben sich eiligst in den Keller. Der gegenüber liegende Südbahnhof war ein strategisch wichtiges Bombenziel, weshalb mir meine Mutter den Aufenthalt im Haus oben verbot. Außer einem Greis waren nur Frauen im Luftschutzraum versammelt, der, im Souterrain gelegen, bei einem direkten Bombentreffer nicht ernstlich Schutz geboten hätte. Ein enormer Knall löste eine Staublawine in unserem Keller aus, die frei an ihren Drähten hängenden Glühbirnen wackelten heftig und das Licht flackerte beängstigend. Einige der Damen quietschen hysterisch, so dass ich, mich meiner verdienstvollen Aufgabe als Melder erinnernd, aus dem Keller lief. Das mehrstöckige Gebäude nebenan, im Stil der Gründerzeit gebaut, war ein riesiger, rauchender Schutthaufen. Die Bombe hatte das Hotel Savoy wie mit einem Messer aus der Häuserzeile geschnitten. In unserem Haus hingegen war das Treppenhaus unbeschädigt, aber alle Fenster geborsten und einige Türen aus den Angeln gerissen. Nichts brannte, die Einrichtung war intakt, nur die Bücher im Regal hatten durch Bombensplitter Löcher abbekommen. Mit diesen doch verhältnismäßig positiven Mitteilungen kehrte ich in den Keller zu den Damen mit Greis zurück. Das beruhigte Verängstigten erstaunlich schnell.
Meine neun Jahre ältere Schwester Erika war eine Pferdenärrin, wie es viele pubertierende Mädchen einmal in ihrem Leben sind. Sie hatte eine wunderhübsche Freundin von blauem Geblüt, mit der sie die Pferde der SS-Reiterstandarte 18 im dritten Bezirk in der Barmherzigenstraße 17 und in einem anderen, privaten Stall in der Rasumovskygasse Reitpferde eines Gestüts betreute. Baronin Liesl W. war eine begnadete Springreiterin, die mich manchmal auf dem Gepäckträger ihres Fahrrades zum Reiten in die Freudenau mitnahm. Das anstatt des Schulbesuchs versteht sich! Nebenbei wollte ich unbedingt Kriegsheld werden. Die von mir verehrten Vorbilder waren die Heroen und Träger des Ritterkreuzes Nowotny, Udet, Galland, Rommel, Dietl und Co. Ärgerlich war, dass die Soldaten, welche ich konsequent provokant mit dem Hitlergruß beehrte, salopp mit der Hand am Mützenschirm zurückgrüßten. Ich hätte auch gerne salutiert, aber ein junger „Pimpf“, demnach eher der Partei zuzurechnen, durfte nur mit ausgestrecktem rechtem Arm die Ehrenbezeigung erweisen. Einmal, gegen Ende des Jahres 1944, geschah es, dass ein Soldat meinen Gruß auf gleiche Weise erwiderte. Von da an bereitete es mir ein besonderes Vergnügen, Chargen sowie einfache Landser ausgiebigst zu grüßen. Gelegenheiten dazu gab es genug, da das Wohnhaus meiner Eltern nur Schritte von der durch Militär voll belegten Stiftskaserne lag.
Dann kam der April 1945. Es gab durchgehenden Alarm, vom Flakturm aus schossen die 8,8cm Flugabwehrkanonen waagrecht Dauerfeuer in Richtung Westen. Die Fensterscheiben bogen sich durch den Druck, brachen aber wunderbarerweise nicht. Ich, mutiger Melder in voller Uniform stand auf der Straße vor dem Haustor. Von links, von der Stiftskaserne her, raste ein mit bewaffneten Soldaten überladener Kübelwagen vorbei in Richtung Westen. Mit einem Mal verstummten die Kanonenschüsse vom Flakturm, es wurde leise in der Lindengasse, nur von Weitem war Gefechtslärm zu hören. Kurz darauf kamen von rechts, aus dem Westen Wiens, die Soldaten zu Fuß zurück, benahmen sich aber äußerst merkwürdig. Sie sprangen von Haustor zu Haustor, verweilten dort etwas, um gleich wieder in der nächsten Nische zu verschwinden. Auffallend war, dass sie zwischenzeitlich die Uniformen gewechselt hatten. Diese waren nicht mehr olivgrün, sondern hatten eine dunkelgelb-braune Farbe.
Für den von der NS-Propaganda intensiv geschulten zukünftigen Helden einer stets siegreichen Wehrmacht war es undenkbar, was sich da augenscheinlich zugetragen hat. In der kompletten Adjustierung eines Jungnazis auf der Straße stehend, traf mich blitzartig die Erkenntnis, dass dies Angehörige der Roten Armee sind, obwohl sie aus dem Osten herkommend erwartet wurden. Mit einem Sprung war ich im Haus, schloss die verglaste Eingangstür und sperrte diese geistesgegenwärtig zu. Schon am Weg in den Luftschutzraum entledigte ich mich der Koppel und des HJ-Fahrtenmessers. Schweigend nahmen die im tiefen Keller wartenden Hausbewohner die Botschaft von der Eroberung unserer Gasse durch die Russen entgegen.
Zwei Tage nach der Befreiung holte ich meinen gleichaltrigen Freund zu einer Erkundungstour ab. Die Lindengasse war verstopft mit Panjewagen, den dazugehörenden Pferden und teilweise schwer alkoholisierten Sowjetsoldaten. Ein Duftgemisch aus Pferdemist, tagelang ungewaschenen Männern und Alkohol erfüllte die Gasse. Mehrmals täglich war es erforderlich, Wasser zu holen. Der Weg zum Hydranten führte durch dieses übelriechende Getümmel. Um meine besorgte Mutter kümmerte ich mich kaum, sie hatte ja ihre Tochter, auf die sie aufpasste. Um diese vor sexuellen Übergriffen durch die in gefährlicher Nähe der Haustüre stationierten Soldaten zu schützen, verfrachtete man sie auf den Dachboden, wo sie etliche Tage in einer von unten nicht einsehbaren Mauernische kampierte. Der einzige Zugang dazu war nur mit einer Leiter möglich, die sie zu sich hinaufzog und damit in Sicherheit war.
Ich selbst und mein Freund waren exakt in einem Alter zwischen herzigen Buben und pubertierenden Jungen, somit nur bedingt für unsere Aktionen zur Verantwortung zu ziehen. Was wir ausgiebig ausnützten. Die sonst eher belebte Mariahilfer Straße war verwaist, die Scheiben der meisten Geschäfte zerbrochen, die Türen standen offen. Ebenso beim „Tiller“, seit K.u.K.-Zeiten ein Herren- und Uniformschneider der oberen Klasse. Statt der herumliegenden Stoffballen oder Reitstiefel faszinierten mich ausschließlich die Orden in den Ausstellungstruhen. Vom einfachen Tapferkeits- und Parteiabzeichen angefangen, bis zum Ritterkreuz mit Eichenlaub und Schwertern und Brillanten lagen dort zum Greifen nahe die von mir erträumten glitzernden Beweise von Heldentum. Ich füllte ein kleines Köfferchen gestrichen voll mit diesen Herrlichkeiten. Mein Freund war urplötzlich verschwunden und ich schleppte die gewichtige Beute allein heimwärts, an eben den sowjetischen Frontkämpfern vorbei, die ihr Überleben mit aus der Stiftskaserne erbeuteten Alkoholika feierten und kein Interesse an mir oder dem Ordensschatz zeigten. Zu Hause hatte ich die Teile meiner Uniform unter das Bett gestopft, das recht schwere Köfferchen mit den Glorifizierungen in ein Regal gestellt. Doch leider wurden diese Schätze bald von besorgten Familienmitgliedern gefunden, und meinem von mir geliebten, angeheirateten Onkel Karl Fochler zur Entsorgung übergeben, der diesen Auftrag leider gewissenhaft und gründlich durchführte.
Die Frauen haben in dieser Zeit Unglaubliches durchgestanden und geleistet. Schon im Krieg, von ihren Männern gezwungenermaßen allein gelassen, haben sie selbständig gewirtschaftet. Die daraus gewonnenen Erfahrungen konnten sie in den folgenden Jahren erfolgreich anwenden. Selbst nach der Heimkehr ihrer geschwächten, erkrankten und invaliden Männer aus der Kriegsgefangenschaft trugen sie lange die Hauptlast und Verantwortung. Die Beschaffung von Lebensmitteln war darüber hinaus extrem mühsam. Es gab bis ein paar Jahre nach Kriegsende Lebensmittelkarten. Mit Abschnitten davon lief ich zum Bäcker an der Ecke Kirchen- und Siebensterngasse. Nicht immer mit Erfolg, denn sobald ich hinkam, standen schon Frauen und Kinder in langer Schlange davor an. Sie warteten seit Stunden auf das Öffnen des Geschäftes. Manche saßen in Decken gehüllt auf kleinen mitgebrachten Hockern. Am Ende der Menschenschlange gereiht, gab es nur wenig Chancen auf Marken Brot zu beziehen. Zusätzlich zu den kargen offiziellen Rationen musste Nahrhaftes beschafft werden. Die tapferen Frauen, so wie meine Mutter, rafften den vor Plünderungen geretteten Familienschmuck zusammen und tauschten ihn gegen Lebensmittel. Ohne Standesunterschiede kletterten die Damen über die aus dem Wasser ragenden Reste der Floridsdorfer Brücke nach Norden, wo damals noch Bauernhöfe standen. Beladen mit landwirtschaftlichen Produkten kehrten sie dann am selben Weg wieder heim zu ihren Familien.
Im Stockwerk unter der elterlichen Wohnung gab es eine Pension. Diese Unterkunft hatten politische Kommissare der Roten Armee, das waren speziell ausgebildete Führungsoffiziere und Angehörige des KGB, für sich akquiriert. Sie waren leicht an den knallgrünen Tellerkappen zu erkennen, was automatisch für das gesamte Haus einen gewissen Schutz gegen Plünderungen ergab. So wirklich sicher waren wir aber erst von dem Moment an, da einer der Herren Kommissare das Klavierspiel unserer Mutter hörte, die unberührt vom Weltgeschehen weiterhin Gesang unterrichtete. Eines Nachmittags läutete es an der Eingangstüre Sturm. Ich lief mit meiner Mutti hinaus, um nachzusehen, wer da kam. Mit ungutem Gefühl öffnete sie die Türe, bereit ihre Kinder und ihr Eigentum mit bloßen Händen gegen die gesamte Rote Armee zu verteidigen. Draußen stand ein Kommissar, mit der Kappe unter den Arm geklemmt, und fragte in gebrochenem Deutsch, ob er eintreten dürfe. Natürlich durfte er, es blieb ja nichts anderes übrig. Er erkundigte sich nach dem Klavier. Wir führten ihn ins Musikzimmer. Er sah den alten Bösendorfer-Flügel mit halbenglischer Mechanik, setzte sich daran und begann sofort meisterhaft zu spielen. Aber nicht nur das, er hob gleichfalls zu singen an. Mit einem prächtigen, geschulten Bariton schmetterte er mit voller Stimme Arien aus russischen Opern durch die offenen Fenster in die Welt hinaus. Die überaus laute und kraftvolle Interpretation eine Reihe von Opernarien der russischen Komponisten Tschaikowski, Mussorgski, Glinka, Borodin und Rachmaninow war für mein dem Belcanto verhaftetes Mütterchen qualvoll anzuhören. Fast täglich wiederholten sich diese nur wenig erwünschten Darbietungen.
Nach einigen Tagen zogen die Kampftruppen vor unseren Fenstern ab. Ihnen folgte der Tross, dessen Ziel hauptsächlich Vergewaltigungen, Plünderungen und vorwiegend das Konfiszieren von Uhren jeglicher Art war. Eines Morgens stürmte ein Soldat mit vorgehaltener Pistole unsere Wohnung. Wie Mütter so sind, drückte sie ihm tapfer die Waffe aus der Schusslinie, dieweilen er im Befehlston irgendwelche Anweisungen auf Russisch gab. Der singende Kommissar, dessen Politabteilung schon mit den Kampftruppen eingetroffen und in der Pension verblieben war, kam herauf gestürmt, schrie den Soldaten mit geschulter Stimme fürchterlich an, der daraufhin kleinlaut das Weite suchte. Wir hatten nach diesem nicht ungefährlichen Auftritt nie mehr Besuch von beutelüsternen Russen. Nur der Kommissar sang uns über einige Wochen die Ohren voll. Die Tage der russischen Besatzung waren gezählt, denn der siebente Bezirk wurde, wie andere in Wien, zur amerikanischen Zone erklärt.
In dieser Zeit wurde dank RAVAG (Radio-Verkehrs AG) mein intensives Interesse für Tontechnik geweckt. In einem Haus, in dem Belcanto und Kammermusik gepflegt wurden, durfte ich die Sendungen nicht hören, die meinem damaligen Kunstempfinden entsprachen und mich prägten. Doch es fand sich in einem Schrank ein altes Detektorradio, das mir heimlichen Hörgenuss ermöglichte. So wie ich nachts unter der Bettdecke mittels Taschenlampe sämtliche Bände Karl Mays verschlang, hörte ich Radio. Am Sonntagmorgen gab es „Was gibt es Neues hier in Wien“ von und mit Heinz Conrads und Gustav Zelibor. Das war leicht verdauliche und aktuelle Kost. Ich hatte vorsintflutliche Kopfhörer an einem mit Stoff ummanteltem Kabel, die mir das Aussehen eines Außerirdischen gaben, dem Antennen aus dem Kopf wuchsen. Auf einem Holzbrettchen war neben einer Schwingkreisspule der Kristall montiert. An diesem musste man erst mit der Spitze eines daneben angebrachten steifen Drahtes die am besten funktionierende Stelle finden. Dann drang die unvergessliche Stimme Heinz Conrads intim und störungsfrei an meine Ohren und sensible jugendliche Seele.
Da war mein Freund, Fritz M., mit strahlend blondem Haar, kaum größer als ich. Uns vereinte der Hang zu Handfeuerwaffen. Dies war keineswegs verborgener Mordlust zuzuschreiben, sondern der Unmöglichkeit, unsere kindlichen Träume von Heldentum in die Tat umsetzen zu können. Das dramatische Postulat der Reichspropaganda, es wäre das höchste Ziel des Mannes, mit der Waffe in der Hand fürs Vaterland zu sterben, hatte uns geprägt. Doch um selbst schießen zu dürfen, waren wir beide zu Zeiten des Krieges zu jung. Nur einmal am Heldenplatz, die Wehrmacht stellte ihre Ausrüstung vor, erhielten wir Gelegenheit, das ersehnte mattierte Metall der Karabiner, MPs und MGs zu berühren. Und jetzt lagen diese Herrlichkeiten vor uns ausgebreitet auf dem Tisch. Es waren nicht dafür vorgesehen, um mit ihnen zu schießen, sondern um Handel zu treiben. Nicht einen Schuss haben wir mit diesen Waffen abgegeben, ebenso wenig kamen wir jemals in Versuchung damit Raubüberfälle durchzuführen. Ausschließlich in unserer spielerischen Phantasie, schossen wir wild herum.
Eines Tages lernte ich einen gewissen Adolf W. kennen, wohnhaft im Nachbarbezirk in der Albertgasse,. Dieser W. hatte scheinbar unerschöpflichen Zugang zu gepflegten Pistolen, Gewehren und Maschinenpistolen verschiedener Herkunft. Deutsche Schmeisser-MP, die russischen PPD-40 mit den markanten runden Magazinen und Armee- und Polizeipistolen aus allen ehemals kriegsführenden Ländern. Die lagen frei herum und hingen in den Schränken seiner Wohnung. Dazu ausreichend die jeweils passende Munition. Eine Zeit lang ergab das eine ersprießliche Verbindung. Herr W. wusste, von wo er die Dinger bekam, ich wo man sie wieder gewinnbringend verkauft. Einerseits beim Berger am Praterstern, der dort zwei Lokale besaß. Das am rechten Eck der Praterstraße gelegene Gasthaus war dem Bürgertum gewidmet, die Gäste des am linken Eck gegenüber befindlichen Lokals waren der Unterwelt zuzurechnen. Andererseits gab es regen Absatz für die Waffen am Naschmarkt. Letzterer war in wenigen Minuten Fußmarsch von daheim zu erreichen. So wurde das Kaffee Kettenbrücke zum frequentierten Umschlagplatz. Ungeniert transportierte ich selbst größere Objekte versteckt unter meinem Mantel. Zwei- bis dreimal die Woche war ich um vier Uhr morgens dort und übergab die bestellten Waren an die Marktlieferanten, oder welchen Berufen immer diese Herren nachgingen.
Fritz, der Freund, wohnte bei seinen Eltern in der Margaretenstraße, wo in der Küche die Waffen zerlegt und auf Hochglanz geölt wurden. Wir schworen damals darauf, dass man bei unserem gefährlichen Lebenswandel höchstens ein Lebensalter von fünfunddreißig Jahre erreichen werden. Der etwas sorglose Umgang mit Munition brachte das Ende dieses nicht unbedingt legalen Handels. Wie schon weiter oben erwähnt, wurde ich nach der Explosion bei den Piaristen, verursacht durch das aus Patronen gewonnene Schießpulver, ins Internat und Gymnasium der Schulbrüder in Strebersdorf verbannt. Womit mein Zugang zu Waffen und Munition endgültig unterbunden war.