Kälte, die bis unter meine Bettdecke dringt, reißt mich aus dem Schlaf. Die herrschende Dunkelheit lässt nur Konturen des Raumes erahnen. Durch das offene Fenster erkenne ich den atemberaubend klaren Sternenhimmel, aber es zieht die kühle Nachtluft der Sahara herein. Ich ziehe eine Jacke über, klappe den Fensterflügel zu und beschließe, bis zum Tagesanbruch weiterzuschlafen. Mit den ersten Sonnenstrahlen steige ich aus dem Bett, erfüllt von einem tiefen Gefühl der Zufriedenheit mit dem Status quo. Da ergreift mich eine überwältigende Lust zu schreiben. Obwohl ich ursprünglich plante, zunächst die Umgebung zu erkunden, packe ich den Laptop aus. Trotz der tagelangen, rüttelnden Transporte über Wellblechpisten startet er problemlos, ebenso das Schreibprogramm. Und so beginne ich, dieses Kapitel in die Tasten zu hacken.
Da die Geschichten, von denen ich erzählen will, mit meiner Person eng verwoben sind, erscheint es notwendig, die Leser über mich zu informieren. Man möge mir dabei das Fortlassen von Binnen-I, Sternchen und anderen feministischen Manifestationen verzeihen. Das generische Maskulinum ist dem Lesefluss der deutschen Sprache zuträglicher. Ich benütze traditionelle Methoden, um meine grundlegende Hochachtung und Verehrung des weiblichen Geschlechts zu dokumentieren. Zur Stabilisierung mühsam errungener Emanzipation waren solche Gleichstellungskennzeichen anfänglich sicher wichtig, die junge Generation unserer Kulturen hat die Gleichberechtigung längst verstanden und übernommen. Und in vielen Ländern, die einsichtslos patriarchalen Gesetze folgen, ist die Befreiung der Frauen nicht mehr aufzuhalten.
Die Sterne und meine Eltern haben mir einen unbändigen Gerechtigkeitssinn und eine ausgeprägte Freiheitsliebe in die Wiege gelegt. Leider gab es ein Hindernis, diese noblen Qualitäten zu entfalten: ständige Machtkämpfe mit meiner älteren, dominanten Schwester. Meine hochanständigen und braven Erzeuger hatten weder die Zeit noch den Nerv, sich mit den diversen Herausforderungen ihres jüngsten Familienmitglieds auseinanderzusetzen. Oder, um fair zu sein, sie verstanden sie schlicht nicht, geprägt von ihrer eigenen strengen Erziehung. In aller elterlichen Fürsorge glaubten sie, dass geschulte Autoritäten den geliebten, aber widerspenstigen Sprössling in geordnete Bahnen lenken könnten. Lehrer, Professoren und Präfekten wurden entsprechend instruiert und handelten pflichtbewusst autoritär. Prompt verfehlten sie damit das angestrebte Ziel.
War ich deshalb missraten? Sicher nicht. Etwas mehr Empathie von Seiten der diversen Lehrkörper hätte deutlich bessere Erfolge erzielt. Ein Beispiel? Da war einmal ein Physiklehrer. Obwohl meine Leistungen in Mathematik immer bescheiden waren, zählte ich im Fach Physik eine Zeitlang zu den Besten der Klasse. Dieser Mann hatte es verstanden, Ehrgeiz und Freude am Lernen bei mir zu wecken. Eine Seltenheit, die mir nachhaltig in Erinnerung blieb.
Niemand kann behaupten, ich sei ein unbelehrbarer Schüler gewesen. Schließlich hatte ich innerhalb kürzester Zeit die Chance, etliche Gymnasien kennenzulernen. Der rasante Wechsel zwischen diesen Einrichtungen war für meine schulische Weiterbildung nicht unbedingt förderlich. Mein Unverständnis für die seinerzeit üblichen Lehrmethoden führte dazu, dass ich mich lieber in Lichtspieltheatern bildete. Im Schäffer-Kino etwa mit Western wie „Gentlemen with Guns“, oder im Opernkino, wo ich mehrfach die „Badende Venus“ mit Esther Williams, Red Skelton, Harry James und Xavier Cugat genoss. Ein unrühmliches Ende nahm mein Gastspiel bei den Piaristen. Nicht nur wurde ich fälschlicherweise des Verbreitens pornografischer Zeitschriften bezichtigt, sprengte ich in der Zeichenstunde das Kanonenöfchen des Klassenzimmers in die Luft. Das Ausmaß der Explosion war nicht geplant, eine Frage der Schwarzpulvermenge. Trotz anfänglich begeisterter Zustimmung der Klassenkameraden für dieses Experiment, kippten sie vom Lehrpersonal unter Druck unisono um und verrieten mich als Täter. Ich vermute, der erste und einzige Gymnasiast gewesen zu sein, der ein Nichtgenügend in „Betragen“ seines Zeugnisses vorfand.
Die unausweichliche Disziplinierungsmaßnahme darauf war das Vollinternat der Schulbrüder in Strebersdorf bei Wien. Dort fand ich mich wieder zwischen wohlgenährten, aber freundlichen Bauernsöhnen aus der Umgebung. Einige Tage vor Weihnachten lud mich einer dieser liebenswerten Kameraden in sein Elternhaus ein. Nach dem Abendessen im Internat brachen wir zu einem Fußmarsch auf, der sich über vier Stunden durch eine tief verschneite, stockfinstere Landschaft erstreckte. Auf dem Weg passierten wir tote Pferde, die vermutlich beim Ziehen russischer Panjewagen zusammengebrochen waren. Die steif gefrorenen Kadaver lagen am Straßenrand, die Bäuche grotesk aufgebläht. Ein surrealer Anblick, der sich mir unauslöschlich einprägte.
Im schummrigen Licht einer Petroleumlampe sass ich an einem langen Holztisch, der sich unter dem Gewicht von dampfenden Schüsseln und Brotlaiben bog. Der Bauer und seine Frau, schlicht, aber herzlich, hatten keine Mühen gescheut, den Buben aus der Stadt zu bewirten. Es gab Kartoffelsuppe, dick mit Speck angereichert, dazu fische Milch. Nach der Mahlzeit wurde mir ein Platz auf dem Ofenbrett zugewiesen, wo ich, eingehüllt in eine weiche Decke, sofort einschlief.
Nach zwei Stunden, um Mitternacht wurde ich geweckt. Der Plan war klar: ein Transport in die Stadt stand bevor, und ich war ein Teil davon. Man schenkte mir für zu Hause ein Tannenbäumchen, das mich in der Länge um Wesentliches überragte. Vor dem Stall stand ein turmhoch mit Heu beladener, von zwei Pferden gezogener Leiterwagen bereit. Hoch oben auf der Ladung sollte mein Platz sein. Mittels angelegter Leiter kletterte ich hinauf und machte es mir in dem duftenden Heu mit einer Decke so gemütlich wie möglich. Es ist anzunehmen, dass sich tief unter mir im Heu vergraben Schmuggelwaren wie Speck, Würste und Honig befanden, die für den Schwarzmarkt in der Stadt bestimmt waren. Womöglich diente ich als Schutzschild bei Kontrollen oder räuberischen Handlungen durch Angehörige der sowjetischen Besatzungsmacht, da es bekannt war, dass sich die rauen Rotarmisten zu Kindern äußerst freundlich verhielten.
Das gleichmäßige Knirschen der Räder sowie das regelmäßige Klappern der Pferdehufe ließen mich trotz Eiseskälte bald einschlafen. Bei Tagesanbruch hielt der Bauer vor dem Parlament, wo ich in eine der ersten morgendlichen Straßenbahnen der Linie 49 stieg. Mich fror es erbärmlich, da ich bei der langen Fahrt auf dem Pferdewagen bei Minusgraden in die Hose genässt hatte. Zu Hause wurde ich von meinen Eltern, Vater war kurz vorher aus der Kriegsgefangenschaft heimgekommen, mit großer Liebe aufgenommen. Zur allgemeinen Enttäuschung hatten wir jetzt zwei Christbäume.
In den Wochen nach den Feiertagen kehrte langsam der Alltag ins Internat der katholischen Schulbrüder zurück. Die Bauernbuben hatten reichlich Proviant von zu Hause mitgebracht: Schmalz, Speck, Backwaren und all die anderen Köstlichkeiten, die nur eine Mutterliebe in Vorratsdosen packen kann. Sogar ich hatte ein paar von Weihnachten übrig gebliebene Kekse im Gepäck.
Die siegreiche Sowjetunion hatte uns Österreicher nach Kriegsende mit eiweißhaltigen, getrockneten Erbsen in großer Menge versorgt. Und so saß ich eines Tages hungrig im Speisesaal vor einem dampfenden Erbsengericht. Für Abwechslung war gesorgt, zumindest farblich. Neben den bekannten gelben Erbsen schwammen da sehr dunkle Exemplare in der Masse. „Exotisch,“ war mein erster Gedanke und wurde neugierig, denn ich hatte noch nie schwarze Erbsen gesehen. Doch nach einigen Löffeln untersuchte ich eine von den kohlrabenschwarzen genauer, und siehe da, sie hatte Beinchen. Sechs an der Zahl. Mein biologisches Verständnis sgte mir, dass Pflanzenprodukte niemals Beine haben. Obwohl ich kein Vegetarier war, zog ich Schlüsse daraus und transferierte die restliche Portion dieser kulinarischen Überraschung in ein leeres Einmachglas. Dieses deponierte ich in der Schublade unter meinem Essplatz. Leider entging diese meisterliche Aktion nicht dem strengen Blick des Präfekten. Ohne jede Gnade zwang er mich, den inzwischen kalten Eintopf samt Proteinzugabe zu verspeisen. Ich würgte das zwischenzeitlich kalt gewordene Gericht hinunter und lief bei nächster Gelegenheit nach Hause.
Ein paar Jahre zuvor, in der dritten Klasse Volksschule, erlebte ich einen anderen denkwürdigen Tag. Während des Unterrichts betraten drei Herren das Klassenzimmer. Zwei trugen hellbraune Uniformen, dekoriert mit den Symbolen der NS-Partei, der dritte erschien in Zivil, glänzendem Parteiabzeichen inklusive. Trotz meines intelligenten und aufgeweckten Wesens war mir die ausgeprägte Abneigung gegen Leibeserziehung, Turnen, wie es damals hieß, mein Retter in der Not. Dank ihr blieb mir das Internat der NAPOLA, der nationalsozialistischen politischen Erziehungsanstalt, und somit ein Leben als stramm disziplinierter Parteikader erspart.
Die Volksschule hat mich trotzdem nachhaltig geprägt – und das nicht nur intellektuell. Wie alle Jungen jener Zeit trug ich kurze Hosen. Diese praktische Mode ermöglichte es unserem Herrn Oberlehrer W., eine spezielle Form der „Qualitätskontrolle“ durchzuführen. Einmal schob er seine Hand von unten in die Hosenbeine, um meine damals zarten Hinterbacken zu inspizieren. Nach diesem Erlebnis zog ich einen klaren Schlussstrich: Kurze Hosen – nie wieder. Nicht einmal später, als ich freiwillig dem Fanfarenzug dvom Bann 501 des deutschen Jungvolks beitrat, beugte ich mich der Norm. Entgegen allen Erwartungen trug ich beharrlich lange Uniformhosen, ähnlich denen der Gebirgsjäger, nur eben schwarz.
Ja, ich war ein „Pimpf“ – mit allem, was dazugehört. Schwarze Hosen, braunes Hemd, dazu eine Koppel mit Schulterriemen und ein HJ-Fahrtenmesser – stilecht und definitiv übertrieben für mein jugendliches Alter. Eigentlich war das Zubehör für gestandene Hitlerjungen ab vierzehn Jahren vorgesehen, aber meine Erscheinung schien niemanden zu stören. Ein weiteres Accessoire war das schwarze Halstuch, vorne zusammengehalten von einem kunstvoll geflochtenen Ring aus hellbraunem Leder. Ich lebte in einer eigenen kleinen Welt, was die Erwachsenen taten und sagten, war mir egal, solange sie mich nicht unsittlich berührten. Eines Tages bekam ich eine hellblaue Armbinde mit einem weißen „M“. Jetzt war es offiziell, ich war „Melder“, freiwillig und eindeutig zu jung. Die Aufgabe war, bei Fliegeralarm auf den Straßen zu patrouillieren oder Dachböden zu erklimmen, um von dort eventuell auftretende Brände zu sichten und die Feuerwehr davon in Kenntnis zu setzen. Krönung meiner Ausstattung war ein glänzend verchromter Feuerwehrhelm, der so überdimensioniert war, dass ich aussah wie eine kindliche Vorahnung von Darth Vader.
Meine einzige echte Auszeichnung war eine grünweiße Kordel, liebevoll „Affenschaukel“ genannt. Die bekam ich, nachdem ich nach der Bombardierung des Floridsdorfer Marktes eine Blindgängerbombe entdeckt und gemeldet hatte. Der Lohn war der Rang eines Jungenschaftsführeranwärters. Selbstverständlich beeindruckend, zumindest theoretisch. Doch das war Anfang 1945, und der Krieg neigte sich dem Ende zu. In diesen chaotischen Zeiten wurden sogar Knaben unter vierzehn Jahren in improvisierte Uniformen gesteckt und an die Front geschickt. Die Beförderung kam daher formlos und ohne großes Tamtam. Doch das tat meinem Stolz keinen Abbruch.
Es war gegen Kriegsende, bei einem Besuch bei den Großeltern am Wiedner Gürtel, da gab es wieder einmal Fliegeralarm. Alle Hausbewohner begaben sich eiligst in den Keller, wo wir uns mit einem Greis und mehreren aufgeregten Damen zusammenfanden. Der Südbahnhof, direkt gegenüber, war ein Hauptziel der Angriffe, und meine Mutter verbot mir nur daran zu denken, oben zu bleiben. Doch der Luftschutzraum, im Souterrain gelegen, bot bei einem direkten Treffer kaum Schutz. Ein enormer Knall löste eine Staublawine in unserem Keller aus, die frei an ihren Drähten hängenden Glühbirnen wackelten heftig und das Licht flackerte beängstigend. Dies brachte die Damen zu einem synchronisierten Quietschen, so dass ich, mich meiner verdienstvollen Aufgabe als Melder erinnernd, aus dem Keller lief. Auf der Straße angekommen, sah ich, dass das angrenzende Gründerzeithaus, das Hotel Savoy, in einen gigantischen rauchenden Schutthaufen verwandelt worden war. Volltreffer. In unserem Haus hingegen war das Treppenhaus unbeschädigt, aber alle Fenster geborsten und einige Türen aus den Angeln gerissen. Nichts brannte, die Einrichtung war intakt, nur die Bücher im Regal hatten durch Bombensplitter Löcher abbekommen. Mit diesen doch verhältnismäßig positiven Mitteilungen kehrte ich in den Keller zu den Damen mit Greis zurück. Die beruhigende Wirkung auf die Damen war erstaunlich, vielleicht lag es daran, dass ich wie ein Held erschien, der die Apokalypse mit einem Schulterzucken abtat.
Meine neun Jahre ältere Schwester Erika war eine Pferdenärrin, wie es viele pubertierende Mädchen irgendwann einmal sind, eine Phase, die bei manchen schnell verfliegt, bei anderen aber ein Leben lang anhält. Schwesterchen hatte eine wunderhübsche Freundin aus adeligem Geschlecht, die Pferde genauso vergötterte wie sie selbst. Gemeinsam betreuten sie die Rösser der SS-Reiterstandarte 18 in der Wiener Barmherzigenstraße 17, sowie die edlen Tiere eines Gestüts in einem privaten Stall in der Rasumovskygasse. Baronin Liesl Wimmersperg, eine elegante Erscheinung und begnadete Springreiterin, nahm mich gelegentlich auf dem Gepäckträger ihres Fahrrads mit zum Reiten in die Freudenau – eine noble Abwechslung zum langweiligen Schulalltag, versteht sich!
Insbesonders träumte ich davon, ein glorreicher Kriegsheld zu werden. Meine Idole waren die strahlenden Ritterkreuzträger der Luftwaffe und der Wehrmacht wie Nowotny, Udet, Galland, Hartmann, Rommel und Dietl. Ärgerlich war, dass die Soldaten, welche ich konsequent provokant mit dem Hitlergruß beehrte, salopp mit der Hand am Mützenschirm zurückgrüßten. Ich hätte auch gerne salutiert, aber ein junger „Pimpf“, demnach eher der Partei zuzurechnen, durfte nur mit ausgestrecktem rechtem Arm die Ehrenbezeigung erweisen. Ein echter Wermutstropfen auf dem Weg zum Heldenstatus. Einmal, gegen Ende des Jahres 1944, geschah es, dass ein Soldat meinen Gruß auf gleiche Weise erwiderte. Es war anscheinend die Anweisung an das Militär ergangen, den Hitlergruß statt des militärischen Salutierens anzuwenden. Von da an bereitete es mir ein teuflisches Vergnügen, Chargen sowie einfache Landser ausgiebigst mit dem Parteigruß zu beehren. Gelegenheiten dazu gab es genug, da das Wohnhaus meiner Eltern nur Schritte von der durch Soldaten voll belegten Stiftskaserne lag.
Im April 1945 änderte sich dann alles. Der Himmel über Wien dröhnte von durchgehendem Alarm. Vom Flakturm her schossen die 8,8-cm-Flugabwehrkanonen waagrecht in Richtung Westen. Durch den Luftdruck bogen sich die Fensterscheiben, doch wie durch ein Wunder brachen sie nicht. Ich, mutiger Melder stand tapfer in voller Uniform auf der Straße vor unserem Haustor, wenn auch ohne Auftrag. Von links, von der Stiftskaserne her, raste ein mit bewaffneten Soldaten überladener Kübelwagen vorbei in Richtung Westen. Mit einem Mal verstummten die Kanonenschüsse vom Flakturm, es wurde unheimlich still in der Lindengasse, nur von Weitem war Gefechtslärm zu hören. Kurz darauf kamen von rechts, aus dem Westen Wiens, die Soldaten zu Fuß zurück, benahmen sich aber äußerst merkwürdig. Sie sprangen von Haustor zu Haustor, verweilten dort etwas, um gleich wieder in der nächsten Nische zu verschwinden. Auffallend war, dass sie zwischenzeitlich die Uniformen gewechselt hatten. Diese waren nicht mehr olivgrün, sondern hatten eine dunkelgelb-braune Farbe.
Für mich, dem von der NS-Propaganda geschulten künftigen Helden einer stets sieggewohnten Wehrmacht, war das unbegreiflich, was sich da offensichtlichzugetragen hat. In der kompletten Adjustierung eines Jungnazis auf der Straße stehend, traf mich blitzartig die Erkenntnis, dass dies keine deutschen Soldaten mehr, sondern Angehörige der Roten Armee waren, obwohl sie aus dem Osten herkommend erwartet wurden. Mit einem Sprung war ich im Haus, schloss die verglaste Eingangstür und sperrte diese geistesgegenwärtig zu. Auf dem Weg in den Luftschutzraum entledigte ich mich eilig meines HJ-Fahrtenmessers und der Koppel – vermutlich der erste echte Beweis eines Improvisationstalents, das in mir steckte. Unten im Keller nahmen die Hausbewohner diese Nachricht von der Eroberung der Gasse durch die Russen mit betonter Schweigsamkeit entgegen. Dieser neue Umstand löste wohl recht unterschiedliche Empfindungen bei den Damen und Herren im Luftschutzkeller aus.
Zwei Tage später brach ich mit meinem gleichaltrigen Freund zu einer „Erkundungstour“ auf. Die Lindengasse war verstopft mit Panjewagen, Pferden und stark alkoholisierten, außerordentlich lauten Sowjetsoldaten. Ein unvergesslicher Duft aus Pferdemist, ungewaschenen Männern und billigem Alkohol erfüllte die Luft der eher von mittelständischen Familien bewohnten Gasse. Der tägliche Gang zum Hydranten durch dieses Chaos war eine Mutprobe, die ich mir nicht nehmen ließ, unsere Mutter schien mir in dem Moment nicht besonders besorgt, zumindest nicht um mich. Meine Schwester hingegen hatte sie auf den Dachboden gebracht, wo sie etliche Tage in einer von unten nicht einsehbaren Mauernische kampierte. Der einzige Zugang dazu war ausschließlich mit einer Leiter möglich, die sie zu sich hinaufzog und damit in Sicherheit war.
Mein Freund und ich nutzten unsere exakte Position zwischen „herzigen Kindern“ und „pubertierenden Rotzbuben“ schamlos aus. Die sonst eher belebte Mariahilfer Straße war verwaist, die Scheiben der meisten Geschäfte zerbrochen, die Türen standen offen. Ebenso beim „Tiller“, seit K.u.K.-Zeiten ein Herren- und Uniformschneider der oberen Klasse. Statt der herumliegenden Stoffballen oder Reitstiefel faszinierten mich ausschließlich die Orden in den Ausstellungstruhen. Vom einfachen Tapferkeits- und Parteiabzeichen angefangen, bis zum Ritterkreuz mit Eichenlaub und Schwertern und Brillanten lagen dort zum Greifen nahe die von mir erträumten glitzernden Beweise von Heldentum. Ich füllte ein kleines Köfferchen gestrichen voll mit diesen Herrlichkeiten. Mein Freund scheint kalte Füße bekommen zu haben und war urplötzlich verschwunden. So schleppte ich die gewichtige Beute allein heimwärts, an eben den sowjetischen Frontkämpfern vorbei, die ihr Überleben mit aus der Stiftskaserne erbeuteten Alkoholika feierten und kein Interesse an mir oder dem Ordensschatz zeigten. Zu Hause hatte ich die restlichen Teile der DJ-Uniform unter das Bett gestopft, und das recht schwere Köfferchen mit den Glorifizierungen in ein Regal gestellt. Aber meine Freude währte nur kurz. Leider wurden diese Schätze bald von besorgten Familienmitgliedern gefunden, und meinem von mir geliebten, angeheirateten Onkel Karl Fochler zur Entsorgung übergeben, der diesen Auftrag leider gewissenhaft und gründlich durchführte.
Die Frauen haben in dieser Zeit Unglaubliches durchgestanden und geleistet. Schon während des Krieges, als die Männer an der Front oder in Gefangenschaft waren, mussten sie allein den Haushalt führen und die Familie irgendwie durchbringen. Die daraus gewonnenen Erfahrungen wendeten sie in den folgenden Jahren erfolgreich an und machte sie zu wahren Überlebenskünstlerinnen. Selbst nach der Heimkehr ihrer geschwächten, erkrankten oder invaliden Männer aus der Kriegsgefangenschaft, blieben sie das Rückgrat der Familie und trugen weiterhin die Hauptlast. Die Beschaffung von Lebensmitteln war darüber hinaus eine schier endlose Herausforderung. Jahre nach Kriegsende gab es noch Lebensmittelkarten, die kaum das Nötigste abdeckten. Mit den Abschnitten davon lief ich regelmäßig zum Bäcker an der Ecke Kirchen- und Siebensterngasse. Doch oft war es vergeblich, denn sobald ich hinkam, standen schon Frauen und Kinder in langer Schlange davor an. Sie warteten seit Stunden auf das Öffnen des Geschäftes. Die Chancen, Brot zu bekommen, schmolzen rapide, je weiter hinten man sich einreihte. In Decken gehüllt, mit kleinen Hockern ausgestattet, harrten sie stundenlang aus, als wäre es eine sonderbare olympische Disziplin. Aber selbst diese heroische Geduld war keine Garantie, ein Laib Brot zu ergattern.
Zusätzlich zu den mageren offiziellen Rationen musste Nahrhaftes beschafft werden. Meine Mutter gehörte zu den tapferen Frauen, die sich dabei auf eine Art schwindelerregende Gratwanderung begaben – wortwörtlich. Mit dem letzten vor Plünderungen geretteten Familienschmuck kletterten sie über die hoch aus dem Wasser ragenden Reste der Floridsdorfer Brücke, um im Norden, wo damals noch Bauernhöfe standen, Gold gegen Lebensmittel zu tauschen. Den Rückweg traten sie müde und schwer mit Agrargütern bepackt an, um ihren Familien Hunger zu ersparen. Standesunterschiede spielten dabei keine Rolle mehr, da war jede Frau eine Kämpferin.
Im Stockwerk unter der elterlichen Wohnung befand sich eine Pension, die von den politischen Kommissaren der Roten Armee beschlagnahmt worden war. Diese Herren, erkennbar an ihren knallgrünen Tellerkappen, brachten unserem Haus einen gewissen Schutz vor Plünderungen. So wirklich sicher waren wir aber erst von dem Moment an, da einer der Herren Kommissare das Klavierspiel meiner Mutter hörte, die unberührt vom Weltgeschehen weiterhin Gesang unterrichtete. Eines Tages läutete es stürmisch an unserer Wohnungstür. Ich lief mit meiner Mutti hinaus, um nachzusehen, wer da kam. Mit mulmigem Gefühl öffnete sie, bereit ihre Kinder und ihr Eigentum mit bloßen Händen gegen die gesamte Rote Armee zu verteidigen. Doch draußen stand ein Kommissar, die Kappe unter den Arm geklemmt, der höflich in gebrochenem Deutsch fragte, ob er eintreten dürfe. Natürlich durfte er, es war ja nicht so, als hätten wir eine Wahl. Er erkundigte sich nach dem Klavier. Wir führten ihn ins Musikzimmer. Dort der alte Bösendorfer-Flügel mit seiner halbenglischen Mechanik, an den er sich gleich setzte und meisterhaft zu spielen begann. Aber nicht nur das, er hob gleichfalls zu singen an. Mit seinem prächtigen, geschulten Bariton schmetterte er mit voller Stimme Arien aus russischen Opern durch die offenen Fenster in die Welt hinaus. Die überaus laute und kraftvolle Interpretation einer Reihe von Opernarien der russischen Komponisten Tschaikowski, Mussorgski, Glinka, Borodin und Rachmaninow war für mein dem Belcanto verhaftetes Mütterchen qualvoll anzuhören. Ab jener Stunde wiederholten sich diese nur wenig erwünschten Darbietungen fast täglich, die Fenster offen, die Nachbarschaft mithörend.
Nach einigen Tagen zogen die Kampftruppen vor unserer Haustüre ab. Was blieb, war der Tross, eine seltsame Mischung von teils exotischen Soldaten, die Plünderungen, vor allem Uhrensammeln und Vergewaltigungen auf ihrer „Agenda“ hatten. Eines Morgens stürmte ein solcher Soldat mit gezogener Pistole in unsere Wohnung. Doch wie Mütter so sind, drückte meine Mutter instinktiv die Waffe zur Seite und machte dem Eindringling in energischen Gesten klar, dass er sich benehmen solle. Bevor die Situation eskalierte, erschien, deus ex machina, unser gesangsfreudiger Kommissar auf der Bildfläche. Eine Szene, die sich wie aus einer Oper entnommen entwickelte. Mit seinem geschulten Bariton schrie er den Soldaten zusammen, der daraufhin kleinlaut den Rückzug antrat. Von diesem Tag an waren wir vor Übergriffen sicher, zumindest vor den räuberischen, denn der musikalische Sturm des Kommissars tobte weiter. Doch die Tage der russischen Besatzung waren gezählt. Die Alliierten teilten Wien in vier Zonen auf, dabei wurde der siebente Bezirk zur amerikanischen Zone erklärt, und die Lieder des Baritons verstummten endgültig.
In dieser Zeit entdeckte ich dank der RAVAG (Radio-Verkehrs AG) meine Leidenschaft für Tontechnik. In einem Haushalt, in dem Belcanto und Kammermusik hoch im Kurs standen, blieb mir der Genuss jener Sendungen, die meinem jugendlichen Kunstempfinden entsprachen, streng verwehrt. Doch es fand sich in einem Schrank ein altes Detektorradio, das mir heimliche Hörfreude ermöglichte. So wie ich nachts unter der Bettdecke mit einer Taschenlampe sämtliche Bände Karl Mays verschlang, hörte ich m Verborgenen Radio. Besonders am Sonntagmorgen gab es ein Highlight: „Was gibt es Neues hier in Wien“ von und mit Heinz Conrads und Gustav Zelibor. Das war leichte und aktuelle Unterhaltung, perfekt für meine damals noch formbare Psyche. Mein improvisiertes Hörgerät, ein Detektorempfänger mit vorsintflutlichen Kopfhörern, ließ mich wie einen Außerirdischen aussehen, dem Antennen aus dem Kopf wuchsen. Auf dem Holzbrettchen war neben einer Schwingkreisspule der Kristall montiert. Der war meine Brücke zur Welt der Radiowellen, was aber Geduld und Fingerspitzengefühl brauchte, denn an diesem musste man erst mit der Spitze eines daneben angebrachten steifen Drahtes die am besten funktionierende Stelle finden. Doch wenn ich sie einmal gefunden hatte, drang die unvergessliche Stimme Heinz Conrads intim und störungsfrei an meine Ohren und in die träumerische Seele.
Dann war da mein Freund Fritz M., kaum größer als ich und ebenso blond wie tollkühn. Uns verband eine unschuldige Faszination für Handfeuerwaffen. Diese war keineswegs verborgener Mordlust zuzuschreiben, sondern der Unmöglichkeit, unsere kindlichen Träume von Heldentum in die Tat umsetzen zu können. Das dramatische Postulat der Reichspropaganda, es wäre das höchste Ziel des Mannes, mit der Waffe in der Hand fürs Vaterland zu sterben, hatte uns geprägt. Doch um selbst schießen zu dürfen, waren wir beide zu Zeiten des Krieges zu jung. Einmal, auf einer Ausstellung der Wehrmacht am Heldenplatz, durften wir endlich das kühle, matte Metall von Karabinern, MPs und MGs berühren, ein Moment, der uns vor Ehrfurcht fast den Atem verschlug. Jetzt, nach dem Krieg, lagen diese Herrlichkeiten auf dem Tisch vor uns, nicht, um mit ihnen zu schießen, sondern damit Handel zu treiben. Nicht einen Schuss haben wir mit diesen Waffen abgegeben, ebenso wenig kamen wir jemals in Versuchung damit Raubüberfälle durchzuführen. Ausschließlich in unserer spielerischen Phantasie, schossen wir wild herum.
Eines Tages lernte ich Adolf W. kennen, wohnhaft im Nachbarbezirk in der Albertgasse. Dieser Herr schien einen schier unerschöpflichen Zugang zu tadellos gepflegten Waffen zu haben: deutsche Schmeisser-MPs, russische PPD-40 mit runden Magazinen, Armee- und Polizeipistolen aus aller Welt. Ein Arsenal, das selbst James Bond vor Neid hätte erblassen lassen. Seine Wohnung war wie ein Waffenmuseum, nur eben mit voll funktionsfähigen Exponaten. Eine Zeit lang pflegten wir eine florierende Partnerschaft, er beschaffte die Waffen, ich wusste, wo man sie gewinnbringend verkaufen konnte. Einerseits beim Berger am Praterstern, der dort zwei Lokale besaß. Die am rechten Eck der Praterstraße gelegene Gaststätte war dem Bürgertum gewidmet, die Gäste des am linken Eck gegenüber befindlichen Gasthaus waren der Unterwelt zuzurechnen. Andererseits gab es regen Absatz für die Waffen am Naschmarkt. Letzterer war in wenigen Minuten Fußmarsch von daheim zu erreichen. So wurde das Kaffee Kettenbrücke zum frequentierten Umschlagplatz. Unbekümmert transportierte ich selbst größere Objekte versteckt unter meinem Mantel. Zwei- bis dreimal die Woche war ich um vier Uhr morgens dort und übergab die bestellten Waren an die Marktlieferanten, oder welchen Berufen immer diese Herren nachgingen.
Fritz, der Freund, wohnte bei seinen Eltern in der Margaretenstraße, wo in der Küche die Waffen zerlegt und auf Hochglanz geölt wurden. Wir schworen damals darauf, dass wir bei unserem gefährlichen Lebenswandel höchstens ein Lebensalter von fünfunddreißig Jahre erreichen werden. Der etwas sorglose Umgang mit Munition brachte das Ende dieses nicht unbedingt legalen Handels. Wie schon weiter oben erwähnt, wurde ich nach der Explosion bei den Piaristen, verursacht durch das aus Patronen gewonnene Schießpulver, ins Internat und Gymnasium der Schulbrüder in Strebersdorf verbannt. Womit mein Zugang zu Waffen und Munition endgültig unterbunden war.