Es ist spät am Vormittag. Ich blicke in den von Licht durchfluteten Hof – der Targi mit seinen beiden Meharis ist verschwunden. Zufrieden mit mir und meiner heutigen Leistung bisher stelle ich fest, dass die grauen Zellen und das Erinnerungsvermögen leidlich funktionieren. Im Laufe des Eintippens tauchen wild wuchernd Bilder und Namen aus früheren Tagen auf, die wollen gefiltert und sortiert werden. Die Angst vor Chaos macht sich breit und bremst die Lust am Schreiben. Doch jetzt ist erst einmal Zeit für eine ausgiebige Dusche. Die Sonne hat das in der Nacht kalt gewordene Wasser im Tank auf dem Dach wieder erwärmt. Es ist ein unvergleichliches Vergnügen, sich unter den lauen bis heißen Wasserstrahlen zu säubern, eine schlichte, aber wirkungsvolle Freude. Zugegeben, ich ziehe warme Duschen kalten vor.
In der rückwärtigen Ecke des Gästeraums steht das für mich vorbereitete Frühstücksgeschirr unberührt auf dem Tisch. Fatima hat in der Küche mein Kommen gehört, schlurft herbei und fragt, ob ich denn jetzt ein „petit déjeuner“ wolle. Ich lehne dankend ab und erkläre, dass ich nie frühstücke. Sichtlich pikiert räumt sie das Geschirr ab und verschwindet wieder in die Küche. Es scheint, als hätte ich mit meiner Absage ihre fürsorglich-mütterlichen Instinkte verletzt. Wenig später taucht sie erneut auf, diesmal mit der Frage, ob ich wenigstens einen Kaffee trinken wolle. Der deutliche Unterton lässt mir keine Wahl: Ich stimme zu.
Aus der Küche dringen Wortfetzen, Fatimas Stimmlage und Tonfall verraten Empörung. Minuten später kommt François grinsend mit einem Tablett, darauf eine Kaffeekanne und Tasse balancierend an meinen Tisch und wünscht mir einen guten Tag. Ich frage ihn, ob unser Kamelreiter schon abgereist sei. Irgendwie war mir dieser Targi sympathisch, auch wenn ich von ihm nur die verhüllte Gestalt und den Schleier vor seinem Gesicht gesehen habe. François hatte ihn heute zeitig am Morgen wegreiten sehen. Er ist aber sicher, dass der Targi bald wiederkommt, denn dort, in der Oase zu der er zweifelsfrei wollte, gibt es im Moment keine heiratsfähige oder zumindest begehrenswerte Targia. Dieser Mann scheint so eine Art Wüstencasanova zu sein, ähnlich dem Nomaden, den ich vor vielen Jahren im l’Aȉr kennen gelernt hatte.
Und tatsächlich, am späteren Nachmittag ertönt vom Hof wieder das unwillige Gurgeln aus den Kehlen der beiden Meharis, die zum Niederknien gezwungen werden. François geht hinaus, um sich nach den Erfahrungen des Targi in der Oase zu erkundigen. Die Kürze der Antwort lässt darauf schließen, dass der Ausflug wenig erfolgreich war. Doch der Wirt bringt mir eine Einladung zum Tee mit. Ich nehme sie gerne an und überlege, wie eine Verständigung mit dem Targi möglich ist.
Zur angegebenen Zeit betrete ich den Hof und begebe mich in Richtung der Lagerstelle des Targi. Dort flackert ein kleines Lagerfeuer, umgeben von sorgfältig angeordneten Steinen. Der Nomade erhebt sich mit einer fast zeremoniellen Ruhe, streckt mir seine schlanke Hand entgegen und stellt sich vor: Akamouk. Ich erwidere mit meinem Namen und blicke in ein Paar erstaunlich blaue Augen. Ich setze mich auf einen behauenen Stein, der offensichtlich von der Errichtung des jetzt von mir bewohnten Türmchens übriggeblieben ist. Akamouk hat seinen dunkelblauen Schleier abgelegt und trägt stattdessen eine Art weißen Turbans. Sein Gesicht ist jugendlich, die Haut so hell, dass sie an die eines Europäers erinnert, und weist keine Spur von der berühmten bläulichen Einfärbung, wie die Experten für Touareg Père Foucault oder Jean Rouge, Nachtigall und andere Forscher einst beschrieben haben. Selbst zur Zeit meiner ersten Expedition bemerkte ich bei einigen Touareg und Bella Einfärbungen, verursacht durch die Farbstoffe der traditionellen blauen Textilien. Die Tagelmusts (Kopfverhüllungen) der modernen »hommes bleu«, der sogenannten blauen Männer, sind mit zeitgemäßen wasserfesten Chemikalien gefärbt und geben kaum Farbe ab.
Mit geübten Bewegungen setzt Akamouk einen kobaltblau emaillierten Teekessel direkt in das Feuer. Dieses Kännchen gleicht denjenigen, welche die Tuareg schon vor hundert Jahren zum Teekochen benützt hatten, mit dem Unterschied, dass sie heute „made in China“ sind. Mit Bedacht öffnet er den Deckel und hängt ein Sträußchen frische Pfefferminze hinein. Der Duft breitet sich aus vermischt sich mit den Gerüchen glühender Holzkohle und grünem Tee. In dieser außerordentlichen Ruhe bedarf es keiner Sprache zur Kommunikation. So schweigen wir beide, es herrscht diese unvergleichliche Stille, welche die Sahara so auszeichnet. Aus der Ferne dringt das gedämpfte tiefe Brummen eines Stromaggregats herüber, das François jeden Abend in der Dämmerung in Gang setzt. Der Tee beginnt blubbernd zu kochen und Akamouk stellt ein abgegriffenes Tablett aus getriebenem Kupfer mit zwei Teegläsern auf den sandigen Boden. Er legt den geschwungenen Schnabel der Kanne an den Rand des Glases, und zieht beim Einschenken zielsicher bis in eine Höhe von etwa dreißig Zentimetern. Ohne dabei einen Tropfen zu verschütten schenkt er gleichmäßig die gelbe Köstlichkeit ein. Sauerstoff bindend bildet sich Schaum in den Trinkgläsern. Schweigend schlürfen wir die heiße, süße Mischung aus grünem Tee, Zucker und der Frische der Minze.
Einem ungeschriebenen Gesetz der Gastfreundschaft folgend werden drei Gläser Tee getrunken. Das erste Glas heißt den Gast willkommen, das zweite prüft ihn, und das dritte besiegelt das unverbrüchliche Recht auf Beistand und Freundschaft. Während wir das erste in kleinen Schlucken leeren, klaubt Akamouk sorgfältig ein paar Stücke des zertrümmerten Zuckerhuts von einem gegerbten Ziegenfell, gibt sie zu den Teeblättern in die Kanne und gießt frisches Wasser darüber. Wir warten schweigend das ebenso kunstvolle Nachfüllen des zweiten Glases ab, und ich bewundere seine geschickten Bewegungen, mit denen er die Tradition weiterführt.
Obwohl stolzer Abkömmling der Tuareg, ist Akamouk doch so weit Afrikaner, dass er den Rumi, den Europäer mit großem Respekt behandelt. Jetzt wäre es an der Zeit, eine Unterhaltung zu beginnen. Dem Umgang mit Menschen aus anderen Kulturen seit Jahrzehnten entwöhnt, ist mir nicht klar, womit ich einen Dialog eröffnen kann, ohne meinen Gastgeber unabsichtlich vor den Kopf zu stoßen.
Er hat seine Tabuka, das zweischneidige Schwert der Tuareg neben sich liegen. Sie ruht in einer kunstvoll gefertigten, farbenfrohen Lederscheide, geschmückt mit metallenen Verzierungen. Ich versuche es auf Französisch und mache ihm ein Kompliment für diese prächtige Waffe und erzähle ihm, dass ich in Wien zwei ähnliche Exemplare besitze. Die habe ich vor langer Zeit, 1976 im Niger erworben, in einem Lager für Tuareg, die aus Mali geflohen oder vertrieben worden waren. Frauen boten mir damals die Schwerter an. Ihre Not war so groß, dass sie lächerlich wenig dafür verlangten. Ich habe ihnen mehr gegeben. Ein ungewöhnlicher Akt, weil in Afrika ist es normal um den Preis zu feilschen. Das wird erwartet, denn gefeilscht wird weniger um den Verdienst zu steigern, sondern aus sportlichem Vergnügen. Akamouk erinnert sich an diese Zeit. Er war damals noch ein Kind, doch hat er die Bilder großer Karawanen anderer Tuareg-Stämme, die in den Hoggar zogen, stets vor sich
Er spricht grammatikalisch einwandfreies Französisch, allein das „R“ rollt statt am Gaumen vorne auf der Zunge. Auf meine Frage, wieso er die Sprache so gut beherrsche, erzählt er, dass man ihn in die Schule nach Algier geschickt hätte. Sein Vater war Offizier bei der von Frankreich gegründeten Garde Nomade und hatte erkannt, wie wichtig Bildung für einen Targi ist. Ich bin überrascht. Wie konnte sich ein Wüstenbewohner für seinen Sohn eine europäische Schulbildung leisten? Seine Antwort ist kurz und deutlich, mit einem feinen Lächeln zieht er seine Tabuka etwas näher zu sich heran. Welchen Vorteil vermag ihm diese Erziehung hier in der Wüste bringen? Er meint, er sei bei den Clans der Sahara recht angesehen und reitet von einer Familie zur anderen. Manchmal würde er bei einer heiraten, um nach einiger Zeit wieder weiterzuziehen. Es ist mir bewusst, dass Hochzeiten gar nicht wenig kosten, und bei einer Scheidung, welche fast stets von der Frau verlangt wird, das gesamte Vermögen und die aus der Verbindung hervorgegangenen Kinder bei der Mutter bleiben. Um sich das leisten zu können, muss er doch höchst wohlhabend sein? Auch diesmal erhalte ich keine Antwort. Nur ein feines, geheimnisvolles Lächeln spielt auf seinem Gesicht. Da dämmert mir, er wird halt die alte Tradition der ehemals räuberischen Touareg weiter fortführen und sich das, was er braucht, ohne Umstände aneignen.
Es ist schon spät und kühle Luft kündigt eine kalte Nacht an. Der Mond ist nicht zu sehen, aber eine atemraubend große Anzahl Sterne erhellt den Himmel. Teilweise stehen sie so dicht nebeneinander, dass sie richtige Flächen aus Licht bilden, wie ineinander verschmolzen. Ich bin müde, François hat das Aggregat längst ausgeschaltet und ich bin in Sorge, dass sich ohne Strom der Akkumulator meines Computers über das Ladegerät entladen würde. Ich bedanke mich herzlich für die Einladung und gehe mit einem freundschaftlichen „a demain“ zum jetzt im Dunkel liegenden Haus. Aus der Ferne kommt Motorenlärm und ich sehe einen hellen Lichtstrahl, der sich langsam nähert. Diese Piste wird nur selten befahren, aber manche Fahrzeuge biegen zur Auberge ab und kommen herein, um zu tanken. Doch dieser LKW donnert mit hohem Tempo vorbei. Dieses Geräusch bleibt in der sonst herrschenden Stille lange sachte verebbend zu hören. Die vorsorglich mitgenommene Taschenlampe wirft einen gebündelten bläulichen Lichtstrahl voraus, die Stiege zum Zimmer im Turm erreiche ich ohne Probleme. Mich ärgert die Unaufmerksamkeit, Akamouk diese Lampe nicht als Gastgeschenk überreicht zu haben. Es befinden sich sechs solcher Handleuchten in meinem Gepäck, die ich für diese Reise besorgt habe. Ich nehme mir vor, das morgen nachzuholen.
In meinem Zimmer angekommen, trenne ich das Ladegerät vom Netz und vom Computer. Nachdenklich lasse ich mich aufs Bett sinken. In meinem Kopf dreht sich alles um um den Targi. Vor langer Zeit gab es einen Akamouk, der nicht einfach nur ein Name war, sondern eine Institution, der oberste Chef aller Tuareg. Vom Hoggar aus regierte er die in der Sahara und im Sahel verstreut lebenden Stämme. Abweichend von den Methoden anderer Kolonialmächte hat Frankreich seine Kolonien verwaltet. Es war mehr Administration als blanke Unterwerfung. Gewalt wurde nur eingesetzt, wenn es gar nicht zu umgehen war, zumindest offiziell. Man nannte die annektierten Gebiete nicht Kolonien, sondern „la France d’outre-mer“, also Übersee Frankreich. Klingt fast idyllisch, als wären ein paar Pariser anspruchslos umgezogen, um sich unter Palmen niederzulassen.
Die Franzosen hatten ein System: Häuptlinge, Stammesfürsten und Könige der einheimischen Völker wurden nicht entmachtet, sondern wie europäische Beamte eingestellt – mit Gehalt, Titel und, wenn man so will, Pensionsansprüchen. Als „Chef de Canton“ sollten sie in ihrem Einflussgebiet für Ordnung sorgen. Das Ergebnis? Ihre Autorität wurde dadurch gewahrt, in manchen Teilen des Kolonialreichs sogar gesteigert, was eine gewisse Treue zur Kolonialmacht brachte. Einige dieser Chefs waren zwar nicht unbedingt die Lieblinge ihres Volkes, doch der französische Etat sorgte für Loyalität und dafür, dass Frieden herrschte. Akamouk, der damalige Verwalter und Namensgeber unseres heutigen Protagonisten, war so ein zum Chef ernannter ehemaliger Clanvorstand. Vom eigenen Volk weder geliebt noch beachtet, aber reichlich honoriert. Dies war ein Kolonialsystem, das zwar keinen Unterschied zur üblichen Ausbeutung Afrikas darstellte, doch weniger repressiv erschien. Und nicht so blutig.
Die Effizienz dieser Methode wurde in den Jahren, die der Selbständigkeit anderer Kolonien folgten, deutlich. In allen nicht frankophonen Ländern entflammten kurz nach dem Abschütteln kolonialer Gewalt brutale Stammeskämpfe, Revolutionen und Kriege, nur in den ehemaligen französischen Gebieten herrschte weiterhin viele Jahre soziale Ruhe. Selbst dort, wo durch willkürlich gezogene Grenzen ethnisch einheitliche Völker auseinandergerissen waren. Vielleicht erklärt das die Namensgebung unseres Targi, um damit dem damaligen Herrscher Akamouk zu gefallen. Das war das letzte „Geschenk“ der Kolonialmacht Frankreich, ein stabiler, wenn auch fragiler Friede.
Es gibt einige Details in meiner Geschichte, die bisher unerwähnt blieben. Doch keine Sorge, das Wissen darum ist keine Pflicht, sondern ein Angebot. Wer meine Ausführungen bis hierhin unermüdlich konsumiert hat, mag selbst entscheiden, ob er das nächste Kapitel liest oder einfach weiterblättert. Wer weiß, vielleicht steckt auch darin ein kleines Abenteuer.
Mein Vater zeugte seinen Sohn im beachtlichen Alter von sechsundfünfzig Jahren in enger Zusammenarbeit mit seiner deutlich jüngeren Frau. Ohne mir eine Wahl zu lassen, wurde ich am 20. Juni 1934 in diese Welt gesetzt, exakt einen Monat vor dem Juliputsch der Nationalsozialisten und der Ermordung von Bundeskanzler Dollfuß. Ich wurde meiner neun Jahre älteren Schwester präsentiert, was sie anfänglich mit mädchenhafter Begeisterung annahm. Ein lebendiges Spielzeug war ins Haus gekommen! Doch die kindliche Freude wich bald einer leisen, dann einer recht deutlichen Eifersucht. Der daran unschuldige „Kronprinz“ entzog ihr den größten Teil an Aufmerksamkeit und Zuwendung von Eltern und Anverwandten. Erst in späteren Jahren, Schwesterchen war längst Kanzleileiterin bei verschiedenen Rechtsanwälten, entstand eine leicht reservierte, gegenseitige Zuneigung.
Verständlicherweise war mein Vater recht stolz auf sein Produkt und auf seine nicht anzuzweifelnde Virilität. Leider aber war ab der Zeit, in der ich zu sprechen anfing und zum Heranwachsen einer verständnisvollen väterlichen Hand dringend bedurft hätte, machte sich der Altersunterschied bemerkbar. Der inzwischen über Sechzigjährige fand keine geistige Basis, mit dem Kind zu kommunizieren. Mein kindliches Lärmen überforderte ihn zusehends, sodass er sich immer öfter in eine für mich unerreichbare Sphäre zurückzog. Seine Liebe und sein Vertrauen spürte ich zwar, doch ein echter Austausch fand kaum statt.
Er spielte leidenschaftlich gerne Schach. Meinen Zugang zu diesem Spiel, das er oft mit Freunden auskämpfte, entdeckte ich erst viele Jahre später. Heute bedauere ich den Abstand, der zwischen uns herrschte. Mein Vater war ein stiller, sensibler Mann, von dem ich eine Menge hätte lernen können: Disziplin, Konsequenz, Aufrichtigkeit, Mut und Genügsamkeit. Qualitäten, die bei mir im Heranwachsen eher selten anzutreffen waren. Diese positiven, latent vorhandenen, genetisch überlieferten Anlagen, die von den wunderbaren Großeltern beider Familien meiner Eltern stammten, habe ich erst später in Eigeninitiative ausgegraben.
Mütterchen hingegen war aus anderem Holz, dominant, rundlich und ausgesprochen selbstbewusst. Als erfolgreiche Sängerin und Gesangslehrerin war sie sehr beschäftigt. Für meine Erziehung blieb da wenig Zeit. Trotzdem habe ich von ihr eine wichtige Lektion gelernt, wie man sich in einer Welt voller Hindernisse behauptet. Andererseits haben sich bei mir schon früh ausgeprägter Gerechtigkeitssinn, sowie ein enormes Freiheitsbedürfnis entwickelt. Qualitäten, welche mich gelegentlich in meinem beruflichen Weiterkommen behindert haben.
Die künstlerische Ader in unserer Familie war vorprogrammiert. Generationen von Musikern, Schauspielern, Theaterdirektoren und Kunstkritikern tummeln sich in unserem Stammbaum. Die Hausmusikabende waren legendär: Franz Liszt, Franz Grillparzer, später Richard Heuberger, Alma Mahler und ihr Vater Emil Jakob Schindler – sie alle zählten zum illustren Kreis der Gäste. In meiner Jugend setzten sich diese Treffen fort. Wilhelm Furtwängler, Karl Böhm (der weitläufig zur Familie gehörte), Kurt Wöss, Maler wie Kurt Moldovan und Historiker Alfred Schmeller, sie alle gaben sich in unserem Salon in der Lindengasse die Ehre. Sogar Mitglieder der Wiener Philharmoniker waren oft Mitwirkende bei Hauskonzerten in den von Musik durchdrungenen Wänden. Heute liegen die Relikte dieser glorreichen Zeit verborgen und verstaubt still in meiner Wohnung.
Nur wenige Stunden dauerte mein Unterricht am Spinett bei Prof. Sokolovsky. Ich weigerte mich bald entschieden weiterhin in seine Wohnung zu gehen. Der Grund dafür bleibt hier besser unerwähnt. Schließlich gelang es meinen Eltern, in der Akademie für Musik und darstellende Kunst einen Studienplatz beim Klarinettisten der Philharmoniker Prof. Wlach mit Klavier als Nebenfach für mich zu belegen. Warum ausgerechnet Klarinette? Sicher war ursprünglich Mozart‘s Klarinettenkonzert die Grundlage meiner Begeisterung für dieses Instrument. Es ist ein Holzblasinstrument, bei dem jeder Ton in sich swingt. Egal ob es in der Volksmusik, Klassik oder im Jazz Verwendung findet. Große Vorbilder wie Benny Goodman, Woody Herman, Artie Shaw und Fatty George waren bestimmend, diese Entscheidung zu treffen. Der Sender der amerikanischen Besatzungsmacht, „Blue Danube Network“ lief bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit. Dem dadurch entstandenen Sog zu Swing und Jazz war nicht zu widerstehen.
Zu jener Zeit besuchte ich im Kosmos Theater regelmäßig die mit Musikbeispielen von Schallplatten (riesige V-Disks der US-Army mit 78rpm) aufgelockerten Vorträge des unvergesslichen, damals jugendlichen Günther (Howdy) Schifter. Als er schließlich dem Ruf des Senders Rot-Weiß-Rot folgte, trat ich in seine Fußstapfen und übernahm seine Vortragsreihe im Theater an der Siebensterngasse. Die Leiter des United States Information Service (USIS), die Herren Zanetti und Helmuth „Helo“ Kolbe, unterstützten mich dabei. Doch ich musste schnell feststellen: Mein Wissen über Jazz und dessen Geschichte reichte nicht an das von Günther Schifter heran, und darüber hinaus fehlten die Ressourcen zur Beschaffung passender Schallplatten. Um die Vorstellungen zu retten, und um nicht als der Mann in die Geschichte einzugehen, der dieses Jazz-Programm scheitern ließ, holte ich mir die Erlaubnis vom USIS, stattdessen wöchentliche Jam-Sessions im ehrwürdigen Theater am Siebensternplatz zu veranstalten.
Helo Kolbe, gebürtiger Schweizer und selbst ein begnadeter Bassist, half mir, die besten Musiker der Wiener Szene dafür zu begeistern. Viele bekannte Namen der damaligen Jazzwelt traten dort auf. Da waren die gleichen Solisten, wie ich sie vom Hot Club Vienna, der im Lokal „Watzal“ musizierte, her kannte: Hans Salomon, Karl „Charlie“ Drewo, Heinz Hönig, Viktor Plasil, Attila „Shivi“ Zoller, Vera Auer, und der legendäre Hans Koller, um nur einige zu nennen. Sogar der Vibraphonist Bill Grah, der Maler-Musiker Kurt Moldovan und Dr. Roland Kovac waren dabei. Groovy, oder? Leider waren nur wenige von ihnen bereit, ohne Gage zu spielen – aber meine Bewunderung für alle Beteiligten bleibt grenzenlos, auch für jene, deren Namen mir inzwischen entfallen sind.
Eine Episode bleibt mir besonders im Gedächtnis. Nach einem Abend im Kosmos-Theater nahm ich die Straßenbahnlinie 49 Richtung Innenstadt. Wie vom Blitz getroffen erstarrte ich. Auf der Plattform stand, ein bisschen lässig in eine Ecke gelehnt, eine Göttin, nein, die Göttin! Sie dürfte eben von ihrer Arbeitsstätte gekommen sein, vom Sender Rot-Weiß-Rot in der Seidengasse. Da war sie, wie ein Phantom, die um wenige Jahre ältere und längst recht erfolgreiche Louise Martini. Unnahbar sah sie über den sie anstarrenden Jüngling hinweg, der sich exakt in diesem Moment sterblich in sie und ihre großen, bezaubernden Augen verliebte. Dann stieg sie aus und war weg. Jahre später trafen wir uns bei Filmarbeiten wieder und hielten leichten Kontakt bis zu ihrem Ableben im Jahre 2013.
Bedeutende Pläne für eine geregelte berufliche Zukunft interessierten mich damals herzlich wenig. Stattdessen wollte ich, wahrscheinlich wegen oben erwähnter Erbanlagen, in die sich nach dem Krieg neu formierende Wiener Kulturszene. Was sich dadurch manifestierte, dass ich alle G‘schnasfeste der Kunstakademie, sowie regelmäßig den sich im „Strohkoffer“ zur Unterhaltung versammelnden Artclub besuchte. Sie wurden schnell meiner zweiten Heimat.
Bei einer jener Veranstaltungen lernte ich einen nicht bedeutend hoch gewachsenen, ausnehmend schlauen Burschen kennen. Eben aus der DDR zurückgekehrt war er auf Arbeitssuche. Zufällig traf ich ihn einmal in der Burggasse. Er trug seinen geliebten, offen wehenden Trenchcoat. Aber in jenen Tagen war er beruflich noch nicht gefestigt und recht mittellos, trotz alledem voller Ideen. Er wurde kurz darauf Reporter beim „Express“. Ich lud ihn auf einen Mokka in das nahe gelegene kleine Kaffeehaus ein. Über drei Stufen hinauf erreichte man das notdürftig beleuchtete Lokal. Dessen Einrichtung aus mit rotem Samt bespannten Wandbänken und Marmortischchen davor, vermittelte eine Atmosphäre der Zeit zwischen den Weltkriegen. Nebenbei hatte ich selbst einen Grund, das Café zu besuchen, amerikanische Zigaretten. Der Kellner dort bezog sie offenbar direkt aus den PX-Läden der US-Armee. Pall Mall, Camel, Chesterfield und Players Virginia, die hatten zeitgemäß natürlich keineFilter. Rauchen war damals ein weitgehend unproblematisches Vergnügen. Rauchverbote gab es in jener vergangenen Zeit nur an äußerst wenigen Orten. Ungeniert paffte jeder munter drauf los und ich beehrte meinen Vater ab und zu mit einer Packung „Amis“.
Später wurde Roman als „Adabei“ bei der Kronen Zeitung eine unentbehrliche Institution. Unsere Wege kreuzten sich immer wieder, und gelegentlich gab ich ihm Stoff für seine Kolumnen. Ob er sich an die ersten Treffen erinnerte? Wahrscheinlich nicht. Aber ich erinnere mich an ihn, mit einem Lächeln.
Mit Konsequenz besuchte ich das Tanzkaffee im Volksgarten, wo Heinz Neubrand auf der Hammondorgel nicht ausschließlich zum Tanz, sondern genauso eingängigen Jazz spielte. Er war in Österreich der „Mr. Hammond“. Uns sollte Jahrzehnte später brüderliche Freundschaft verbinden.
Inzwischen ist es Mittag geworden. Die Sonne steht hoch am Himmel und wirft kaum Schatten. Ich sitze, fast unbekleidet, an meinem Schreibtisch. Kein Schweiß läuft, aber die Haut ist feucht, das bringt etwas Kühlung durch Verdunstung. Ich beschließe, François beim Mittagessen um einen Ventilator zu bitten und damit seiner ausgeprägten Sparsamkeit einen Stoß zu versetzen. Seine Solaranlage versorgt tagsüber nur das Allernötigste: den Kühlschrank, das Telefon und manchmal ein kleines Fernsehgerät, das ich in den Wohnräumen der beiden vermute. wirft er täglich das Dieselaggregat an, um die Beleuchtung des Hauses und Teile des Areals, sowie den Betrieb der Deckenventilatoren sicherzustellen. Das sind die wenigen Stunden, die ich zum Laden der Computerakkus habe. Zwei davon habe ich zum Glück im Gepäck, sonst könnte ich meine Schreibprojekte gleich vergessen.
Es passt schon, dass diese Herberge den Charme eines kolonial-französischen „Luxus“ versprüht, der längst in die Jahre gekommen ist. Aber wenn die Hitze den Schreibfluss stört, muss dringend Abhilfe her. Entschlossen gehe ich duschen, lange und ausgiebig. Ich ziehe, ohne mich vorher abzutrocknen, Hose und Polo an.
Da klopft jemand an meiner nur wenig offenen Zimmertür. Fatima steht dort, ein freundliches Lächeln im Gesicht mit einem alten Standventilator mit Messingflügeln im Schlepptau. Sie meint, dass ich den sicher brauchen könne, und informiert mich, dass sie François bereits davon überzeugt hat, mir eine Extraleitung vom Solarsystem zu legen. In einem Anflug von Dankbarkeit gebe ich ihr auf jede Wange einen Kuss, was sie in aller Selbstverständlichkeit geschehen lässt. Immer wieder überraschen mich die intuitiven Fähigkeiten der Frauen, die, unabhängig von Kultur oder Herkunft, scheinbar instinktiv das Richtige tun. Man sollte meinen, dass ich dieses Phänomen längst als Lebensweisheit abgehakt hätte, aber nein, solche Momente erstaunen mich jedes Mal aufs Neue. Wenigstens bleibt mir eine Diskussion erspart, und gut gelaunt folge ich Fatima in Vorfreude auf einen Aperitif die Treppe hinunter in den Gastraum.
Beim Betreten des Raumes finde ich auf meinem Tisch ein Schüsselchen mit gerösteten Erdnüssen und kleine Scheiben einer Baguette, dick mit Paté bestrichen. Francois bringt in einem Glas gelbgrün schillernden Pernod, eine Karaffe mit Wasser und ein Schälchen mit Eiswürfeln. Vive la France! Mir geht es prächtig!
Das Mittagessen ist ein Highlight: Spaghetti mit einer erstaunlich authentischen italienischen Tomatensauce, dazu grüner Salat, dessen Herkunft ich lieber nicht hinterfrage. Ein Glas Rotwein und geriebener Grana Padano vollenden mein Glück. Den angebotenen Karamellpudding zur Nachspeise lehne ich höflich ab, es gibt Grenzen.
Nach dieser willkommenen Abwechslung des Speisezettels ist es dringend Zeit für eine Siesta. Satt und zufrieden ziehe ich mich in mein Zimmer zurück. siehe da, der Standventilator läuft! Zu ihm führt ein provisorisches Stromkabel quer durch das „Appartement“, doch das stört nicht. Ich richte den Ventilator mit kleinster Stufe direkt in Richtung Bett, ziehe das Polo aus und lege mich in den sanften Luftstrom. Mein Glück ist vollkommen. So einfach kann Zufriedenheit sein. Ich spiele ernsthaft mit dem Gedanken, das Buch nicht weiterzuschreiben und stattdessen einige Jahre meditativ in Stille hier zu verbringen.
Doch die Idylle währt nicht lange. Harsche, laute Stimmen dringen aus dem Untergeschoss zu mir herauf. Ich wache auf und lausche. Es klingt nach einer heftig in arabisch geführten Unterhaltung. Schnell ziehe ich das Polo wieder an und schaue aus dem Fenster. Draußen parken zwei graue Toyota-Geländewagen vor dem Haupteingang, und ein Uniformierter spaziert sichtlich interessiert um meinen Landrover herum. Ich schaue nach hinten hinaus. Im Hof diskutiert Akamouk heftig mit einem Polizisten. Wie ich ihren Gesten entnehme, scheinen sie nicht einer Meinung zu sein. Obwohl ich kein Wort verstehe, sagt mir ein Gefühl, der Targi steht unter Druck.
Im Haus werden die Stimmen immer lauter. Die Diskussion nähert sich die Treppe hinauf meinem Zimmer. Das gefällt mir gar nicht. Schnell verstecke ich mein wertvollstes Gut, den Laptop, unter ein paar Wäschestücken im Spind. Es schadet nicht, vorbereitet zu sein.
Und wieder klopft es an der Tür. Ein Polizeioffizier, ein weiterer Beamter und François treten ein, Fatima bleibt dezent vor der Türe. Der zuvor gefasste Entschluss, hier bis ans Ende meiner Tage zu verweilen, löst sich abrupt auf. Der bürokratische Arm des Staates, der in jedem Land seine eigene, gleichförmige Starrheit besitzt, hat mich eingeholt. Ein Umstand, der mir wenig Freude bereitet.
Nach einer höflichen, kurz gehaltenen Begrüßung verlangt der Polizeioffizier meinen Reisepass. Ich hole das Dokument aus dem Koffer und überreiche es mit einem freundlichen „Bitte sehr“. Der Uniformierte nimmt das Anmeldeformular zur Hand, das ich vor drei Tagen ausgefüllt hatte, und beginnt die Angaben mit denen im Pass abzugleichen. Er scheint zufrieden und klappt den Ausweis zu, ohne ihn mir zurückzugeben.
Die nächste Frage trifft mich wie ein unvorbereitet wie ein unwillkommener Schlag. Ob ich Schusswaffen mitführe? Sein Blick ist dabei so prüfend, dass ich mich fast verpflichtet fühle, aus Prinzip zu lügen. Darüber hinaus ärgert mich sein anmaßendes Benehmen. Also verneine ich mit gespielt überzeugtem Tonfall. Um die Situation aufzulockern, strecke ich meine Hände vor und erkläre scherzhaft, dass sie ohnehin zu zittrig fürs Zielen seien. Das hätte ich besser unterlassen sollen. Mein Versuch eines interkulturellen Gags fällt auf einen Boden so trocken wie die Sahara selbst.
Der Offizier meint, er wüsste, dass ich ein Jagdgewehr mitführen würde. Er gibt seinem Begleiter ein knappes Zeichen, und der Polizist beginnt, den Raum gründlich nach Waffen zu durchsuchen. Peinlich berührt sehe ich zu, wie er systematisch jeden Winkel inspiziert, wohl wissend, dass mein Ferlacher Drilling gut verpackt im Schrank liegt. Da mir die Polizei in Algier eine schriftliche Erlaubnis für die Waffe gegeben hat, darf ich den Besitz des Ferlachers guten Gewissens zugeben. Die telegraphische Verbindung vom Norden des Landes in den Süden scheint zu funktionieren. Somit komme ich dem Polizisten zuvor und reiche ihm das Gewehr mit der Ausrede, ihn offenbar nicht korrekt verstanden zu haben. Der Offizier inspiziert die eingestanzte Seriennummer auf dem Lauf und gleicht sie mit der Erlaubnis ab. Alles scheint in Ordnung zu sein, aber mein Blick schweift hilfesuchend zu François. Dieser nur die Schultern an und mustert demonstrativ die Decke, als hätte er dort plötzlich ein Mosaik entdeckt.
Ich bekomme meinen Pass ausgehändigt und die Gruppe verlässt das Zimmer mit einem schnellen „auf Wiedersehen“. Das entspricht genau dem, was ich mir überhaupt nicht wünsche. Einige Minuten später ertönt das Brummen der Landcruiser, die Staubwolken aufwirbelnd in Richtung Tamanrasset verschwinden. Ein kurzer Blick in den Hof zeigt mir, dass Akamouk da ist und unversehrt das Feuer für einen beruhigenden Tee schürt. Eine Geste der Normalität, die mir unendlich tröstlich erscheint.
Zurückgedacht: Ich hätte eine Kampfausrüstung für mindestens zehn Mann im Landrover verstecken können, denn kein Polizist war auf die Idee gekommen, dort nach Waffen zu suchen. Jetzt bleibt mir nichts anderes übrig, als den Schrank neu einzuräumen, das Bett zu richten und meine verstreuten Habseligkeiten wieder im Koffer zu verstauen. Nach dieser Aufregung beruhigt mich ein tröstlicher Gedanke: Afrika bleibt in seinen typischen Eigenarten unverändert. So manches scheint sich über die Jahrzehnte nicht geändert zu haben, eine bittersüße Erkenntnis, die meine Zufriedenheit stärkt.
Dieser unvorhergesehene Zwischenfall hat unsere Nerven strapaziert. Es scheint daher nur recht und billig, dass François und ich uns mitten am hohen Mittag einen doppelten Whisky mit Eis und Soda genehmigen. Gewalt von außen hat offenbar eine verbindende Wirkung auf die Betroffenen. Fatima, die sich einen kräftigen weißen Mascara eingeschenkt hat, setzt sich zu uns. Wir stoßen mit den Gläsern an, und François schlägt vor, dass wir uns künftig mit Vornamen anreden sollten. Fatima wünscht sich, Michelle gerufen zu werden, wie sie es von ihrem Mann seit Jahrzehnten gewohnt ist. Ich empfinde das als besondere Geste des Vertrauens.
François ist der Überfall der Polizei peinlich. Mit unverhohlener Verachtung ordnet er den Polizeioffizier dem nördlichen Algerien zu, jenem Teil des Landes, in dem die Regierung sitzt und der von den Bewohnern der südlichen Sahara kaum geschätzt wird. Was wissen die da oben schon über das Leben hier unten? Die sollen für ihre Provinzen im Norden Gesetze machen. Die Menschen im Süden halten sich ohnehin kaum daran, weil es auf dieser Seite der Sahara ganz andere Lebensumstände gibt. Besonders die Touareg, die den Großteil der Bevölkerung stellen, sind kaum dazu zu bewegen, sich den Regeln der Regierung zu fügen.
Diese Diskussion lenkt meine Gedanken kurz nach Österreich, wo in den selbstbewussten Bundesländern oft ähnliche Worte über Wien fallen. Doch dort trennt keine unermessliche Wüste die Landeshauptstädte von der Hauptstadt.
Unsere Unterhaltung wird unterbrochen, als Akamouk erscheint. François lädt ihn ein, sich zu uns zu setzen. Michelle bietet ihm Kaffee an, den er gerne annimmt. Da er Muslim ist, trinkt er keinen Alkohol. Auf meine Frage, warum ich ihn nie beten sehe, wie es sich für einen gläubigen Muselmann dreimal täglich gehört, antwortet er ernst, dass er zwar bete, aber solche unterwürfigen Verneigungen höchstens seinem Stammesfürsten schulde. Doch in der Moschee müsste das eigentlich Pflicht sein? Er besucht keine, denn er verbringt sein gesamtes Leben in einem riesigen Tempel. Sein heiliger Raum ist die Wüste, und zu Boden wirft er sich nur, wenn ein Sandsturm tobt. Ich gebe zu bedenken, dass viele Touareg ihre Gebetsteppiche ausbreiten und darauf ihre rituellen Verbeugungen ausführen. Die gehören sicher dem Volke der Bella an, sagt er, die werden von den Marabus, den heiligen Männern, geführt.
François erklärt mir, dass die Bella keine eigenständige Volksgruppe sind. Sie sind die Nachkommen freigelassener schwarzafrikanischer Sklaven der Touareg. Sie ahmen zwar ihre ehemaligen Herren im Habitus nach, sind ihnen aber niemals gleichgestellt. Befehle eines Targi führen sie meist aus, obwohl gleichfalls hier der Respekt vor dem Herrenvolk stark schwindet. Michelle bringt den Kaffee für Akamouk, der sich höflich bedankt. François und ich genehmigen uns jeder einen weiteren Whisky.
uf meine Frage, was der Polizist von ihm wollte, sagt der Targi, er habe „afrikanisch“ mit ihm gesprochen, dabei führt er eine ausdrucksstarke Geste mit der Hand aus, als würde er eine Zitrone auspressen. Die Verwaltungs- und Exekutivbeamten der Regierung, die meist aus dem Norden Algeriens stammen, sind auf die Fähigkeiten der Tuareg angewiesen. Denn nur die haben das Wissen Spuren sinnvoll zu lesen und in den endlosen Weiten der Wüste punktgenau Wasserstellen zu finden, die nicht einmal von Satelliten erfasst werden. Und das sowohl bei Tageslicht, wie in der Nacht.
Unbemerkt ist die Auberge längst in nächtliche Dunkelheit getaucht. Die Gespräche haben uns die Zeit vergessen lassen. Ich bedanke mich in der Runde für den angenehmen Abend und ziehe mich in mein Refugium zurück. Es ist ein wohltuendes Gefühl, dass mir diese drei Menschen in so kurzer Zeit ihr Vertrauen geschenkt haben. Zufrieden lege ich mich ins Bett und lasse den Tag ausklingen.