Ein lauter Knall reißt mich aus tiefem Schlaf. Ich glaube geträumt zu haben, und ziehe die Bettdecke bis zu den Ohren hinauf. Da wiederholt sich der Krach bei meinem Fenster. Ich bemühe mich aus der horizontalen Lage und gehe in die Richtung, aus der das Geräusch zu kommen scheint. Den Lärm verursacht eine der hölzernen Klappjalousien, die gegen die Hauswand donnert. Ich befestige sie mit dem dafür vorgesehen Haken. Obwohl es schon spät am Morgen ist, habe ich den Eindruck von Dämmerung. Die aufgehende Sonne wirkt verschleiert. Der sonst um diese Zeit klare Himmel ist grau und gelb verhangen. Ein Habub, ein Sandsturm rast auf uns zu. Ich schaue in den Hof hinunter und sehe weder Meharis noch Akamouk. Irgendetwas beeinträchtigt meine Stimmung, ich will nicht einmal schreiben. Ein ungewohntes Gefühl der Einsamkeit und der Wunsch nach Gesellschaft befallen mich. Während der Morgentoilette heult ein neuerlicher Windstoß um das Gebäude, reißt die Jalousie wieder los und wirbelt Sand herein. Ich ziehe die Widerspenstige gegen heftigen Widerstand heran und verriegele sie von innen.
Unten im Gastraum sitzen Michelle und Francois bei ihrem „Petit dejeuner“. Ich nehme bei ihnen Platz, und die Frau des Hauses stellt eine Teetasse und Frühstücksgeschirr vor mich hin. Auf meine Frage, wieso sie wüsste, dass ich Tee am Morgen trinke, meinte sie, Rumis, die selten zum Frühstück kommen, ziehen eben Tee dem Kaffee vor. Solche Logik ist mir zwar nicht recht zugänglich, doch weil hier zutreffend, akzeptiere ich sie höflich. Draußen heult der Wind zunehmend lauter und zerrt an den Hauswänden. François mahnt mich, nochmals hinauf zu steigen, und alles nach Möglichkeit abzudichten. Der aus dem Nordwesten kommende Sturm würde Sand aus den Dünen des großen Erg mitbringen. Oben angekommen, liegt auf dem sonst blanken Deckel des Laptops bereits eine Schicht feinster Saharasand. Ich schließe alle Fenster und sehe dabei eine undurchsichtige, rötlich gelbe Wolke, die wie eine Wand von der Erde bis hoch in den Himmel reichend, auf das Haus zukommen.
Im Gastraum warten Tee, Baguette, Butter und Käse. In dem Moment, als ich mich nach Akamouk erkundigen will, öffnet sich die Eingangstüre und er kommt mit wild wehender Kleidung und fest um den Kopf gewickelten Tagelmust herein. Unter merklichem Kraftaufwand zieht der Targi gegen den Sturm das Tor zu. Er hat mit Erlaubnis von François seine Kamele in die Werkstatt gebracht, wo der Geländewagen der Auberge steht. Mein Landrover bleibt im Freien, er ist relativ neu und die Dichtungen der Türen und Fenster sowie zum Motorraum sind so intakt, dass kaum Sand ins Innere des Wagens eindringen wird. Auf einen Wink von François setzt sich Akamouk zu uns an den Tisch. Draußen tobt der immer heftiger werdende Sturm. An irgendeiner Stelle des Gebäudes schlägt ein loser Laden in stets kürzeren Abständen wild gegen die Mauer. Die Schläge dröhnen im gesamten Haus und die dadurch hervorgerufenen Erschütterungen sind so heftig, dass sie selbst durch den Fußboden zu spüren sind. Dass Schweigen herrscht, solange ich mein „petit dejeuner“ einnehme, ist angenehm. Nach einer Weile unterbreche ich die Stille mit der Frage, ob diese Sandstürme öfter vorkämen und jahreszeitlich bedingt seien. In manchen Jahren im Juni und Juli selten, aber im August kommen sie vermehrt, meint Michelle. Sie hat darin Erfahrung, weil die Reinigung des Hauses nach den durch die Stürme hereingewehten Sand, bleibt ihr überlassen. Es wurde inzwischen ungewöhnlich finster. Trotzdem bleiben wir ohne künstliche Beleuchtung, was die Gaststube direkt gemütlich macht, derweil draußen der Sturm tobt. Doch kein Habub dauert über zwei Stunden.
Unvermittelt fragt mich Akamouk, dieser Wüstensohn, wozu ich ein Buch schreibe. Ich bin perplex, schaue ihn erstaunt an und finde im Moment darauf keine Antwort. Ist mir denn selbst klar, warum? Der Targi will mit der Frage sicher nicht provozieren, ich glaube an sein ehrliches Interesse. Er hält mich ja für einen ganz besonderen Rumi, weil ich ihm zweimal auf der Piste in weitem Bogen ausgewichen bin. So etwas macht kein Einheimischer, geschweige denn ein reisender Europäer. Alle drei sehen mich erwartungsvoll an.
Wie soll man den gespannt wartenden Zuhörern erklären, dass eine Portion Eitelkeit nicht unwesentlich an dem Entschluss beteiligt war? Ein der ehrlichen Frage ausweichender, allgemein philosophischer Vortrag über Sinn und Zweck von Büchern wäre hier sicher falsch am Platz. Somit verschweige ich die von mir selbst angemaßte Berufung zum Schriftstellern und sage bescheiden, dass es mir Freude macht, zu schreiben. Eine solche Erklärung beinhaltet durchaus so viel Wahrheit, wie ich glaube, diesen freundlichen Menschen schuldig zu sein. Sie akzeptieren diese Darstellung. Bis mich die offenbar an Materiellem interessierte Michelle mit der Frage nach einer Gewinn bringenden Verwertbarkeit der Arbeit in weitere Verlegenheit bringt. Ich antworte spontan mit „Insch’allah„, womit ich obendrein mein umfassendes Wissen über afrikanische Mentalität beweise. Solcher Aussage kann nicht widersprochen werden und ich bin froh, damit weiterhin derlei unangenehme Fragen zu vermeiden. Anschließend plaudern wir einige Zeit über Belangloses.
Inzwischen hat der Sandsturm ebenso schnell nachgelassen, wie er begonnen hat. Die unvergleichliche Stille ist wieder da und ich gehe in den Hof, um zu sehen, ob der Sturm irgendwelche Schäden verursacht hat. In den der Windrichtung abgekehrten Ecken der Mauern und Gebäude liegt Flugsand höher, der Himmel erstrahlt wieder intensiv blau, und die Sonne erscheint ebenso zu stechen, wie am Vortag. Ich inspiziere den Landrover und verstehe nicht, wieso sich im Wagen, trotz intakter Dichtungen, mehr Sand angesammelt hat, als an der Außenseite. In mein Refugium zurückgekehrt, fällt Licht durch die Ritzen der geschlossenen Jalousien in scharf abgegrenzten Strahlen. In diesem Sonnenlicht tanzen glänzende Staubpartikelchen. Nach dem Öffnen der Fenster erinnert das in volles Tageslicht getauchte Zimmer an einen mit rötlich-gelbem Staubzucker gepuderten Faschingskrapfen, nur gleichmäßiger verteilt. Ich wische vorsichtig Tisch und Computer frei vom Sand und beschließe, die bis Mittag verbleibende Zeit zu nützen, um weiterzuschreiben.
Doch die Frage Akamouks lässt mich nicht los. Ein Nebeneffekt des Schreibens ist es, einen Teil von einem selbst zu erkennen, wie in einer Autotherapie. Darüber hinaus fragten voneinander unabhängig ein paar Personen, warum ich meine Erinnerungen nicht aufschreibe. Es gäbe ja einiges daraus zu berichten. Die Gleichzeitigkeit dieser Anfragen wirkte wie ein Fingerzeig. Entscheidend war, dass ich längst selbst daran gedacht hatte, in meinem Gedächtnis nachzuforschen und die Vergangenheit zu ordnen. Eine gewisse Dringlichkeit ist ebenfalls angeraten, denn wer kann abschätzen, wie viel Zeit mir dieses Leben in Zukunft für das Verfassen eines derartigen Dokuments lässt? So begann ich daran zu arbeiten, und sandte die ersten Kapitel an Guido, einen brüderlichen Freund, der wegen enormer Schmerzen, deren Ursache kein Arzt zu finden wusste, seine Wohnung nicht mehr verlässt. Ich hoffte, ihn mit diesen Geschichten von seiner Krankheit Ablenkung zu bieten. Seine Reaktionen auf meine Berichte zeigten mir, dass ihm das Lesen Freude bereitete und sein Leiden für kurze Zeit vergessen ließ. Darin einen Auftrag sehend, schreibe ich hier in Afrika weiter und sende ihm die Elaborate.
Meine Lebensbahn verlief zum Teil eindeutig abenteuerlicher und wahrscheinlich abwechslungsreicher, als hätte ich eine Lebensform eines sesshaften Staatsbürgers mit geregelter Arbeitszeit und sicherem Einkommen gewählt. Vor allem die ersten Jahre fielen in eine für Österreich geschichtlich entscheidende Periode. Das gesamte Staatsgebiet besetzten die alliierten Mächte des Weltkrieges. Ein Großteil der Bevölkerung hatte Probleme mit der Selbsteinschätzung, ob sie besiegt oder befreit worden seien. Auch international war man sich darüber nicht einig. Das Land wurde zwischen Ost und West aufgeteilt. Einerseits unterstützten die westlichen Siegerstaaten Österreich beim Wiederaufbau mit Care und Marshallplan, andererseits wurde es von den Russen ausgeblutet. Die nach dem Krieg gebrauchsfähig gebliebenen Industrieanlagen wurden abgebaut und in die Sowjetunion gebracht. Das Gleiche geschah mit allem, was zu transportieren war.
Künste und Wissenschaften erholten sich langsam von den politischen Zwängen der Kriegszeit. Herbert Tichy nahm seine Reisen, Lotte und Hans Hass ihre meeresbiologischen Expeditionen wieder auf, und Peter Fuchs war im Auftrag des Phonogrammarchivs in Afrika unterwegs. Hugo Bernatzik brachte vor seinem Tod zwei Bücher heraus. Kriegsbedingt fehlten den akademischen Institutionen geeignetes Personal und Geld für intensive Feldforschung. Ich hatte mir erlaubt, dieses Vakuum zu nützen.
Es könnte gut sein, dass man sich bei der Zuweisung des Geburtsortes und der Eltern um einige Breitengrade geirrt hatte. Meine Sehnsucht nach dem Süden, der Sonne und mediterraner Lebensphilosophie war und ist unbezwingbar. Sollten die mir vererbten Gene der italienischen Großmutter daran Schuld getragen haben? Dieser Hang zum angenehm temperierten Süden wurde für den Großteil meines Lebens bestimmend. Schon als kleiner, minderjähriger Bub büchste ich einmal aus und wurde erst in Arnoldstein, an der Grenze zur Heimat meiner aus Riva di Garda gebürtigen Oma, in Ermangelung eines Reisepasses wieder eingefangen.
Drei Hausnummern von der elterlichen Wohnung entfernt, in der Lindengasse Nummer zehn, dem ehemaligen Palais Herzmansky, wohnte im obersten Stockwerk ohne Aufzug ein recht mürrischer, älterer Herr, Karl Wewerka. Der hatte einen Sohn, den Hans, und der war verheiratet. Herr Wewerka Senior, verwitwet, verfügte über einen Haarkranz, der am Hinterkopf die Glatze von einem Ohr zum anderen begrenzte. Sein graues, durch Pockennarben gezeichnetes Gesicht wurde meist gegen Blendlicht nach oben von einem grünen Schirm abgeschlossen. Denn im Souterrain desselben Hauses lag sein Lebensmittelpunkt, seine Arbeitsstätte, sein kleines Unternehmen. Dort saßen ganztägig in absoluter Stille, bei elektrischer Beleuchtung eine Anzahl voll konzentrierter Herren, welche alle die gleichen Blendschirme auf der Stirne trugen, und schrieben unaufhörlich Noten. Musiknoten. Ohne Rücksicht auf Wetter, Jahres- und Tageszeiten. Es war ein Büro, in dem bis dato mit der Hand Partituren kopiert, oder einzelne Stimmen daraus extrahiert wurden, damit jeder Musiker eines Orchesters seine eigenen, dem jeweiligen Instrument zugeordneten Noten bekam. Hans Wewerka junior wollte höher hinaus und gründete mit seinem Vater einen Musikverlag, den Atempo-Verlag. Daneben hatte er in der Neubaugasse ein Büro, in dem eine Zeitschrift für Jazzmusiker, das „Podium“, entstand. Es war als österreichische Konkurrenz für die amerikanischen Jazzmagazine „Down Beat“ und „Metronome“ gewollt. Hans Wewerka kannte mich von meinen Verbindungen zur Wiener Jazzszene und bot mir eine Stelle für Botendienste an. Da ich ein bisschen Verdienst benötigte, nahm ich gerne an.
Im Flur des Palais Herzmansky stand ein Jugendtraum geparkt: Mein Arbeitswerkzeug, ein mit unaussprechlich froschgrüner Farbe lackierter Motorroller der Firma Lohner, ein LK 98 S! Seit dem Ende des Krieges wurden in Italien Vespa und Lambretta erzeugt, doch das war der erste in Österreich gebaute Motorroller! Gestartet wurde er mittels Handzugseil, wie bei Motorsägen oder Außenbordmotoren üblich. So ähnlich klang der kleine Zweitakter, sobald er lief. Der Roller tat zuverlässig seine Pflicht, nur bei steileren Straßen bergauf war die Leistung eher begrenzt. Zu zweit recht mühsam. Von da an brauchte ich das Fahrrad nicht mehr. Meine Familie hatte mir Geld für ein solches gespendet. Beim Dusika in der Zollergasse kaufte ich mir ein gebrauchtes Rennrad der Marke RIH mit Dreigangschaltung, mit dem ich nicht nur in Wien herumflitzte.
Die Komponisten der damaligen Zeit, Friedrich Cerha, Ernst Krenek, Robert Stolz, Erwin Halletz und Johannes Fehring, hatten alle irgendeinmal die Dienste des Karl Wewerka in Anspruch genommen. Wie oft musste ich von einem dieser Herren eilig Noten abholen, denn sie komponierten manchmal während schon die Orchesterproben für die Aufführungen ihrer Werke liefen. Da waren die Notenkopisten gefordert schnell, und vor allem ohne Fehler zu arbeiten. Es herrschte Zeitdruck. Trotz der Nervosität war in dem lang gestreckten Arbeitsraum ausschließlich das Kratzen der Schreibfedern zu vernehmen. Die oben erwähnten Komponisten, oder deren Gattinnen, waren durchweg freundlich, boten mir zu trinken und Kekse an, wenn ich auf ein paar Takte zur Vollendung der Komposition wartete. Selbst Einzi Stolz hat mich warmherzig bewirtet. Manchmal durfte ich mir den Roller am Abend privat ausborgen. Dann knatterte ich angeberisch die Kärntnerstraße hinunter zum Strohkoffer und parkte ihn direkt davor.
Der Besitzer der beiden Lokalitäten American Bar und Strohkoffer, Max „Mackie“ Lersch, brauchte Geld für sein kostspieliges Hobby, andere Nachtlokale und die dort arbeitenden Damen zu konsultieren. Von Maria, der Herrscherin über die Finanzen der American Bar, gab es für ihn wenig zu holen, und der Strohkoffer war ebenfalls nicht mehr so ertragreich. Eines Tages reaktivierte er das auf Straßenebene rechts vom Eingang zum Strohkoffer gelegene Nebenlokal, zu dem der Speisenaufzug aus der Küche im Keller gehörte. Seit dem Dahinscheiden der Mutter Lersch scheint diese Bar nicht mehr in Betrieb gewesen zu sein. Der ausnehmend gemütliche Raum war mit aus Zeiten vor dem Krieg stammenden, aber bequemen Sitzgelegenheiten an einigen Tischchen, einem aktiven Kamin und funktionierender Bartheke mit sechs Hockern davor eingerichtet. Dazu passend waren die Wände mit rosa Mustern aus dem Biedermeier tapeziert. Beleuchtet wurde das Ganze von einem Lüster mit glitzernden Glasprismen in Tropfenform und an den Wänden von im gleichen Stil gestalteten dreiarmigen Appliken. Und ja, da stand in einer Nische ein Klavier, das nie gestimmt wurde. In diese, geschätzt aus den frühen dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts stammende Bar mit der Anmutung eines Boudoirs, führte eine Türe, deren verglaste Paneele innen mit Spitzenvorhängen verdeckt waren. Außerdem gab es den vorher erwähnten, mit Handseilzug betriebenen Speisenaufzug. Der beförderte vormals warme Speisen aus der darunter liegenden Küche ins Lokal hinauf. Mackie bat mich, diese Bar gegen das zu erwartende Trinkgeld, wie ein Volontär, zu übernehmen. Da mein Chef Hans Wewerka im Begriff war sein Arbeits- und Lebenszentrum nach München zu verlegen, überlegte ich nicht lange und wurde zum Barmann.
Lersch gelang es, eine in Wien lebende Berliner Dragqueen namens Marcel André für die Bar zu interessieren. Am späteren Abend erschien dieser und interpretierte schlüpfrige Lieder. Damit war eine zweite Schwulenbar für Wien geboren! Max besorgte zum Einstand ein paar angebrochene Flaschen aus der American Bar, die Maria nur widerwillig ausließ. Weil der Getränkegroßhandel nicht mehr auf Pump lieferte, füllten wir billigen Branntwein in Gebinde mit den Labeln Courvoisier und Hennessy. Cognac war damals das Modegetränk. Wir stellten sie neben die fast leeren Whiskyflaschen, Reste aus der Loosbar, wie man die American Bar nach ihrem Erbauer, dem Architekten Alfred Loos gemeinhin nannte. So wirklich wohl fühlte ich mich nicht bei diesen unkorrekten Machenschaften, aber da es niemanden auffiel und Max, der Chef, dazu meinte, das würde man in allen Nachtlokalen ebenso machen, glaubte ich ihm, und damit es sollte mir recht sein.
So für das zu erwartende Geschäft gerüstet, wartete ich auf meinen ersten Kunden. Der kam bald, bestellte aber ein Vierterl Grünen Veltliner. Damit hatten wir nicht gerechnet. Mit einem Glas in der Hand lief ich hinüber in die Seilergasse zum „Göttweiger“, ließ es für 3,50 Schilling mit Wein anfüllen und kassierte anschließend vom Gast dafür 12,00. Eine Gewinnspanne, mit der ich leben konnte. Nach zwei verkauften Vierteln war mit diesem Startkapital zu wirtschaften. Ich kaufte vom Erlös einen „Doppler“, und der Abend war gerettet. Die späteren Gäste ließen mehr springen. Sobald die Musik begann, tranken sie begeistert den Brandy und hielten ihn für Cognac. Ich würfelte mit ihnen um Getränke und hob damit erfolgreich den Umsatz. Das Geheimnis dabei war, sollte der Wirt des Öfteren verlieren, mit Escalero-Poker ist er immer Gewinner. Denn bei einer Marge von dreihundert Prozent, fallen kleine Verluste nicht ins Gewicht. Mit fortschreitender Routine gewann ich immer öfter und durfte dabei unter den Herren vom anderen Ufer faszinierende Bekanntschaften machen. Selbst wenn, durch meine vergangene braune Erziehung und Propaganda geprägte Ansätze zur Homophobie existiert hätten, bei diesem Job wurden sie lebenslang ausgeräumt.
Obwohl die Gäste einen offenen und freundschaftlichen Umgang mit mir pflegten, war es bemerkenswert, dass keiner der Herren versuchte, mich knackigen Jüngling abzuschleppen. Den größten Eindruck hinterließ bei mir ein später Gast, Fred Adlmüller, der Modezar von Wien. Er kam stets zu fortgeschrittener Stunde, sobald er keine anderen Kunden mehr vorzufinden hoffte. Meist erschien er ohne Entourage zu Geschäftsschluss, wann ich dabei war, die Tagesabrechnung zu machen und den Rest Bargeld zählte, den Max nicht eingesackt hatte. Mackie holte sich täglich regelmäßig vor der Sperrstunde die bis dahin erwirtschaftete Losung und verschwand damit in Nachtlokale wie Vindobona, Moulin Rouge, Bonboniere, Marietta- und Edenbar, oder sonst in ein einschlägiges Lokal. Nachdem der Laden zugesperrt war, setzte ich mich zu Adlmüller an den Kamin. Bei einem gemütlichen Drink führten wir oft feine philosophische Gespräche. Mir blieb dieser gebildete und einfühlsame Mann eindrücklich in Erinnerung, weil er meine Gedanken zu verschiedenen Themen akzeptierte. Das hob verständlicherweise etwas mein Selbstwertgefühl.
Die Trinkgelder in der Bar flossen reichlich, so um die siebzig Schilling pro Tag. Das war für jemanden, der im Hotel Mama lebte, ein üppiges Taschengeld. Das Lokal war ein beschauliches Plätzchen, in dem sich Gleichgesinnte in netter Atmosphäre austauschten. Äußerst frequentiert waren die Tage mit Unterhaltungsprogramm. Eines späten Abends, eben interpretierte der in schicken Fummel gekleidete Marcel André sein Paradelied „Iphigenie, ich sehe ja dein Knie“, da geschah es. Das Lokal war gut besucht, gegen Mitternacht öffnete sich die Eingangstüre einen Spalt, ein mit einem Dufflecoat bekleideter Unterarm erschien. Der Zeigefinger der Hand lag am Abzug einer Pistole größeren Kalibers. Ein Schuss, und an der gegenüber liegenden Wand, neben einer der kristallbehangenen Appliken staubte es. Nicht getroffen! Der Arm verschwand, die Türe schloss sich automatisch. In der darauffolgenden Stille betrachteten ein paar Gäste interessiert das Loch in der Wand, kurz darauf setzte Marcel wieder mit dem Vortrag seines Liedes fort. Ich wunderte mich, was Mackie mit dieser Aktion erreichen wollte, denn nur er konnte der Schütze gewesen sein.
Generell verliefen die Nächte in der Männerbar, beschützt von der „Galerie“, fast durchweg normal und unaufgeregt. An Samstagabenden verzeichneten alle drei Lokale Gewinn bringenden Besuch. In der Kärntnerbar waren bei gedämpfter Unterhaltung sämtliche Tische und Barhocker belegt, der Strohkoffer platzte aus den Nähten. Uzi Förster performte da unten sein „Udrilitten“ und andere Spezialitäten. Die darüber liegende Schwulenbar war ebenfalls überfüllt. Ein ausgeglichener Abend mit erfreulichem Umsatz kündigte sich an. Mit Pokerwürfeln unterhielt ich ein paar Gäste, womit die Einnahmen des Tages vermehrt wurden. In äußerster Konzentration versuchte ich eben ein Full House zu würfeln, da öffnete sich wie von Geisterhand geführt, der Schieber des Speisenaufzugs. Mit kräftigen Strahl wurde der gesamte Inhalt einer frisch gefüllten Syphonflasche aus etwa zwei Meter Entfernung in Richtung Bartheke entleert. Im Aufzug saß zusammengekauert Uzi Förster und grinste. Das konnte ich mir nicht bieten lassen. Schnell schnappte ich mir eine ebensolche unter Druck stehende Flasche und spritzte deren Inhalt auf den im Aufzug eingeschlossenen Uzi. Diejenigen, die ihn wieder in den Strohkoffer hinunter ziehen hätten sollen, zögerten aber. Bedingt durch die Enge, in der er saß, war ihm ausweichen nicht möglich und er bekam den gesamten Inhalt der Flasche ab. Das tat unserer Freundschaft jedenfalls keinen Abbruch. Gäste, die sich in der „Schusslinie“ aufhielten, blieben von der ausgiebigen Dusche nicht verschont. Erstaunlich war, dass nach diesen beiden Vorfällen keineswegs weniger Besucher in dem Lokal verkehrten.
Nachdem ich mir einen Teil des Verdienstes zusammengespart hatte, wurde im Herbst des Jahres 1953 wieder einmal Fernweh übermächtig. Ich verließ meinen Bartenderjob und machte mich in einen grauen Lodenmantel gehüllt und mit wenigen Habseligkeiten im Rucksack auf den Weg Richtung Süden. Per Autostopp ging es durch Italien bis ans Mittelmeer. Faszinierend fand ich die gelben Scheinwerfer der Autos in Frankreich. Rasch und ohne Probleme erreichte ich Nizza. Ein freundlicher Franzose, der mich bis ins Zentrum der Stadt mitnahm, gab mir auf die Frage nach einer Übernachtungsmöglichkeit eine Adresse und einen Namen. Ich fand das beschriebene Gebäude, wo mir eine nette Dame einen Schlüssel gab, der zu einem Haus am Strand gehörte. Dort stand eine Holzbaracke, die in dieser Jahreszeit unbenützte Kantine des Badestrandes. In der Mitte waren Tische und Stühle, an den Wänden entlang breite Sitzbänke aus Holz, die sich ausgezeichnet zum Übernachten eigneten. Es war hier sehr ruhig, die Promenade des Anglais lag weit weg und vom nahen Meer hörte ich das beruhigende rhythmische Rauschen der Wellen. Es war so gemütlich, dass ich beschloss, zwei Tage in „meinem“ Haus am Strand von Nizza zu verbringen. Ich brachte den Schlüssel zurück und bedankte mich für das kostenlose Asyl, dann ging es weiter bis Marseille.
Nach einer Nacht in der „Auberge de jeunesse“, der Jugendherberge, konnte ich die Überfahrt auf der Fähre in Richtung Algier buchen. Auf Sparsamkeit bedacht erstand ich ausschließlich die nächtliche Fahrt im Unterdeck, ohne Kabine oder sonstiger Annehmlichkeiten. Schon beim Einlass wies man mich die Stiege hinunter, in das dunkle Schiffsinnere. Dort war das gesamte Deck mit Arbeitern und Großfamilien aus Algerien belegt, die sich lautstark unterhielten. Der ungewohnte und vehemente Geruch nach Erbrochenem und die gedrängte Nähe der Menschen waren mir fremd und nicht angenehm.
So begab ich mich in der Abenddämmerung, das Schiff lief eben aus dem Hafen, hinauf aufs Vorschiff an die frische Meeresluft. Das Betreten dieses Schiffsteiles war Passagieren nicht erlaubt. Aber weil mich niemand zurückhielt, suchte ich eine Sitzgelegenheit an Deck. Auf einer Rolle armdicker Schiffstaue sitzend realisierte ich, beglückt über den Bug nach Süden schauend, dass ich Europa verlasse. An diesem Herbstabend war die See recht ungemütlich. Je weiter wir ins offene Meer kamen, umso höher wurden die Wellenberge. Wir waren geschätzt eine halbe Stunde unterwegs, da geschah es. Das Schiff stieg eine riesige, steile Welle hinauf, bis nur mehr der Himmel zu sehen war, und senkte sich auf der anderen Seite rasend schnell wieder hinunter. Diese Bewegung vermittelte das Gefühl, auf einer abwärts flitzenden Berg-und-Tal-Bahn zu sitzen. Die rasante Talfahrt nahm kein Ende, das Gesetz der Schwerkraft war aufgehoben. Es hob mich von meinem Sitzplatz und ich suchte im Inneren der Taurolle mit den Füßen Halt. Wie sich ein Reiter beim Rodeo an sein Pferd klammert, krallte ich mich an das gewundene Schiffsseil. Der Bug des Schiffes tauchte unter eine haushohe Welle, ich wurde fest auf meine maritime Sitzgelegenheit gedrückt, und verschwand in einer Wand kaltem Meerwassers. Nach mir endlos erscheinender Unterwasserfahrt erschien der Bug der Fähre wieder an der Oberfläche. Erst einmal holte ich tief Luft, um dann schuldbewusst zur Kommandobrücke hinauf zu schauen. Dort amüsierten sich die Herren Offiziere über irgendetwas köstlich.
Den folgenden Tauchgang nicht abwartend schwankte ich tropfnass zurück zur Geborgenheit ins trockene Innere des Schiffes. Auf der Suche nach einem Unterschlupf verblieb auf meiner Spur ein Bächlein Seewasser. In einem der Gänge traf ich einen Matrosen, der mir für tausend Franc seine Koje zur Übernachtung anbot, denn er hätte Nachtdienst und brauchte sie nicht. Dankbar nahm ich das Angebot an. Waren es mir wohlgesinnte Geister, oder die Offiziere von der Kommandobrücke, die den Matrosen geschickt hatten? Egal, jetzt wurde meine total durchnässte Kleidung ausgewrungen und in dem engen Raum zum Trocknen ausgebreitet. Erschöpft schlief ich bei den heftigen Schlingerbewegungen des Schiffes bis zum Morgengrauen durch.
In den frühen Morgenstunden ist es still geworden, die Fähre glitt ruhig dahin, das Brummen der Schiffsmotoren war kaum zu hören. Ich zog mein fast trockenes Gewand wieder an und stieg auf das von Sonnenlicht durchflutete Deck. Angenehm warme Luft empfing mich und trocknete Schuhe und Kleidung durch und durch. Bei wolkenlosem Himmel liefen wir in den Hafen von Algier ein. Der Anblick dieser strahlend weißen Hafenstadt, die sich vom Meer über einen Hügel hinaufzog, blieb unvergesslich. Sie vermittelte den Eindruck eines spiegelverkehrten Pendants zu Marseille, denn beide Städte werden von Wahrzeichen überragt. Algier von der Kirche Notre Dame d‘Afrique und Marseille von der Basilika Notre Dame de la Garde. Ja, das war es, ich fühlte mich glücklich, in Afrika zu sein, frei und ausgeschlafen, für Abenteuer und Entdeckungen bereit.
Die Formalitäten am Grenzposten waren minimal, Algerien war zu der Zeit ein Teil Frankreichs. Wieder an Land schlenderte ich den Hafen entlang, an zahlreichen kleinen orientalisch-pfefferig riechenden Läden vorbei und stürzte mich in das Gewühl der Stadt. Die exotische Mischung aus gleichermaßen Orient und Europa war faszinierend und verheißungsvoll. Nicht weit von der Anlegestelle, in der Rue Sadi Carnot fand ich eine Jugendherberge. Die Mère-Aub, wie die Herbergsmutter auf Französisch genannt wird, wurde dieser Bezeichnung wahrlich gerecht. Sie empfing mich freundlich, und da damals meine Kenntnisse in Französisch recht rudimentär waren, radebrechten wir in englischer Sprache. Sie zeigte mir ein schmuckloses Zimmer, eingerichtet mit vier Stockbetten und ein paar abschließbaren Schränken. Vor allem war es angenehm, in diesem kühl anmutenden Raum allein wohnen zu dürfen. Auf meine Anfrage gab sie mir die Adresse des Museums Bardo. Ich hoffte, dort Ausführliches über nordafrikanische Musik zu erfahren.
Zuerst aber zog es mich in Richtung Kasbah, dem ältesten Stadtteil Algiers. Endlich war ich mitten im Orient! Händler, Handwerker, Kinder und mehr oder weniger verschleierte Frauen bildeten eine malerische Einheit aus prächtigen Farben, unverständlichen Sprachfetzen und die Nase reizenden Gerüchen. Dazu kam aus unzähligen quäkenden Radiogeräten ein Klangteppich von entsetzlich lauter, erheblich verzerrter arabischer Musik. Jeder Händler trachtete durch womöglich noch mehr Lautstärke, dabei Klang- und Tonqualität missachtend, auf sich und sein Geschäft aufmerksam zu machen. Alle meine Sinne waren wach und ließen mich merken, wie weit weg von zu Hause ich war. In diese exotische Atmosphäre tauchte ich genüsslich ein.
Der Rückweg führte mich durch verwinkelte enge Gassen zu der Hauptstraße, von der ich vorhin gekommen war. Es dämmerte schon, als ich einen Platz erreichte. An dessen Mitte befand sich ein kleiner runder Pavillon, die Bar Unic. Ich beschloss, mir dort einen Drink zu genehmigen. Links und rechts vom Eingang standen zwei Tische mit jeweils vier Stühlen. Da es draußen schon kühl wurde, betrat ich das bis auf die Bedienung leere Lokal und bestellte mir an der Bar das billigste Getränk, einen Pastis“51″. Zu meiner Freude standen auf der Theke neben den groß dimensionierten Aschenbechern Schüsselchen mit Erdnüssen und Teller mit ovalen Brotstücken. Der Mann hinter der Bar stellte ein Glas mit dem gelbgrün fluoreszierenden Pastis, eine Karaffe Wasser mit Eiswürfeln vor mich hin, und schob freundlich Nüsse und Brot in Reichweite. Die Brötchen waren vom Baguette geschnitten und dünn mit einer Wurstpaste bestrichen. Das tat meinem hungrigen Magen wohl und ich leerte zügig Glas, Erdnusstöpfchen und Brotteller. Bei Einbruch der Dunkelheit erreichte ich die Jugendherberge. In der Küche saßen ein paar Jugendliche und sangen französische Lieder zur Gitarre. Um zehn Uhr abends war in der Herberge Nachtruhe angesagt, worauf die Mère-Aub autoritär achtete.
Nach dem obligaten Frühstück machte ich mich auf den Weg ins Museé Bardo. Ich kannte Bilder von maurischen Bauten, aber das hier übertraf an Arabesken und Prunk alles bisher Gesehene. Ich fragte beim Eintritt nach der Abteilung für Musik und wurde in ein Nebengebäude geführt, das zu meiner Enttäuschung jedem orientalischen Charme entbehrte. Ich klopfte an der mir vom Portier angegeben Türe. Auf ein von innen gerufenes „entré“ betrat ich einen kahlen Büroraum, hinter dem einzigen Schreibtisch saß ein in einen weißen arabischen Kaftan gehüllter Algerier mit Brille. Wir stellten uns einander vor, ich konnte mir seinen, den Kehlkopf brechenden Namen nach dem Titel Professeur nicht merken. Es fand sich eine Sprache, die wir beide gleichermaßen nicht perfekt beherrschten: Englisch. Ich war darin etwas besser, was aber seinen Eifer nicht dämpfte, mir mit großem Sachverstand und Enthusiasmus alles Mögliche zu zeigen und zu erklären. Es war zum bleibenden Erfassen um etliches zu viel Wissensvermittlung auf einmal in kurzer Zeit. Trotzdem blieben einige, später zu verwertende Informationen hängen, wie die unterschiedlichen Formen von Instrumenten, Spielorte und dass es Aufnahmen dieser Musik gab, die mich in diesem Moment zugegebenermaßen nur am Rande, oder gar nicht interessierten.
Über diese faszinierende Führung durch die Musikabteilung war es Mittag geworden. Mit einigen schriftlichen und gedruckten Unterlagen versehen, eilte ich auf der bekannten Straße wieder in Richtung Jugendherberge. Dieser zu querende Platz muss ein zentraler Punkt in Algier sein, denn völlig unbeabsichtigt führte der Weg zur Herberge umweglos wieder an der Bar Unic vorbei, oder besser gesagt, hinein. Der nette Barmann stellte mir einen Pastis vor die Nase und schob mir von links und rechts die Teller mit den frischen Sandwiches näher. Er scheint erkannt zu haben, dass ich hier mein Mittagessen einzunehmen gedachte. In dem Moment, als ich die Bar verlassen wollte, betraten zwei Männer in piekfeinen, mit messerscharfen Bügelfalten versehenen Uniformen das Lokal. Einer trug das „képi blanc“ der Fremdenlegion, der andere war sicher ein Unteroffizier, denn er hatte ein schwarzes Képi, an der Oberseite rot bespannt. Beide waren Fremdenlegionäre. Sie legten ihre Kappen auf den Hocker neben sich und nahmen gegenüber von mir an der einem Hufeisen gleichenden Bar Platz. Heimatliche Klänge drangen zu mir herüber! Nein, nicht deutsch, österreichisch! Es wurde ein nachhaltig bemerkenswerter Nachmittag.
Die beiden Legionäre waren auf Urlaub aus dem Zentrum der Légion étrangère in Sidi-bel-Abbès nach Algier gekommen. Ihre Gesichter waren von Sonne und Hitze gegerbt und zeigten die Spuren der Herausforderungen des strengen Drills, der in der Legion herrscht, deutlich an. Sie sprachen mit dem Barkeeper fehlerfrei Französisch, der mich als Deutscher mit den beiden Soldaten bekannt machte. Es stellte sich heraus, dass sie Ihren Urlaub im kühleren Norden des Landes verbrachten, denn ohne Sondererlaubnis durften sie nicht nach Europa. Sie könnten ja dort womöglich desertieren. Dazu kommt, dass eventuell existierende, internationale Haftbefehle hier in Algerien wirkungslos geblieben wären, denn sie standen unter dem Schutz der Legion. Sie waren Soldaten Frankreichs. Nach meiner Klarstellung, dass ich Wiener, somit Österreicher bin, kam auch schon der erste Pastis zu mir gewandert. Es blieb nicht bei dem Einem. Der Unteroffizier war ehemaliger Frauenarzt in Graz gewesen, der sich vermutlich mit verbotenen Abtreibungen sein Einkommen verbessert hatte und auswandern musste. Über den Anderen mit dem Tiroler Akzent erfuhr ich nichts Genaues. Beide schwiegen sich darüber aus und ich machte mir meine eigenen Gedanken dazu. Der Doktor erzählte von einem Aufstand der Berber in einer Stadt im Süden, den er mit seiner Abteilung niederschlagen sollte. Vor dem Rathaus am Hauptplatz demonstrierten Rebellen, zu denen sich immer mehr Leute aus der Umgebung gesellten. Nicht ohne Selbstgefälligkeit berichtete er, dass er die Dächer der Häuser an den vier Ecken des Platzes mit Maschinengewehren besetzte und die gesamte Ansammlung niederschießen ließ. So einfach war das, eine Revolution zu verhindern. Mitunter hatte ich mit dem romantischen Gedanken gespielt, selbst Legionär zu werden. Nach dieser Geschichte verwarf ich dieses Vorhaben endgültig.
Die nicht mehr zu rekonstruierende Anzahl genossener Gläser Pastis drängte mich zu einem menschlichen Bedürfnis. Mein Kopf war zwar völlig klar geblieben, doch der Barhocker, auf dem ich saß, ist im Laufe der feucht geführten Unterhaltung um gefühlte drei Meter gewachsen. Entsprechend schwierig gestaltete sich der Abstieg. Von launig aufmunternden Worten der Militärs begleitet, erreichte ich endlich sicheren Boden.
Sollte oben beschriebener Herr Doktor heute noch am Leben sein und diese Zeilen zufällig lesen, ersuche ich ihn, meine Indiskretion gütigst zu verzeihen. Bei der Gelegenheit möchte ich mich nachträglich für die unzähligen Pastis bedanken, weil ich alkoholbedingt solche Höflichkeit sicher unterlassen hatte. Auf irgendeine Weise gelang es mir, die Unterlagen des Museums fest unter dem Arm geklemmt, heil in die Jugendherberge zu kommen. Meinen Entschluss, am nächsten Tag abzureisen, setzte ich morgens in gedämpfter Stimmung und trotz des anscheinend herrschenden Nebels frierend und mit aufgesetzter Sonnenbrille in die Tat um.