Gurgelnde Töne des Unmuts der Kamele im Hof treiben mich aus dem Bett. Akamouk hat seine Meharis hinlegen lassen, um sie zu beladen. Eben legt er dem Reittier die prachtvollen und mit Quasten verzierten Decken über. Ich schlupfe schnell in meine Hose und laufe hinunter. In diesem Moment hebt der Targi den Sattel auf den Kamelrücken. Diesen ziert ein wohlgeformter Dreizack, der ebenso Schmuck, wie Griff zum Anhalten ist. Ich frage Akamouk nach seinem Reiseziel. Er möchte in den Azawad im Norden Malis, wo Touareg verzweifelt um ihre Freiheit kämpfen. Er will sehen, was die Tuareg-Krieger der MNLA, (Mouvement national de libération de l’Azawad), der nationalen Bewegung für die Befreiung des Azawad, erreicht haben, und warum so viele von ihnen nach Niger flüchten. Ebenfalls bei uns hier kommen gelegentlich kleine Karawanen mit ganzen Familien von Tuareg und hoch beladenen Lastkamelen vorbei und ziehen neben der Piste gegen Osten. Offenbar wollen sie nach Tamanrasset oder in das Gebirge vom L’Aïr, vielleicht in das Gebiet von Agadés. Anfänglich waren Al Kaida und Islamisten Verbündete der Tuareg. Von diesen ausgebootet, war der Traum vom selbständigen Tuaregstaat wieder in weite Ferne gerückt. Für einen allein reisenden Targi könnte es gefährlich werden. Ich äußere meine Bedenken und erhalte prompt die selbstbewusste Antwort, ihm würde sicher nichts geschehen, er sei ein Imuhagh, ein Adeliger! Ob das die Kämpfer der Al Kaida respektieren, die ihn mit ihren weitreichenden Schusswaffen leicht aus dreihundert Metern Entfernung gezielt aus dem Sattel schießen könnten? Fürchtet man sich vor etwas, tritt es unweigerlich ein, wirft er mir an den Kopf. Gut, selbst ich praktiziere dieses Theorem seit Jahrzehnten erfolgreich gegen alle mögliche Krankheiten, aber damit gefährlich aggressive Menschen abzuwehren, ist mir bisher nicht gelungen. Er blickt mich voll Mitleid direkt an und erklärt schonungslos, warum das nicht funktioniert: weil ich eben ein Rumi bin. Danke, das genügt. In Europa wäre das ein Grund, ihn wegen Rassismus zu verklagen.
Bei jedem Stück, das er mit Schnüren an den Kamelen befestigt, protestieren sie gurgelnd. Ich frage mich, ob ihnen das ewige Gurgeln nicht mit der Zeit zu blöd wird? Auf beiden Seiten des Lastkamels hängen die aus Ziegenhaut zusammengenähten, wasserdichten Gerbas. Da sie erst vor Kurzem mit frischem Wasser gefüllt wurden, fallen Tropfen in den Sand, kleine Krater bildend. Neben den Wasservorräten baumeln Bündel trockener Zweige, zum Feuer machen gedacht. Ohne Tee geht nichts in der Wüste. François erscheint in der Türe des Hauses mit zwei in Stoff eingepackten und verschnürten Paketen. Er übergibt sie Akamouk. Der scheint zu wissen, was mit ihnen geschehen soll. Die Sorgfalt, wie sie gepackt sind, lässt die Hand Michelles erahnen. Der Inhalt waren sicher Konserven als Reiseproviant. Unter gewohntem Gebrüll des Kamels werden auch sie am Sattel befestigt. François teilt mir mit, dass das Frühstück vorbereitet ist. Ich gehe hinein, begrüße Michelle, die den Tee bringt, und mache mich daran, das Gebotene zu genießen. Draußen werden die Unmutsäußerungen der Meharis heftiger. François kommt wieder in den Gastraum und überbringt mir einen Gruß von Akamouk. Ich beeile mich, in den Hof zu kommen, aber die Kamele waren zu schnell, so dass sie bei meinem Eintreffen im Hof schon außer Rufweite sind. Er reitet genau gegen Westen die Piste entlang. Nach einigen Kilometern wird er von dieser Richtung abweichen und quer durch die Wüste ziehen. Innerlich wünsche ich ihm viel Glück und hoffe, dass er gesund wiederkommt. François sitzt im Gastraum, gedankenversunken den Kopf mit den Händen stützend. Es ist mir zu mühsam ihn über den Grund seiner Nachdenklichkeit zu befragen. Außerdem brauche ich Ruhe und Konzentration, um die nächste Episode meiner Erinnerungen in den Computer eintippen.
Die bis hierher an meiner Seite gebliebenen tapferen Leserinnen und Leser ersuche ich um Verständnis, dass es in diesen Erzählungen keine ausführlichen Beschreibungen der Städte und Landschaften gibt. Sechs Jahrzehnte sind inzwischen vergangen, und der Status quo würde keinesfalls mit dem von mir damals Gesehenem und Gespeichertem übereinstimmen. Geschichtliches bitte ich bei den großen Kennern Afrikas und Schriftstellern, wie Gustav Nachtigal, Pére de Foucold und Heinrich Barth nachzuschlagen. Für diejenigen, die heute eine Reise planen, gibt es das Internet, Baedeker, oder andere moderne Reiseberichte. Ich bitte daher um Verständnis, wenn ich bei den Schilderungen der Eindrücke bleibe, welche mich besonders berührt und die Jahrzehnte in meinem Gedächtnis überdauert haben:
Casablanca! Allein der Name ist schon Programm. Ich erreichte die Stadt kurz vor Sonnenuntergang, goldgelbes, warmes Licht warf lange Schatten der gar nicht durchwegs weißen Häuser auf die belebten Straßen. Das nur seltene Auftreten von tatsächlich weiß gestrichenen Gebäuden war enttäuschend, konnte mir aber die Stimmung nicht verderben. Ich war einfach glücklich, mich in dieser geschichtsträchtigen und von geheimnisvollem Nimbus umfangenen Stadt aufzuhalten. Ich sollte hier länger als geplant bleiben, denn es dauerte einige Wochen, bis ich Marokko endgültig in Richtung Europa verließ. Eine Jugendherberge in klassischem Sinne gab es, war aber ausgebucht. Ich fand ein anderes, leistbares Quartier in Hafennähe. Das zu finden erforderte ein paar Stunden und es wurde darüber Nacht. Angenehm für mich erwies sich der Umstand, dass keine Anzahlung zu leisten war, nur den Pass musste ich bei der freundlichen Vermieterin abgeben. Müde und zufrieden bezog ich mein bescheidenes Zimmer. Dusche und Toilette waren vorhanden.
Am nächsten Vormittag suchte ich an der mir angegebenen Adresse die österreichische Dienststelle auf. Da sollte ich einen Bekannten meiner Eltern antreffen. Eine recht gutes Deutsch sprechende Sekretärin führte mich in einen Raum, dessen Wände mit Plakaten der Österreichwerbung beklebt waren. Es war der Warteraum des Honorarkonsulats. Ich rechnete mit der Unterstützung dieses Herrn bei Institutionen, wo ich Grundlegendes über marokkanische Musik erfahren würde, sowie bei der Beschaffung eines amtlichen Darlehens zur Heimreise. Meine Geldmittel dafür reichten nicht mehr aus. Streng genommen war ich längst blank. Auf einem Tischchen lagen deutschsprachige Zeitungen. Mich interessierte hauptsächlich ein Artikel, der über eine Reihe von Erdstößen berichtete, die es vor einigen Tagen in der Umgebung von Agadir gegeben hatte. Die sollen Zerstörungen größeren Ausmaßes angerichtet hatte. Wahrscheinlich war das schon eine tektonische Ankündigung für das verheerende Erdbeben, welches sechs Jahre später zehntausende Tote gefordert hatte. Nach kurzer Wartezeit teilte mir die Dame mit, der betreffende Herr sei auf Dienstreise, er würde aber in einigen Tagen wieder im Büro anzutreffen sein.
Da ich für die Zwischenzeit, bis der Angestellte des Konsulats zurück sein würde, nichts Besseres vorhatte, plante ich, nach Agadir zu fahren. Vielleicht kann man dort nützlich sein. Ich holte mein Gepäck aus dem Zimmer, das ich für eine Woche angemietet hatte, und zog gleich los, südwärts. Hier lief das Autostoppen gar nicht mehr so leicht, wie bisher im Norden. Auf diesen etwa zweihundert Kilometern asphaltierter Straße waren wenige Autos unterwegs, und die anhielten, fuhren nur von einer Ortschaft zur anderen. So musste ich recht oft die Fahrzeuge wechseln. Die letzte und längste Strecke verbrachte ich im finsteren Laderaum eines Kastenwagens Marke Citroën H, der am Fließband der Fabrik in seine eckige Form aus Wellblech zusammengeschraubt worden war. In Agadir angekommen, freute ich mich, wieder frische Luft zu atmen. Es war schon Nacht, aber dem Breitengrad entsprechend angenehm warm. So übernachtete ich unter freiem Himmel, eingewickelt in meinen braven grauen Lodenmantel. Ober mir wölbte sich ein unvorstellbarer Sternenhimmel. Das war die erste Erfahrung mit einem südlichen Nachthimmel, und ich wunderte mich, dass so viele Sterne da oben überhaupt Platz haben. Einige darunter blinkten rötlich, andere bläulich, manche verschmolzen zu kleinen leuchtenden Flächen. Ein faszinierender Eindruck im Vergleich zu den sichtbaren Sternen über meiner österreichischen Heimatstadt Wien.
Vor Sonnenaufgang weckte mich die feuchtkalte schnuppernde Schnauze eines Hundes im Gesicht. Ein streunender Mischling aus arabischem Windhund, einem Slugi, und irgendeiner anderen Rasse hielt meinen schlafenden Körper sicher für fressbares Aas. Erst schreckten wir uns beide voreinander. Auf eine Bewegung von mir sprang er einen Meter nach rückwärts und beäugte mich knurrend. Als ich aufstand, rannte er, den Schwanz zwischen die Hinterbeine geklemmt, davon. Die gemauerte Sitzbank, auf der ich die Nacht verbracht hatte, stand nicht weit vom Meeresstrand. Gleich dahinter führte ein asphaltiertes Stück Straße vom Meer weg in die nahe gelegene Stadt. Dort angekommen, konnte mir niemand Auskunft über ein Erdbeben geben, das sich hier kürzlich ereignet haben soll. Gerne hätte ich hier meine mir immanente humane Seite und Hilfsbereitschaft bewiesen. Entweder war die Zeitung im Konsulat uralt, oder ich hatte mich verlesen. Später sagte man mir, es hat wirklich eines gegeben, vermutlich lag es nur an meinen mangelnden Kenntnissen der französischen Sprache.
Die Landkarte zeigte zwei Wege zurück nach „Casa“. Die direkte Straße lief an der Küste entlang, die andere landeinwärts. Die war zwar etwa doppelt so lang, führte aber über Marrakesch. Diese sagenumwobene Stadt übte einen enormen Reiz auf mich aus, dem ich nicht widerstehen konnte. Außerdem kostete die Fahrt dorthin ja nichts. So wählte ich die längere Route. Die schmale Straße führte erst durch besiedelte Gebiete mit einigen Bäumen dazwischen in die Berge hinauf, in die Ausläufer des Atlasgebirges, über den Antiatlas. Je höher und östlicher man kam, umso mehr wurde die Erde rostrot, die Bäume schrumpften zu Büschen, bis auch die verschwunden waren. Erst kurz vor Marrakesch, wo die Landstraße wieder in die Ebene führte, kamen grün bewachsene Gärten mit Palmen und Obstplantagen bis an die Straße heran.
Mit wechselndem Glück war Marrakesch in den letzten tausend Jahren mehrmals die Hauptstadt von Marokko. Stolz zeigte sie das mit ihren uralten imposanten Stadtmauern und märchenhaften maurischen Gebäuden aus mehreren Jahrhunderten. Unnachahmliche Farbenpracht und eine der rigorosesten Bettlerkulturen beherrschten das Stadtbild. Richtiges Betteln gehört hier zum täglichen Leben, denn es ist ein angesehener Beruf, der sich seine Legitimation aus dem Koran holt. Diesen Broterwerb könnte man fast als Kunst bezeichnen. Seit Generationen hatte die Bettlergilde erkannt, körperliche Deformationen, die schon bei Kindern absichtlich herbeigeführt wurden, oder das Abtrennen von Gliedmaßen, führen zu höheren Einnahmen. An solch ungewöhnlichen Praktiken sind diesmal nicht die zahlreichen ausländischen Touristen schuld, die Marrakesch überfluten. Der Islam gebietet Almosengeben als Pflicht.
Nicht nur am großen Marktplatz hatte ich das Gefühl, mitten in einem Varieté zu weilen, mit Schlangenbeschwörern, Musik- und Tanzgruppen, Wasserträgern mit blank geputzten Messingschalen in farbenfrohen Gewändern und die unvermeidlichen Bettler. Alles wie in Farben von Technicolor getaucht, was im Moment den staunenden Reisenden in hohem Maße beeindruckte, aber schnell ermüdete. Ich ließ es bleiben, mich mit den zahlreichen Showbands am Platz näher zu beschäftigen. Gerne hätte ich an einem Tisch vor einem der Kaffeehäuser ein Bier getrunken und das Geschehen aus der Perspektive der in großen Gruppen flanierenden Touristen betrachtet. Doch ein Griff zu meiner Barschaft in die Hosentasche brachte ein überzeugendes Argument gegen ein solches Vorhaben. Einen Moment spielte ich mit dem Gedanken, mich unauffällig unter die Bettler zu mischen. Aber, wie oben erwähnt, war hier betteln eine über Generationen tradierte Kunst, die ich nie vorher geübt hatte, außerdem hätte das Bettlersyndikat solch einen Fremdkörper sicher gewaltsam entfernt. Die gleich beim Markt gelegene Jugendherberge wirkte nicht ungeheuer einladend, weshalb ich nur eine Nacht blieb. Abends, auf meinem Lager liegend, war Zeit darüber nachzudenken, warum ich Städte mit großen Ansammlungen von Einheimischen, mit oder ohne Touristen, stets tunlichst rasch durchwanderte. Ich absolvierte dort nur meine Pflichtübungen und verschwand jedes Mal wieder so schnell als möglich in die einsamere, stille Landschaft, in der ich mich wohlfühlte. Bevor mir ein befriedigender Schluss dazu einfiel, überfiel mich erholsamer Schlaf.
Per Autostopp auf der Route National No. 9 nach Casablanca ging es an Äckern oder Gärten mit Gemüse und Obst, und an zahlreichen Schaf- und Ziegenherden vorbei, wie in südlichen Gegenden Europas. Übergangslos führte ein vierspuriger Boulevard in das Zentrum der Stadt und weiter bis zum Hafen. Nahe davon war mein Quartier gelegen, das wieder nur wenige Straßen vom Konsulat entfernt war. Dieses suchte ich umgehend am folgenden Tag auf. Der Herr, ich will ihn „N“ nennen, ist schon in seinem Büro und die nette Dame vom Empfang meldete mich gleich bei ihm an. Nach Wochen mühsamer Kommunikation, ohne eine der Fremdsprachen vollständig zu beherrschen, war es angenehm, sich wieder in Deutsch verständigen zu dürfen. Darüber hinaus gab es mir ein Gefühl der Geborgenheit. Der Herr N ließ auf sich warten. Auf jeden Fall dauerte es bis zu seinem Erscheinen länger, als es seiner untergeordneten Position im Konsulat angemessen gewesen wäre. Mein Heimatgefühl wurde von den vielen Fremdenverkehrsplakaten rundum unterstützt, und war deshalb ungebrochen. Doch dann erschien Herr N, adrett in dunklem Anzug, aus einem Nebenbüro, denn er war nicht der Chef selbst. Groß und erkennbar gut genährt kam er auf mich zu. Höflich nannte ich meinen Namen und bestellte, wie aufgetragen, die Grüße meiner Eltern. Gut erzogen wartete ich, bis er mir seine Hand reichen würde – doch umsonst. Ja, ja, er wüsste, worum es geht, aber leider, leider kann er mir nicht mit Geld für die Rückreise nach Wien helfen. Das Konsulat hätte kein Budget für solche Fälle, das muss man in Rabat bei der Botschaft anfordern, doch das dauere … und so fort. Das Heimatgefühl hat sich daraufhin wie fünfundneunzigprozentiger Alkohol ohne Rückstände verflüchtigt, und mein Selbstgefühl verbot es mir, weiterhin zu insistieren. Was ich schon anfangs vorgehabt hatte, jetzt war der richtige Moment gekommen, um sich kleinlaut nach etwaiger Arbeit im Lande zu erkundigen. Die wäre notwendig, da ich Geld für Lebensmittel und die Unterkunft verdienen müsste. Er würde sehen, was sich machen lässt. Auf seine Frage gab ich ihm meine Adresse. Man würde mich dort verständigen, sobald eine kostenlose Möglichkeit für eine Heimfahrt gefunden wäre. Was immer das sein kann, ich musste mich damit abfinden. Mit einigem Zorn in der Bauchgegend gegen österreichische Konsulate im Allgemeinen und Honorarkonsuln im Speziellen, eilte ich in meine Bleibe.
Abgebrannt bis auf den letzten Dinar stellte sich die Aufgabe, diese Situation zu bewältigen. Aber auf wie lange? Und wie zahle ich das Quartier? Die Chefin des Etablissements gab sich mit der Erklärung zufrieden, dass ich auf Geld vom Konsulat warte und bis zu dessen Eintreffen gerne eine bezahlte Beschäftigung hätte. Aber ebenso hier gab es keine befriedigende Auskunft. Doch am nächsten Tag kam ein Bote von Herrn N. mit der Mitteilung, es gäbe Arbeit für mich. Ich soll beim United Seamen’s Service nachfragen, denn manchmal nehmen sie dort Personal für Aushilfsarbeiten auf. Zehn Minuten waren es zu Fuß bis zum Hafen, dem Boulevard folgend. Das USS war in einem flachen, schneeweißen und sauberen Gebäude untergebracht, mit einem freundlichen Amerikaner im Vorraum. Er hörte sich mein Anliegen an und führte mich in ein Büro. Kein Problem, das Konsulat hätte schon angerufen. Ob ich denn putzen und reinigen würde? Yes Sir – und ich hatte den am schlechtesten bezahlten Job meines Lebens. Vordringlich wäre es, das Pissoir und überhaupt die Toiletten zu pflegen. Anscheinend hat Herr N. die Bitten meiner Eltern, sich um mich zu kümmern, etwas falsch verstanden und er meinte Erziehungsmaßnahmen setzen und mir die Gefahren des Lebens im Ausland beibringen zu müssen.
Zu meinem Glück lag im Moment kein größeres Schiff im Hafen, dessen Besatzung die Annehmlichkeiten, und Toiletten des Seamen’s Service beanspruchte. Ich war somit vierzehn Tage lang der Einzige, der diese Räumlichkeiten frequentierte. Der Geruch des mit Zitronenaroma angereicherten Scheuermittels, welches ich zum Reinigen der wegen des Nichtbenützens immer sauberen Nassräume erhielt, hat sich unauslöschlich in mein Gedächtnis eingebrannt. Die meiste Zeit verbrachte ich damit, den Großteil des verdienten Geldes in die Jukebox zu stecken und „Life could be a dream“ von den Crewcuts abzuspielen. Diese „45er“ war nach den zwei Wochen sicher nicht mehr brauchbar! Eines Tages, ich hatte mich an das Essen und die bequeme Arbeit gewöhnt, kam Herr N persönlich mit der Nachricht, es gäbe die Möglichkeit auf einem Frachtschiff nach Marseille mitzufahren. Er hat dem Kapitän von meiner Situation erzählt und ich könnte, wenn ich wollte, mitfahren. Da ein Matrose ausgefallen war, müsste ich aber auf dem Schiff mitarbeiten. Warum nicht, obwohl ich begründete Bedenken gegen Vermittlungen von dieser Seite hegte. So packte ich meine Sachen, holte den für die Miete als Pfand eingesetzten Pass, sagte im United Seamen‘s Service Good by und suchte das angegebene Schiff im Hafen. Die Hafenbehörde erklärte mir, an welchem Peer der Frachter eben beladen wurde.
Das Motorschiff Yvette war knappe fünfzig Meter lang, der Aufbau mit der Brücke befand sich achtern, der Rostfraß am Rumpf hatte vertrauenswürdige Dimensionen noch nicht überschritten und die Wasserlinie war beruhigend weit über dem Meeresspiegel. Was sollte mich daran hindern, die Rampe hinauf an diesem Kahn zu erklimmen und in den geplanten drei Tagen europäisches Festland zu erreichen. Leider verstand der erste Mann an Bord, den ich für einen Matrosen hielt, mein Anliegen nicht und zeigte nur stumm in Richtung der Kommandobrücke. Der Anweisung folgend kletterte ich in den zweiten Stock zur Brücke hinauf. Durch eine Schiebetüre ging es in einen breiten Raum, in dem ein großes Ruderrad vor einem gewaltigen Kompass stand. Ein Offizier, es war der Kapitän in einer nicht mehr so ganz sauberen, wahrscheinlich weiß sein sollender Uniform, empfing mich. Seine Englischkenntnisse entsprachen den meinen, was der Kommunikation zwischen uns entgegenkam. Noch bevor ich Tasche und Lodenmantel sicher verstauen durfte, wurde mir gleich Arbeit aufgetragen. Aha, der Herr N. hat entsprechend seiner eigenartigen Auffassung von Hilfestellung vermittelt. Die Nahtstellen der Deckplanken des gesamten Schiffsdecks waren mit einer, schwarzem Teer ähnlichen Masse ausgegossen. Doch diese hatte die Eigenschaft, bei intensiver Einwirkung afrikanischer Sonne zähflüssig zu werden und sich dabei auszudehnen. Es war Hochmittag, der Teer trat aus den Fugen aus und blieb beim Begehen an den Schuhen kleben. Das würde an Deck und im Inneren des Schiffes schwarze klebrige Flecken hinterlassen. Folglich musste er mittels eines geeigneten Instrumentes in die Spalten zurückgedrängt werden. Vertrauensvoll übertrug die Schiffsleitung dem neu Angekommenen diese wichtige Aufgabe. Man drückte mir eine Art breiten stumpfen Meißel sowie einen Hammer in die Hände. Auf der schattenlosen Kommandobrücke wurde mir ein abgegrenztes Areal von etwa zehn bis zwölf Quadratmetern zur Bearbeitung zugewiesen. Da ich unbedingt meine Arbeitsfähigkeit und -bereitschaft zu beweisen trachtete, und darüber hinaus unter Beobachtung von der Innenseite durch die Fenster der Brücke stand, legte ich mit enormem Elan auf den Knien rutschend los. Doch es war mühsamer, als angenommen. Trotzdem bewältigte ich einen großen Teil der mir gestellten Aufgabe in vom Zorn getriebenem Tempo. Es ist zu verstehen, dass meine Vergleiche, die ich mit Galeerensträflingen zog, nicht unberechtigt waren. Heilfroh war ich, zu sehen, dass das Deck bis zum Vorschiff vollständig mit Ladegut zugestellt war, selbst zwischen den Ladeluken und der Reling steckten Kisten und Fässer. Was mich der Sorge enthob, dazu gezwungen zu werden, das gesamte Schiff mit Meißel und Hammer zu bearbeiten.
Abends gab es eine Mahlzeit, was bedeutete, dass ich von der Schiffsleitung als Mitglied der Besatzung angenommen worden bin. Mir wurde die Kajüte des Kochs zugewiesen, der in die seines Freundes zog. Aus diesem Umstand keine Schlüsse ziehend, fiel ich todmüde in die Enge der Koje, nicht ohne vorher die runde Luke weit zu öffnen. Die Mannschaftskabinen lagen im Heck, knapp oberhalb der Wasserlinie und hatten deshalb Tageslicht. Meine Handflächen schmerzten und ich schlief mit weit von mir gestreckten Händen erschöpft ein. Deren überbeanspruchte Innenseiten kühlte ein leichter Lufthauch, der durch die geöffnete Luke zog. Aus größerer Distanz drang das Anwerfen der Schiffsmotoren zwar in mein Bewusstsein, doch übermannte mich gleich wieder tiefer Schlaf.
Geweckt wurde ich durch den schrillen Ton einer fernen Trillerpfeife und das näherkommende Schlagen von Kajütentüren. Die zu meiner Koje führende wurde aufgerissen, aber der scharfe Ton Pfeife blieb im Ansatz stecken. Der Maat schloss behutsam wieder die Türe und ließ mich über die folgende Wache weiterschlafen. Das war zutiefst menschenfreundlich, er hat sicher die blutverschmierten, weit von mir gestreckten Hände gesehen. Die Blasen, die ich mir durch die für mich ungewohnte Arbeit geholt hatte, waren während des Schlafes geplatzt. Doch einmal wach, wurde ich neugierig und kroch aus der Koje. Die Verletzungen der Hände weniger dramatisch, als sie aussahen. Trotz der Blessuren waren mir waschen und anziehen möglich. Ich beeilte mich, auf Deck zu kommen, denn der Frachter befand sich in voller Fahrt. Oben angekommen, zweifelte ich an meinem Orientierungsvermögen, weil die Morgensonne stand backbords über der nahen Küste Afrikas, demnach links der Fahrtrichtung. Ginge die Fahrt nach Norden, sollte das doch genau umgekehrt sein! Das war aber nicht der Fall, wir schipperten Richtung Süden. An der Richtigkeit meiner Entscheidung zweifelnd, dieses Schiff für die Heimfahrt bestiegen zu haben, befragte ich einen müßig an der Reling stehenden Matrosen. Der verstand weder englisch noch deutsch, er wies nur mit ausgestrecktem Arm zur Kommandobrücke hinauf. Diese Weisung kannte ich doch schon. Ein Wunder, dass die Kommunikation auf der gesamten Fahrt ausschließlich mit wenigen, international gültigen Handzeichen klappte. Das Schiff war nämlich von einer Reederei gechartert, die auf den Färöer-Inseln beheimatet war. Ein bisschen kam ich mir auf dieser Fahrt wie ein Taubstummer vor, der darüber hinaus die Taubstummensprache nicht beherrscht. Wie viele jugendliche Wiener beherrschen schon Färö? Aus Bruchstücken von Worten und Zeichen kombinierte ich, dass wir sehr wohl nach Europa führen, aber vorher etwas Ladegut in Dakar, Senegal, aufnehmen müssten. Ein kleiner Umweg von knapp dreieinhalb tausend Seemeilen.
Ich wurde dem freundlichen Koch, der mir seine Kabine überlassen hatte, zur Unterstützung in der Kombüse zugeteilt. Nein, er war binär veranlagt, denn ich hatte schon vorher in seiner Koje rundum an den Wänden klebende Pin-ups von Alberto Vargas bemerkt. Die Arbeit erschöpfte sich im Hin- und Hertragen von Geschirr zwischen der Küche und dem Speiseraum, je nach Richtung mit vollen oder leeren Tellern. Meiner Integration in die Besatzung war das keineswegs ungeheuer dienlich. Doch dann kam der Moment, in dem ich beweisen durfte, mehr Qualitäten zu besitzen. Es gab eine Sturmwarnung, wenigstens glaubte ich, diese Ankündigung als solche verstanden zu haben. Die zwischen Reling und Ladeluken lose gelagerten Fässer mussten gesichert werden. Schwere, aus Tauen angefertigte Netze wurden herbeigeschafft und sollten in die dafür vorgesehenen Haken sowohl an den Rändern der Luken, als auch außen an der Reling eingehängt werden. Zwei Matrosen befestigten das Geflecht an der Ladeluke. Mehr zufällig als absichtlich fand ich mich auf der schmalen Brüstung stehend wieder, ausschließlich das über die Fässer zu spannende Netz als Halt vor einem Absturz. Weit musste ich mich rückwärts nach außen lehnen, um mit meinem Gewicht die Abdeckung zu spannen. Tief unter mir tobte der aufgewühlte Atlantik. Nachdem das klobige Netz befestigt war, waren die Handflächen zwar wieder in Mitleidenschaft gezogen, aber dafür klopften mir Mitglieder der Crew anerkennend auf die Schultern.
Was diese sprachlose Aufnahme in den Kreis der Matrosen für Vorteile hatte, sollte ich im Hafen von Dakar erfahren. Dort angekommen durften wir das Schiff verlassen. Meiner unstillbaren Neugier folgend, war es mir ein Bedürfnis, bei dem Landgang die Stadt erkunden. Da ich an Bord sonst nichts zu tun hatte, verließ ich vor den weiterhin arbeitenden Matrosen und ohne Begleitung das Hafengebiet, und war bald von Halbwüchsigen umringt. Die verlangten äußerst aggressiv ein „Cadeau“, ein Geschenk. Erst nahm ich das nicht sonderlich ernst, doch als sie mir in die Brusttaschen meines Hemdes griffen, musste ich mich wehren. Das ergab eine brenzliche Situation, die schwarzen Buben waren weit in der Überzahl. Urplötzlich verschwanden sie in der Dunkelheit. Ich hatte ihr Kommen nicht bemerkt, hinter mir standen fast vollzählig die blonden Matrosen der Yvette, jeder mit irgendetwas Langem in der Hand und grinsten. Erst viele Jahre später war es mir möglich, Dakar kennenzulernen.
Ohne beachtenswerte weitere Geschehnisse fuhren wir endlich in Richtung Norden. Bei einer Besatzungsstärke von nur fünfzehn Mann gab es keine Rangunterschiede, jeder musste die Arbeit verrichten, die im Moment anfiel. So ergab es sich, dass ich eines Abends Dienst am Ruder versah. Es herrschte Dunkelheit auf der Kommandobrücke, nur die Instrumente und der Kompass waren beleuchtet. Wir erreichten die Höhe der Straße von Gibraltar. Der erste Offizier kam zu mir und gab in liebenswertem Färöisch-Englisch einen Kurswechsel an. Ich war auf dem Boot in letzter Zeit gewohnt, Anweisungen auf Grund der paar Brocken, die ich verstand und den die Worte begleitenden Gesten zu interpretieren. Und weil dies meistens richtig war, hatte ich auch diesmal keine Bedenken, meiner Intuition zu folgen. Die Interpretation der aktuellen Anordnung besagte, das Schiff solle langsam auf 310 Grad Nordost drehen. Demnach bewegte ich das Ruder höchst bedächtig nach Steuerbord, so wie ich die Anweisung verstanden hatte.
Wir fuhren auf das vor uns liegende, hell erleuchtete Gibraltar zu. Es war recht aufregend und romantisch zu erleben, wie auf dem Wasser tief unter mir die Positionslichter winziger Boote rings um den Frachter tanzten. Es waren Fischerboote, in denen Menschen uns zuwinkten, südländisch wild gestikulierten und etwas riefen, was hoch oben auf der Brücke nicht zu verstehen war. Das Schiff befand sich in voller Fahrt, da die Türe zum Navigationsraum geöffnet, der diensthabende Offizier eilte zum großen Kompass vor mir, auf dem sich die Nadel in exakt diesem Moment auf 310° NO einpendelte. Das Schiff wurde gestoppt, und der Schiffsoffizier fuhr im Kommandoraum hinter mir mit dem Zirkel aufgeregt über seine Seekarte. Er vermittelte den Eindruck schlechten Gewissens. Auf seine neuerliche Anweisung hin, drehte ich das Ruder hart Steuerbord, so dass wir uns vorsichtig Richtung Osten tasteten. Erst nachdem das letzte Fischerboot hinter uns lag, wurden die Maschinen wieder hochgefahren. Dieser brave Seefahrer verhinderte jedenfalls, dass ich berühmt wurde. Das MS Yvette wäre der erste Frachter gewesen, der in der Stadt Gibraltar direkt auf der Buena Vista Road angedockt hätte. Da mich keine Schuld traf, durfte ich in dieser Nacht weiter das Ruder bedienen. Lange vor Sonnenaufgang wurde ich abgelöst.
Die Einfahrt in den Hafen von Marseille übernahm später der Kapitän höchstpersönlich mit seinen geschulten Mannen. Er hatte sich vorher in eine blitzsaubere frische Uniform geworfen. Fehlerlos legten wir am französischen Festland an. Erst nach eindringlichen Erklärungen, wie ich denn durch halb Europa ohne finanzielle Mittel bis Wien kommen sollte, gab mir der Kapitän ein paar tausend Franc. Die waren ehrlich verdient, schließlich hatte ich brav gearbeitet. Der Herr N aus Casablanca hatte mit seinen versuchten Erziehungsmethoden kein Glück.
Ich beschloss, Marseille zu besuchen. Es ist eine liebenswerte Stadt mit südeuropäischem Charme und bunten Märkten. Da ich Hunger und ausreichend Geld hatte, bestellte ich mir in einem Bistró am Fuße des Hügels von Notre Dame du Mont einen Riesentopf Bouillabaisse. Das ist die berühmte französische Fischsuppe, die damals noch eine billige Nationalspeise war, heute aber eher in die Kategorie Luxus fällt. Ich wollte heimwärts, nach Wien. Gestärkt und zufrieden lief ich durch die Stadt zur Landstraße, die in Richtung Paris führte.