Zu nachtschlafender Zeit klopft es an der Türe meines Turmgemachs. Erschreckt fahre ich hoch. François ruft von draußen, dass wir losfahren müssten. Ich schalte das Licht an, denn nicht einmal der Mond leuchtet in das Zimmer. Die Erinnerung wird wach, dass mich der Wirt am Abend eingeladen hat, mit ihm auf die Jagd nach Gazellen zu fahren. Der frühe Morgen ist in der Sahara ziemlich kalt. Rasch ziehe ich Pullover und Windjacke an und beeile mich hinunter in den Hof zum Toyota. Der Motor des Wagens läuft schon. Ich steige auf der Seite des Beifahrers ein, und wir starten in die Nacht. Auf der rückwärtigen Sitzbank liegen zwei mit Stricken gesicherte Jagdgewehre. Wir fahren einige Kilometer auf der Piste gegen Osten und biegen bei einer kleinen Wegmarkierung nach rechts, in südlicher Richtung von der Hauptpiste ab. Im Scheinwerferlicht ist ein schmaler Weg mehr zu erahnen, als zu sehen, dem wir etwa eine Stunde in gemäßigterem Tempo folgen. Im aufkommenden Dämmerlicht des Morgens erscheinen links und rechts von der Piste langsam genauere Konturen von Steinen und Bodenerhebungen, und Farben lassen sich erkennen. Die ausgefahrenen Spuren der Strecke werden schon auf größere Entfernung sichtbar.
Abrupt und ohne ersichtlichen Grund hält François den Wagen an und stellt den Motor ab. Wir steigen aus und wenden uns gegen Osten. Die Luft ist empfindlich kalt, die absolute Stille der Wüste wird zwischen dem lauten Knacken des auskühlenden Autos greifbar. Ein kurzes, eindrucksvolles Schauspiel bietet sich uns, der tägliche Sonnenaufgang in der Sahara. Ober und hinter uns herrscht am Himmel nächtliche Dunkelheit, von Schwarz zu dunklem Blau übergehend, mit einigen verblassenden Sternen dazwischen. Am Horizont beginnt es hellblau zu werden, das leicht ins Grün verschwimmende Licht gegen den oberen Rand zu, kündigt den neuen Tag an. Über den zerklüfteten Felsen erscheint ein stetig größer werdender Teil des riesigen, goldfarbenen Sonnenballs. Ich glaube nachempfinden zu können, was Richard Strauß beim Komponieren der Alpensymphonie, sowie der symphonischen Dichtung Zarathustra gesehen, empfunden und in Musik umgesetzt hat. Ich öffne die Jacke und spüre die ersten Sonnenstrahlen durch den Pullover auf meiner Brust. Da erinnere ich mich an die aus Goethes Faust zitierende samtig-warme Stimme des Schauspielers Stefan Fleming:
- „Die Sonne tönt nach alter Weise
- In Bruderspären Wettgesang,
- Und ihre vorgeschriebne Reise
- Vollendet sie mit Donnergang“
Vor allem in der Wüste, wo sie auf ihrer Bahn vom Leben versprechenden Aufgang nach kurzer Zeit zur tödlichen Bedrohung wird, vermeint man das Dröhnen der Sonne zu hören. Ich fühle mich bei heftigen Emotionen ertappt, doch ein Blick hinüber zu meinem Freund sagt mir, dass ihn ähnliche Empfindungen ergriffen haben.
Zur Weiterfahrt biete ich François an, das Steuer des Autos zu übernehmen. Er kennt die Plätze, wo sich Wild aufhält, und hat vom Beifahrersitz den besseren Überblick. Obwohl es mich reizt, selbst zu jagen, lasse ich ihm den Vortritt. Das Fenster auf meiner Seite ist geöffnet und ich genieße den frischen Fahrtwind. Wir nähern uns einem, von felsigen Hügeln umgebenem breiten Tal, dessen zarter Grasbewuchs den Eindruck des nicht Realen verstärkt. Und mitten in dieser friedlichen Oase äsen weit auseinandergezogen einige Rudel von insgesamt geschätzten zwanzig bis dreißig Dünengazellen. Eine prächtiger als die andere. Um auf Schussentfernung an die scheuen Tiere heranzukommen, brauchen wir die Sonne im Rücken. Francois greift sich ein Jagdgewehr vom Rücksitz. Meine Jagdkenntnisse, die ich mir im Busch vor Jahrzehnten aneignete, kommen mir jetzt zugute. In großem Bogen umfahre ich die Herde zügig und halte in geeigneter Distanz von den Tieren so, dass François eine günstige Position zum Schießen hat.
Verehrte Jünger des europäischen Waidwerks, die ihr möglicherweise diesen Blog lest, überspringt die nächsten Zeilen, um Ärger von euch fernzuhalten. In Afrika gelten für die Jagd andere Gesetze, als in den heimischen Wäldern. François und ich haben vorher nicht darüber gesprochen, doch wissen wir beide aus langjähriger Erfahrung, dass man auf keinen Fall aussteigen darf. Die Gazellen würden beim Abstellen des Motors oder der geringsten Bewegung einer Wagentüre flüchten und auf lange Zeit nicht mehr zurückkommen. Ein Auto außerhalb der für sie Gefahr bedeutenden Distanz, egal ob es steht oder fährt, beunruhigt sie überhaupt nicht. Die Tiere äugen kurz zu uns herüber, da wir regungslos sitzen bleiben, fahren sie mit der Futteraufnahme fort. François kurbelt äußerst behutsam die Scheibe auf seiner Seite ein Stück hinunter. Trotz der angewandten Vorsicht heben alle Gazellen sofort ihre Köpfe und stellen die Lauscher in unsere Richtung. Beide wagen wir es kaum zu atmen. Bedächtig lädt er durch und schießt. Ein großer Bock wird in die Höhe gewirbelt und fällt zu Boden, wo er regungslos liegen bleibt. Die Herde schaut erstaunt kurz zu uns herüber, um dann seelenruhig weiter zu äsen. Das war ein sauberer Schuss, direkt ins Herz. François fragt mich aus Höflichkeit, ob ich Lust hätte, ebenfalls eine Gazelle zu schießen. Ich lehne dankend ab. Natürlich wurde ich im Laufe der Expeditionen ein erfolgreicher Jäger, doch ausschließlich zur Beschaffung von Nahrung, niemals für Trophäen. Das Anfahren des Toyota lässt die Herde flüchten. Wir fahren zu dem erlegten Wild. Ich hatte Recht, es war ein Blattschuss par excelence. Wir heben das gewiss vierzig Kilo schwere Tier in den Laderaum, wonach der glückliche Jäger eine Flasche Rotwein aus der Tasche zieht und wir uns jeder ein paar kräftige Schlucke daraus genehmigen..
Am frühen Nachmittag erreichen wir das Anwesen und fahren direkt in die Garage. François bindet der Gazelle die Hinterbeine zusammen, schwitzend heben wir den Bock aus dem Auto und hängen ihn an einem Haken Kopf nach unten an der Garagenmauer auf. Michelle empfängt uns mit einem späten Mittagessen. Anschließend holt der Hausherr eine Reihe von Gefäßen aus Kunststoff, sowie zwei scharfe Messer zum Aufbrechen der Jagdbeute aus der Küche, und trägt sie in die Garage. Ich lasse ihn bei dieser Arbeit allein, denn es ist Zeit für eine Siesta. Es war ein langer Vormittag, außerdem plagt mich das Gewissen, heute noch nichts geschrieben zu haben. Deshalb war die Ruhepause kurz. Erfüllt von den Erlebnissen des Tages, öffne ich den Laptop und schreibe die Fortsetzung meiner Erinnerungen an die allererste Afrikareise und der glücklichen Ankunft in Europa:
Ich hatte Glück. Bei der Ausfahrt von Marseille hielt eine Panhard Dyna-Limousine. Dieses Auto hatte einen luftgekühlten 2-Zylinder Boxermotor, der die Vorderräder antrieb. Der französische Volkswagen. Nicht mehr ungewohnt war das gelb eingefärbte Licht der Scheinwerfer der Entgegenkommenden. Das war in Frankreich für alle Kraftfahrzeuge vorgeschrieben, folgerichtig ebenso in Algerien. Man konnte sich die Zeit als Beifahrer damit vertreiben, indem man die ausländischen Fahrzeuge zählte, die an den normalen weißen Lichtern erkenntlich waren. Während der langen nächtlichen Fahrt nach Norden erfuhr ich, der Mann am Steuer war Dr. Jaques Nehlil, ein nicht nur in Frankreich bekannter Neuropsychiater. Er kam direkt aus Algerien, wo er Studien mit Kindern getätigt hatte. Er wollte heim nach Paris und ich durfte am Ende der Fahrt mit ihm bis in die Stadt fahren. Docteur Nehlil setzte mich frühmorgens am Place de la Concorde ab. Aus dieser Begegnung sollte später ein über Jahre andauernder, fast freundschaftlicher Kontakt entstehen.
Die Lampen der Straßenbeleuchtung waren noch nicht ausgeschaltet, und wetteiferten mit dem herandämmernden Tageslicht. Vereinzelt kurvten Autos im Kreisverkehr um den Obelisken. Ich bewegte mich an der unteren Einmündung der morgendlich verwaisten Champs Elysees, als ich von einer im Dunkel liegenden Parkbank her ein freundlich klingendes „Eh – Bon jour“ hörte. Ein einsamer Clochard mit grauen Haaren und ebensolchem Bart zwinkerte mich unter buschigen Augenbrauen an. Er sprach einen schauderhaften Dialekt, nämlich Argot. Das schloss von vorne herein eine intensivere Unterhaltung aus, verstand ich doch damals selbst richtiges Französisch nur marginal. Mit unmissverständlichem Handzeichen bedeutete er mir, mich zu ihm zu setzen. Meinen grauen Lodenmantel eng herumgewickelt nahm ich auf der Bank Platz. Vermutlich hatte der Mann sofort mitbekommen, dass ich ihn nicht verstand, denn er war äußerst schweigsam. Er bot mir aus einem Papier ein erheblich schmuddeliges Stück Baguette an, das mit etwas Undefinierbarem belegt war. Ich lehnte dieses Angebot freundlich aber explizit ab. So wirklich geheuer war mir diese Begegnung nicht, doch dann schenkte er aus einer fast vollen Flasche Rotwein in einen Becher und reichte mir diesen. Hatte ich vorher schon das Brot abgelehnt, beleidigen wollte ich ihn nicht mit einer neuerlichen Abfuhr. So wanderte der Becher zwischen uns hin und her. Alkohol desinfiziert, dachte ich mir, und gar so unappetitlich sah der Mann selbst auch wieder nicht aus. Ich hatte abermals Glück gehabt. Denn viele Jahre später erfuhr ich anlässlich einer Dokumentation am Montmartre, dass ein Clochard, der etwas auf sich hält, den Rotwein mit einem Esslöffel zu sich nimmt. Aber dieser war ja nicht dort, sondern im Zentrum der Stadt.
So saßen wir schweigend und am Wein nippend beim Kreisverkehr der Concorde und erlebten miteinander das Erwachen der Großstadt. Inzwischen war es hell geworden, eine Menge Autos hatten die Straße in Besitz genommen. Es wurde laut und ungemütlich. Somit verabschiedete ich mich von dem edlen Spender des Weines mit einem Händedruck. Er hatte erstaunlich zarte und warme Hände.
Wien war zwei Tage später erreicht. Es dauerte kurze Zeit, bis ich mich wieder akklimatisiert hatte, war aber weit entfernt davon, meine Pläne für Afrika aufzugeben. Die diplomatischen Aktivitäten wegen des Staatsvertrags für Österreich mit den Alliierten, im Besonderen die mit der widerspenstigen Sowjetunion, waren im Laufen. Die Ergebnisse der Verhandlungen schwankten zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt. Da ergab es sich glücklich, dass den wodkageeichten russischen Politikern österreichische Diplomaten gegenüber saßen, die ebenfalls recht trinkfest waren. Gemischt mit dem in Wien traditionellen, feinen chassidischen Humor, war der Alkohol hilfreicher Mediator bei den Gesprächen. Den positiven Erfolg ausschließlich auf die Wirkung des Weines herunter zu brechen, wäre eindeutig falsch, denn Österreich hatte damals überragende Diplomaten.
Selbstverständlich besuchte ich wieder den Strohkoffer und fand dort alles beim Alten. Maler, Bildhauer, Musiker, Dichter, Schauspieler und Alkoholiker waren nach wie vor die mir bekannten Besucher. Obwohl, es war eine leichte Verdünnung zu bemerken. Der engste Kreis des Artclubs war in das Dom Café in der Singerstraße umgezogen. Darüber hinaus hat sich mittlerweile in der Adebar so etwas wie eine Konkurrenz zum Strohkoffer gebildet. Auch das traditionsreiche Café Hawelka war ein Treffpunkt, der das Kellerlokal Gäste kostete. Eines Abends freundete ich mich mit einem jungen Mann an, der im Strohkoffer meistens mit umgebundener Krawatte erschien. In seiner Sprache unterschied sich Konrad Bayer von der durch wienerischen Dialekt geprägten Umgebung mit gewähltem Deutsch. Er hatte eine zauberhafte Freundin und wir saßen einige Male zu dritt in seiner Wohnung und plauderten. Leider haben wir uns bald danach, bedingt durch meine längere Abwesenheit von Wien, aus den Augen verloren. Der Selbstmord Konrads hat mich tief berührt. Nachdem er so eine finale Handlung setzte, blieben nie mehr zu beantwortende Fragen über meine mögliche Mitschuld nicht aus. Wären Gespräche mit ihm von Nutzen gewesen, hätte ich mich nach der Reise um ihn bemüht?
Seit der Rückkehr aus Nordafrika überschlugen sich bis zur nächsten Afrikafahrt die Ereignisse. Frech begab ich mich mit den von mir angefertigten rudimentären Aufzeichnungen ins Unterrichtsministerium, um eine Unterstützung für die folgenden geplanten Arbeiten zu erbitten. Heinrich Drimmel war damals Unterrichtsminister. Entgegen den Erwartungen und ohne überbordende Bürokratie erhielt ich für eine weitere Forschungsfahrt die staatliche Subvention von fünftausend Schilling. Das war für das Vorhaben, wie ich es mir vorstellte, nicht unbedingt ausreichend, aber ein beachtlicher Grundstock.
Mit nicht geringem Stolz über diesen Erfolg teilte ich diese Neuigkeit dem besten Freund, Mackie Lersch brühwarm mit. Es war winterlich in Wien, wir saßen in der Loosbar an der Theke, vor jedem stand ein Glas Rotwein. Ich eröffnete ihm meinen Plan, im April wieder nach Afrika zu fahren. Spontan kam von ihm der Vorschlag, wenn ich ein bisschen warten könnte, er würde seine Lokale verkaufen und es wäre dann möglich, die Expedition gemeinsam zu unternehmen. Max „Mackie“ Lersch, zu dem ich bewundernd aufblickte und zu dem mich über lange Zeit tiefe Freundschaft verband, war zehn Jahre älter und um ebendiese Lebenszeit reifer als ich. Meine Freude war groß, dieser Mann wollte sein Leben hier aufgeben und sich mir anschließen! Auf Grund jener Entscheidung vergingen viele arbeitsame Monate, bis alle Vorbereitungen für eine Expedition erledigt waren. Darüber, ob diese enthusiastische Zusage zur Zusammenarbeit meiner eigenen weiteren Lebensgestaltung zuträglich war, habe ich nicht nachgedacht. Für ihn hingegen, nachdem er sein Erbe vertan hatte, bedeutete jener Augenblick auf jeden Fall eine Perspektive für seine Zukunft und eine Wende in seinem Leben zum richtigen Zeitpunkt.
Zwischenkapitel: Gelegenheitsarbeiten
In der Zeit bis zur Abfahrt der Expedition, die sich immer wieder verschob, war ich genötigt neben den anstehenden Vorbereitungen etwas Geld zu verdienen. Dadurch ergaben sich einige recht kurzweilige Episoden. Ich suchte nach einer Beschäftigung, die genügend Zeit für die Durchführung einer größeren Expedition ließ, die aber jederzeit zu kündigen war. So bewarb ich mich bei der Compagnie Internationale des Wagons-Lits, der europäischen Schlafwagen- und Speisewagengesellschaft, um den Posten eines Buffetkellners. So ein Job schien mir recht romantisch und vom Ertrag zufriedenstellend zu sein. Im eitlen Bewusstsein, einmal eine Bar geleitet zu haben, legte ich den zuständigen Herren meine Erfahrungen dar und wurde prompt engagiert.
IIn diesen frühen Jahren waren die Folgen des Krieges noch nicht vollends überwunden. Weil es an geeigneten modernen Eisenbahnwagons mangelte, hatte man nach einer praktikablen Lösung für die Verpflegung der Fahrgäste der Fern- und Nahzüge gesucht. Kurzerhand haben die ÖBB für Wagon-Lits in jedem Schnell- und Triebwagenzug jeweils ein WC zu einem Arbeitsraum für mobile Buffets umgebaut. In diesem engen Umfeld gab es außer dem Waschbecken weiterhin etwas Platz für ein Wandschränkchen und eine elektrische Kochplatte. Auf der Plattform vor der ehemaligen Toilette stand eine mit nicht rostendem Blech ausgelegte, grau angestrichene Kiste, die mit einem Vorhangschloss zu versperren war. Mit von großen Blöcken abgeschlagenen Eisstücken gefüllt, wurden darin Handelswaren wie Bier, Stifterln Wein, Limonaden und Mineralwasser gekühlt. Vor jedem Dienstantritt bekam ich einen aus festem Draht gefertigten Tragekorb ausgehändigt. Auf der Westbahnstrecke gab es eine Abmachung mit der Wiener Gastronomie, dass man erst in Niederösterreich mit der Verkaufstätigkeit beginnen durfte. Ab Amstetten lief ich durch den gesamten Zug, Getränke, Kekse und Schokoladen anpreisend. Im „Blauen Blitz“, dem Großraumtriebwagen, war das leicht, aber in den langen Zügen mühsam, da diese nur Abteile mit Schiebetüren hatten, die von mir zu öffnen und zu schließen waren.
Da waren Tage, an denen ich gewinnbringend arbeitete, aber es gab ebenso einige, die meinen gesamten Verdienst vernichteten. Es war in einem Zug nach Salzburg, das Geschäft mit den Goodies lief, bis der zweite Durchgang mit den heißen Würstchen darankam. Um mit dem Verkauf dieser gleich an den ersten anzuschließen, hatte ich vor dem Rundgang in schlauer Absicht alle vierzig Paare Frankfurter in einem großen Topf mit Wasser auf die ausgezeichnet funktionierende Kochplatte gestellt. Ich kam von meiner Tour durch den überaus langen Schnellzug in das umgebaute WC zurück und fand die Würstchen im Topf heiß vor. Und zwar derart, dass sie durchgängig aufgeplatzt waren und wie fleischfarbige Palmblätter auseinanderfielen. Durch das ausgiebige Kochen waren sie geschmacklos, äußerst unansehnlich und damit unverkäuflich zerkocht. Lebensmitteln wegwerfen geht nicht, so vergingen Jahre, bis ich wieder Frankfurter Würstchen zu essen vermochte. Der finanzielle Gewinn dieses Arbeisttages war hiermit nicht nur vernichtet, ich hatte Schulden bei Wagon-Lits abzuarbeiten.
An einem anderen Tag, es war im „Blauen Blitz“, einem Triebwagenzug, da gab es einen nicht herunter gelassenen Übergang zwischen zwei Triebwagen. Im Vertrauen auf die Unfehlbarkeit der ÖBB-Mitarbeiter habe ich das fehlende Trittbrett übersehen. Um Haaresbreite hätte es mir bei diesem Fehltritt ein Bein abgetrennt. Ich hatte das Glück, ein Kabel zu erwischen, an dem ich mich festklammern und wieder hochziehen konnte. Aber leider waren der mit Waren gefüllte Tragekorb und eine bis in den Schritt aufgerissene Hose zu beklagen und zum Neupreis zu bezahlen.
Und da war der eifrige Biertrinker, der sich über die gesamte Strecke der Reise von Wien nach Linz auf der gut durchlüfteten Plattform aufhielt. Bei sommerlichen Temperaturen war es sinnvoll, das Fenster neben der „Küche“ offen zu halten. Doch diesem ungebetenen Gast zog es wohl zu stark und sobald ich auf Verkaufstour war, schloss er es. Ein Spielchen, das sich bis Linz mehrmals wiederholte. Ihn von der Palttform zu vertreiben wäre mir schwergefallen, denn er konsumierte in dieser kurzen Zeit eine derart beachtliche Menge Bier, die ich sonst auf einer kompletten Tour verkaufte. Im guten Glauben, dass die von mir knapp vorher geöffnete Fensterscheibe offen sei, gedachte ich eine nicht einsatzpflichtige Limonadenflasche mit großem Schwung aus dem Zug zu werfen. Die Kosten der durch diese Aktion gebrochenen Glasscheibe zog man mir zusätzlich ab.
Und einmal war es wie verhext, die Kühlkiste und die Getränke wurden zu spät zum Wagon gebracht, die Würstchen bis knapp vor Abfahrt des Schnellzugs nach Salzburg nicht geliefert und die Sandwiches kamen überhaupt nicht. Der Zug fuhr ab und ich machte mich daran, die wild durcheinander geworfenen Lebensmittel und Flaschen zu ordnen und zu verstauen. Gut, dass es die hintere Plattform des letzten Wagons war und keine Fahrgäste durchgingen. Bis Amstetten hatte ich alles soweit in Ordnung gebracht. Ab hier war mir das Verkaufen bis Salzburg erlaubt. Doch der Verkaufskorb, war nicht mitgekommen. Zu den Zugbegleitern gehörte außer den Schaffnern der Zugführer. In der Verzweiflung suchte ich ihn auf. Er hatte Verständnis für meine Lage und versprach, mir zu helfen. Zu dieser Zeit gab es weder Telefon, noch Funk für eine Kommunikation zwischen den fahrenden Zügen und den Fahrdienstleitern der Bahnhöfe. Aber er wusste Rat. Er schrieb einen Zettel mit meinem Wunsch nach einem „Tragerl“, legte ihn in ein altes Lederetui und ließ das Fenster seines Dienstabteils herunter. Es war ein Expresszug, der alle unwichtigen Stationen ohne Halt durchfuhr. Regelmäßig standen am Bahnsteig die Stationsvorsteher mit ihren roten Kappen und beobachteten den vorbeifahrenden Zug. Beim nächsten Bahnhof warf er im Durchfahren meine Nachricht aus dem Fenster. Zwischen unserem und dem Perron lagen vier Geleise. Ich sah, wie der Vorstand hektisch auf die Schienen hinuntersprang und in größter Eile, mehrmals stolpernd zu dem im Fahrtwind flatternden Etui rannte. Der Zugführer vermutete sicher, dies sei ein Notsignal, das bei den Bundesbahnen in dringenden Fällen wie bei etwaigem Ausfall der Bremsen, Bränden oder bei einem Herzinfarkt angewendet wird. Jedenfalls, mit dem nächsten Zug aus Wien kam der Tragekorb, so dass ich wenigstens die Rückfahrt betreuen konnte.
Es war eine von allen Buffetkellnern geübte freundliche Geste, das von zu Hause mitgebrachte Essen des Lokführers zu wärmen und bei einem Aufenthalt nach vorne zur Lok zu bringen. Ich fand es nicht schicklich, das Blechgeschirr an den Fahrgästen vorbei am Perron demonstrativ zum Lokomotivführer zu tragen, und wählte dazu die dem Bahnhof abgewandte Seite des Zuges. Dort fehlte zwar die zum bequemen Einstieg den Trittbrettern angepasste Höhe des Bahnsteigs, aber das störte nicht. Ich brachte das Essen zur Lokomotive und machte mich umgehend auf den Rückweg zum letzten Wagon. Die Relation der Geschwindigkeit meiner Schritte auf den Schottersteinen zu dem stehenden Zug veränderte sich zunehmend, so schnell gehe ich doch gar nicht? Der dankbare Lokführer ist ohne mich losgefahren! Ein Aufspringen war unmöglich, denn die untersten Trittbretter der fahrenden Waggons waren unerreichbar. Mein Arbeitsplatz verschwand in der Ferne, und ich kündigte bald darauf.
Unter den Gesangsschülern meiner Eltern war neben Willy Kralik, der später beim Österreichischen Rundfunk Moderator wurde, ein junger sympathischer Bursche, Walter Böcksteiner. Dem Trend der Zeit folgend trug er Bluejeans, die Hosenbeine ober den Sneakers breit umgeschlagen. Er faszinierte mit einem sauberen Bariton, und durch hohe Musikalität. Mir gefiel in erster Linie, dass er neben der klassischen Stimmbildung ausgezeichnet Jazz sang. Sein großes Vorbild war niemand geringerer als der amerikanische Sänger Mel Tormé. Ich erinnerte mich an die Jamsessions im Kosmostheater, und da kam mir die Idee, ihn einmal auf die Bühne zu stellen. Folglich veranstaltete ich im Rondell in der Riemergasse im Mai 1954 eine mitternächtliche Jam-Session. Ich entwarf ein schlichtes Plakat, das durch seine schräg gestellte Schrift auffiel. Außerdem glaubte ich, mehr Aufmerksamkeit zu gewinnen, indem ich meinen Nachnahmen anglifiziere und ganz einfach umdrehte. Mit Hilfe einiger Freunde aus dem Strohkoffer plakatierten wir wild in der Stadt. Mit überragendem Ergebnis.
Das Rondell war mehr als ausverkauft, Uzi Förster, Alex Späth, Helo Kolbe, Gerhard Hönig und weitere Musiker der Wiener Jazzelite jamten ihrem außerordentlichen Können gerecht werdend. Walter Böcksteiner sang, wie ich ihn niemals vorher gehört hatte. Der Abend war ein voller Erfolg, in jeder Richtung. Der Zuschauerraum des Rondell war überfüllt, sodass für das Publikum sogar zusätzliche Sitzgelegenheiten aus anderen Räumen herangeschafft wurden. Die technische Einrichtung entsprach der Zeit, Walter sang in ein billiges Ansagemikrofon, was aber seinem Erfolg keinen Abbruch tat.
Frühmorgens endete nach etlichen Zugaben das Konzert unter kräftigen Applaus der Fans. Während die Künstler ihre Instrumente einpackten, ging ich, hochgestimmt durch die wunderbare Musik und dem Anblick des übervollen Saales in den Kassenraum zu Fritz Feichtinger, um abzurechnen. Er war der Pächter des vom Besitzer Adolf Wollmarker gemieteten Lokals. Von den Einnahmen, abzüglich der Saalmiete, sollten die Musiker ihren Teil erhalten und nachher wäre ebenso für mich etwas abgefallen. Doch ich hatte, im Sinn des Sprichwortes, die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Feichtinger legte mir zur Abrechnung einen Eintrittskartenblock vor, in dem einwandfrei nur die Hälfte der Karten verkauft waren. Das stand in gewaltiger Diskrepanz zur beobachteten Überbelegung des Veranstaltungsraumes. Da sind selbstverständlich keine Gagen für die Musiker drin und sicher gar nichts für mich, meinte er bedauernd. Vermutlich hatte er von zwei Blöcken Eintrittskarten ausgegeben, wobei der eine offiziell zur Abrechnung mit dem Finanzamt, der andere für seinen Privatverdienst vorgesehen war. Sprach- und hilflos stand ich derart unverfrorener Frechheit gegenüber. In dieser Verzweiflung flüchtete ich die Treppen hinauf in die Riemergasse und lenkte meine Schritte heimwärts. Auf der Mariahilfer Straße kam mir im Morgengrauen Uzi nachgelaufen und wollte mich lynchen. Wofür ich gar kein Verständnis aufbrachte. Musiker um ihre wohlverdiente Gage zu bringen wäre ein arges Vergehen, das geahndet werden muss. Wir waren lange miteinander befreundet, so war es mir möglich, ihm die Lage zu erklären, und ich stellte eine Abrechnung für den nächsten Tag in Aussicht. Da die Typen Wollmarker und Feichtinger in der Stadt für ihre Schlitzohrigkeit bekannt waren, kam ich ohne Bestrafung davon. Weniger auf Grund meiner Überredungskunst, eher der Anmerkung, dass ich ein Freund des von ihnen respektierten Max Lersch sei, war es zu verdanken, dass ich am nächsten Tag ein paar Hunderter erhielt. Die brachte ich sofort Uzi, sodass er sich und die Musiker damit bezahlen konnte. Obwohl unschuldig, war dadurch trotzdem meine sonst gute Reputation in der Wiener Jazzszene etwas angeschlagen. Daraus für die folgenden Jahrzehnte eine Lehre ziehend, plante ich keine Veranstaltungen mehr. Um einiges wichtiger waren die Vorbereitungen für die Expedition. Aber zumindest war dieses Konzert eine Fortsetzung der Tradition des Jazz im Rondell. Es war ein Samen für das bekannte Jazzlokal Porgy und Bess, das allerdings erst einige Jahre später dort einzog.
Ende des Strohkoffers und Vorarbeiten für die Afrikaexpedition.
Max Lersch in meine Ambitionen zum Feldforscher einzubinden, stellte sich als höchst positiv für das Unternehmen heraus. Er war auf irgendeine Weise ein Genie. Mit überragender Intelligenz ausgestattet erfasste er innerhalb kurzer Zeit die ihm bis dahin völlig fremde Materie. In erster Linie waren sein sicheres Auftreten, seine Eloquenz und die ihm eigene Kontaktfreudigkeit für das Vorhaben hilfreich.
Mackie war ein mutiger Mann in den besten Jahren, der kaum vor jemanden Angst kannte. Jeden Randalierer rang er nieder, und war er noch so kräftig oder gar bewaffnet. Allein das für ihn zuständige Finanzamt für den ersten und dreiundzwanzigsten Wiener Gemeindebezirk fürchtete er, denn das repräsentierte eine nicht anzugreifende höhere Macht. Einmal bat er mich um Hilfe, ihn und sein Hab und Gut vor den Schergen dieses Amtes, den Gerichtsvollziehern, zu schützen. Am frühen Morgen des Tages, an dem die Beamten des Exekutionsgerichtes angesagt waren, nachdem die letzten Gäste die American Bar und den Strohkoffer verlassen hatten, blieben Max und ich allein zurück. Wir verbarrikadierten alle offiziellen Zugänge von innen und verließen durch den schon vorher erwähnten Geheimgang, der vom Kellerlokal durch den Nachbarkeller in die Freiheit führte, diese Trutzburg. Da es für Mackie geboten war, am nämlichen Vormittag keinesfalls innerhalb der Ringstraße zu erscheinen, blieb er zu Hause, um sich von den Strapazen der letzten Nacht zu erholen. Als treuer Freund bezog ich, der bislang keinem Finanzamt bekannt war, zeitgerecht meinen Beobachtungsposten im Kärntnerdurchgang.
Und tatsächlich, die ersten Sonnenstrahlen beleuchteten die Dächer der umliegenden Gebäude, versuchte eine Gruppe ernst blickender Herren in die Lokalitäten einzudringen. Da die Beamten vermutlich aus vorangegengenen Exekutionen um die Unbeugsamkeit des M. R. Lersch wussten, hatten sie einen uniformierten Polizisten mitgebracht. Der Aufsperrdienst tat seine Pflicht. Aber vergebens. Die von uns am Morgen angebrachten Barrieren hielten jedem Druck von außen stand. Gültiges Gesetz sah vor, dass vom Exekutor zwar aufgeschlossen, zum Betreten des Objekts aber keinerlei Gewalt angewendet oder dadurch Schaden entstehen darf. Sichtlich enttäuscht über die Erfolglosigkeit ihres Bemühens, hielten die Versammelten ein kurzes Palaver ab und verschwanden anschließend in verschiedene Richtungen. Der Herr Revierinspektor zog ebenfalls merklich erleichtert ab. Bei den winterlichen Kontrollgängen durch die kalten nächtlichen Straßen durfte er sich jederzeit bei einem „Kaffee“ in der Loosbar aufwärmen. Es wäre ihm bestimmt nicht angenehm gewesen, seine Dankbarkeit für diese Wohltaten durch eine derartige Amtshandlung beweisen zu müssen.
Nachdem ich mich versichert hatte, dass die Luft endgültig rein war, suchte ich die in der Spiegelgasse nahe gelegene Bonbonniere auf, die damals als Tagesbar schon vormittags Gäste zum Aperitif bewirtete. Es war ein mit dunkelrotem Samt und Plüsch ausgestattetes Lokal, das für sich in Anspruch nahm, die älteste Bar Wiens zu sein. Die Herrscherin über dieses traditionsreiche Etablissement war Gaby, deren resolute Mütterlichkeit Mackie bedingungslos respektierte. Mittlerweile hatte er in dem Lokal sein „Büro“ aufgeschlagen, wo er telefonierte, mit Geschäftsleuten plauderte und geschäftliche Beziehungen aufbaute. Von dort rief ich ihn zur Entwarnung zu Hause an. Lersch nützte von dieser Theke aus erfolgreich seine Verbindungen in der Wiener Lokalszene, um American Bar, Strohkoffer etc. zu verkaufen.
Nachdem kein Job für mich mehr in Lersch’s Lokalen zu erwarten war, musste eine neue Einnahmequelle her. Ich kaufte mir auf Raten ein Motorrad der Marke „Ardie“, mit zweihundert Kubikzentimetern Motorvolumen und Baujahr 1939. Rechts vom Benzintank befand sich die Kulissenschaltung. Das bedeutete, dass man bei jedem Gangwechsel mit der rechten Hand die Lenkstange loslassen musste. Mit zwei hochgezogenen Auspuffrohren vermittelte die Maschine einen echt sportlichen und geländegängigen Eindruck.
Aufgrund meiner Mobilität erhielt ich bei dem traditionsreichen Bewachungsunternehmen Helwacht mühelos einen Job als Nachtwächter. Mit einer Stechuhr bewaffnet ratterte ich nachts von einem Bewachungsobjekt zum anderen. Tagsüber aber mussten die Akquisitionen für die Expedition durchgezogen werden. So fuhren wir zwei von einer Institution zur nächsten. Hoch am Soziussitz hinter mir Mackie Lersch im grauen Flanellanzug mit blütenweißem Hemd und dezenter Krawatte. In der Hoffnung auf Unterstützung für unser gemeinsames Vorhaben besuchten wir wissenschaftliche Institute und kommerzielle Firmen in Wien und Umgebung. Um meinem biologischen Schlafbedürfnis zu entsprechen, legte ich die Kontrollzeiten der Nachtdienste dahingehend, dass dazwischen ein paar Stunden Schlaf möglich waren.
Dies blieb nicht ohne Folgen, denn die Einbrecher verließen sich auf meine Pünktlichkeit. Ein weiterer Umstand begünstigte die Geschäfte dieser Berufsgruppe. Das Motorrad verlor eines Tages einen seiner zwei Schalldämpfer, was den Schalldruck auf sportlichen Pegel erhöhte. So lautstark war der Nachtdienst nicht auszuüben. Da ein Rohr zum Betrieb der Maschine sicher genügen würde, verstopfte ich den übrig gebliebenen Stumpf des invaliden Auspuffs mit einer Handvoll alter Tücher. Mit Draht festgebunden hielten die Fetzen im Rohr fest, die Ardie war mit einem funktionierenden Auspuffrohr leiser denn je zuvor. Fast geräuschlos fuhr ich an die zu bewachenden Objekte heran, doch dann begannen die Fetzen im falschen Moment zu brennen und Ohren betäubender Krach zerriss die Stille der Nacht. Die glühenden Tücher stoben aus dem halben Auspuff, blieben am Draht der Sicherung hängen und funkensprühend, wie den Feuerschweif einer Rakete hinterherziehend, näherte ich mich auf diesem knallenden Kometen dem jeweils zu inspizierenden Gebäude. Zum Glück war in dieser Zeit die Wiener Polizei zu solch nächtlicher Stunde auf den Straßen nicht allzu präsent. Was mir ungeheuer entgegenkam, da ich einen Führerschein erst Jahre später erhalten sollte. Nach einigen Monaten reibungsloser Zusammenarbeit löste ich das Arbeitsverhältnis mit Helwacht, einerseits wegen chronischer Übermüdung, andererseits um einer erniedrigenden Kündigung durch den Arbeitgeber vorzubeugen.
Es war an der Zeit, einen für Afrika tauglichen Geländewagen zu suchen. Eine wichtige Anschaffung, da wir entgegen meinem ursprünglichen Plan jetzt zu zweit, wenn nicht gar zu dritt unterwegs sein werden. Beim Autohaus Metzger an der Triester Straße fand ich das geeignete, nach Bedarf mit Allrad zu betreibende Gefährt. Die in Wien stationierte britische Armee stieß ihre alten Fahrzeuge billigst ab. Metzger erwarb davon ein Kontingent und zerlegte die Autos zur Gewinnung von Ersatzteilen. Ein beachtenswert gut erhaltener Wagen entkam der Zerstückelung. Es war Liebe auf den ersten Blick und der Preis lag im Rahmen des Budgets. Ein rechts gesteuerter, zwei Tonnen wiegender Humber 4×4 Heavy Utility mit einem Aufbau aus Holz. Er verfügte über einen Motor mit sechs Zylindern, der 85 PS lieferte. Die Lackierung war sandfarben, was mich zu Recht vermuten ließ, dass dieses Auto im Afrikafeldzug gedient hatte. Der Innenausstattung nach zu schließen, als Kommandowagen. Wie vorhin schon erwähnt, war ich nicht im Besitz eines Führerscheines. Deshalb bat ich meinen Freund Johannes Eidlitz, den unehelichen Sohn der berühmten Schauspielerin Alma Seidler, das Expeditionsfahrzeug polizeilich auf seinen Namen anmelden zu lassen. Auf Mackie Lersch anzumelden war nicht möglich, weil dieser von der Finanz verfolgt wurde. Da ein Automobil einen Namen haben muss, tauften wir ihn „Père Ubu“, nach der Hauptfigur in dem skurrilen Theaterstück gleichen Titels von Alfred Jarry, der einen riesigen, durch Wind betriebenen Wagen bauen ließ.
Wir bemühten uns um Anerkennung als Feldforscher. Dabei lernten wir Walter Hirschberg kennen, damals Dozent am Institut für Afrikanistik der Universität Wien, der uns äußerst liebevoll unter seine akademischen Fittiche nahm. Seiner Einladung folgend, wurden wir Gasthörer in einer Reihe von Vorlesungen bei ihm und dem Völkerkundler Prof. Hans G. Mukarovsky. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse waren uns in den nächsten Jahren bei der Arbeit in Afrika recht nützlich. Hirschberg hat uns dem Phonogrammarchiv der Akademie der Wissenschaften näher gebracht. Letztlich war es die Kernkompetenz unseres Unternehmens, Tonaufnahmen in Afrika zu erarbeiten und diese in Österreich für deren wissenschaftliche Auswertungen zur Verfügung zu stellen. Der Linguist Professor Mukarovsky war an Sprachaufnahmen für sein Institut interessiert. Er gab uns Fragebögen zur akustischen Erstellung von Diktionären afrikanischer Sprachen mit. Obwohl Hirschberg am Institut für Völkerkunde lehrte und über Afrika in höchstem Maße genau Bescheid wusste, war er nie vor Ort gewesen. Wir erhielten von der Universität, vom Museum für Völkerkunde und von der Akademie der Wissenschaften jede gewünschte Unterstützung in Form von Beglaubigungsschreiben, aber keine Sachwerte, geschweige denn finanzielle Hilfe.
Als Mackie noch Eigentümer dieser Lokale war, gab es ebenso Gäste, die keine bildenden Künstler waren. Aus diesem Personenkreis fanden wir potentielle Teilnehmer für das Unternehmen Afrika. Da war einmal Walter Eder, er trat gleich nach Kriegsende eine Zeit lang bei den Stephansspielern, einem Wiener Theaterensemble, als Schauspieler und Pantomime auf. Er hatte Afrika vor mir bereist, ritt auf einem Pferd von Niamey – der Hauptstadt von Niger – durch den Busch des Sahel durch das Wildreservat von Arli bis Ouagadougou, dem Regierungssitz von Obervolta, später Burkina Faso. Das sind weit über eintausend Kilometer allein zu Pferd, quer durch die Steppe. Dort verdingte er sich zeitweise als Jagdführer. Dank seiner stattlichen Größe von einem Meter neunzig und um zehn Jahre älter als Mackie Lersch, strahlte er Ruhe und Besonnenheit aus, außerdem sprach er leidlich Französisch und Englisch. Das war ein brauchbarer Mann! Bedächtig hörte er sich unser Programm an und sagte ohne Umschweife zu. Er war es, der den Fokus des ersten gemeinsamen Unternehmens auf Westafrika richtete, wo er sich auskannte. Dann gesellte sich, mehr durch Zufall, ein Belgier namens Jean-Pierre Veyhs zu uns, von dem wir nicht so recht wussten, womit er beruflich beschäftigt war. Wir erfuhren von ihm nur, dass er mit einigen Wiener Bekannten heimlich in der alten Donau mit der Harpune fischte. Dort suchte er einen sagenumwobenen Wels von zwei Metern Länge zu erlegen, den man angeblich in diesem stillgelegten Flussarm gesichtet hatte. Seine deutschen Sprachkenntnisse waren weitgehend artikelfrei, französisch hingegen verstand er perfekt. Wobei es unklar war, ob Franzosen ihn verstehen könnten, denn er stammte aus Brüssel. Mit fünfzig Lebensjahren war er unser Ältester. Sein graues gekräuseltes Haar, die hellblauen Augen und der französische Akzent ließen ihn der Damenwelt überaus attraktiv erscheinen. Forderungen aus Alimenten verfolgten ihn überall hin. Aber was soll’s, er brachte etwas Bargeld in das Unternehmen ein, das konnte uns nur recht sein. Hans Kopezky, ein gelernter Fotograf, sprach Mackie in der Bonbonniere wegen Afrika an und meldete sich als einziger echter Professionist und Mitstreiter an.
So war in der Zwischenzeit das Unternehmen auf fünf Personen angewachsen und wir benötigten ein zweites Fahrzeug. Erfolgsgewohnt kontaktierten wir die Vertretungen von Mercedes, Steyr-Puch, MAN, Saurer und Volkswagen. Die meisten Firmen sagten sofort oder mit etwas Verzögerung ab, Steyr vertröstete uns von Woche zu Woche. Die Nerven waren gespannt, denn unser geplanter Abfahrtstermin rückte immer näher. Wegen der sommerlichen Hitze in der Sahara und der zu erwartenden Regenzeit weiter südlich, war dieser Termin unbedingt einzuhalten. Wir hatten nahezu alles beisammen, was für diese Expedition gebraucht wurde. Grundvoraussetzung für unsere Arbeit waren die technischen Geräte. Mein Ziel war es, qualitativ hochwertige Tonaufnahmen herzustellen. Dafür stellte uns Telefunken ein tragbares „Magnetophon Kl 25“ zur Verfügung, das aber von einer Stromversorgung mit 220 Volt Wechselstrom mit einer Frequenz von 5o Hertz abhängig war. Für die an Technik interessierten Leser sei hier ein Link angegeben:
https://www.radiomuseum.org/r/telefunken_magnetophon_kl25.html
Dazu gab es ein dynamisches Mikrofon vom Typ D12, das mir die österreichische Firma AKG lieh. Eine Wiener Elektrofirma baute für uns einen etwa 20 kg schweren Einankerumformer, der aus den 12 Volt Gleichstrom der Autobatterie 220V Wechselstrom erzeugte.
Zur Ausrüstung gehörten neben großzügig Lebensmittelkonserven von Inzersdorfer und darüber hinaus für mehrere Monate ausreichend gezuckerte Kondensmilch. Einige Kisten Rossbacher Magenbitter, Ovomaltine und diverse nahrungsergänzende Mittel besserten die Verpflegung auf. Kochgeschirre, Zelte, jeweils ein Jagd- und ein Schrotgewehr und zwei Pistolen, sämtliche inclusive dazu passender Munition, und eine Schreibmaschine waren im Gepäck. Drüber hinaus gab es khakifarbene, nach Maß angefertigte, einheitliche Overalls für alle fünf Teilnehmer der Expedition. Besonders wichtig für uns war der Inhalt einer Reiseapotheke mit genügend Familienpackungen Resochin gegen die in Afrika grassierende Malaria, dazu schmerzstillende Mittel und Seren zur Behandlung aller nur möglichen Schlangenbisse. Dann war da ein dicker Ordner mit Befürwortungsschreiben von etlichen wissenschaftlichen Institutionen, denen wir Forschungserfolge und Originalgegenstände aus Afrika versprochen hatten. Diese unterstützenden Dokumente waren relativ leicht zu beschaffen, weil sie nichts kosteten, der jeweilige Verfasser aber bei relevanten Ergebnissen der Expedition Schulterklopfen und Anerkennung für seine Weitsicht einheimsen würde. Diese amtlichen Schreiben waren vor allem bei der Beschaffung der Visa und bei Zollformalitäten hilfreich, vorwiegend für die Aus- und Einfuhr der Waffen.
Das Besorgen solch umfangreicher Ausrüstung wurde durch die allgemeine Aufbruchsstimmung rund um den Beginn des Wirtschaftswunders begünstigt. Da die Studenten diverser Fakultäten zu dieser Zeit vorrangig auf ihre materielle Zukunft bedacht waren und sie deshalb nichts in die Fremde zog, hatten unsere anfänglich recht autodidakten Bemühungen Erfolg. Es gab einige Ausnahmen, die sich bald nach den Kriegsjahren aktiv in der Feldforschung betätigten, wie Hugo Bernatzik, Herbert Tichy, Max Reisch, Lotte und Hans Hass und Ludwig Zöhrer.
Im Bewusstsein, österreichische Patrioten zu sein, klopften wir bei Steyr-Puch um deren Unterstützung an. Da es von dort bis drei Wochen vor dem geplanten Abfahrtstermin keine Zusage gab, schwärmten wir aus, um von irgendeiner Autovertretung ein geeignetes zweites Fahrzeug zu erhalten. Wir boten dagegen internationale Werbung für die Marke. Stundenlange Gespräche mit den jeweils verantwortlichen Herren, denen wir mittels unserer amtlichen Unterlagen die große Bedeutung dieses Unternehmens für die Wissenschaft darlegten, brachten keinen Erfolg. Selbst der Stolz und die allgemeine Freude über den kürzlich unterzeichneten Staatsvertrag wirkte dabei keineswegs unterstützend. Die Wohnung meiner Eltern war mit Expeditionsmaterial, Kisten und Geräten zugepflastert und kaum mehr begehbar. Es wurde Spätherbst. Die Zuversicht, jemals nach Afrika zu kommen, wurde mit jedem erfolglosen Tag weniger.
Schon am Heimweg nach Besuchen bei zahlreichen Autovertretungen, müde und enttäuscht von den Absagen, betraten Walter und ich eher zufällig und ohne mit einem Erfolg zu rechnen, das Ausstellungslokal der DDR-Autofirma IFA an vornehmer Adresse, am Schubertring Nr 2. Wir stellten uns dem elegant gekleideten Herrn hinter seinem Schreibtisch vor und breiteten sorgfältig die gesamten Unterlagen vor ihm aus, damit die lauteren Absichten der Afrikareisenden beweisend. Dabei wurde routinemäßig der ambitionierte Text des Anliegens abgespult. Der gelangweilt wirkende Mann zeigte an den mühsam erworbenen Befürwortungsschreiben fast beleidigendes Desinteresse. Unvermittelt erhob er sich wortlos zu seiner vollen Größe, welche die von Walter übertraf. Enttäuscht klaubten wir die in durchsichtigen Plastikhüllen steckenden Unterlagen zusammen. Schon wollten wir das Lokal verlassen, als er uns bedeutete, ihm zu folgen. Wir betraten einen Hof, in dem etliche gebrauchte Autos der Marke IFA-F9 und Trabant zum Verkauf ausgestellt standen. Welchen davon wir haben wollen? Da war ein zweifarbiger, beige – braun lackierter Kombi, der uns gefiele. OK, sprach der Herr, er wird ihn morgen anmelden und gegen Abend wäre der Wagen abholbereit.
So problemlos war das und dauerte kaum eine Viertelstunde. Verschreckt und ungläubig bedankten wir uns kurz und verließen schweigend eilig das Geschäft. Er könnte es sich ja womöglich überlegen. Jeder von uns war auf dem Weg zur Kärntnerstraße in seine eigenen Gedanken und Bedenken versunken, keiner wagte es, diese laut werden zu lassen. Das Auto hatte einen Zweitaktmotor mit nur 28 PS, drei Zylinder und Vorderradantrieb. Höchstgeschwindigkeit 90 km/h und war überdies politisch aus dem Osten! Ob das funktionieren wird? Geglaubt haben wir unser Glück erst, als Walter Eder am nächsten Tag mit dem blitzsauber gewaschenen Wagen mit Wiener Kennzeichen knatternd bei der Bonbonniere in der Spiegelgasse vorfuhr. Dank Gabys Großzügigkeit leisteten wir bei einigen Whiskys so etwas Ähnliches wie einen Rütlischwur. Walter hat bei der Übernahme des Autos einen Vertrag unterschrieben, der dem VEB Sachsenring in Afrika herzustellendes Werbematerial versprach. Wir werden ihm, dem Vertreter der ostdeutschen Fahrzeugfabrik viele, viele Fotos, einen 8mm-Film, Fahrtenberichte und das Auto zurückbringen, selbst wenn wir es tragen müssten. Solch blindes Vertrauen darf nicht enttäuscht werden!
Mit neugewonnenem, frischem Mut machten wir uns an die abschließenden Arbeiten. Da jede Expedition einen Leiter braucht, erwählten wir dazu einstimmig den charismatischsten unter uns, Max (Makie) Lersch. Die Autos erhielten eine saubere Beschriftung, „Österreichische Westafrikaexpedition 1955-56“ prangte an den Autotüren des Humber und des IFA. Nicht ohne Stolz fuhren wir mit unseren Gefährten durch Wien, sammelten ausstehendes Expeditionsmaterial für die große Reise ein, und ließen uns im Tropeninstitut gegen alle möglichen zu erwartenden Krankheiten impfen.
Ein allerletzter Heurigenabend wurde mir fast zum Verhängnis. Spät abends fuhren wir im Konvoi, einige Autos vollgepackt mit fröhlichen Menschen, die Nußdorfer Straße stadteinwärts. Ich, am Steuer des Père Ubu mit Mackie links von mir am Beifahrersitz, bildeten die Vorhut. Da winkte uns ein ernst blickender Polizist an den Straßenrand. Bekannterweise hatte ich damals keinen Führerschein, dementsprechend groß war mein Schreck. Das Ausmaß von Alkoholisierung wurde zu jener Zeit durch geschulte Polizeibeamte nach Atemluft, Körperhaltung und Gleichgewicht des Autofahrers geschätzt, was mir die geringste Sorge bedeutete, denn die geltende Obergrenze von 1,5 Promille hatte ich sicher nicht erreicht. Ich hielt den Wagen in respektvoller Entfernung von der Polizei an, Mackie und ich sprangen gleichzeitig aus dem Humber und schritten höflich dem Inspektor entgegen. Der nette Polizist wandte sich direkt an den links aus dem Auto ausgestiegenen Lersch und verlangte von ihm, dem vermeintlichen Fahrer, Führer- und Zulassungsschein. Mackie war im Krieg bei den Panzergrenadieren gewesen, was ihm automatisch einen Führerschein für Kraftfahrzeuge bis 3,5 Tonnen Gesamtgewicht einbrachte. Er verfügte aber über keinerlei Fahrpraxis. Dass wir ein Auto aus britischer Erzeugung fuhren und deshalb rechts gelenkt war, wurde vom Auge des Gesetzes zu meinem Glück nicht in Betracht gezogen.
Einige Tage später, es war der 20. Dezember 1955, feierten wir bei und mit Freunden mittels ausreichend Sekt und Champagner Abschied. Tränenreich verabschiedeten sich unsere Angehörigen, Frauen oder Freundinnen von ihren Helden. Die Etikette des Wiener Nachtlebens gebot uns das Abschiednehmen in der Bonbonniere von Gaby, und im Rondell von Feichtinger. Dadurch wurde es Mitternacht, ehe Max, Jean-Pierre und ich im schwer überladenen Humber zu dem großen Abenteuer aufbrachen. Walter und Hans, die den IFA belegten, sollten einen Tag später nachkommen, sie hatten noch Amtswege zu erledigen. Als Treffpunkt haben wir Marseille festgelegt, von wo die Überfahrt nach Algier stattfinden wird.
Hieß die hübsche Freundin von Konrad Bayer möglicherweise Ingrid Schuppan (mit der ich in die Realschule ging) , die mit Bayer den Film „Sonne halt!“ drehte, der – obwohl sie darin vollkommen nackt zu sehen war – sogar im ORF zu sehen war. Wenn es diese Ingrid war, dann heiratete sie später Oswald Wiener und lebt immer noch…