Die Ahnung war immer vorhanden, doch es kam überraschend. Das Netz- und Ladegerät des Computers verweigert den ihm zugeordneten Dienst. Wegen der hohen Umgebungstemperaturen und den ständigen Schwankungen des hauseigenen Stromaggregates, gibt das Gerät zischend und qualmend seine Funktion auf. Das bereitet mir größere Sorgen, weil ein für meine Arbeit funktionierender Computer unumgänglich notwendig ist. Ein zweiter Akkumulator zur Reserve ist im Gepäck, aber an die Mitnahme eines Ersatzladegeräts habe ich nicht gedacht. Nach einer kurzen Abkühlphase, es war glühend heiß geworden, inspiziere ich dieses elektronische Zubehör genauer.
Um zu den Eingeweiden des Gerätes zu gelangen, sind Schrauben zu öffnen, die das Gehäuse zusammenhalten. Diese Spezialschrauben haben aber Nietenköpfe, verschmitzt vom chinesischen Fabrikanten mit Absicht so vorgesehen, damit sie mit keinem herkömmlichen Werkzeug aufzudrehen sind. Ich bitte François, mich bei dieser Operation zu unterstützen. Mittels einer Bohrmaschine gelingt es ihm, das Innere des Patienten freizulegen. Schwarzbraune, nach verbranntem Isoliermaterial stinkende Klümpchen zwischen bisher intakt erscheinenden elektronischen Bauteilen, bieten einen traurigen Anblick. François schüttelt den Kopf, bringt einen Freund von ihm ins Spiel, der ein Wundertechniker sei. Allerdings müsste man das Teil nach Tamanrasset bringen. Das sind über dreihundert Kilometer durch die Wüste. Wir beschließen, umgehend loszufahren, da es noch früh am Tag ist. Solange François seiner Michelle unser Vorhaben erklärt, tanke ich meinen Landrover und zwei Reservekanister voll. Er ist lange genug gestanden, und Bewegung tut ihm sicher gut. Mit Wasser gefüllte Kanister stehen fest gesichert hinten im Auto. Um auf der Fahrt kühles Trinkwasser zu haben, hängen wir mit Haken eine Ziegenhaut zusätzlich an eine Wagenseite. Nach einer kurzen Kontrolle wollen wir die Auberge durch das Haupttor verlassen. Doch Michelle winkt uns vom Haus mit einem Papier in der Hand und ich lenke den Rover bis knapp an die Stufen heran. Sie überreicht uns einen Einkaufszettel für Tamanrasset und wünscht uns eine problemlose Fahrt.
Auf einer Sandebene fahren wir der aufgehenden Sonne entgegen. Die Piste ist streckenweise sicher zweihundert Meter breit und unzählige Spuren führen alle in die gleiche Richtung, nach „Tam“. So eine Fahrt, einige hundert Kilometer von jeder Zivilisation entfernt, bewirkt bei mir regelmäßig tiefes Glücksgefühl. Es gibt auf unserer Erde nur mehr wenige Plätze, an denen man Freiheit spüren und genießen darf. Sie ist hier gleichsam greifbar, obwohl selbst dieser Ort des Friedens unsichtbar vielen Strahlungen und Umweltverschmutzungen der zivilisierten Welt ausgesetzt ist. Trotz Radiowellen und Funkverkehr aller Frequenzen, in der Atmosphäre schwebenden Abgasen und Abfallpartikel irgendwelcher Industrien aus anderen Kontinenten, die bei Abkühlung oder mit Regen auf die Erde fallen, dringt das Gefühl physischer Freiheit tief ins Innere. Vor der exzessiven industriellen Entwicklung ab der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts gab es hier außer ein paar zu vernachlässigenden Radiowellen, oder die unvermeidlich in der Natur allgegenwärtigen Neutrinos, kaum Belastungen der Umwelt.
Nach etwa hundert Kilometern glatter Fahrt in der endlos erscheinenden Ebene bleiben wir auf einer leichten Anhöhe stehen. Mitten in der Piste, einfach so, niemand schreibt uns vor, was wir nicht tun dürfen. Links und rechts des ausgefahrenen Wellblechs breitet sich die Hamada, eine mit scharfen Steinsplittern übersäte Ebene aus. Im Windschatten der Steine liegen wie Minidünen kleine Sandhäufchen, die sich durch ihre hellgelbe Farbe von der dunkleren Erde ringsum abheben. Wir setzen uns einige Schritte weiter auf einen Steinhaufen und verharren andächtig, die absolute Stille nach dem lauten Gerumpel im fahrenden Rover genießend. Gelegentlich an- und abschwellend bewegt sich zart kühle Luft. Lange sitzen wir schweigend und versuchen, nichts zu denken. Ich stehe auf und hole aus dem Wagen einen geöffneten Rotwein, laute Geräusche dabei vermeidend. Michelle hat uns ausreichend Proviant mitgegeben. Wir nehmen jeder einen langen Schluck. Ohne Verschluss steht die Flasche zwischen uns, der leichte Luftzug zaubert aus dem Flaschenhals eine überirdische Melodie, gleich einer Panflöte. Die Töne fügen sich in die uns umgebende Lautlosigkeit harmonisch ein, den Frieden bewahrend. An vielen Plätzen in jener Einsamkeit gibt es kleinere oder größere Hohlräume im Gestein, in denen sich gleich Aeolsharfen Wind fängt. Ich stelle mir vor, dass ein freier Targi wie Akamouk wochenlang durch die unendliche Stille zieht, allerorten Musik hört.
Gerne würde ich in diesem Meer der Ruhe, in dem meine Seele glücklich schwimmt, einige Zeit verweilen. Aber wir müssen weiter, die Sonne wird bald gefährlich stechen und wir sollten möglichst bei Tageslicht die Stadt erreichen. Sandflächen wechseln mit Strecken steinigen Untergrunds ab. Inmitten der unwirtlichen Wüste kreuzt unsere Piste eine andere, die schnurgerade in Nord-Südrichtung führt. Neben der Kreuzung steht von Beton eingefasst ein Brunnen mit einem richtigen Wasserhahn. Erstaunlich, welche Änderungen die Algerier seit meinem letzten Besuch in diesem Land vorgenommen haben. Wir halten Mittagspause bei der Wasserstelle, öffnen eine Dose Ölsardinen, eine nostalgische Erinnerung an frühere Expeditionen und verteilen den Inhalt redlich auf die zwei Hälften des von Michelle selbst gebackenen Brotes. Nach dieser Stärkung fahren wir weiter in Richtung Tam, wie die Stadt im täglichen Umgang kurz genannt wird.
Schon aus der Ferne fällt der moderne Gebäudekomplex der Universität auf. Diese wurde 2009 eröffnet und gewann in den wenigen Jahren seither aus ihrem Einzugsgebiet 53.000 Studierende der Rechts- und Sozialwissenschaften. Dem zufolge ist die Stadt gewachsen. Trotz der späten Stunde finden wir die Werkstatt des Bekannten von Francois. In einem langgestreckten Raum, kaum vom Rest des Tageslichts erhellt, stehen ein paar Tische, die anscheinend ohne Ordnung mit nicht genau zu definierenden Gerätschaften und Bestandteilen voll belegt sind. Auf einer der Tischplatten gibt es eine von einer elektrischen Birne schwach beleuchtete freie Arbeitsfläche. Im Habitus eines Targi begrüßt uns der Gesuchte, der sich nach längerem Austausch von Höflichkeiten mit uns meines elektronischen Patienten annimmt. Morgen Mittag soll es repariert sein. Unangenehm macht sich hier moderne Zivilisation bemerkbar. Obwohl er ein Einheimischer, demnach ein Targi ist, bietet er uns keinen Tee an. Die drei traditionellen Gläser Tee bei den Tuareg sind nicht nur Vertrauen bildend oder das Versprechen für eine überragende Gastfreundschaft, sondern ergeben darüber hinaus an heißen Tagen einen gesunden Durstlöscher. Müde begeben wir uns in ein Touristenhotel im Zentrum der Stadt und erwarten sehnsüchtig ein abendliches kühles Bier.
Am nächsten Morgen fahren wir mit Michelles Einkaufsliste für Lebens- und Putzmittel zu verschiedenen, europäisch wirkenden Läden. Die saubere und teilweise Stadt mit ihren 190.000 Einwohnern beeindruckt uns. Mir fällt auf, dass Autos von Toyota hier allgegenwärtig sind. Baukräne ragen in den Himmel, denn an einigen Stellen baut man mehrgeschossige Häuser, geplant sind 7.000 Wohneinheiten. Bei unserer Rückkehr ins Hotel erhalten wir die Nachricht, dass das Netzgerät wieder funktioniert und abholbereit sei. Francois regelt die finanzielle Angelegenheit mit seinem Freund und wir fahren auf breiter Asphaltstraße in die Wüste. Für diese Fahrt benötigen wir kaum Scheinwerfer, es ist Vollmond, der Straße wie Piste ausreichend und umfassend beleuchtet. Nach zügiger und romantischer nächtlicher Reise durch die Hamada erreichen wir spät in der Nacht die hell erleuchtete Auberge. François, der immer auf Energieeffizienz bedacht ist, grummelt leise über die Verschwendung, wagt jedoch angesichts von Michelles freudiger Begrüßung keine offenen Vorwürfe. Er ist eben ein sanftmütiger Pantoffelheld. Ich verschwinde in das Turmzimmer, verbinde das Ladegerät mit dem Computer und stelle erfreut fest, dass es funktioniert. Zufrieden und erleichtert falle ich ins Bett. Vor dem schnell kommenden Schlaf scheitern Versuche, mich auf zukünftigen Text zu konzentrieren. Doch morgen werde ich an meinen Erinnerungen weiterschreiben:
Am frühen Morgen frühstückten die Expeditionsteilnehmer in der Jugendherberge von Algier. Mackie, Schani und Kopezky fuhren mit dem IFA zu Besorgungen in die Stadt. Aber wer ist „Schani“? In einer Anwandlung von Zärtlichkeit und Bequemlichkei, hatte es sich im engen Kreise eingebürgert, Jean-Pierre einfach Schani zu rufen. Es gefiel ihm, und so blieb es dabei. Mit etwas ramponiertem Auto kehrten die drei später wieder zurück. Sie hatten eine kleinere Konfrontation mit einem LKW, aber der dadurch entstandene Schaden wurde von der Versicherung umgehend in bar geregelt. Das war damals in Algerien so üblich, was unserem Expeditionsetat recht guttat. Vorschläge, dass Schani weiterhin in Algier bleiben und mit dem Auto Geld verdienen sollte, wurden aus einsehbar praktischen wie moralischen Gründen verworfen.
Noch vor der Abfahrt äußerte ich deutliche Bedenken wegen der Achse an meinem Auto. Doch die wurden von den Freunden mit fast beleidigenden Ausdrücken wie Angsthase, Pessimist etc., abgetan. Schließlich gab ich, Diskussionen vermeidend nach und wir machten uns auf den Weg. Schani und Kopezky mussten aus administrativen Gründen noch in der Stadt blieben, was einen emotionalen Abschied von ihnen zur Folge hatte. Die Herbergsmutter hingegen verabschiedete uns mit merklich weniger Gefühl – die ausufernde Abschiedsfeier des Vorabends hatte bei ihr Spuren hinterlassen.
Unsere kleine Karawane setzte sich in Bewegung. Die Besatzung des Ubu bestand aus Mackie, Walter und mir am Steuer des Humber. Voran düsten in ihrem VW-Käfer-Kabrio die Teutonen Hermann und Ernst davon. Die beiden Deutschen waren durch einen beim Touringclub in Algier abgeschlossenen Beistandsvertrag fest mit uns verbunden. Die Fahrt ging gegen Südwesten. Die etwa 400 Kilometer entfernte Stadt Mascara (jetzt Muaskar) war unser erstes Etappenziel. Diese Strecke ist auf einer breiten, exzellent ausgebauten asphaltierten Straße ohne Mühe in wenigen Stunden zu schaffen. Allerdings war uns eindringlich empfohlen worden, nur bei Tageslicht zu fahren, da die Route durch Gebiete der Aufständischen führte. Die Veränderungen, die sich seit meiner Reise im Vorjahr entlang dieser Straße ergeben hatten, waren erschütternd.Verlassene, verwilderte und niedergebrannte Farmen zeugten davon, dass wir mitten durch Kampfzonen fuhren.
Die Straße führte uns durch eine fruchtbare, kultivierte Ebene. Da es Winter war, lagen die Äcker ringsum allerdings brach, sodass nicht zu erkennen war, was da angebaut wurde. Vor El Affroun tickten die sechs Zylinder des Humber nicht mehr richtig und stotterten. Bei einer Tankstelle wurde die Benzinleitung mit Druckluft ausgeblasen. Eine wohlgesetzte Aktion, die dem Motor wieder seinen gleichmäßigen Lauf und die volle Kraft zurückgab. Diese kleine Panne erschien mir nachträglich als Ursache meiner dunklen Vorahnungen in Algier. Mit erleichtertem Herzen und frohem Blick in die Zukunft fuhren wir weiter – vorerst. Anscheinend etwas zu unbesorgt, denn zwölf Kilometer nach El Affroun, wir hatten kaum den winzigen Ort Oued Djer passiert, brach die zweite Achse. Es gab keinen Ersatz, und so standen wir plötzlich unbeweglich da.
Die Straße schmiegte sich rechts, den Formationen der Berge folgend, an die Abhänge, links fiel das Gelände steil in ein breites Flusstal ab, in dessen Mitte ein munterer Bach dahinplätscherte.Wir standen unbeweglich kurz vor einer Brücke. Unser Père Ubu blockierte nun etwa ein Drittel der Fahrbahn und stellte somit eine nicht unerhebliche Verkehrsgefährdung dar. Da wir für die vorausfahrenden Deutschen im Rückspiegel nicht mehr zu sehen waren, drehten sie um, und der VW stieß wieder zu uns. Eine kurze Beratung ergab, dass sich die beiden Kölner mit 10.000 Francs nach Algier zurückbegeben und dort eine Ersatzachse suchen sollen. Den auf dem Rücksitz zwischen Reisegepäck eingeklemmten Mackie setzten sie in El Affroun ab. Dort gelang es ihm, einen Mechaniker mit einem Transporter zu engagieren. Gemeinsam versuchten wir, den schwergewichtigen Humber mit einer improvisierten Schleppvorrichtung zur Seite zu schaffen. Doch mit einem Gesamtgewicht von mehr als drei Tonnen widersetzte sich das Auto allen Bemühungen, seinen Standort zu verlassen.
Ich schlenderte zu der Brücke über den ausgetrockneten Fluss, dem Oued. Unten im Geröll lag der zerschmetterte und halb ausgebrannte Rest eines Citroën 11. Dieser Anblick ließ die vielen Warnungenvor den blutrünstigen Räubern und Wegelagerern, den sogenannten Fellaghas, wieder in meinem Bewusstsein aufsteigen. Fellaghas nannte man damals abschätzig die algerischen Freiheitskämpfer, die von 1954 bis 1962 einen unerbittlichen Kampf gegen die französische Kolonialherrschaft führten. Dieser Krieg war im Jahre 1955 erst im Anfangsstadium, doch zeichnete sich die Brutalität und Menschenverachtung mit der er geführt wurde schon deutlich ab. Er wurde deshalb allgemein der „schmutzige Krieg“ genannt. Später erfuhren wir, dass gerade dieses Gebiet, in dem wir gestrandet waren, ein bevorzugtes Terrain für Überfälle war. Die zerklüftete Berglandschaft ringsum, mit ihren zahllosen Verstecken hinter Graten, Felsen und Büschen, bot ideale Bedingungen für einen Hinterhalt.
Bei Tageslicht war die Gefahr von Gewalt gering, erst in den Nachtstunden setzten die Kämpfer ihre Aktionen. Ein zufällig vorbeikommender, lokaler französischer Polizist erkannte jedoch die prekäre Lage, in der wir uns befanden. Unsere Panne war nicht ohne Weiteres zu beheben, so leistete er Hilfe, indem er einem arabischen Wächter, einem sogenannten Gardien, befahl, uns und unser Gepäck sicher unterzubringen. Das Haus, eine von ihren französischen Besitzern verlassene Farm, lag in 150 Metern Entfernung in dem Flusstal, durch einen Hügel vom invaliden Père Ubu getrennt. Von der höher gelegenen Straße führte eine unbefestigte kurvige Auffahrt hinunter zu dem kleinen Anwesen. Der Gardien, mit einem arg gebrauchten grauen Wintermantel und dem landesüblichen bunt gemusterten Turban bekleidet, transportierte unser Gepäck auf einem klapprigen alten Lastauto von der Straße hinunter zum Anwesen. Das Haus war ebenerdig, sauber gehalten und gepflegt, das vorgezogene Ziegeldach wurde von einigen Säulen gestützt und bildete damit eine Art Veranda. Ein bis auf einen Schrank ausgeräumter, quadratischer Vorraum mit jeweils einer Türe an allen 4 Seiten empfing uns. Licht drang ausreichend durch die Füllungen aus Glas der sich gegenüberliegenden Eingangstüren. Eine davon war der Haupteingang, die andere, gegenüber liegende führte nach rückwärts hinaus auf eine Wiese und zu dem Bach hinunter, der das Grundstück begrenzte. Eine dritte Türe links war verschlossen und wahrscheinlich der Zugang zum Wohnbereich mit der Küche und den Sanitäranlagen der Farm. Nur von außen vom Hof zu erreichen, befand sich in einem Anbau das Zimmer des über das Anwesen wachenden algerischen Wächters. In der rechten Wand vom Haupteingang gesehen, war eine vierte Türe, die zu einem größeren, ebenso leeren Raum führte. Hier gab es einen offenen Kamin, der über Eck gebaut war, und ein riesiges, leeres Ölfass, das verloren in einer Ecke stand. mit einem übers Eck gebauten offenen Kamin. Ein Fenster gab den Blick nach außen, gegen Westen, frei. In dieses Wohnzimmer brachten wir das Expeditionsgepäck. Die drei Semperit-Luftmatratzen wurden aufgeblasen und nebeneinander so platziert, dass wir vom Boden aus das Fenster und die untergehende Sonne sehen konnten. Es war eine improvisierte, aber nicht unangenehme Unterkunft für die Nacht.
Inzwischen war der freundliche Gendarm von seiner Suche nach einem Abschleppwagen ergebnislos zurückgekommen. Auf unseren Wunsch erhielten wir gegen geringe Entlohnung, eine einheimische Wache für das invalide Auto zur Verfügung gestellt. Wahrscheinlich war es dem Mann zu kalt und zu gefährlich, denn er blieb nur eine Nacht. Was ein paar Tage später Folgen hatte.
Langsam brach die Dämmerung herein und der Gendarm verabschiedete sich auffällig hastig. Es gab um diese Tageszeit zwar kaum Verkehr, blieben trotzdem die Standlichter unseres Fahrzeugs aus Vorsicht eingeschaltet. Wir machten uns Gedanken über die französischen Besitzer der Farm, sind sie geflüchtet, vertrieben oder gar ermordet worden? Auch waren wir nicht sicher, auf welcher politischen Seite der Gardien des Hauses stand, und ob er uns vielleicht in der Nacht umbringen wird? Mit düsteren Gedanken und einer wachsenden Paranoia schlüpften wir in unsere kuscheligen Schlafsäcke. Da das Quartier mitten im Krisengebiet lag, schliefen wir mit geladenen Waffen in Griffweite. Plötzlich rissen uns lautes Gerenne und Gepolter aus tiefem Schlaf. Die Geräusche kamen von oberhalb der Zimmerdecke. Anscheinend spielten einige Ratten am Dachboden Fußball, zumindest klang es so. Außer diesem erschreckenden Ereignis gab es in dieser ersten Nacht keine besonderen Vorkommnisse.
Eine lange Zeit des Wartens auf eine neue Achse begann, die unsere Geduld und Nerven schwer auf die Probe stellte. Wir alle hatten triftige gemeinsame sowie persönliche Gründe dafür, die Expedition erfolgreich fortzusetzen. Ein Abbruch stand deshalb niemals zur Diskussion. Die Batterie des Autos war am nächsten Morgen wenig überraschend absolut leer. In El Affroun fanden wir einen Mechaniker, der einen Wagenheber mit Rädern mitbrachte. Damit gelang das Verschieben des Ubu. Von jetzt an stand er korrekt am Straßenrand. Doch kostete diese Aktion wiederum 500 Francs. Der freundliche Gendarm besuchte uns und erzählte von einem heute Nacht stattgefundenen Überfall der Fellaghas. In circa fünfzehn Kilometern Entfernung von hier fanden etliche Pied Noires dabei den Tod. Als am nächsten Tag wieder von einem Angriff auf ein französisches Munitionsdepot in unmittelbarster Nähe berichtet wurde, beschlossen wir, unsere Sicherheit zu organisieren und Räume wie Leben taktisch zu verteidigen.
Am Abend waren wir mit einem ausgeklügelten Plan bereit, dem Angriff einer Division blutrünstiger FLN-Kämpfer standzuhalten. Im Falle einer Attacke sollte Walter mit seinem zur Jagdwaffe umgebauten Kriegsveteranen, einen Karabiner K 98, den linken Haupteingang im Vorraum verteidigen, Max, der zwischen uns sein Lager hatte, würde mit der Schrotflinte das rückwärtige Tor vor Eindringlingen schützen. Mir fiel die Aufgabe zu, mich hinter dem Ölfass zu verschanzen, und von dort den Schlafraum und dessen kostbare Inhalt sowie das Fenster mit meiner 7,65 mm-Pistole zu sichern. Nach dieser taktischen Besprechung malten wir einen Wegweiser: „Villa Achsbruch – 100 Meter“ und stellten ihn gut sichtbar oben an der Straße auf. Wir hofften, dass uns dadurch eventuell vorbeireisende Landsleute und Besucher leichter finden, seien wir tot oder lebendig. Darüber hinaus sollte es ein Signal für die FLN sein, dass hier weder Franzosen, noch Pied Noirs wohnen. Selbstverständlich schliefen wir wieder mit geladenen Waffen bei der Hand.
Im sicheren Gefühl unserer Kampfstärke dachten wir am nächsten Morgen an das, dem Rektor der Veterinärmedizin der Universität, Prof. Marinelli in Wien gegebene Versprechen, möglichst zahlreich Tiere zu fangen und heimzubringen. Nicht unbedingt wegen der zu erfüllenden Aufgabe, mehr als Beschäftigungstherapie, beschlossen wir die Jagd nach Schlangen aufzunehmen. Obwohl es in der Gegend sicher viele davon gab, fanden wir keine. Der neuerliche Wintereinbruch mit Schnee und Eis hat sie offensichtlich in ihre Höhlen getrieben. Dafür brachte Walter einen dicken Igel von der Jagd mit, den wir nach einer Comicserie prompt „Mekki“ tauften. Fleißig wurden trockene Äste zum Heizen gesammelt, denn es ist empfindlich kalt geworden. Niemand von uns hatte mit solchen Minusgraden in Afrika gerechnet. Der Kamin rauchte und qualmte dermaßen, dass wir wegen drohender Erstickungsgefahr die Fenster öffnen mussten, was uns in dieser Nacht fast erfrieren ließ.
Am nächsten Tag tauchte eine Abordnung Einheimischer auf und bei Kaffee wurde ausgiebig geplaudert. Auf deren Fragen erklärten wir ihnen offen, wer wir sind und was uns hierher verschlagen hat. Vorsichtshalber behandelten wir sie überaus freundlich, man kann ja nie wissen, ob sie nicht Informanten für die Fellaghas, oder gar selbst welche waren. Da französisch gesprochen wurde und ich recht wenig von der Unterhaltung verstand, zog ich alleine los, um zwischenzeitlich zu jagen. Eine betörend bunte Kröte und eine beachtenswert große Schildkröte waren die Ausbeute. Max, den die freundlichen „Nachbarn“ bereits verlassen hatten, sah Letztere und schwärmte laut mit glänzenden Augen von einer Schildkrötensuppe. Später am Tag war Mackie und Walter das Jagdglück hold und sie kehrten mit einer Schlange heim, Max hat sie mit der bloßen Hand gefangen. Niemand war in der Lage zu bestimmen, ob und wie giftig sie ist. Es entwickelte sich eine spannende Diskussion über die Merkmale, an denen man eine giftige von einer ungiftigen Schlange unterscheiden kann. Total verunsichert steckten wir sie in einen hohen, von der Fa. Semperit gespendeten Bottich. Bald darauf bemerkten wir, dass sich die Grundlage für die Schildkrötensuppe ihrer Bestimmung entzogen hatte und geflüchtet war. Dafür fürchteten wir, dass die still in sich ruhende Schlange dem Hungertod nahe sein könnte. Solch tragisches Ende versuchten wir mit einer gefangenen Maus abzuwenden. Nachdem dieses niedliche graue Tierchen mehrmals über Körper und Kopf des aus Angst vor dem wilden Tier wie gelähmt daliegenden Reptils gestolpert war, sprang das Mäuslein aus dem Gefäß und verschwand auf Nimmerwiedersehen. Womöglich lebte diese Schlange vegetarisch?
Wir erfuhren vom Gardien, dass in der Dunkelheit erneut ein tödlicher Überfall in unmittelbarer Nähe verübt worden war. Worauf wir uns frustriert in unser Zimmer zurückzogen. An diesem Abend kochte Max eine arabische Spezialität! Es waren „Pois chiches“ (Kichererbsen). Er hat eine große Menge davon zugestellt und würzte das Gericht äußerst scharf. Trotz stundenlangem Kochen im Druckkochtopf blieben die Hülsenfrüchte steinhart. Der Verzehr dieses widerstandsfähigen Gemüses gestaltete sich mühsam. Während des ausgiebigen Abendessens hob ein langes, wohlabgewogenes Gespräch über Kunst im Allgemeinen und im Speziellen an. Zunächst von einer seltenen Ernsthaftigkeit geprägt, dann zunehmend von einigen Flaschen „Vin de Pays“ durchdrungen. Mit Taschenlampen und überschäumendem Enthusiasmus gingen wir danach auf eine abenteuerliche Mäusejagd. Doch die winzigen Bewohner unseres Quartiers erwiesen sich als geschickter, und so kehrten wir ohne Beute in unsere Schlafsäcke zurück.
Missgelaunt und mit Sodbrennen erhoben wir uns bei Tagesanbruch. Das Warten auf die Ersatzachsen und die erzwungene Untätigkeit zerrte an unseren Nerven. Mackie, der Zivilisation entronnen, lässt sich einen Bart wachsen. Täglich marschierten zwei von uns zur Post in El Affroun und versuchten, nach Wien zu telefonieren. Die Versuche blieben erfolglos. Zur Abwechslung erschienen die „Teutonen“ Hermann und Ernst mit einer Wienerin und deren beiden jugendlichen Töchtern im Schlepptau. Die Freunde haben ihren Plan, die Sahara mit dem Käfer zu durchqueren, aufgegeben und kamen, um sich verabschieden. Sie mussten wieder zurück nach Köln. Sie berichteten, dass Feichtinger, die Kontaktperson, dies war der Pächter des „Rondell“ in Wien, von unserem Wunsch über drei Ersatzachsen sowohl schriftlich, als auch telegraphisch in Kenntnis gesetzt worden sei.
In der Zeit, da die anderen im Haus bei einem Kaffee plauderten, nahm ich eine Machete und lud die beiden Mädchen zu einer Erkundung der Umgebung ein. Walter ließ es sich nicht nehmen die kleine Expedition zu führen, und eilte voraus. Ich war gewissermaßen die Nachhut. Vor allem der Anblick der seinerzeit äußerst modernen, über dem Gesäß recht enganliegenden, und dadurch meine Phantasie beflügelnden Keilhosen der vor mir gehenden jungen Damen war entzückend. Von Zeit zu Zeit fuhr sich die jüngere der beiden, Linda, mit den Händen auflockernd unter ihr schulterlanges Haar, um es gleich wieder mit einer unnachahmlichen, schnellen Kopfbewegung fallen zu lassen. Verloren in diese Ansichten verfehlte ich beim Überqueren eines Baches einen Stein. Der Länge nach fiel ich in das eiskalte, klare Wasser, was meiner Selbstsicherheit und dem galanten Eroberungsdrang ein unrühmlich abruptes Ende setzte. Zurück im Quartier verabschiedeten sich unsere Besucher nach einem maßvollen Abschiedstrunk, und wir blieben wieder allein, nur mit uns selbst und den Herausforderungen unserer ungewöhnlichen Situation.
Walter buk zum Abendessen Palatschinken. Diese Jahrhundertwerke der Kochkunst erreichten langanhaltende Berühmtheit. Unser Kassenwart nahm dazu Mehl, eine Prise Salz und vermischte die Zutaten mit klarem Wasser. Dann verteilte er den daraus gewonnenen flüssigen Teig in eine schwach oder gar nicht eingefettete Stielpfanne und ließ ihn sorgfältig am Feuer auf beiden Seiten bräunen. Das Produkt wurde der Pfanne entnommen, mit einer Sardine belegt, etwas Öl aus selbiger Dose beträufelt und so verzehrt. Der Geschmack war einfach, aber in unserer Situation erschien uns dieses Mahl wie eine königliche Delikatesse.
Da die nach rückwärts hinausführende Türe nicht zu versperren war, musste sie verbarrikadiert werden. Bevor wir uns in das Schlafzimmer zurückzogen, türmten wir alles zu findende Tischgeschirr aus Porzellan und einige Gläser aus dem Schrank vor die nach innen öffnende Türe. Der Plan war einfach, sollte die Tür von außen geöffnet werden, würde der fragile Turm mit lautem Klirren einstürzen und uns wecken. Beruhigt und in Erwartung friedlichen Schlafes verkrochen wir uns in die Schlafsäcke.
Doch in der Einschlafphase weckte uns Höllenlärm. Mackie warnte mit dem Ruf „Fellaghaaas“! Unser minutiös vorbereiteter Verteidigungsplan musste jetzt in die Tat umgesetzt werden. Diesem taktischen Meisterwerk gemäß sprang Walter von seinem Lager auf und raste in den Vorraum. Leider verdeckte die geöffnete Schlafzimmertüre den dahinter stehenden Karabiner, und lief ohne eine Waffe hinaus lief. Ich bekam das mit, konnte meinen unbewaffneten Freund Walter doch nicht im Kugelhagel der Freiheitskämpfer sterben lassen, und eilte ihm mit geladener 7,65 er zu Hilfe. In der Dunkelheit umkreisten wir gemeinsam das Haus und fanden keine Angreifer. Im Vorraum bot sich uns ein chaotisches Bild, Scherben bedeckten den Boden, der einstige Geschirrturm war ein Trümmerfeld. Zurück in unserem Raum hörten wir ärgerliches Stöhnen. Mackie wand sich auf der Matratze und versuchte vergebens, den verklemmten Reißverschluss seines Schlafsackes von innen zu öffnen. Wir befreiten ihn aus dieser misslichen Lage und untersuchten nochmals bei Licht den Vorraum. Igel Mekki zog unschuldsvoll grunzend seinen Weg durch die Scherben des Geschirrs. Daraufhin entschieden wir einstimmig, dieses Tier nicht der Wissenschaft zugänglich zu machen, sondern ihn bald als Bereicherung unserer fleischlosen Kost zuzuschießen.
Am nächsten Tag erhielten wir Besuch von drei französischen Offizieren. Wir sollten Einquartierung bekommen. Nachdem die Herren die Beengtheit der Wohnmöglichkeiten gesehen hatten, fuhren sie unverrichteter Dinge wieder ab, nahmen aber freundlicherweise Mackie und mich nach El Affroun zur Post mit. Weder ein Brief, noch ein Telegramm waren aus Wien angekommen. Müde und gedrückter Stimmung erreichten wir wieder die Villa Achsbruch. Walter empfing uns mit einem Druckkochtopf voll köstlicher Suppe, die geschmacklich kaum von Hühnerbrühe zu unterscheiden war. Nach deren Genuss teilte uns der Koch mit, dass die Basis dieser Speise Mekki gewesen sei. Na ja, immerhin war Walter ja vor einiger Zeit Jäger, der sogar Antilopen vortrefflich zuzubereiten wusste. Kurz darauf kam unser Gardien mit einer großen Schüssel Couscous, die er uns stolz überreichte. Seine Frage nach dem Wohlergehen des Igels überhörten wir geflissentlich.
Später am Nachmittag marschierten wir zur Straße hinauf zu unserem dreibeinigen Père Ubu, um ihn mit Pflöcken abzustützen. Dabei entdeckten wir, dass zur Nachtzeit in das Auto eingebrochen, das Kurzwellenradio ausgebaut und gestohlen wurde. Dieses Radio war nicht zur Unterhaltung bestimmt, sondern bildete in vordigitalen Zeiten die einzig mögliche Informationsquelle und Verbindung zur Welt. Wir beschlossen, ab da den Wagen in der Dunkelheit nicht mehr unbeaufsichtigt zu lassen. Und so kam es, dass ich die erste Wache von 19:00 bis 22:00 Uhr zugeteilt bekam. Daran anschließend waren Max und Walter jeweils auf zwei Stunden mit ihren Waffen zum Wacheschieben dran. Ich wurde um 4:30 geweckt, da ich meinen Turnus bis 7:00 Uhr anzutreten hatte. Am Nachmittag kam der Besitzer der angrenzenden Farm, ein gebürtiger Russe, zu Besuch. Er wollte uns helfen, das Auto zum Haus hinunter zu bringen. Es ist aber zu schwer und bewegt sich nicht. Walter begleitete den freundlichen Nachbarn zu dessen Farmhaus. In seiner Abwesenheit versuchten Mackie und ich, das Couscous zu vertilgen. Mit mäßigem Erfolg. Umso freudiger begrüßten wir Walter, denn er kehrte von seinem Besuch beim Russen mit zwei Hasen, Wein und Orangen zurück. Das ergab abends ein festliches Mahl! Da die Zeit seiner Wache gekommen war, verzog sich Walter in den Père Ubu, dieweil Mackie und ich um die folgenden Nachtwachen würfelten. Das Schicksal meinte es nicht gut mit mir, ich durfte als Nächster in die kühle Nacht hinaus.
Im Laufe dieser Wache erschienen gegen 23:00 Uhr zwei schwer bewaffnete Polizisten beim Auto. Sie wollten unsere Papiere überprüfen. Ich führte sie ins Haus hinunter, wo alle Dokumente aufbewahrt waren. Nach eingehender Prüfung waren Sie zufrieden und wir tranken Mokka miteinander. Es war ein Moment unerwarteter Gastfreundschaft, der mich für kurze Zeit die klirrende Kälte vergessen ließ. Zurück im Auto holte mich die Realität jedoch schnell wieder ein. Es war saukalt, die Temperaturen lagen unterhalb des Gefrierpunkts. Ein fieser Schneeregen tat das Übrige, damit die Wachezeiten so ungemütlich wie möglich wurden. Um dem eisigen Klima zu trotzen, hatten wir uns in Schichten von Kleidung gehüllt, die in etwa so viel Bewegungsfreiheit ließen wie ein mittelalterlicher Ritterharnisch. Dementsprechend hatten wir unter den praktischen Overalls eine Menge Kälte isolierender Kleidung an, was uns Gangweisen und Bewegungen ähnlich Robotern beschied. Dieses Aufgebot an Isolierung brachte allerdings einen unerwarteten Nebeneffekt mit sich, denn musste man den unweigerlichen Forderungen des Stoffwechsels nachgeben, wurde jede Entkleidung zur akrobatischen Meisterleistung, allerdings ohne Applaus und mit garantiertem Wärmeverlust.
Der Morgen begann besser. Noch bevor die Sonne aufging, weckte ich die Schläfer im Haus singend mit einer schwungvollen Interpretation von „I’m dreaming of a White Christmas“, denn es hatte in der Nacht erstmals heftig geschneit, die umliegenden Höhenzüge waren weiß überzuckert. Selbst die Wiesen ringsum hatten eine dünne, glitzernde Decke erhalten. Im Laufe des Tages schmolz der weiße Traum weg, um am Abend wiederzukommen. Nach etlichen missglückten Versuchen zog der Kamin endlich und wärmte unter Stimmung verbreitendem Knistern unsere Stube. Das trug zu einer gewissen allgemeinen Zufriedenheit bei. Für kurze Momente fühlten wir uns beinahe wie in einem Weihnachtsmärchen, allerding auf Ersatzachsen statt geschenke wartend. Diese kurze Phase der Zufriedenheit sollte jedoch nicht von Dauer sein. Der Krieg, von dem wir bislang nur in der Ferne gehört hatten, würde uns bald auf beunruhigende Weise sehr viel näher kommen.