François erkundigt sich beim Frühstück nach dem Erfolg der von Akamouk und mir unternommenen Kamelsuche. Ich erzähle ihm von den Erlebnissen und von der durch eine Düne verschütteten Siedlung, die mein Mitgefühl für die armen vom Sand vertriebenen Menschen weckte. Er meint, das sei eine typisch europäische Betrachtungsweise solcher Ereignisse. Der Wüstenbewohner betrachtet das als Kismet, das erspart ihm eine Menge Aufregung. Dazu sind die Bewohner dieser Oasen Halbnomaden und emotional nicht an Orte gebunden. Sie suchen in den Weiten der Sahara eine andere Stelle, die ihnen das zum Überleben notwendige Wasser und genügend Nahrung für ihr Vieh bietet. Eine derart gewaltige Wanderdüne ist eine unaufhaltsame Katastrophe, für jeden sichtbar und abzuschätzen. Die Bewohner eines dem Untergang geweihten Dorfes wissen das und treffen rechtzeitig Vorkehrungen. Obwohl der Sand mit dem drohenden Wandel des Klimas nichts zu tun hat, vergleicht François die im Grunde verschiedenen Faktoren miteinander. Die Afrikaner, egal welcher Hauttönung, die sich ihre natürlichen Sensoren trotz des kolonialistischen Einflusses bewahrt haben, erahnen vielfach, was auf sie zukommt. Im Fall des wandernden Sandes können sie das Herannahen des aus Erfahrung Unvermeidlichen sehen, ja greifen. Bei uns liegt die Sache anders. Wir sind in unseren Kulturkreisen ausschließlich auf Informationen bezahlter oder freier Wissenschaftler angewiesen. Die liegen in ihren Aussagen aber weit auseinander, sodass sich Unsicherheit und Sorgen aufbauen.
François ist so richtig in Fahrt, er kommt zu meinem Tisch herüber, an dem das Frühstück in Ruhe verzehrt werden will. Ich genieße den ausgezeichneten Ziegencamembert, den Michelle nur selten herausrückt, weil der Transport dieser Köstlichkeit hierher schwierig und kostspielig ist. Der alte Pied noire macht sich Sorgen um Europa, denn er kann einige Fernsehsender von Satelliten empfangen, und verbringt nicht wenig Zeit mit Radiohören. Obwohl seit Jahrzehnten von arabischer Kultur umgeben, ist er Franzose geblieben. So meint er, dass verschiedene Umweltorganisationen radikale Züge anzunehmen scheinen. Sicher nicht ohne Absicht wurden die beiden, zwar nahe beieinander liegenden, dennoch unterschiedlichen Themen Umweltschutz und Klimawandel zu dem Begriff Klimaschutz zusammengezogen. Weltweit werden nach dem Vorbild der ehemaligen Kulturrevolution in China ungezügelte Demonstrationen organisiert. Die durch den natürlichen Klimawandel ausgelösten Katastrophen bringt man mit den durch die Menschen herbei geführten oder verstärkten Unregelmäßigkeiten in der Natur in Verbindung. Inzwischen ist Michelle aus der Küche gekommen. Sie hört eine Weile zu und verdreht hinter seinem Rücken ihre Augen zu einem unsichtbaren Himmel. Den Redeschwall unterbricht sie mit der Mitteilung, dass ein paar Lebensmittel zur Neige gehen, die bestellt oder in Bordij Mokhtar eingekauft werden müssten. Das verschafft mir die Ruhe für den Verzehr des Restes der Mahlzeit. Im Weggehen wirft mir François die Bemerkung hin, dass es sicher von Bedeutung sei, dass man heranwachsende Mädchen und junge Frauen als Galionsfiguren für diese Bewegung heranzieht.
Mit dem von ihm angesprochenen, aber nicht aufgelösten Thema verschwindet er und lässt mich bedrückt und gedankenvoll allein sitzen. Demnach schweige ich. Freilich, im Verlauf seines eruptiven Vortrags hat er genauso wenig um meine Stellungnahme gebeten. Michelle meint entschuldigend, ihr Mann würde täglich Fernsehen und es gäbe niemand, dem er sich mitteilen könne. Ich widme mich den Resten des Frühstücks. Dabei fällt mir auf, dass sich die „Wilden“ Afrikas diesen Problemen wesentlich pragmatischer nähern, als die „Zivilisierten“ Europas. Afrika war der erste Kontinent, der dem beginnenden Klimawandel durch lange Perioden von Dürre, abwechselnd mit verheerenden Überschwemmungen ausgesetzt war. Zuerst machte sich die Klimaänderung in Eritrea und Äthiopien bemerkbar, später in Somalia und den Sudanstaaten. Von Ostafrika bewegten sich die Katastrophen gegen Westen. Die am schwersten betroffenen Gebiete lagen und liegen in der Sahelzone. Sie zieht sich wie ein Gürtel über den gesamten Kontinent. Die über lange Zeit anhaltenden Dürreperioden trafen die dort liegenden Staaten überaus hart. Kolonialmächte und einflussreiche Kunstdüngerfirmen hatten gemeint, die Länder ihres jeweiligen Einflussbereichs mit Getreidesorten beliefern zu müssen, die zwar in gemäßigten Klimazonen mehr Ertrag bringen, für Afrika aber nicht ausreichend widerstandsfähig sind. Damit wurden schrittweise die ursprünglichen, wetterresidenten Sorten nahezu ausgerottet. Die neu eingeführten Getreide müssen jedes Jahr frisch gesät werden, was für die afrikanischen Bauern wegen der hohen Kosten unerschwinglich ist. Seit einiger Zeit sät man die bodenständigen Getreidesorten wieder, da sie ein paar Jahre Dürreperioden unbeschadet überstehen. Darüber hinaus hat man vor einem Jahrzehnt das internationale Projekt gestartet, im gesamten Sahelgebiet Millionen Bäume zu pflanzen, in der Erwartung, damit Feuchtigkeit anzuziehen. Ein wissenschaftlich absolut begründetes Verfahren. Es ist ein unterschiedliche Völker und Staaten übergreifendes Unternehmen, bei dem allerdings der Erfolg im erhofften Umfang bisher ausblieb. Man verlegt sich zurzeit darauf, kleinere, überschaubare Gebiete zu bewalden. Dadurch sind die Aussichten auf Bewässerung etwas größer. Die Bauern, die solches realisieren, werden von den jeweiligen Regierungen in der Absicht unterstützt, in einigen Jahren die gesamte Sahelzone von jenen Grünzellen aus wieder fruchtbar zu machen.
In Gedanken verloren klettere ich die Stiege hinauf in das Refugium. Über die emotional geprägten Worte von François bin ich verärgert. In solcher Stimmung kann man nicht schreiben. Somit lasse ich mich auf mein Bett fallen und verfolge mit den Augen eine Fliege, die auf der Zimmerdecke herumkrabbelt. Sie läuft aufgeregt im Zickzack, gelegentlich hebt sie mit Gebrumm ab, um gleich darauf wieder zu landen und ihre eckigen Krabbelbewegungen fortzusetzen. Meine Sympathien sind bei dem munteren Insekt. Diese Spezies hat einige Millionen Jahre trotz wechselnder Eiszeiten, Hitzeperioden mit Überschwemmungen und Trockenzeiten überlebt. Zeiten, in denen viele Arten ausgestorben sind.
Ein wesentlicher Grund für meinen Aufenthalt hier ist abhandengekommen. Die Fahrt in die Wüste war von Überlegungen geleitet, weit weg von solchen Ereignissen und medialen Nachrichten in abgeschiedener Ruhe an den Erinnerungen zu arbeiten, diese niederzuschreiben und dadurch gewisse Selbsterkenntnis zu erfahren. An die ersehnte Unerreichbarkeit, und damit uneingeschränkte Selbstbestimmung ist in unserem Zeitalter der allgemeinen Kontrolle nicht einmal hier mehr zu denken. Die von François in seinem gefühlsbetonten Ausbruch behandelten Themen betreffen weltumspannend Mensch und Tier. Sogar hier in der Abgeschiedenheit gibt es davon kein Entkommen. Über diesem Grübeln nicke ich ein.
Lästiges Kitzeln im Gesicht setzt dem Schläfchen nach einigen Minuten ein Ende. Die Fliege hat Lästiges Kitzeln im Gesicht setzt dem Schläfchen nach einigen Minuten ein Ende. Die Fliege hat den Ort ihrer Emsigkeit auf mich verlagert, sie scheint Geschmack an meinen Segregationen gefunden zu haben. Mehrmals verscheuche ich sie, sie bleibt ein Weilchen weg, um sich gleich darauf mit Gebrumm wieder auf meiner Stirn niederzulassen. Dieses Spielchen wiederholen wir öfters, wobei die Abstände zwischen Flucht und Wiederkommen immer kürzer werden. Sie testet die Schnelligkeit meiner Reaktionen. Da der Kampf gegen die Fliege aussichtslos erscheint, begebe ich mich zum Arbeitstisch, starte den Computer und habe vor zu schreiben. In bewährter Sitzposition müssten Konzentration und Kreativität von selbst kommen. Endlich finde ich eine ausgezeichnete Formulierung für den Beginn des Kapitels, da berührt die Hand, welche die Computermaus führt, ein zarter Luftzug. Die Fliege landet auf meinem Handrücken. Eine kurze Bewegung vertreibt die „musca domestica“. Alles, was Recht ist, aber bei der Arbeit ist solch ein Besuch ausgesprochen lästig. Sie macht sich nicht die Mühe weit wegzufliegen, sie kommt in Abständen von Sekunden wieder und immer wieder. Meine Konzentration und die lange gesuchte Formulierung sind verloren.
Ärger ergreift langsam von mir Besitz, und ich beschließe, das anhängliche und lästige Biest zu fangen. Ich habe mir den Trick angeeignet, Fliegen mit einer schnellen Bewegung von rückwärts zu erwischen. Ohne sie zu verletzen gelingt es mir, die sich heftig Sträubende nach draußen zu transportieren und in die Freiheit zu entlassen. Aber diese Fliege hat nicht vor, sich irgend woanders, als auf meinem rechten Handrücken niederzulassen. Als Rechtshänder ist es unmöglich Fluginsekten, noch dazu derart clevere, mit der linken Hand zu erwischen. Wie zu erwarten, landet sie wieder und hebt an, genüsslich Nahrung von meiner Haut zu saugen. Sie hat erkennbar eine schmackhafte Stelle gefunden, denn ihr winziger Rüssel bewegt sich saugend wie wild auf und ab. Aus Begeisterung über das Festmahl merkt sie nicht, dass ich mit ihr behutsam zum Eingang gehe. Langsam drücke ich die Türklinke mit der linken Hand hinunter, trete einen Schritt hinaus und schüttle mit einer heftigen Bewegung den Quälgeist ab. Lautstark fällt die Türe ins Schloss, und ich genieße den Erfolg, endlich wieder allein zu sein. Habe ich bereits erwähnt, dass dieses Tier schlau ist? Auf jeden Fall summt sie trotz meiner taktisch genialen Aktion wieder bei mir im Zimmer herum. Doch scheint sie begriffen zu haben, dass ich sie, zumindest bei der Arbeit, nicht auf mir haben will. Jetzt macht sie dort oben wieder ihre Lauf- und Flugübungen und zieht ihre Platzrunden. Erneut wirkt Ihr Summen beruhigend auf mich, die Konzentration kehrt zurück und ich hacke meine Sätze in den Computer. Nach einer Pause ungewöhnlicher Stille stattet sie dem Bildschirm einen kurzen Besuch ab. Sie sucht sich eine geeignete Stelle, hinterlässt eine winzige Fäkalie als grammatikalisch völlig falsch gesetzte Interpunktion und verschwindet rasch aus meiner Reichweite. Ob das ihre Art von Kritik an meiner Arbeit ist?
Die Versunkenheit ins Schreiben und die bewegenden Erinnerungen an die tief eindrucksvollen Ereignisse aus mehreren Jahrzehnten, lassen mich Raum und Zeit vergessen. Es ist spät am Nachmittag, die Fliege hat zu summen aufgehört und absolute Stille umfängt mich. Vielleicht ist meine Zimmergenossin müde geworden, oder am Ende ihres kurzen Lebens angekommen. Apropos Leben, ich mache mir Sorgen um Akamouk, er ist schon zwei Tage unterwegs, und ich blicke in die Richtung, aus der er kommen sollte. Wenn er bis morgen früh nicht da ist, werde ich losfahren, um ihn zu suchen.
Das Fetischfest hatte noch nicht begonnen, aber auf dem Platz tummelten sich schon viele Menschen. Unter den zahlreicher werdenden Gästen aus der näheren und weiteren Umgebung von Begouriou Tondo Kangé erkannte ich einen Marabut wieder, der in Téra, beim Fest zum Ende des Ramadans vor gläubigen Moslems gepredigt hatte. Weder Yabilan, der Fetischeur, noch der Häuptling des Dorfes waren zu sehen. Den Himmel überzog eine Dunstschicht, die zwar wie ein Streufilter wirkte und die Kontraste milderte, doch die Intensität der Sonnenstrahlen nicht verhinderte. Das Blech des IFA wurde derart erhitzt, dass es gut möglich gewesen wäre, darauf Eier zu braten. Unter den wallenden Gewändern und Boubous dampfte es, die Gesichter waren nass vom Schweiß. Der den schwarzen Afrikanern eigene, ausgeprägt süßliche Geruch verbreitete sich über den Platz. Ich hatte keine Zeit, weitere Beobachtungen anzustellen, denn ich musste meine Arbeitsgeräte zusammenstellen. Einer der beiden schweren Akkumulatoren und die Kiste mit dem Einankerumformer stellte ich neben das Auto, auf den Rücksitz das Magnetophon und die beiden Messgeräte, den Spannungs- und den Zungenfrequenzmesser. Diese Geräte mussten in der richtigen Reihenfolge hintereinander angeschlossen werden. Vor allem der Frequenzmesser war von entscheidender Bedeutung, weil das Tonbandgerät auf Schwankungen empfindlich mit Störgeräuschen reagierte. Letztlich war alles aufgebaut und der Probelauf fiel zu meiner Zufriedenheit aus.
Banjou zeigte sich an Technik interessiert und hat mir beim Ausladen geholfen. Er brachte es fertig, die Menge davon abzuhalten, mir die Sicht zum Geschehen zu verstellen und eine Gasse für das am Boden schleifende Mikrofonkabel freizumachen. Wie er das schaffte, wusste ich nicht, wahrscheinlich hat er den Leuten erzählt, ich sei ein weißer Zauberer. Der eingehaltene Respektabstand sprach für diese Annahme. Ich stieg wieder aus dem, trotz offener Fenster aufgeheizten Wagen. In dem Moment erschienen die ersten Hole N’Keinas, die Geistermusiker. Sie hatten Zugtrommeln, mit Schlangenhäuten bespannte Godijehs, das sind Streichinstrumente, die entfernt an unsere mittelalterlichen Gamben erinnern, und mit einem Bogen ähnlich gespielt werden. Daneben waren in den Erdboden eingelassene Hälften von Kalebassen. Die wurden mit speziell zusammengeflochtenen handlichen Besen geschlagen und verliehen der Begleitmusik einen ausgefallenen Reiz.
Kopecky streunte am Platz herum und fotografierte begeistert das bunte Treiben. Das Fest, das sicher einmalige Szenen bot, sollte erst beginnen und er verschwendete kostbares Filmmaterial? Unvermittelt trat rundum Stille ein, nur ein Hahn krähte aus der Ferne. Yabilan erschien. Groß, schlank, aufrechte Haltung wie ein General der KuK-Armee. An der Spitze des Kinns deuteten ein paar graue Haare einen Bart an. Unter dem traditionellen dunkelblauen Überwurf der Touareg blitzte sein weißer Boubou an der Seite hervor. Am Kopf trug er eine Mütze, ähnlich einer übergroßen Baskenmütze. Sich des ihm entgegengebrachten Respektes bewusst, strahlte er hypnotische Kraft aus. Begleitet wurde er von Frauen in weiten weißen Gewändern. Diese Gruppe übte dienende und schützende Funktionen aus. Sie waren an ihren Frisuren, die aus unzähligen Zöpfchen bestanden, zu erkennen.
Mit dem Erscheinen Yabilan’s begannen die Hole N’Keinas ihre Zugtrommeln zu bearbeiten.
Sobald der Zauberer mit Gefolge bei ihnen Platz genommen hatte, steigerte sich das Tamtam. Ich lief sofort zu meinen Geräten und fuhr den Umformer hoch. Da kam auch schon der aufgeregte Mackie heran und holte das Mikrofon, ein AKG D 12, ab. Auf dem von der Menschenmenge freigelassenen Platz begannen sich vier Frauen mit langsamen, gemessenen Schritten zu bewegen. Das waren die „Hole Tams“, die Geisterpferde. Hole heißt Geist und Tam ist das Pferd. Das waren Yabilans Medien, durch sie sollten die mächtigen Geister sprechen.
In dieser Phase des Aufwärmens geschah nichts Besonderes, lediglich die Tamtams wurden schneller und gleichermaßen das gemessene Schreiten zum Tanz. Die Mittagshitze wurde stärker, die Hole Tams tanzten in der prallen Sonne. Die Füße der immer rasanter und wilder werdenden Medien wirbelten dermaßen dichten Staub auf, dass ich in Sorge um meine Geräte die Fenster des Autos fest verschloss. Die Tänzerinnen beugten im Rhythmus der Trommel ihre Körper, rissen die Arme in die Höhe und nach rückwärts. Sogar die Umstehenden blieben von der Wirkung der Musik und dem wilden Tanz nicht verschont. Erregt bewegten sie sich, vereinzelt wurde in die Hände geklatscht, alle Gespräche untereinander hatten aufgehört. Die Menschen standen voll im Bann des Geschehens.
Weil Banjou die Gasse für das Mikrofonkabel von Menschen freihielt, konnte ich das Geschehen mitverfolgen. Über eine Stunde änderte sich nichts, außer dass Rhythmen und Tanz immer rascher wurden. Yabilan saß die gesamte Zeit stumm inmitten seiner Gehilfinnen, ignorierte die sich wild bewegenden Gestalten und blickte scheinbar unbeteiligt vor sich auf den Boden.
Die Hitze wurde unangenehm, die Medien keuchten außer Atem, doch ihre Augen waren bis jetzt noch klar. Ein in ein langes weißes Gewand gekleideter Mann mischte sich mit ebensolchen Bewegungen unter die Tänzerinnen. Die Hole N’Keinas bearbeiteten ihre Zugtrommeln wie rasend und wurden lauter und schneller, ohne auf deren Bespannung Rücksicht zu nehmen, die ebenso an ihre Grenzen zu stoßen schienen, wie meine Technik. Ich kam mit Aussteuern kaum nach, das „Magische Auge“ befand sich fast ständig im Bereich des Übersteuerns. Die Tonbänder von BASF hielten das jedoch zu meiner Freude aus, hatten ausreichend Headroom und waren absolut tropenfest. Einer der Geistermusiker trennte sich von seinen Kollegen, begab sich in die Nähe der wild Tanzenden und begann sie laut in singendem Ton zu beschwören. Das war ein professioneller Sänger und Lobpreiser, der mit kräftiger Stimme in unzähligen überlieferten Strophen die Medien in ihrer Ekstase unterstützte.
Die Medien schleppten ihre Körper durch die Gluthitze, die ebenso mich, eingesperrt in das glühend aufgeheizte Auto, an meine Grenzen brachte. Nichts Menschliches war mehr an ihnen, die Gesichter qualvoll verzerrt stöhnten sie wie unter Schmerzen. Statt der verstummten Zugtrommeln erklangen die Godjes und die Hole N’Keinas schlugen die Kalebassen in durchdringenden, ungewöhnlichen Rhythmen. Jetzt erhob sich Yabilan, der berühmte Zauberer, warf theatralisch einen Teil seines blauen Umhangs über die Schulter und begab sich langsam auf die Tanzfläche. Ihm folgten zwei Priesterinnen. Er stand gegenüber dem Sänger der Louagen und begann mit heiserer, dabei eindringlicher Stimme die Geister, vor allem Zaberi, den Gott der Flüsse und des Wassers, zu zitieren:
„Du, die du die Augen krank hast, du wirst Feuer sehen können!“
„Du, beruhige dich, Zaberi zuliebe, der dein Vater ist!“
„Du, die du das Meer mit der Stange misst, schätze nicht, ohne vorher gemessen zu haben!“
„Du hast die Zähne faulend, aber du wirst Steine essen können!“
Yabilan näherte sich den Tanzenden, seine Stirnadern krochen wie Würmer über seinen Schädel. Er brüllte auf die Medien ein, die sich verkrampften und die Ohren zuhielten. Ekstatisch zuckten sie und verdrehten die Augen, und begannen gequält zu schreien. Mackie war mit dem Mikrofon mitten im Geschehen. Am anderen Ende des Mikrofonkabels hatte ich die Kopfhörer auf und erlebte bei gewaltiger Lautstärke das Schreien der Medien und das Gebrüll der Fetischeure mit voller Intensität direkt in den Ohren, faktisch im Kopf. Inzwischen war das Fest zu einem Höhepunkt gekommen, die Grimassen der Medien wurden unwirklicher und ihr Stöhnen und Geschrei unerträglich. Unvermutet stand Mackie neben dem Auto. Ich kurbelte das Fenster herunter und er bat mich um eine Pause. Er war am Ende seiner Kräfte. Die Aufnahme lief dabei:
Ich war froh über diese Unterbrechung. Die enorme Hitze im Auto, meine verkrampfte Haltung und der dramatische Ton mitten im Kopf hatten mich in einen irrealen Zustand versetzt. Wie in einem Rausch bewegten sich reflexartig Muskeln, wie Blutstropfen fielen Schweißperlen aus meinen Haaren aufs Gerät. Ich öffnete die Wagentüre, nahm das Mikrofon und legte es auf den Vordersitz. Dann stieg ich mehr fallend als kontrolliert aus dem Auto. Obwohl es in der direkten Nachmittagssonne sicher weiterhin siebzig Grad hatte, erschien es mir dort kühl zu sein. Typischer Schweißgeruch erfüllte die von Staub geschwängerte Luft. Banjou brachte erfrischendes Wasser aus unserer Gerba. Wir tranken die trüb gewordene Brühe dankbar wie Leitungswasser aus einer Wiener Hochquellenleitung. Die Ritualgeräusche kamen aus der Entfernung wohltuend gedämpft und wir erholten uns rasch. Mit Hilfe des Boys Banjou wechselte ich die gebrauchte Batterie gegen die geladene. Mackie und ich grinsten uns verstehend an, er warf sich wieder ins Getümmel und ich stieg in mein überhitztes „Studio“. Wir wollten dieses in Afrika selten gewordene Ritual so umfassend wie möglich dokumentieren.
Der große Zimma Yabilan schrie den Medien weiter Texte in die Ohren, die sich nie wiederholten. Ihre Zuckungen wurden stärker, sie hatten keine Möglichkeit, sich dem Zauberer zu entziehen. Der wischte den Schreienden mit einem Tuch den Schweiß und den Schaum vom Gesicht, indem er auf sie weiter einsprach. Eine der Frauen stürzte wie vom Blitz getroffen zu Boden, schrie gellend und wand sich wie bei einem epileptischen Anfall. Schreie und Stöhnen, der Sprechgesang von Yabilan und seinen zwei Gehilfen, das Wimmern der Godiehs und das Geräusch der mit Besen geschlagenen Kalebassen vereinigten sich zu einem wahnwitzigen Klanginferno.
Die Gruppe versammelte sich vor den beiden Gefäßen, dem Hampi.
Eine Frau wiederholte zwischen Stöhnen und Schreien immer nur: „Gebt mir den schwarzen Bock, gebt mir den schwarzen Bock ….!“ Damit war klar, was die Geister wünschten. Der Mann schrie in Trance: „Geht nie zu meinen Zeiten auf die Felder!“ Eilends schleppten zwei Gehilfen einen schwarzen Ziegenbock herbei und schächteten ihn. Sie hoben das Tier hoch und ließen das Blut in ein Gefäß rinnen, der Körper verschwand in der anderen Kalebasse.
Die Medien hatten sich beruhigt. Sie umstanden das Hampi, bewegten sich unangestrengt tanzend und starrten mit verglasten Augen gebannt auf Yabilan, den Zimma. Dieser trat vor die beiden Gefäße und bat den Donnergott Dongo um Wohlstand und Fruchtbarkeit für alle. „Ia“ kam es von seinen Lippen. Das bedeutete so viel wie: es ist geschehen, oder es ist getan.
Obwohl die Trommler ihre Energie in den letzten Stunden verbraucht hatten, spielten sie weiter, denn alle tanzten. Dieser Tanz war nicht mehr dämonisch, er schien Freude auszudrücken über den positiven Erfolg der Zeremonien und dass Dongo ihnen gut gesinnt war. Einzeln und gruppenweise lösten sich Menschen aus dem wirren Haufen der Tanzenden. Ein Feuer wurde entzündet, in dessen Schein ich meine Technik einpacken konnte. Mackie war mit Banjou unterwegs, Informationen einzuholen und Fragen zu klären. Ich fuhr allein die kurze Strecke bis zu unserer Hütte. Kopecky hatte sich schon vorher zurückgezogen und mit der Petroleumlampe den bescheidenen Raum beleuchtet. Er öffnete eine stattliche Flasche Rotwein, deren Herkunft unklar war und reichte sie mir. Ich nahm einen langen ausgiebigen Schluck, fiel auf meine Luftmatratze und schlief bis zum nächsten Morgen durch.
Die Rechte für die akustischen Beispiele und Originale davon findet man im Phonogrammarchiv der Akademie der Wissenschaften oder über mich.
Die Rechte aller Fotos liegen bei H. M. Prasch