Es ist ein paar Minuten vor 6:00 Uhr, der Sonnenaufgang kündigt sich am Horizont durch hellblauen Schein an. Ich verlasse das wohlig warme Bett, um in die Wüste hinaus zu fahren, Akamouk zu suchen. Die Kühle der Nacht ist in das Turmzimmer eingedrungen und ich zögere deshalb zu duschen. Zähneputzen aber ist kein Problem. Im Vorbeigehen blicke ich aus dem Fenster und sehe den Targi in seinem zeltartigen Verschlag in Decken gehüllt am Boden ausgestreckt schlafend. Er ist lautlos während der Nacht eingetroffen. Beruhigt und darüber zufrieden, dass ich nicht losfahren muss, um ihn zu suchen, kuschle ich mich nochmals in das vorgewärmte Bett. Meine Gedanken drehen sich um das nächste zu schreibende Kapitel. Erinnerungen steigen auf und formen sich zu Worten. Ich sollte Notizen machen. Der Weg zum Schreibtisch erscheint mir zu weit und ich bleibe im Vertrauen auf mein Kurzzeitgedächtnis liegen. Es herrscht diese absolute Stille der Wüste, die beruhigend, aber ebenso beängstigend wirken kann. Darüber schlafe ich nochmals ein und werde erst wieder durch die Sonne geweckt. Durch die Spalten der Jalousie wirft sie ihr Licht in hellen Strahlen, in denen Staubpartikelchen tanzen. Bei diesem Anblick erfasst mich unwiderstehlich der Gedanke, dass es manchmal reizvoll wäre, ein Sandteilchen der Sahara zu sein. Sich in der Morgensonne auszudehnen, dadurch leichter als Luft zu werden und in kühle Höhen aufzusteigen. Dort tagsüber im Schwebezustand ungestört die Erde von oben zu betrachten, um bei Sonnenuntergang wieder schwerer geworden, sachte auf den Boden zu sinken.
Es ist reichlich spät heute. Der Gästeraum ist leer, auf meinem Platz steht verwaist das unberührte Frühstücksgeschirr. Auf einem Tisch in der dunklen Ecke des Raumes liegt in Cellophan verpackt ein faltbarer Christbaum aus Plastik. Ach ja, Weihnachten ist nahe! Ursprünglich hatte ich vor, die kühle Jahreszeit für die Heimfahrt nach Wien zu nützen, doch der Rückstand bei meinem selbst auferlegten Pensum hält mich hier fest. So verzögere ich die Abreise immer wieder. Niemand ist anwesend, sogar die Küche ist verlassen. Die Stille, die ich sonst so genieße, empfinde ich heute als drückend. Auf der Suche nach etwas Kommunikation begebe ich mich in den Hof, um Akamouk aufzusuchen. Obwohl die Sonne längst schon schräg in den Hof scheint, ist es kühl draußen.
Als hätte er meinen Besuch erwartet, finde ich den Targi beim Teekochen. Freundlich begrüßen wir uns. Mit einer großen, theatralischen Handbewegung, einer Geste, die selbst einem Darsteller der Commedia dell’arte zur Ehre gereicht hätte, lädt er mich ein, auf seinem Teppich Platz zu nehmen. Ich folge der Einladung. Meine heute noch ungenutzten Gelenke knacken protestierend, als ich mich langsam auf den Boden sinken lasse. Es gelingt mir, ohne durch Schmerzenslaute meine Würde zu verlieren, in den Türkensitz zu kommen. Akamouk gießt den Tee aus beachtlicher Höhe zielsicher ein, ohne dabei einen Tropfen zu vergeuden, und reicht mir das erste Glas. Der zuckersüße Trank ist so heiß, dass ich das Glas nur am Boden mit dem Mittelfinger und am Rand mit dem Daumen halten kann. Einvernehmliches Schweigen herrscht zwischen uns. Akamouk ist durch den um den Kopf gewundenen Tegelmust total verhüllt, nur zum Trinken zieht er die Gesichtsbedeckung bis unter seine Lippen. Erst beim dritten Glas, das den Abschluss der Teezeremonie markiert, beginnt er zu sprechen.
Kurz nach meiner Abfahrt aus dem verschütteten Dorf machte er sich mit dem wiedergefundenen Kamel auf den Weg zurück. Nur wenige Kilometer von dort im Süden kreuzt ein Trek, so bezeichnen die Touareg einen vorgezeichneten Weg oder eine Fährte, von Ost in Richtung West die von uns im Wüstenboden hinterlassene Spur. Diese direkte Verbindung nach Mali wird von Bewohnern des Hoggargebirges, des nördlichen l’Aïr und Nomaden aus Libyen benützt. Dort traf er eine Karawane aus seiner Heimat. Die Reisenden erzählten ihm, dass in ihrem Teil des Hoggar Unruhe herrscht. Die Augen des Targis sehen mich offen an, während er erklärt, warum er zu mir Vertrauen gefasst hat. Ich würde offensichtlich die Afrikaner nicht aus europäischer Sichtweise betrachten, sondern wie jemand, der versucht, mit den Augen eines Einheimischen zu sehen. Die Glut in dem kleinen Kreis aus Steinen, auf dem die Teekanne steht, wechselt mit jedem zarten Windhauch ihre Helligkeit und graue Stellen entstehen an den Kanten der rot glosenden Holzstücke. Mit leiser Stimme, den Blick auf die Asche und Glut der Feuerstelle gerichtet, beginnt er zu erzählen.
In dem riesengroßen Territorium lebt eine Anzahl unabhängiger Berberstämme, lose miteinander verbunden. Von einer politischen Nation unter einheitlicher Führung, kann bei den Touareg nicht die Rede sein. Wenn man die im Laufe der Zeit eroberten, unterworfenen und besiedelten Länder im südlich gelegenen Sahel dazurechnet, ergibt sich eine Fläche, die der Gesamteuropas entspricht. Die jeweils aus einigen Familien bestehenden Stämme leben in der existenzbedrohenden Wüste in gewachsener Symbiose. Innerhalb der Clans gibt es eine strikte soziale Hierarchie. An der Spitze stehen die Imohagh, die adelige Oberschicht. Sie arbeiten nie und verrichten keine niedrigen Dienste. Stets umfassend bewaffnet treten sie ausschließlich als kriegerische Beschützer der Angehörigen ihres Stammes auf. Aus den in verschiedenen Schlachten gefangenen, meist dunkelhäutigeren Unterworfenen, besteht die Schicht der Halbfreien. Sie sind zum großen Teil sesshaft und betreiben Gartenbau und Viehzucht, haben Tribut zu leisten und unterscheiden sich in ihrem Habitus nicht von den adeligen „Rittern“. Ihre Wohnstätten sind aus Lehm gebaute Häuser, im Unterschied zu den transportfähigen Zelten aus gewebten Stoffen oder Tierhäuten der nomadisierenden Oberschicht. Dann gibt es die Schicht der meist aus Schwarzafrika kommenden Leibeigenen, welche die niederen Arbeiten verrichten. Der aus edlem Geschlecht stammende und zu seiner Würde von den Adeligen ernannte Amenokal ist zwar das Oberhaupt aller Touareg, hat aber, außer im Kriegsfall, keinerlei Befehlsgewalt. Er hat kein Recht auf Tribut seiner Untertanen, wird allerdings von ihnen durchaus respektiert und unterstützt. Akamouk löst seinen Blick von der erkaltenden Glut und wendet sich mir zu.
An der Küste im Norden Algeriens gibt es laufend politisch motivierte Demonstrationen. Sie werden von Studenten mit einem demokratischen Weltbild angeführt, deren Paradigmen in alten kommunistischen Doktrinen verwurzelt sind. Die Stimmung wird zunehmend aggressiver, und die Gewaltbereitschaft steigt täglich. Einige dieser jungen Leute, die in den Städten im Norden Algeriens Schulen und Universitäten besuchen, sind zu ihren Familien zurückgekehrt. Mit ihnen kommt ein Hauch von Rebellion, der die traditionellen Strukturen der Stammesführung bei den Touareg ins Wanken bringen soll. Sie wünschen sich bei den Touareg eine ebensolche Demokratie, wie sie von ihnen im Norden angestrebt wird. Diese jungen Gebildeten, vorwiegend den Klassen der Adeligen und der Halbfreien entstammend, planen die seit Jahrhunderten geltende Gesellschaftsform der Touareg in eine gänzlich andere Staatsform umzuwandeln. Sie hoffen, ihre in den Studentenbuden des Nordens entwickelten, umstürzlerischen Träume zu verwirklichen. Es entsteht ein Konflikt der Generationen. Die „Miaad“, eine Art Ältestenrat, soll aufgelöst und existierende Klassenunterschiede aufgehoben werden. Wobei es nicht sicher ist, ob die Sklaven in der Praxis dann ebenfalls davon profitieren. Doch die uralten Gesetze der Wüstenvölker sind archaisch und werden blutig durchgesetzt. Akamouk sagt, dass in den endlosen Weiten des Ergs ein Mensch leicht und endgültig verschwinden kann. Spurlos. Ich habe den Eindruck, dass er dabei verschmitzt lächelt. Wir schweigen, solange der Targi die letzte Glut mit Sand erstickt. In der wiederentstandenen vollkommenen Stille hören wir aus weiter Ferne Motorenlärm. Wir haben keine Eile nachzusehen, denn gemäß unserer Erfahrung kann es über eine halbe Stunde dauern, bis sich das annähernde Fahrzeug am Horizont zeigt.
Ich bedanke mich für den Tee und steige die Stufen zu meinem Dachgeschoss hinauf. Von dort kann man weiter in die Wüste sehen. Das Geräusch des Motors setzt gelegentlich aus, vielleicht, weil das Fahrzeug angehalten hat, oder es gerade in einer Senke verschwindet, die den Schall verschluckt. Die Sonne steht schon hoch am Himmel und heizt die in der Nacht heruntergekühlte Erde auf. In ziemlicher Entfernung im Westen breitet sich ein riesiger, scheinbar vom Wind bewegter See über den gesamten Horizont aus, eine meisterhafte Täuschung der Natur. Durch meinen Feldstecher glaube ich einen Geländewagen zu erkennen, der sich, eingetaucht in die Fata Morgana, in Schlangenlinien auf die Auberge zu bewegt. Er scheint in dem silbern glitzernden See zu schwimmen.
Um den Wirtsleuten den kommenden Besuch anzukündigen, steige ich wieder hinunter in die Gaststube, wo François und Michelle mit dem Auspacken des Christbaumes beschäftigt sind. Sie haben das sich nähernde Geräusch ebenfalls bemerkt und beeilen sich, das Kunstbäumchen vor dem Eintreffen der Leute fertiggestellt zu haben. Glücklich wie Kinder sind sie beim Aufstellen der Plastikattrappe und ordnen sorgfältig den spärlichen Schmuck darauf. Es entwickelt sich zwischen den beiden eine Diskussion um den endgültigen Aufstellungsort dieses christlichen Glaubensbekenntnisses, die vom Motorenlärm unterbrochen wird, der aus dem Hof ins Haus dringt.
Wir treten aus der in den Hof führenden Türe und sehen zwei Landrover der längeren Bauart und gleicher blauer Farbe, streng nebeneinender ausgerichtet. Beide Fahrzeuge sind bis zum Anschlag mit Gepäck beladen, das kunstvoll auf den Dächern gestapelt ist. Als Nachzügler fährt zuletzt ein dritter Wagen herein und hält ebenso geordnet daneben. Da scheint militärischer Drill zu herrschen, denke ich mir. Wie auf ein stilles Kommando öffnen sich alle Türen der Fahrzeuge und jeweils fünf merklich erschöpfte Personen klettern ins Freie. Zwischen ihnen hebt sich ein hochgewachsener Mann mittleren Alters ab, der, breitbeinig wie ein Seemann auf schwankendem Deck, direkt auf uns zusteuert. Er hält eine brennende Zigarette zwischen Zeigefinger und Daumen, macht einen tiefen Zug ohne sie dabei auszulassen, und reißt sie von den Lippen, wie wenn sie daran angeklebt wäre. Gleich führt er sie nochmals zum Mund, hält sie fest, inhaliert einen weiteren kräftigen Zug und zieht sie ebenso eckig wieder ab. Aus dieser Bewegung heraus schnipst er den Stummel gekonnt über einen Meter in den Sand, wo er bläulich rauchend liegen bleibt. Seiner Wichtigkeit bewusst stellt er sich den Wirtsleuten als Reiseleiter der Gruppe vor. Er spricht ein sogenanntes Küchenfranzösisch. Das rollende „R“ vorne auf der Zunge, sowie die Sprachmelodie lassen deutsche Muttersprache vermuten. Doch bevor es ihm gelingt zu erklären, weshalb die Gruppe gezwungen ist hier einzukehren, geschieht es. Aus dem zuletzt angekommenen Rover löst sich geschmeidig eine weibliche Gestalt. Ihre Bewegungen haben etwas Elegantes, fast Tänzerisches, welche meine und François‘ volle Aufmerksamkeit auf sich lenken. Scheint die Sonne mit einem Mal heller? Sogar Akamouk, der seine Emotionen nie zeigen würde und anfangs scheinbar teilnahmslos auf seinem Teppich saß, ist aufgesprungen und starrt die junge Frau an, die, sich ihrer Wirkung bewusst, nach vorne kommt und neben dem Reiseleiter Aufstellung nimmt. Ihr langes blondes Haar trägt sie offen, ihre schlanke Figur wird von hautengen, blauen Skinny Jeans und einem knapp geöffneten Slimfit-Hemd betont, das die Grenze zwischen Lässigkeit und Provokation bis ins letzte Detail auslotet. Es ist wirklich unerträglich heiß hier! Um den Hals hängt an einer Lederschnur das Croix d’Agades, das Agadaskreuz aus reinem Silber, eine Schmiedearbeit und Symbol der Touareg des l‘Aïr.
Diese Erscheinung ist ein Lichtblick in dieser einsamen Gegend, die nur selten von Frauen frequentiert wird. Und ich bin offenbar nicht der Einzige, dem ihr Anblick eine willkommene Abwechslung bietet, wie der Gesichtsausdruck von François verrät. Die meisten Besucher der Auberge sind in der Regel unansehnliche, vollkommen vermummte Gestalten oder zumindest in weit geschnittene, praktisch belüftete Kleidung gehüllt.
Radebrechend versucht der Reiseleiter zu erklären, dass der Kühler eines der Autos einer Reparatur bedarf. Ich übersetze die ihm fehlende Vokabel mit „radiateur“, damit François versteht, dass es sich um einen lecken Kühler handelt. Dem Kühlwasser bisher beigegebene Dichtungsmittel haben nichts geholfen, es muss gelötet werden. François meint, dass die Reparatur einige Stunden dauern wird, und ersucht die Herrschaften in der Gaststube Platz zu nehmen. Was jetzt aufgeregt ins Haus drängt, ist ein buntgemischter Haufen Menschen verschiedener Nationalitäten. Da François mit dem Chauffeur des defekten Wagens in die Garage verschwindet, biete ich Michelle meine Hilfe beim Bedienen der Gäste an. Schnell wird klar, dass die Truppe großen Durst mitgebracht hat. Viele Limonaden und leicht alkoholische Getränke, sowie Sandwiches werden geordert. Während ich Getränke reiche und Bestellungen notiere, erfahre ich, dass diese Reise von einem deutschen Automobilclub organisiert wurde. Der Reiseleiter hat bisher ausschließlich Reisegesellschaften in Sibirien geführt, das momentan nicht im Trend liegt. Er war vorher nie nach Afrika gereist und ist in allen Belangen auf in der Wüste erfahrene Einheimische angewiesen.
Zwei der Fahrer sind Araber aus Algier. Doch der dritte, in blaues Tuch der Touareg gehüllt, gibt an, authentischer Kel Ifogha zu sein, also Angehöriger eines altehrwürdigen Touareg-Clans. Allerdings lebt er in Oran an der Mittelmeerküste, was seine Authentizität ein wenig infrage stellt. Für einen echten Tuareg erscheint er ein bisschen zu klein geraten zu sein. Er lässt sich Ali rufen, da der Originalname für die Touristen zu kompliziert sei. Eine pragmatische Entscheidung, die seinem Geschäftssinn alle Ehre macht. Mir fällt auf, dass alle Mitglieder der Gruppe, Männer wie Frauen, ein, oder einige Kri-Kri um den Hals tragen, die durchwegs relativ neu wirken. Ali selbst baumelt ein ganzes Bündel davon auf seiner Brust. Auf meine diesbezügliche Frage meint er, dass die Roumis Talismane für die Wüste brauchen und er würde sie damit versorgen. Sicher ein einträgliches Geschäft für ihn. Die Kri-Kri sind aus Leder oder Metall gefertigt, die jeweils eine Sure aus dem Koran in sich bergen. Meist sind diese aus einem gedruckten Buch des Koran herausgeschnitten und werden willkürlich ausgewählt. Sie schützen, je nach Sure, vor Krankheit, Unwetter, Gewalt, Unfall oder anderen Gefahren.
In der Wirtsstube herrscht angenehme Kühle, und mit fortschreitender Stunde wird die Stimmung merklich ausgelassener. Das liegt zweifellos am allmählich steigenden Alkoholpegel, denn der Übergang von Limonaden zu Wein, Whisky und Pastis erfolgt nahtlos. François hat das Aggregat gestartet, die großen Deckenventilatoren drehen sich und wandeln den Schweiß der Gäste durch Verdunstung in Kühlung. Ich höre, dass der Konvoi trotz Navi von der Piste abgekommen sei und einige Sandlöcher unter oftmaligem Ausgraben der Fahrzeuge zu überwinden waren. Das waren große körperliche Anstrengungen, gepaart mit der Angst, dass das mitgeführte Wasser nicht reicht, denn der lecke Kühler hat einen Großteil des Vorrates verbraucht. Nun sind sie sichtlich erleichtert, endlich unter Menschen und in Sicherheit zu sein. Selbst unsere elfengleiche Blondine scheint sich erholt zu haben. Roswitha, so ihr Name, ist werdende Ornithologin, die ihre Dissertation über afrikanische Vogelarten schreiben möchte. Ich verkneife mir die Frage, was sie dabei in der Sahara suche, und lasse mir von ihr lieber die Gründe für das Artensterben in Europa erklären. Ihre Worte klingen klug und engagiert, aber ehrlich gesagt lenken ihre Leichtigkeit und Ausstrahlung meine Gedanken in eine andere Richtung. Zugegeben, ich fühle mich von ihrem Anblick recht angezogen. Wir trinken miteinander einen Pastis nach dem anderen, der ihr ausnehmend gut zu schmecken scheint. Gerade als ich mich im Sog ihrer Fröhlichkeit ein wenig verliere, fällt mir Akamouks Abwesenheit auf. Mit einer kurzen Entschuldigung verlasse ich das Paradies meiner Unterhaltung und begebe mich in den Hof. Akamouk, mein wortkarger Begleiter, ist nirgends zu sehen. Sein Sonnenschutz ist abgebaut und der Platz dort leer. Die frische Luft tut dem Befinden nach den Mengen Alkohol und dem rauchgeschwängerten Dunst im Haus gut. Ich gehe hinaus zu dem Ort, wo für gewöhnlich die Meharis des Targis angebunden sind. Der Platz ist leer. Selbst den Dung, den er immer sorgsam für unterwegs sammelt, hat er mitgenommen. Ich verstehe seine Flucht. Der ungewohnte Trubel muss ihm zu viel geworden sein. So hat er sich offenbar auf den langen Weg in die Siedlung seines Clans begeben, wo ihn schwierige Aufgaben erwarten.
In den Raum mit den lustigen Menschen zurückgekommen, sehe ich François im Schatten an eine Wand gelehnt, mit halb offenem Mund das sexy Mädchen anstarrend, das anscheinend ebenso seine volle Aufmerksamkeit fesselt wie zuvor meine. Er dürfte seine Arbeit an dem Motorkühler fertiggestellt haben und will sich jetzt ein kühles Bier gönnen. Das Erscheinen Michelles aus der Küche enthebt mich der Aufgabe, ihn aus seiner Trance zu wecken und aus dem Ausschnitt der Dame zu heben, denn sie macht das recht energisch. Über das vielstimmige Gewirr der Sprachen hinweg kann ich ihre Worte nicht verstehen. Doch ihre Gesten und der dazu passende Gesichtsausdruck vermitteln mir das Vergnügen eines Slapsticks. Sie zieht ihn hochroten Kopfes in die Küche und schließt die Türe. Er tut mir ja leid, denn er darf jetzt nicht mehr in die Nähe der jungen Dame, darüber hinaus ist das Bier warm, weil die Gäste das gekühlte längst ausgetrunken haben. Ich unterlasse es, neuerlich mit dem Wunder Roswitha Kontakt aufzunehmen, da sie auf dem Schoß des Reiseleiters Platz genommen hat und sich dort offensichtlich recht wohl fühlt.
Da sich der Tag seinem Ende zuneigt und selbst die Fahrer den Alkoholika ausgiebig zugesprochen haben, beschließt man, die Nacht vor Ort zu verbringen. Einige begeben sich hinaus in den Hof, um Zelte aufzustellen, wärend ein paar Unentwegte versuchen mit Decken und Schlafsäcken ein Lager in der Gaststube einzurichten. Allein gelassen mit meinen schwebenden Gedanken und einer merkwürdigen Mischung aus Glück und Seelenschmerz, ziehe ich mich schließlich die etwas schief wirkende Treppe hinauf in mein Turmgemach zurück. In einem Gemütszustand, zwischen Glück und Seelenschmerz schwankend, falle ich halb schlafend rücklings aufs Bett und erwache erst am hohen Mittag durch heftigen Bratengeruch, der sich von der Küche in mein Zimmer zieht. Wohltätige Stille herrscht wieder rundherum, die Fahrzeuge mit den Menschen sind verschwunden, und mit ihm das Lichtgestaltendrama. Ich nehme mir vor, am Nachmittag an meinem „Werk“ weiter zu schreiben:
Trotz der Strapazen, die Mackie durch das Yenendi erfahren hatte, sammelte Mackie an diesem späten Abend bedeutende wissenswerte Informationen über die Geister- und Götterwelt unseres Forschungsgebietes. Nachdem er zurückgekehrt war, widmete er sich gemeinsam mit Kopezky der eingehenden Analyse einer Rotweinflasche. Ich hingegen verschlief dieses intellektuelle Abenteuer. Wie gewohnt war es meine Aufgabe, am nächsten Morgen den Tee zu bereiten, ein unverzichtbares Ritual, um das tägliche Resochin, unser Malariaprophylaktikum, herunterzubekommen. Dabei musste ich feststellen, dass der Zucker ausgegangen oder auf mysteriöse Weise verschwunden war. Es bedurfte nur kurzer Überlegung, ihn zu finden. Nach längerem Zureden ließ Kopezky endlich seinen geheimen Vorrat aus, nicht ohne darauf hinzuweisen, wie wichtig Vorratshaltung sei. Darüber hinaus erwähnt er unser Glück, dass wir ihn, den Hüter der Reserven, dabeihätten. Sogar eine unberührte Dose gezuckerter Kondensmilch von Nestlé übergab er, ein Opfer, das ihm offensichtlich nicht leichtfiel. Beim folgenden kargen Frühstück gab uns Mackie, nun erstaunlich energiegeladen, eine erste Zusammenfassung seiner nächtlichen Erkenntnisse. Er gab uns einen Überblick über den Glauben der Einheimischen in diesem Gebiet und erklärte den tieferen Sinn des Fetischfestes.
Die Konstruktionen der verschiedenen Klassen von Halbgöttern, Göttern und Geistern in diesem Glaubenssystem weisen eine bemerkenswerte Komplexität auf, die an die polytheistischen Systeme der antiken Griechen erinnert. Ein wesentlicher Unterschied besteht jedoch darin, dass die Geistwesen nicht anthropomorph dargestellt werden, obwohl sie klare Namen und spezifische Aufgabenbereiche haben. Ein prominentes Beispiel ist Dongo, der fast allmächtige Gott der Blitze und Gewitter. Ihm werden verschiedene Naturgewalten zugeschrieben, und er besitzt die außergewöhnliche Fähigkeit, an mehreren Orten gleichzeitig zu erscheinen, selbst hunderte Kilometer voneinander entfernt. Diese Vorstellung, die an moderne Konzepte der Quantenphysik erinnert, spiegelt die Flexibilität und die Überlagerung von Räumen und Kräften in der spirituellen Welt wider. Trotz seiner Omnipräsenz delegiert Dongo viele seiner Aufgaben an Untergeister, was auf ein hierarchisches, arbeitsteiliges System innerhalb der Geisterwelt hindeutet. Harakee, die Göttermutter und Herrscherin über den Niger, gilt als Göttin des Wassers insgesamt. Sie beschützt Fischer und Jäger am Fluss vor finsteren Dämonen und treibt ihnen die Beute zu. Faran Baru ist ein eher gütiger Geist, dessen weiße Farbe symbolisch für Reinheit und Milde steht. Obwohl er kleine Krankheiten bringen kann, wird er im Allgemeinen als wohlwollend betrachtet. Im Gegensatz dazu bleibt Zaberi, ein ebenfalls weiß assoziierter Geist, in seinen Absichten und seinem Wesen rätselhaft. Seine ihm zugehörende Farbe ist ebenfalls weiß. Die Ungewissheit über seine Natur führt dazu, dass man ihn zur Sicherheit mit weißen Opfertieren besänftigt, ein Hinweis darauf, wie die Unsichtbarkeit und das Unbekannte in Glaubenssystemen oft mit Respekt und Vorsicht behandelt werden. Nicht zu spaßen ist mit Tschiree. Er ist der Geist des Krieges und des schnellen Todes, verkörpert die zerstörerischen Kräfte des Lebens. Seine rote Farbe steht symbolisch für Blut und Kampf. Es ist nahezu unmöglich, vor ihm zu flüchten, und ein Versuch, ihn zu verärgern, führt unmittelbar zu tödlichen Konsequenzen. Er verhält sich still und gelassen, aber seine Präsenz mit dem allgegenwärtigen Speer deutet auf latente Gefahr hin. Niemanden ist es möglich, vor ihm zu flüchten. Am klügsten ist es, sich mit diesem Geist gutzustellen. Denn ist er einmal verärgert worden, tötet er sofort. Folglich opfert man ihm. Da rote Opfertiere selten sind, akzeptiert Tschiree glücklicherweise auch solche mit rötlicher Färbung, was die pragmatische Anpassungsfähigkeit der Opferpraxis an lokale Gegebenheiten zeigt. Die Vorstellung, dass jede Gottheit oder jeder Geist spezifische Opfergaben in der ihnen zugeordneten Farbe bevorzugt, unterstreicht die starke symbolische Ordnung dieses Glaubenssystems. Es zeigt, wie religiöse Praktiken eng mit den verfügbaren Ressourcen, der Umwelt und den sozialen Beziehungen der Gemeinschaft verknüpft sind.
Zu den bedrohlichsten Wesen der spirituellen Welt gehören die bösen Dämonen, wie etwa Tierkee, der eine ausgeprägte Feindschaft gegenüber Zauberern hegt, den spirituellen Führern des Volkes. In seinem Hass versucht er diese Erwählten bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu töten. Statt jedoch selbst Hand anzulegen, beauftragt Tierkee seine beiden gefährlichen Gehilfen, Kasankee und Fitijari, mit der Ausführung seiner dunklen Pläne. Diese Handlanger zeichnen sich zwar durch ihre Heimtücke aus, sind jedoch weder allwissend noch allgegenwärtig. Ihre Schwächen ermöglichen es, ihnen zu entkommen oder sie gar gegeneinander auszuspielen, was wiederum an die Ränke altgriechischer Mythologie erinnert, in der Götter und Dämonen ebenfalls ständig miteinander rivalisieren. Interessanterweise sind alle diese Wesen auf irgendeine Weise miteinander verwandt. Im Zentrum der spirituellen Interaktion steht der Zima, der Zauberer, in unserem Fall ist es Yabilan. Der Zima kooperiert mit den guten Geistern, die ihm jedoch keinen direkten Schutz bieten. sie statten ihn aber mit magischen Werkzeugen aus, die ihm helfen, sich gegen das Böse zu wehren. Ein zentraler Gegenstand ist der Lola, ein langer Eisenstab, der wie ein Zauberstab funktioniert. Mit ihm kann der Zima Geistwesen beschwören, verlorene Gegenstände oder Schätze aufspüren und weitere magische Handlungen vollführen. Ein weiteres faszinierendes Element sind die Karu Bene, Menschen, die eine zeitlich begrenzte Verbindung mit Geistern eingehen, um deren Fähigkeiten zu nutzen. Die Parallelen zu Faust’schen Pakten sind hier unverkennbar: Der Wunsch, durch übernatürliche Hilfe Ziele zu erreichen, scheint eine universelle menschliche Neigung zu sein, die in vielen Kulturen literarisch und mythologisch verarbeitet wurde.
Wie bereits zuvor angedeutet, existierten in dieser Region drei große Religionsrichtungen: Islam, Fetischkult und christliche Kirchen in bemerkenswerter Koexistenz. Diese synkretistische Verschmelzung spiegelt sich nicht nur im Alltag der Bevölkerung wider, sondern auch in ihrer Bereitschaft, Elemente der verschiedenen Glaubenssysteme miteinander zu verbinden. Das Nebeneinander wurde von allen großzügig toleriert. Nur die Missionare versuchten eine Abkehr von der Urreligion zu erreichen, indem sie deren Geister als Teufel, auf Französisch „Les Diables“ bezeichneten. Mit dem Erfolg, dass die Autochthonen ihre „Hole“ in „Diables“ umbenannten, was überhaupt keinen Einfluss auf die Beziehung zu ihren mystischen Vorstellungen hatte.
Nach diesen anstrengenden und aufregenden Tagen waren wir allesamt recht erschöpft. Mehr als alles andere wünschten wir uns zurück nach Niamey, in unser Haus und Hauptquartier. Vor allem Mackie zog es mit Macht dorthin, er hat ja mit dem Mikrofon an vorderster Front „gekämpft“, arbeitete in der Hitze mittendrin im schweißtreibenden Geschehen. Seine diplomatisch geschickt durchgeführten Recherchen vor und nach dem Fest nicht zu vergessen. Ich habe den IFA wieder mit aus Erfahrung bewährter Aufteilung des Gewichtes neu beladen. So konnte man das Fahrzeug knapp davon abhalten, mit dem Heck am Boden zu schleifen. Die Wolken hingen noch tief am Himmel und kündeten von einem kurzen, aber heftigen Gewitter, das in den frühen Morgenstunden hier und in der Umgebung gewütet hatte. Dongo, der mächtige Gott der Blitze, hatte offenbar beschlossen, uns vor der Abreise noch einmal eine eindrucksvolle Demonstration seiner Kräfte zu liefern. Im Moment des Losfahrens zeigte sich kurzzeitig die Sonne, was wir als gutes Omen für die Fahrt deuteten, und unsere müde Stimmung wich freudiger Erwartung. Wir fuhren über den Dorfplatz, die Räder des Autos hinterließen im aufgeweichten Sand tiefe Spuren. Bald darauf erreichten wir die Piste, die genau genommen ein Hohlweg war, und knatterten mit unserem Zweitakter wohlgemut gegen Süden. Nach kurzer Fahrt öffnete sich der Weg. Vor uns breitete sich die von Hügeln unterbrochene Savanne bis zum Horizont aus. Es ging in die Ebene hinunter, das Auto lief wie von selbst den vorgezeichneten Weg bergab.
Im Flachen angekommen, musste ich wieder mit zwei Rädern auf dem Mittelstreifen und mit den anderen am Rand der Piste balancieren. Die Bodenfreiheit des IFA war zu gering für die von Gelände- und Lastkraftwagen gegrabenen Fahrspuren. Ich wunderte mich zwar über Autospuren, die rechts vom Fahrweg in die Grasebene führten, maß ihnen jedoch keine Bedeutung bei. Und dann war unvermutet Schluss. Vor uns lag ein die Piste überflutender See, der sich in einer Quermulde links und rechts unübersehbar weit ausbreitete. Ich hielt den IFA an. Das war so gar nicht nach Mackies Geschmack und er versuchte mich im Befehlston davon zu überzeugen, dass diese Lacke, denn nichts anderes konnte das ja sein, mit Leichtigkeit zu durchqueren sei. Meine standhafte Weigerung da hinein zu fahren, brachte das Fass zum Überlaufen. Mit einem dreifachen „verdammt, verdammt, verdammt!“, seiner bevorzugten Beschwörungsformel für Unbilden jeder Art, sprang er aus dem Wagens und stand vor einem Ereignis, das sich seinem Willen oder seinen Plänen entgegenstellte. Zornig stieg er mit seinen Clarks Desertboots ins Wasser, um dessen Tiefe zu sondieren, nach dem Motto: seht her, was ich für Euch vollbringe, meine für trockene Wüste gemachten Schuhe werden am Altar der Expedition geopfert. Er watete schon bis zu den halben Waden in der braunen Brühe, doch schon nach wenigen Schritten musste auch er einsehen, dass ich Recht hätte. Mit noch gesteigerter Missmutigkeit kehrte er um. Vielleicht hätte dieser Rückzug wenigstens einen Rest an Würde behalten, wäre er nicht ausgerutscht und beinahe der Länge nach in die Brühe gefallen. Sein Zorn stieg in lichte Höhen, als er im Näherkommen das Grinsen in unseren Gesichtern sah.
Ich hinderte Mackie am Einsteigen, seine vor Nässe triefenden Hosen und Schuhe hätten den Innenraum binnen Minuten in ein Feuchtbiotop verwandelt. Das war jedoch nicht der einzige Grund, denn bis zu den abzweigenden Autospuren musste ich den IFA im Rückwärtsgang steuern, eine Herausforderung, die ich ungern noch um zusätzliche Komplikationen erweitert hätte. Um ein paar Zentimeter Bodenfreiheit zu gewinnen, mussten alle aussteigen und zu Fuß zurückgehen. Langsam und vorsichtig fahrend schaffte ich die Strecke ohne extremer Bodenberührung. Meine Freunde stiegen wieder ein und der IFA legte das Gras zwischen den Radspuren des Fahrzeuges um, das die Spur weg von der Piste gelegt hatte. Wir folgten der Fährte in höherem Tempo, weil Mackie drängte. Plötzlich ein heftiger Schlag gegen das Auto, lautes Schleifen an der Bodenwanne, und wir standen. Ein kleiner Termitenbau, im Gras nicht wahrzunehmen, hatte sich als unüberwindbares Hindernis erwiesen und obendrein die Bremsleitung zum rechten Vorderrad abgerissen. Termiten errichten ihre Bauten mit Lehm aus der Umgebung aus einer Mischung von Lehm und Speichel, die im getrockneten Zustand eine nahezu betonähnliche Festigkeit erreicht. Ohne ein weiteres Wort ließ sich Mackie ins Gras fallen, starrte wie ein geschlagener Held teilnahmslos in den Himmel und ließ sich von Dutzenden Fliegen umschwärmen. Ich begann mit der uns schon vertrauten Reparatur: Das Kupferrohr an der Bruchstelle umnieten und damit abdichten, frische Bremsflüssigkeit nachfüllen und die übrig gebliebenen intakten Leitungen entlüften. Um zur Reserveflasche mit der rettenden Flüssigkeit zu kommen, wurde das gesamte Gepäck entladen, eine Aufgabe, die immer wieder für Begeisterung sorgte. An die zwei Stunden dauerte die Reparatur.
Wie ein schuldbewusster Dackel bestieg Mackie nach dem Beladen wieder das Auto und verhielt sich ausnehmend still. Der Weg führte uns zu einem Dorf. Dort stand der Geländewagen, der die Spur hierhergelegt hatte. Ein Weißer kümmerte sich um zwei Verletzte vor einer nahezu gänzlich abgebrannten Hütte. Die Dorfbewohner standen im Kreis herum und verhielten sich seltsam gedämpft. Der Besucher war ein Chef de cercle aus der Umgebung. Er begrüßte uns, und erzählte, dass die Eingeborenen sicher sind, ein Karu Bene hätte den Blitzeinschlag verursacht. Banjou vermittelte einen ängstlichen Eindruck, erklärte uns aber mit gedämpfter Stimme, was ein Karu Bene ist. Wenn ein Mann gegen jemanden anderen etwas unternehmen will, sei es aus Rache oder Zorn, sucht er den Zima auf und lässt sich einweisen. Er wird innerhalb einer kurzen, Dogon gewidmeten Zeremonie mit reichlich Strophanthus beinhaltender Salbe eingerieben. Damit erlangt er die Fähigkeit, mit einer Gewitterwolke zu reisen und den Gegner durch gezielten Blitz zu erschlagen.
Im Mittelalter hatten Hexen nach Benützung dieses Giftes Flughalluzinationen. Die Menschen im Gebiet von Tillabery waren überzeugt, dass rosa gefärbte Wolken einen Karu Bene transportierten und dieser von dort Blitze auf sein Opfer schleuderte. Die uns umstehenden Bewohner des Dorfes schworen darauf, dass dieses Unglück von einem Karu Bene verursacht wurde, man hätte sogar die rosa Wolke beobachtet. Nach der Art wie ein gläubiger Moslem, der Banjou ja war, uns diese Geschichte vermittelte, war anzunehmen, er spräche aus tiefster Überzeugung. Ein Leben als Karu Bene ist indes alles andere als sicher. Sollten die Angehörigen der Opfer Rache üben wollen, ist es ein Leichtes den Übeltäter ausfindig zu machen. Sie wenden sich an den Zauberer. In einem Ritual, das die Rolle des Zima als Vermittler zwischen den spirituellen und weltlichen Sphären betont, wird ein Hund geopfert. dessen Kadaver, von vier Männern getragen, dann den Weg zum Karu Bene weist. Der Zima, der dem Karu Bene einst die magische Fähigkeit verliehen hat, ist in diesem Fall auch der Garant für die Wirksamkeit des Fluchs, der den Wolkenflieger schließlich zur Strecke bringt. Das ist für den Betroffenen ein unausweichliches Todesurteil. Der angebliche Wolkenflieger wird aber von seinen Angehörigen verteidigt und es beginnt ein Krieg zwischen den betroffenen Familien. Die Franzosen haben diese Gemetzel zwar abgestellt, aber wie sich die Leute heutzutage untereinander ohne Mord und Totschlag in so einem Fall einigen, blieb uns leider verborgen.
Unser Aufenthalt war nur von kurzer Dauer, denn wir setzten alles daran, noch vor Einbruch der Dunkelheit die Hauptstadt des Gebiets, Tillabéri, zu erreichen. Ohne eine erkennbare Spur pflügten wir durch das hohe Gras, das sich um einen Hügel erstreckte. Wir folgten lediglich unserem Orientierungssinn, denn der dichte Wolkenhimmel verhinderte, den Stand der Sonne auszumachen. Heftige Diskussionen über den richtigen Weg zurück zur Piste begleiteten die Fahrt. Einige größere Rudel Gazellen und Antilopen querten unseren nicht vorgezeichneten Pfad. Das erleichterte die Richtungsfindung, denn Fluchttiere haben die Angewohnheit immer zur Sonne zu laufen, selbst wenn sie nicht scheint. Das dürfte den Sinn haben, Angreifer durch das Sonnenlicht zu blenden und damit eine Chance zur Flucht zu haben. Da es Nachmittag war, liefen sie demnach von Ost nach West. Diese Erfahrung hat sich gelohnt, denn die breite Hauptpiste war bald wieder gefunden, auf der wir Tillabéri in beginnender Dunkelheit erreichten. Zu unserer großen Erleichterung erfuhren wir vom Kommandanten, dass in Niamey Geld für uns angekommen sei, was wir mit einigen eisgekühlten Bieren der Marke Tuborg feierten. Die ermutigende Aussicht, nicht wegen Geldmangels zu scheitern, ließ uns für diese Nacht ein Hotel beziehen. Nach ausgiebigem Duschen schliefen wir wieder einmal in richtigen Betten und fühlten uns Königen gleich.
Lieber Herbert, danke zum Schließen meiner Bildungslücken: jetzt weiß ich das des Krikri heißt. Deine stories sind wie immer spannend und gut getextet! LG manfred