Der Ritt auf dem Rücken der Kamele in die Heimat von Akamouk, dem Hoggar, ist faszinierend, aber von beachtlicher Länge. Wir queren die asphaltierte Transsaharastraße, die von Algier im Norden bis nach Lagos im Süden führt und umgekehrt. Beim Anblick des Luxus‘ dieser breiten Straße steigen Visionen von frisch überzogenem Bett, blitzsauberem Badezimmer, Abendessen im Restaurant an weiß gedecktem Tisch, gemütlichem Heurigen, Whisky in der Bonboniere-Bar und bezaubernden Damen dortselbst auf. Sie berühren mich wie die himmlischen Töne todbringender Sirenen, die den Reisenden in den trügerischen vermeintlichen Luxus locken. Doch schon sind wir auf der östlichen Seite der Straße angelangt, wo die unendliche flache Weite der Hamada-Wüste von Hügeln und größeren Felsen unterbrochen wird. Vergessen sind die Verlockungen der Zivilisation Europas und tiefe Genugtuung erfasst mich, hier und nicht dort zu sein. Unmerklich steigt die Ebene an und schnell bricht die Abenddämmerung herein. Am Ufer eines ausgetrockneten Oued halten wir und richten unser Nachtlager. Beim unvermeidlichen Tee meint Akamouk, dass wir eine Tagesreise vom ständigen Sitz seiner Familie entfernt sind. Eine Mitteilung, die mich und meine vom Kamelreiten gequälte untere Körperhälfte auf baldige Erlösung hoffen lassen.
Nicht von ungefähr kommen wir im Laufe des Abends auf Politik zu sprechen. Algeriens Staatsform ist eine Demokratie, die aber mit Unterstützung Russlands versucht Machtpolitik zu betreiben, indem es die Frente Polisario in der angrenzenden Westsahara unterstützt. Akamouk hält eine solche Regierungsform für Afrika als ungeeignet. Zumindest in der zurzeit im Norden existierenden Form. Auf meine erstaunte Frage antwortet er, dass das Volk Diktatoren ausgeliefert sei, die sich über Jahrzehnte an der Macht halten und sobald sie selbst Schwäche zeigen, von neuen Despoten, die sich wieder als Demokraten ausgeben, abgelöst werden. Eine wirkliche Demokratie kann es nur dann geben, wenn das Volk in gleichem Maße Lebenserfahrung und Bildung besitzt, wie die Politiker. Diese Augenhöhe bewahrt es davor, benützt und ausgebeutet zu werden. Ich halte ihm dagegen, dass es demokratische Wahlen gibt, um solche Missverhältnisse auszugleichen, und dabei das Volk die Leute frei bestimmen könne, die dann in den Regierungen den Willen der Bevölkerung vertreten. Kopfschüttelnd erklärt er mir, dass dies eben diejenigen sind, die in ihrem Wissen, vom Volk gewählt worden zu sein, ihre persönliche Macht ausleben und bedacht sind, diese zu erhalten und zu mehren. Warum fällt es mir schwer, ihm zu widersprechen? Die Touareg wählen einen Amenokal aus den Ihaggaren, den Adeligen, der als Chef zwar respektiert und bezahlt wird, aber ausschließlich die Macht ausüben darf, die ihm zugestanden wird. Sein Volk lebt selbstbestimmt dort, wo die Mächtigen der Demokratie aus dem Norden nicht hinkommen, und handelt nach eigenen Gesetzen. Ohne aufwändige Bürokratie, es gilt eine Art Ehrenkodex, den niemand zu brechen wagt. So einfach ist das. Später, auf meinem Feldbett liegend überlege ich, ob man so ein System nicht auf unsere Demokratien übertragen könnte. Aber ich finde keine befriedigende Antwort darauf und schlafe in dem Gefühl, ein Teil des Sternenhimmels ober mir zu sein, zufrieden ein.
Sehr früh drängt Akamouk am nächsten Morgen zum Aufbruch, eine bei ihm ungewohnte Nervosität scheint ihn ergriffen zu haben. Er legt ein schnelleres Tempo als normal vor. Wir kommen den steil aufragenden Felsen des Hoggargebirges immer näher. Zwischen Geröll wächst grünes Cram-Cram, das widerstandsfähige harte Gras der Wüste, sich farblich von der roten Erde ringsum abhebend. Der für mich kaum zu erkennende Weg, dem wir folgen, führt sachte bergan und die schroffen Zinnen rücken näher zusammen, sodass wir uns später am Nachmittag wie durch eine Schlucht bewegen. Im Schatten dieser steil aufragenden Felsen stehen wir mit einem Mal vor einer Wasserstelle, umrahmt von karg blühenden, Oleander ähnelnden Pflanzen. Die Kamele haben dort Gelegenheit zu trinken, was einige Zeit in Anspruch nimmt. Sie naschen von dem frischen Grün der Büsche. Die zwei Touareg bereiten auf einem schnell angefachten Feuer Tee.
Dann ziehen wir durch die felsige, wie von Stalagmiten begrenzte Schlucht weiter. Nach kurzem Marsch öffnet sie sich und gibt den Blick auf ein ausgedehntes Tal unter uns frei. Flach von der Abendsonne beleuchtet stehen eine Anzahl aus Lehm gebauter Gebäude um einen zentralen Platz herum, dahinter einige der für die Touareg typischen Spitzzelte, die Khaimas. Diese Zusammenstellung ist bezeichnend für einen Clan, dessen Mitglieder sich im Laufe der Zeit zu Halbnomaden entwickelt haben. Ein paar rechteckige Flächen werden von niederen, aus rohen Steinen zusammengefügten Mauern begrenzt. Im Tal verstreut weiden größere Ziegenherden das spärlich wuchernde Steppengras ab. Neben einem hinter Büschen versteckten kleinen See stehen und liegen wiederkäuend einige Kamele. Auf dem Platz im Ort haben sich eine Menge Menschen und Meharis versammelt, wobei in der Mitte eine flache Sandfläche großräumig ausgespart bleibt. Rundherum steigen wie von Opferfeuern dünne Rauchsäulen gegen den Himmel. Wir hören den Klang eines Saiteninstruments, dem Imzad, begleitender Trommeln und singender Frauen deutlich bis zu uns herauf. Ein großes Fest scheint stattzufinden. Akamouk deutet auf die Ansiedlung hinunter, mit der Bemerkung, dass das seine Familie sei. Wir steigen den steil abfallenden, nicht ungefährlichen Weg in das Tal hinab. Das geschieht nur recht langsam und vorsichtig, denn selbst unsere Kamele rutschen manchmal auf dem abschüssigen Geröll. Bricht sich so ein Tier in der Wüste ein Bein, ist es unrettbar verloren.
Schon lange hat es mich gewundert, wieso die Afrikaner in weit entfernten Zielorten, die wir oft erst nach tagelangen Fahrten erreichten, bereits über uns Bescheid wussten. So auch hier. Ich weiß, dass Akamouk keine weitreichenden Kommunikationsmittel besitzt, geschweige denn fremde benützt. Das hier ist aber unverkennbar ein vorbereiteter Empfang, wie zu Ehren eines Fürsten. Ich beschließe, Akamouk erst später danach zu fragen, denn eben queren wir den freien Platz in Richtung einer am Boden sitzenden Gruppe älterer Männer. Sie sind alle mit ihren Tegelmusts verschleiert. Iyad und Akamouk begrüßen einen nach dem anderen, jeden mit dem bei den Touareg üblichen, reichlich umständlichen Ritual. Nachdem ich vorgestellt wurde, lädt mich der vermutlich älteste von ihnen ein, neben ihm Platz zu nehmen. Meine zwei Begleiter ziehen sich auffallend schnell zurück und verschwinden in der Menge. Möglichst schwungvoll lasse ich mich auf den mir frei gemachten Teil des Teppichs fallen. Niemand sollte meine, durch Arthrose und dem langen Ritt hervorgerufenen Schmerzen in den Kniegelenken bemerken. Noch denke ich nicht daran, wie ich da wieder hochkommen werde, und verschränke meine Beine so gut als möglich nach Art der Eingeborenen. Der mir zunächst sitzende Vermummte scheint der Scheich zu sein. Er spricht ausgezeichnet Französisch und erzählt mir, dass er wüsste, wer ich sei und dass ich an einem Buch schreibe. Wie kann er das wissen, weder ich noch meine beiden Begleiter haben irgendetwas in dieser Richtung gesagt. Ob darin alle Menschen vorkämen, die ich auf meinen Wegen treffe, fragt er hinterhältig. Wahrscheinlich ist der alte Schlawiner auf Bezahlung aus, und so sage ich ihm, dass ich ausschließlich Natur und Landschaften beschreibe. Womit ich keineswegs lüge, denn die Menschen sind ja auch Natur, und ich erspare mir mühsames Feilschen. Nicht nur im Urwald, sogar in der Sahara scheint es einen Buschtelegrafen zu geben, der Neuigkeiten wie diese über weite Strecken transportiert.
In der Mitte des Platzes haben Frauen einen kleinen Kreis gebildet. Sie musizieren mit handlichen Trommeln und dem Imzad, einem Streichinstrument, das einen großen Klangkörper, aber nur eine Saite hat. Sie spielen und singen und begleiten damit eine spektakuläre Vorführung. Um die Musikerinnen herum treiben bewaffnete Krieger der Touareg in voller Montur ihre Meharis in solchem Tempo zum Galopp, dass sie in Schräglage geraten. Die Erde dröhnt vom Getrampel, die flachen Zehen der Tiere wirbeln kleine Sandfontänen vom Boden hoch. Eine auffallend attraktive Targia nähert sich, sie ist in einen Haik, ein ärmelloses langes Gewand, gekleidet. Sie reicht uns, die wir auf dem Teppich sitzen, ein verziertes Tablett mit Tee. Davon nehmen wir jeder ein Glas. Nach kurzer Zeit erscheint sie abermals mit frisch gefüllten Gläsern. Flirtet sie mit mir? Oder ist das nur eine Illusion wegen ihrer großen dunklen Augen, die mich offen und direkt anblicken. Dreimal wiederholt sich diese Zeremonie. Die Musik hat inzwischen ihren Rhythmus geändert und es erscheinen drei Tuareg auf Kamelen in paralleler Formation, die sie tänzerisch in exaktem Gleichschritt im Kreis um die Musikerinnen bewegen. Obwohl die Musik weiterspielt, verlassen die Reiter nach mehreren Runden den Platz und verschwinden hinter dem nächsten Gebäude. Wieder ändert die Musik jihren Charakter, sie wird ruhiger, der Gesang der Frauen verebbt. Nur die Musikerin mit dem Imzad fiedelt leise weiter vor sich hin. Musiker, die dieses Saiteninstrument spielen können, gelten in Algerien schon fast als ausgestorben. Seit einigen Jahren ist man mit Erfolg bemüht, bei der Bevölkerung das Interesse an diesem Instrument wiederzubeleben. Dass ich eines davon heute hier zu Gehör bekomme, bedeutet eine glückliche Ausnahme.
Seit unserer Ankunft regt der Duft, der von den Feuerstellen herüberweht, meinen Appetit an, denn dort werden Hammel gebraten. Das dauert Stunden, bis sie vollständig gar sind. Jetzt aber ist es so weit. Bei leiser „Tischmusik“ bringt uns die reizende Targia lächelnd tiefe Teller, angefüllt mit Couscous, worauf große, duftende Stücke vom Mechoui eingebettet liegen. Weil ich ein Rumi bin, gibt es für mich sogar Essbesteck. Meine Gastgeber greifen mit den bloßen Fingern der rechten Hand zu. Das Fleisch ist zart, durchgegart, und schmeckt typisch nach Hammel. Da jeder Bissen von Fett trieft, wäre mir ein alkoholisches Getränk dazu recht angenehm, damit es das Fett etwas neutralisiert. Aber so weit geht die Gastfreundschaft der Moslems doch wieder nicht, dass sie über ihren eigenen Schatten springen und Alkohol herbeischaffen würden. Ich genieße die Speisen trotzdem, da derartige Feste äußerst selten stattfinden. Außerdem kann ich später in meinem Gepäck nach dem Fläschchen Kognak graben, welches die fürsorgliche Michelle für solche Fälle darin versteckt hat.
ch bin noch in den seltenen Genuss dieses köstlich zarten Hammels vertieft, da legen die Frauen ihre Instrumente beiseite und stehen auf. Sie wenden sich in unsere Richtung, und singen in höchster Tonlage, dazu klatschen sie mit den Händen den Rhythmus. Zwei Touareg erscheinen mit Tanzschritten vor uns auf der Sandfläche. Sie schwenken Schwerter über ihren Köpfen, die breit auseinander gehaltenen Beine stampfen rhythmisch den aufstiebenden Sand. Wie in Zeitlupe vollführen die beiden tänzerisch einen Schwertkampf, jedoch ohne dass sich die Tabukas jemals berühren. Sich duckend gehen sie tief in die Hocke, um sich gleich darauf wieder federnd zu aufrechtem Tanz zu strecken. Ihre linken Arme zeigen Bewegungen, als würden sie Schutzschilder führen. Die typischen bemalten Schilder der alten Tamascheq-Krieger sind kaum mehr zu finden. Wahrscheinlich weil sie nutzlos geworden sind und an Touristen verkauft wurden. Die Schwerter aber sind weiterhin aktuell zur Verteidigung und zur Manneszierde in Gebrauch. Das Fest dauert bis in die Dunkelheit der Nacht, erhellt von einigen Feuern. Ich verziehe mich müde in den mir vom Scheich in einem Haus zugedachten Raum. Freundliche Menschen tragen mein Gepäck herein. Kaum wieder allein, suche ich sofort die Kognacflasche. Der Inhalt ist kräftige Medizin für den Magen, der derartige Mengen Fett nicht gewohnt ist. Schnell ist das Feldbett aufgebaut, ich lege mich komplett angezogen darauf, und überlege mir, begleitet von der noch vom Platz gedämpft herübertönenden Musik, die nächste Folge meiner schriftlichen Erinnerungen:
Wir waren noch immer am Ufer des Niger entlang auf der Suche nach dem Troubadour. Ein Mann aus einem nahegelegenen Dorf hat auf irgendeine Weise erfahren, dass wir Moise Yacouba, den großen Barden, suchen. Dieser Informant kam zu uns ins Lager, als wir ums Lagerfeuer herum saßen und versuchten, mit Appetit eine Speise zu verdrücken, die Walter vorher leicht anbrennen hat lassen. Er erzählte uns, dass dieser Troubadour morgen in einer Siedlung, etwa fünfzig Kilometer südlich von hier, spielen wird. Mit Mühe hielten wir Walter davon ab, den schwarzen Gast aus Dank für seine Mitteilung auf das Essen mit uns einzuladen, denn wir befürchteten darauffolgende Racheakte. So gaben wir dem Überbringer der Nachricht etwas Geld, was ihn sicher mehr freute und uns weniger beunruhigte.
Obwohl wir nach den bisherigen Erfahrungen nicht wirklich an einen Erfolg glaubten, wollten wir am nächsten Tag zu dem angegebenen Dorf aufbrechen. Wir beluden am Morgen unsere beiden invaliden Autos mit dem nötigsten Gepäck für die Arbeit. Die Motoren liefen schon, als uns Schani in dem ihm eigenen deutsch-belgischem Kauderwelsch mit der Nachricht überraschte, dass die Bremsen beim IFA wieder einmal kaputt seien. Diese Mitteilung brachte uns einen heftigen Ausraster des Expeditionsleiters ein, den ich mit meinem Vorschlag, notfalls alleine zu fahren, beendete. Walter, der zur Bewachung im Lager bleiben sollte, machte sich sofort an die verantwortungsvolle Reparatur. Kopezky und Schani assistierten ihm. Da ich zu bedenken gab, dass wenn wir das Funktionieren der Bremsen abwarten, der Sänger uns wieder durch die Lappen gehen könnte, fuhren Mackie und ich im Père Ubu los.
Wir kamen am Nachmittag in ein Dorf, das aus geschätzten fünfzig Hütten bestand. Direkt am Ufer des Niger gelegen, lebten die Dorfbewohner, Angehörige der Völker Songhai und Djerma vom Fischfang, der Jagd auf Vögel und Krokodile.
In ihren lang gestreckten und meist sehr alten Piroggen, das waren aus einem Baumstamm geschnitzte Boote, befuhren sie virtuos wie Seiltänzer den Fluss. Oft bewegten sie die schwer beladenen Einbäume, indem sie kurze Blattruder benutzten oder mit langen Stangen an den Rändern des Niger entlang stakten. Zwischen den Lehmhütten mit den spitzen Grasdächern herrschte reges Leben. Es lag Spannung in der Luft. Alle Dorfbewohner waren da, die Fischerboote lagen dicht gedrängt am Ufer, auf dem Fluss selbst waltete ungewohnte Leere. Mackie suchte den Chef du Village auf und erklärte dem Häuptling, unter Übergabe von einigen Geldscheinen, unser Vorhaben.
Wir erkundigten uns nach dem Ort, an dem sich Yacouba zeigen wird. Dort stellte ich das Auto so ab, dass die Länge des Kabels für das Mikrofon gerade noch über den Platz reichte, trotzdem aber eine Sichtverbindung zwischen dem Künstler und mir erhalten blieb. Wie gewohnt scharten sich die Dorfbewohner, die Jugend vor allem, um den Père Ubu und sahen mir interessiert bei den Vorarbeiten zu den Aufnahmen zu. Ein Junge und ich hoben die schwere Bärenbatterie von der Ladefläche. Den Einankerumformer, der 12 Volt Gleichstrom der Autobatterie in 220 Volt Wechselstrom wandelte, stellten wir in seiner Kiste daneben auf den Boden. Die beiden Instrumente zur Messung der Spannung und der Frequenz des Stromes für das Tonbandgerät schaltete ich dazu. Damit war ein störungsfreier Betrieb des Telefunken KL 25 gewährleistet.
In der ersten Reihe halbnackte Jugendliche und dahinter Erwachsene drängten sich um Mackie, der ein paar Schritte abseits stand und auf meine Geräte aufpasste. Vor allem beim Expeditionsleiter wurden die Rufe nach einem Cadeau, einem Geschenk, ständig eindringlicher. Auch ich musste mich gegen körpernahen Andrang wehren, weil grenzenlose Neugier die Menschen dazu trieb, alles zu betasten. Was halt überhaupt nicht in meinem Sinn lag. Es war geraten äußerst vorsichtig zu agieren, da wir es uns keineswegs mit den Dorfbewohnern verscherzen, aber genauso wenig als Melkkühe dastehen wollten. Endlich traf zu unserer Entlastung der IFA mit Besatzung ein. Walter hatte mit Schani getauscht, sodass er als amtierender Kassenwart die Geschenke heischenden Halbwüchsigen freundlich selbst abwimmeln durfte.
Um den Gleichlauf des Tonbandgerätes zu überprüfen, war Musik bestens geeignet. Ich legte zu diesem Zweck ein Band mit Aufnahmen vom Radiosender Blue Danube Network aus Wien auf. Das lenkte die Aufmerksamkeit der Leute wieder mehr auf meine Tätigkeit. Lachend und plaudernd hörten sie verschiedenen Jazznummern zu. Teilnahme kam bei den Umstehenden erst beim Anhören eines Mambos, der Begeisterung und wildes Tanzen auslöste. Alles war schlagartig in Bewegung geraten, feiner Staub stieg auf, ich machte mir schon Sorgen um die einwandfreie Funktion der Geräte. Meine drei Kollegen drängten die Tanzenden so weit zurück, dass der Kreis größer wurde und die Gefahr durch den aufgewirbelten Staub gebannt schien.
Schließlich lichteten sich die Reihen, und ich hatte Zeit, ein noch unbespieltes Band für die bevorstehende Aufnahme einzulegen. Wir hatten von BASF ein großzügiges Kontingent an tropenfesten LGS – Tonbändern mitbekommen, deren Qualität und Haltbarkeit ich besonders schätzte. Unvermittelt verlor sich das Interesse der Dorfbewohner an mir und meinen Geräten. Alle liefen zum Dorfeingang, Moise Yacouba, der Chef der fahrenden Sänger, war eingetroffen! Er ließ seinen Peugeot 403, der ihn von einem Auftrittsort zum anderen brachte, am Dorfrand stehen. Gemessenen Schrittes wurde er von den Honoratioren des Dorfes und einer sich ehrfurchtsvoll leise verhaltenden Menge zu dem Platz geleitet, der für ihn vorgesehen war. Für den in hellblaues Tuch gewickelten Meister, dessen Haar grau meliert war, wurde eiligst ein richtiger Stuhl gebracht, den man in den Eingang eines aus Lehm gebauten Hauses stellte, um ihm den Rücken freizuhalten. Einige Dorfbewohner bemühten sich rührend um ihn, indem sie Unmengen gegrilltes Rindfleisch herbeibrachten und Kalebassen mit frischem Wasser in seine Reichweite stellten. In gehörigem Respektabstand von Yacouba haben sich der Chef und die Ältesten des Dorfes in einem Halbkreis niedergelassen. Dahinter standen, in mehrere Reihen geschichtet die Dorfbewohner. Ein leichter Wind wehte den konzentrierten Schweißgeruch der angesammelten Menge über den Platz zu mir herüber. Es war der typische Geruch, der einem überall dort in Afrika begegnete, wo Menschen sich versammelten und tanzten. Einmal ist er stärker, ein anderes Mal schwächer. In kurzer Zeit gewöhnt man sich daran und empfindet ihn letztendlich nicht als unangenehm. In gewisser Weise gehört er zum Lokalkolorit.
Nach längerer Zeit, in welcher der immerzu lächelnde Meister gespeist und getrunken hatte, näherte sich Mackie dem Troubadour. Die beiden handelten den Preis aus, der für das Mitschneiden seiner Darbietungen bezahlt werden musste. Es war eine größere Summe, die Walter aufregte und zum Erbleichen brachte. Des Kassenverwalters erregtes Zögern beruhigte sich, weil ich ihn daran erinnerte, dass wir nicht hier wären, wenn uns das Phonogrammarchiv in Wien nicht mehrmals die wissenschaftliche Notwendigkeit unseres Unternehmens bescheinigt hätte. Das verpflichtete uns, solche Aufnahmen heimzubringen. Um das Gesicht zu wahren, meint er ernst und mit herabgezogenen Mundwinkeln, dass er bezahlen würde, aber erst nach erbrachter Leistung. Das war einleuchtend, auch Moise Yacouba war damit einverstanden. Ich hatte inzwischen unser einziges Mikrofon, das AKG D 12, auf das Stativ geschraubt und Mackie bahnte sich mit diesem eine Schneise durch das Publikum und zog das Mikrofonkabel nach. Er stellte das Mikrofon meiner Anweisung folgend genau vor den Troubadour, der bereits auf seiner Komsa, einer selbst gebauten Gitarre, improvisierte.
Bevor er zu seinem Sprechgesang anhob, griff er sich noch ein Stück Fleisch, aß es genüsslich und wischte sich daraufhin die Finger an der Tunika ab. Dann begann er mit dem Vortrag. Er erzählte alte Märchen und Legenden von den vergangenen Dynastien der Djerma und Haussa. Völker, die in den Gebieten Niger und dem südlichen Mali sesshaft waren. Zur Begleitung entlockte er seinem Instrument eine Fülle von Rhythmen und Tönen, die das gesprochene Wort unterstützten und bereicherten. Unser Dolmetscher übersetzte die Texte sofort. Moise Yacouba gab ihm die Zeit dafür, indem er selbst schwieg, dabei aber auf seinem Instrument weiterspielte und damit die jeweilige Übersetzung mit Klangbildern untermalte. Dadurch hatten wir Gelegenheit zu verstehen, was wir hörten. Es waren richtige literarische Kunstwerke mit uraltem Sinngehalt und enormer Symbolkraft.
In Begleitung des Meisters war ein hochgewachsener junger Mann mitgekommen. Ali Mabou war sein Name und er war ein Schüler des großen Yacouba. Er war anders gekleidet als sein Lehrer. Er trug einen Boubou, ein bis zu den Knien reichendes gerades Kleidungsstück mit Stickereien aus Vorarlberg auf der Brust, von dem er sicher annahm, dass es weiß sei. Auf dem Kopf hatte er eine runde weiße Kappe ohne Krempe, die ihn als gläubigen Mohammedaner auswies. Er hielt sich die ganze Zeit über im Hintergrund, andächtig seinem Idol zuhörend. Doch als nach etwa einer halben Stunde sein Chef müde wurde, übernahm Ali und setzte das Konzert fort. An diesen Gesang mussten wir uns erst gewöhnen, die Inhalte seiner Texte hingegen waren nicht weniger interessant, als die von Yacouba. Auch ihm hörten die Leute aufmerksam und bewundernd zu. Mir kam der ungeplante Zusatz sehr gelegen, denn ich konnte damit wieder ein ganzes Tonband mit archaischer afrikanischer Kunst bespielen.
Nach dem Ende der Darbietungen hob neuerliches Feilschen um die Bezahlung an. Da es zwei Sänger geworden waren, und Ali doch so schön gesungen hatte, verlangte Moise Yacouba jetzt das Dreifache von dem anfänglich ausgemachten Preis. Walter, in afrikanischem Handeln erfahren, wollte partout nicht mehr zahlen und bestand auf der vorher beschlossenen Summe. Daraus entstand ein langes Palaver, Argumente für und dagegen wurden ausgetauscht. Darüber brach die Dämmerung herein und ich musste mich beeilen, im Rest des Tageslichts die Geräte wieder in das Auto zu verladen. Weil das sorgfältig durchgeführt werden musste, dauerte es einige Zeit, bis alles endlich seinen unverrückbaren Platz gefunden hatte. Walter und Mackie einerseits, Yacouba und Mabou andererseits palaverten nach Abschluss meiner Arbeiten noch immer. Dem Expeditionsleiter war eine gewisse Unruhe deutlich anzumerken, während der Kassenwart unendliche Geduld bewies. Das waren Afrikaner von Europäern nicht gewohnt und sie hatten erkennbar Achtung vor solcher Standhaftigkeit. Walter zahlte letztendlich nur einen Bruchteil von dem, was mehr verlangt wurde, trotzdem trennten wir uns in Frieden.
Obwohl die Nacht schon hereingebrochen war, begaben wir uns wieder auf die Piste, um zum Lager zurückzukehren. Ohne größere Zwischenfälle erreichten wir die Zelte vor Mitternacht. Schani hatte in irgendeinem Laden eine fünf Liter fassende Flasche Rotwein aufgetrieben, mit der wir den Erfolg unserer Arbeit so lange feierten, bis sie zur Nagelprobe geleert war. Müde und zufrieden begaben wir uns zur Ruhe.
Walter und ich gingen bei Tagesanbruch auf Jagd und kehrten am Vormittag mit Beute zurück. Der Vogel, den Walter geschossen hatte, ähnelte in Größe und im Äußeren einer Graugans. Da wir keine Vorrichtungen hatten, die Jagdbeute zu braten oder zu grillen, wurde der erfolgreiche Schütze beauftragt, das Tier zuzubereiten. Das war ein Fehler. Das Lager und die nächste Umgebung waren weithin mit gerupften Federn überzogen. Ebenso war die Bissfestigkeit des stundenlang mit Liebe gekochten Tieres derart, dass wir das Fleisch in kleinste Würfel schnitten, um es verspeisen zu können. Zur Ehrenrettung des Koches stellten wir fest, dass das Abendessen geschmacklich ausgezeichnet gelungen war. Bei diesem Mahl beschlossen wir die Weiterreise für den folgenden Tag, und das unbedingte Verfassen eine Sammlung Märchen der Djerma und Songhai in deutscher Sprache.
Schon routiniert brachen wir unser Lager ab, beluden die Autos und begaben uns auf die Piste in Richtung Niamey im Süden. Erst der IFA und nach einiger Zeit der Humber. Einem Franzosen, der an der Strecke mit seinem Auto in Panne lag, verkauften wir vier Liter Motoröl aus unserem Fundus. In Ayorou trafen wir die Besatzung des IFA wieder und besuchten den dort diensthabenden Gardien. Nicht ausschließlich um uns zu melden, er hatte im Haus einen Tisch stehen und ein paar Stühle, die den Eindruck einer Gaststätte vermittelten. Außerdem sahen wir in einer Ecke einen Kühlschrank und daneben eine Kochstelle. Auf unsere Frage, ob wir etwas zu essen bekommen könnten, bot er uns Eierspeise an. Aus dem Frigidaire holte er ein paar Flaschen Bier, nach denen wir gierig griffen. Dann brachte er selbstbewusst die Rühreier. Sie waren nicht nur versalzen, sondern zusätzlich so stark gebraten, dass sie durchgehend braun und staubtrocken waren. Da wir befürchteten, wieder Palatschinken von Walter essen zu müssen, verputzten wir brav das Gebotene. Es war unvermeidlich, dass es später eine gröbere Auseinandersetzung mit dem Gardien gab, da wir für diesen Fraß nicht bezahlen wollten. Aber auch hier fand sich ein Weg! Walter drohte dem schwarzen Uniformträger an, er würde ihn beim Commandant Cercle, dem französischen Kommandanten für das Gebiet melden. Wir zahlten das konsumierte Bier und ersetzten großzügig den Einkaufspreis der verbratenen Eier. Er ist damit zufrieden, und wir waren uns wieder einmal darüber einig, dass Walter der beste Kassenwart war.
Am Abend campierten wir vor Tillabéri auf freier Strecke und schliefen beim Hören vom Band des dritten Aktes aus Mozarts Don Giovanni friedlich ein. Ab und zu wurde die Stille von Schakalen und aus weiterer Entfernung von Hyänen unterbrochen. Vor Tagesanbruch fuhren Walter und Kopezky los. Sie starteten mit großem Lärm, der einem Rennauto der Formel 1 alle Ehre gemacht hätte. Das war auf einen fehlenden Schalldämpfer zurückzuführen, der lag nämlich auf dem Gepäck im Auto, um bei Gelegenheit neu angeschweißt zu werden. In dem Städtchen Tillabéri fanden die beiden Teile der Expedition wieder zusammen. Dort trafen wir abermals den Franzosen, dem wir auf der Piste mit dem Motoröl ausgeholfen hatten. Es stellte sich heraus, dass er Angehöriger einer französischen Organisation für Entwicklungshilfe war. Aus lauter Dankbarkeit lud er uns alle auf jeweils zwei riesig dimensionierte Kognaks ein. Dadurch gestärkt und äußerst vergnügt begaben wir uns auf den Weg nach Niamey, der Hauptstadt von Niger, die wir als Basis für unsere Exkursionen in Niger ausgesucht hatten..
(Die Musikaufnahmen sind im Phongrammarchiv der Akademie der Wissenschaften, 1010 Wien, Liebiggasse 5 zu finden, das auch die Rechte dafür besitzt. Bei Interesse an näheren Auskünften bitte Kontaktaufnahme direkt mit dem Archiv, oder mit mir.)