Der frühe Morgen in Akamaouks Geburtsort. Meckern und das Getrappel einer Ziegenherde, die langsam an meiner Behausung vorbeizieht, wecken mich. Durch die breiten Spalten der roh gezimmerten Türe dringt schon helles Licht, in dem Staubpartikel tanzen. Ich krieche aus der wohligen Wärme meines Schlafsacks und versuche in der Dunkelheit die Konturen des Schlafgemachs zu erkennen. Neben der Türe gibt es keine Öffnungen, nicht einmal ein Fenster. Das ist gut durchdacht, denn dadurch werden sowohl Kälte als auch mittägliche Hitze draußen gehalten. Mit einem Anflug von Heimweh denke ich dabei an die Weinkeller in Österreich, die ähnlich konzipiert sind. Diese emotionelle Aufwallung ist in dem Moment vorbei, in dem ich das Tor aufstoße und in den werdenden Morgen blicke. Die Sonne steht knapp unter dem Horizont, am Himmel blinken noch ein paar der hellsten Sterne, die Ziegen haben sich verzogen und es herrscht absolute Ruhe. Ein wenig vom Duft der Herde bleibt in der Luft hängen. Die Bewohner des Dörfchens scheinen nach der anstrengenden Nacht versäumten Schlaf nachzuholen.
Ich beschließe, die Kühle des Morgens für einen Spaziergang zu nützen und dem naheliegenden Teich einen Besuch abzustatten. Der Weg führt mich über den großen leeren Dorfplatz, an den gelöschten Feuerstellen vorbei, deren graue Asche und ein paar abgenagte Knochen der gebratenen Hammel Zeugnis von dem gestern und heute Nacht stattgefundenen Fest geben. In der herrschenden vollständigen Stille sind meine Schritte derart laut, dass ich unwillkürlich versuche, leiser aufzutreten. Außerhalb der Siedlung angelangt, führt der Weg bergab zum Wüstenteich. Das Ufer ist mit Abdrücken menschlicher Füße und tieferen Spuren von Tieren übersät und sinkt flach in den glasklaren Teich hinab. Ich entledige mich der Hose und des Hemdes und wate in das an der Oberfläche angenehm temperierte Wasser. Ich schwimme mit wenigen Schwimmbewegungen zum anderen Ende des kleinen Sees und wieder zurück. Das wiederhole ich einige Male und fühle mich wie ein König, der morgens allein in seinem Swimmingpool ein paar Schwimmzüge macht. Die Sonne schickt ihre ersten warmen Grüße durch die Blätter der Palmen, am Ufer haben sich Frauen und Mädchen plaudernd und unter weithin hörbarem Gelächter versammelt. Sie holen mit Kübeln und Tonkrügen Wasser aus dem See und verschwinden wieder im Dorf. Ich ziehe mich über die nasse Haut an. Beim Erreichen des Platzes im Zentrumsind Hemd und Hose trocken.
Der Stille folgt Unruhe, auf dem Platz haben sich Menschen eingefunden, viele Kinder darunter. In der Mitte liegen sechs Kamele, die von Männern in langen weißen und blauen Gewändern anscheinend für eine Ténet, eine Reise beladen werden. Einen davon erkenne ich wieder. Gelassen spricht er mit einem anderen Targi und beteiligt sich nicht an den Tätigkeiten. Es ist einer der bevorzugten Gäste, die beim vergangenen Fest neben mir am Teppich gesessen sind. Die Männer sind seine nicht adeligen Diener, welche die Arbeiten verrichten. Hier, in der Abgeschiedenheit des Hoggar, gelten bis heute die alten Gesetze der Hierarchien. In die unwillig klingenden Gurgelgeräusche der Kamele mischt sich das Meckern zweier Ziegen, die Leinen um den Hals gewunden haben, deren andere Enden unter einem schweren Stein eingeklemmt sind. Begleitet von einem Tross schnatternder und höchst neugieriger Kinder, die ich auf ein Alter zwischen sechs und zwölf Jahren schätze, begebe ich mich zu meiner Behausung.
Doch kurz vor dem Eingang bin ich wieder allein, die Nachkommen des Clans haben sich verkrümelt. Eine Rücksichtnahme auf Privates, die ich mehrmals bei Autochthonen, egal welcher Ethnie, rund um den Erdball erlebte. Ich betrete den dunklen Raum und werde von Akamouk begrüßt, der sich bei meinem Eintritt vom Feldbett erhebt. Er ist gekommen, um mich zu einem Frühstück mit der Freundin einzuladen, bei der er die Nacht verbracht hatte. Am Weg dorthin meint er, dass er gerne möglichst schnell zur Auberge du soleil zurückkehren, demnach sein Volk hier verlassen will. Seine Pflicht, den jungen Iyad gesund wieder heimzubringen, hatte er erfüllt. Niemand würde ihn hier mehr benötigen. Mir war es Recht, und ich stimme einer vorzeitigen Abreise zu.
An einer langgestreckten Mauer mit nur einem Eingang stehen die bisher nicht beladenen drei Kamele Akamouks. Er betritt den Hof vor mir und geht auf das aus Lehm gebaute, groß dimensionierte Wohnhaus zu. Ein Anwesen dieser Ausmaße kann nur einer einflussreichen Familie gehören. Meine Annahme wird durch Akamouk bestätigt, sie gehört zum Clan des aktuell herrschenden Amenokal, dem Chef aller Touareg. An einem Platz nahe dem Haus steht ein meisterlich aus rohen Holzstangen errichteter und mit Leder gedeckter Baldachin. Auf einer dem Augenschein nach festen Feuerstelle kocht schon Teewasser in der typischen Kanne aus blauem Email. Sie wird von einer ausnehmend hübschen, ja schönen jungen Targia gehütet. Sie trägt eine Menge Silberschmuck und ist kunstgerecht geschminkt. Ich verstehe Akamouk und bewundere seinen guten Geschmack. Sie bleibt, das ist ungewöhnlich, an der Kochstelle sitzen, während wir uns auf den ausgebreiteten kleinen Teppichen niederlassen. Mit bedachten, eleganten Bewegungen bereitet sie nach alter Tradition den Tee. Akamouk erklärt mir, dass sie in Oran und Algier Wirtschaft sowie Agrikultur studiert und die durch politische Umstände erzwungenen Ferien hier zu Hause verbringt. Täusche ich mich, oder wirft sie meinem Freund verliebte Blicke zu?
Wir führen ein anregendes Gespräch über die verschiedenen Möglichkeiten, die karge Landschaft der Sahara wirtschaftlich zu nützen. Sie beweist Ihre Intelligenz, indem sie ihr perfektes Französisch umgehend meinen bescheidenen Sprachkenntnissen anpasst, sodass eine recht flüssige und anregende Unterhaltung zustande kommt. Sie plant, gleich wie es etliche Bauern im Sahel seit einiger Zeit mit Erfolg realisieren, ebenfalls hier im Hoggar die Täler mit Anpflanzungen zu kultivieren. Auf meinen Einwand, die enorme Wasserarmut in diesem Gebiet betreffend, meint sie, man könne mit künstlicher Bewässerung aus Brunnen anfangen. Das würde Pflanzen und Bäume bis zu einer solchen Höhe und Dichte gedeihen lassen, um einen natürlichen Kreislauf herzustellen. Dadurch sollte ausreichend Regen entstehen, vorausgesetzt, die Grünfläche ist groß genug. Im Sahel gibt es Unterstützung aus China für diese Projekte, sie hofft auf eine solche von der EU und von einer neuen Regierung in Algerien. Die kürzlich Abgesetzte war nicht interessiert, da sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt war. Gerne würde ich weiter mit dieser anziehenden Frau plaudern, aber Akamouk drängt zum Aufbruch. Ich verabschiede mich kurz mit dem Versprechen, bei nächster Gelegenheit wiederzukommen. Ihren Vorschlag, mir einen Vasallen als Führer bis zu meiner Unterkunft mitzugeben, lehne ich ab, denn in der mir eigenen Eitelkeit will ich den Weg eigenständig finden. Akamouk begleitet mich bis vor das Tor und zeigt mir die Richtung, in der ich gehen soll.
Aber das hätte ich besser unterlassen. Alle Lehmhäuser sind so oder so gleich gebaut. Keine Fixpunkte sind vorhanden wie Bäume oder Geschäfte. Auch natürliche geographische Merkmale, wie Hügel und Gräben gibt es nicht. Bis auf ein paar bettelnde Kinder zeigt sich niemand, den ich nach dem Weg fragen könnte. Einige Hühner und einzelne Ziegen kreuzen den Weg, irgendwo liegt ein von Hammelresten vollgefressener Hund, der bei meinem Erscheinen müde nur leicht seinen Kopf hebt. Der Stand der Sonne ist ebenso wenig hilfreich. Es ist nicht zu leugnen, ich habe mich verirrt. Der Tross lärmender und aufdringlicher Kinder hinter mir wächst mit jeder Häuserecke an. Kommunikation mit den Kleinen ist aus sprachlichen Gründen nicht machbar. Das steigert die Nervosität und ich verliere mich in Umwegen. Das Dorf ist nicht so groß und zu meiner Überraschung stehe ich unvermittelt auf dem recht belebten Hauptplatz. Die Karawane ist aufgebrochen und im Gelände in der Ferne verschwunden. Von diesem Platz finde ich den Weg zum Quartier schnell und direkt.
Ich rolle rasch meinen Schlafsack ein, da kommt schon Akamouk in Begleitung von zwei Halbwüchsigen zur Türe herein. Er erklärt ihnen, wie das Zusammenlegen des Feldbettes funktioniert. Sie machen das großartig und tragen es als Bündel hinaus. Während mein Reisegefährte das Bett am wie gewohnt unwillig brüllenden Lastkamel befestigt, gebe ich jedem der Helferlein ein paar Centimes. Das mir zugeteilte Mehari begrüßt mich schon von Weitem mit ungehaltenem Gurgeln. Zu Fuß, die Kamele an Stricken führend, ziehen wir aus dem Ort. Um Proviant und Wasservorrat brauche ich mich nicht zu kümmern, mein zuverlässiger Freund, der Targi, hat alles vorbereitet.
Wir verlassen das Ksar, die Siedlung des Clan, in Richtung Gebirge. In der Ebene klettern wir in die Sättel und lassen uns durch die Gegend schaukeln. Am Beginn der Steigung zum Pass steigen wir wieder ab, obwohl sich die Kamele bergan sicherer bewegen, als hinunter. Weiter geht die Reise durch bekannte Landschaften, die mir insofern neu erscheinen, weil wir in die Gegenrichtung ziehen. Das Nachtlager wird nicht am selben Platz errichtet, den wir schon einmal dafür benützt hatten, sondern ein paar Kilometer weiter westlich. Noch immer ist es mir nicht möglich, mein Kamel zum Niederlegen zu bewegen. Akamouk muss nachhelfen. Beim abendlichen Tee möchte ich von ihm wissen, warum er so schnell wieder von seinem Clan fortwill, da doch diese Frau zu ihm passt und ihn sicher glücklich machen würde. Er sei einmal verheiratet gewesen und habe seine Lehren daraus gezogen. An das nicht gebundene Nomadisieren hat er sich gewöhnt. Dieser Zustand dauert schon zu lange, um nochmals eine solche Bindung zu versuchen.
Nach dieser Nacht bewegen wir uns weiter gegen Westen und kommen neuerlich zum schnurgeraden Asphaltband der Transsaharastraße. Dort steht eine Gruppe Schwarzafrikaner, unverkennbar Flüchtlinge aus dem Süden. Sie umringen uns und wollen Geld, nein, sie verlangen es. Weit und breit keine algerischen Sicherheitskräfte, es gibt nur die leere, am Horizont verschwindende Straße und endlose Wüste um uns herum. Es scheinen Nigerianer zu sein, da sie mit uns Englisch sprechen. Wir sitzen hoch oben auf den Kamelen, die aber das Außergewöhnliche der Situation registrieren und unruhig werden. Ängstigen sie sich, kann das zu nicht kontrollierbaren Reaktionen der eigenwilligen Tiere führen. Mein Lieblingsreittier droht auszubrechen. Akamouk wendet sein Mehari und eilt mir erfolgreich zu Hilfe. Die Lage wird immer bedrohlicher, einige der Dunkelhäutigen sind mit Stangen aus Holz bewaffnet, die Knüppel ähneln. Wir müssen irgendetwas tun. Der Targi wirft mir seinen Karabiner herüber, den ich mit viel Glück auffange. Das bewirkt, dass einer der Männer nach dem Zügel von Akamouks Kamel greift. Der zieht blitzschnell sein Schwert und schlägt dem Angreifer mit der flachen Klinge derart auf die Hand, dass der Mann vor Schmerz aufbrüllt und den Strick loslässt. In einem Schwung trifft er den Kopf des neben ihm Stehenden. Ich lade mit extra lautem Geräusch den Karabiner durch, was seine Wirkung nicht verfehlt. Die Meute weicht daraufhin etwas zurück und gibt den Weg frei. Das erlaubt es uns weiterzureiten, doch der Schreck sitzt mir in den Gliedern.
In angemessener Entfernung halten wir an und steigen ab. Bevor ich den Karabiner Akamouk zurückgebe, nehme ich die Patrone aus dem Lauf und drücke sie in das Magazin. Es scheint so, als würde er zufrieden lächeln.
Der Targi hat gezeigt, dass noch immer das Blut der kriegerischen Vorfahren in seinen Adern fließt. In aller Ruhe bereitet er Tee und wir warten im spärlichen Schatten einer Akazie, bis die ärgste Hitze des Tages vorbei ist. Unser Ziel ist von hier sicher zwei Tagesmärsche entfernt. Wasser gibt es ausreichend in den Gerbas, allerdings werden die Lebensmittel knapp. Da wir in der Ebene gut vorankommen und kaum Pausen einschieben, legen wir am nächsten Tag eine erhebliche Strecke zügig zurück. In den letzten Strahlen der Sonne sichten wir einen Gazellenbock in bester Schussentfernung, der langsam gegen die Abendsonne spaziert. Akamouk schießt vom Kamel aus. Auf den ersten Schuss reagiert der Bock nur, indem er seinen Kopf in unsere Richtung dreht. Der zweite ist ein Treffer. Mit diesem alten Gewehr eine großartige Leistung. Ich helfe ihm beim Aufbrechen und Zerteilen der Jagdbeute. Ein Großteil des Fleisches wird in die eigene Haut gepackt, ein paar gute Stücke werden schnell an einem Holzfeuer geröstet. Zum Glück finden wir nicht weit von unserer Route entfernt einen abgestorbenen Akazienbusch, dessen Holz mehr als ausreichend dafür ist. Es freut uns, dass wir den Mouloudjis so ein nahrhaftes Geschenk mitbringen können.
Das Ehepaar empfängt uns wie zwei verlorene Söhne. Besonders Michelle ist die Wiedersehensfreude anzumerken, sie küsst uns auf beide Wangen, François umarmt uns herzlich. Akamouk übergibt zuerst das Fellbündel mit dem Fleisch der Gazelle, damit es gleich in den Kühlschrank kommt. In der Gaststube angekommen bringt François zwei große Flaschen Bier und Michelle einen Krug perlender Limonade für den Mohammedaner. Das erste Glas trinke ich auf einen Zug leer, worauf mir sofort wieder nachgeschenkt wird. Jetzt wären Erzählungen über die Reise angebracht und das Abendessen zu genießen. Ich bitte aber um Verständnis, das auf morgen zu verschieben, denn ich fühle mich nicht nur müde, sondern auch in der durch die seit Tage getragenen Kleidung nicht wohl. Nach diesem Begrüßungstrunk steige ich zu meinem Quartier hinauf, um ausgiebig zu duschen. Akamouk verzieht sich in den Hof und tränkt seine Tiere, was eine gewisse Zeit in Anspruch nimmt. Michelle hat mir eine französische Seife ins Bad gelegt, die mich, da sie leicht parfümiert ist, die Dusche länger als notwendig genießen lässt. Ein Blick in den Hof zeigt mir, dass sich die Kamele schon außerhalb der Mauern aufhalten, und ich vermute Akamouk in der Garage, wo auch er sich der Körperpflege hingeben dürfte. Ich verbinde den Computer mit dem Netz und freue mich, dass er einwandfrei hochfährt. Der Kopf ist voll mit den Erlebnissen dieser eindrucksvollen Reise, aber es ist mir bewusst, dass ich an meinen sechs Jahrzehnte alten Erinnerungen arbeiten sollte. Doch nachdem ich mehrmals vor dem Bildschirm eingenickt bin, beschließe ich, morgen weiterzuschreiben:
Es war schon April 1956, die Expedition hatte gewaltige Verspätung. Die Reparaturen an den Autos haben die Planung um Monate zurückgeworfen. Wir mussten uns beeilen, denn langsam ging die Trockenzeit zu Ende, und nach einem Regen war die Beschaffenheit der Strecke unberechenbar. Bis Niamey, der Hauptstadt von Niger, hatten wir noch einige Kilometer zurückzulegen. Die Piste führte durch eines der wildreichsten Gebiete Westafrikas, dem Tillabéri. Alle Tierarten, welche heute in Ost- und Südafrika in touristisch genutzten Reservaten auf engstem Raum zu besichtigen sind, gab es im Cercle Tillabéri. Elefanten, Antilopen, Löwen, Leoparden, eine Vielzahl verschiedener Affen, Hyänen, Schakale, Krokodile und Hippopotami (Flusspferde).
Obwohl die Bevölkerung am Niger Fische im Überfluss fing, war ihr Bedürfnis nach Fleisch ungestillt. Das Volk der Haussa, die Viehzüchter in diesem an die Sahara grenzendem Gebiet, verkauften zwar Fleischprodukte am Markt, aber zu hohen Preisen. Flusspferde waren eine geschützte Art. Da kaum jemand Interesse daran hatte, den riesigen Schädel eines Nilpferds als Trophäe mit heimzunehmen, gab die Administration ab und zu eines davon zur Jagd frei. Eine solche Menge Fleisch auf einmal wie ein Flusspferd liefert kein anderes Tier, darum wurden ein- bis zweimal pro Jahr Jagden veranstaltet. Es gab eine eigene Kaste unter den Bewohnern der Uferlandschaften, welche befugt war, Nilpferde zu jagen, die Sorkos. Diese Ehre vererbte sich über Generationen innerhalb weniger am Ufer des Niger lebender Familien. War eine solche Jagd angesagt, versammelten sich die Sorkos aus mehreren Familienclans, um das Vorgehen zu besprechen und durchzuführen. Wir wollten uns ein derart ursprüngliches und dramatisches Ereignis nicht entgehen lassen. Leider waren wir zu den feierlichen Beschwörungen, die den Jagden immer vorangehen, zu spät gekommen. Das wäre ein Fressen für mein Tonbandgerät gewesen!
In Tillabery, der Siedlung am Niger, lagen die langen Holzboote nebeneinander im Wasser. Die fünfzehn Jäger brachten ihre Harpunen in fünf Boote. Wir versuchten, eine der Piroguen mit Ruderern zu mieten. Das gelang erst, nachdem wir uns direkt an den Chef der Sorkos wandten und nach Übergabe eines kleinen Geschenks. Da es nichts zum Aufnehmen gab, konnte ich einmal unbeschwert in dem Boot mitfahren. Das war lang, aber äußerst schmal und ich fühlte mich nicht ungeheuer sicher. Nilpferde sind recht friedliche Tiere, doch wenn sie sich angegriffen glauben, werden sie erstaunlich gefährlich. Vor allem im Wasser sind sie überraschend schnell. Man hat uns vorher erzählt, dass ein verletzter Bulle vor kurzer Zeit ein solches Boot versenkt hat und alle Jäger darauf ums Leben gekommen sind. Wir verstauten uns zu dritt in dem Boot, als wichtigster Mann drängte sich der Fotograf Kopezky zuerst hinein, in der Mitte war ich und hinter mir Mackie.
Vorne am Bug und hinten im Heck standen jeweils halbnackte schwarze Männer, deren schweißnasse Haut über den beachtenswerten Muskeln in der Sonne glänzte. Mit langen Stangen stakten sie das Boot mit großer Präzision durch das seichte Ufergewässer. Nach einer Fahrt von sicher einer Stunde hörten wir die typischen Grunzgeräusche von Nilpferden. Vorsichtig näherte sich die Flotte einer Hippofamilie an. Einige der gemütlichen Tiere standen oder lagen in Ufernähe, auf dem Fluss weiter draußen konnte man Augen und Nasenlöcher anderer Hippos wahrnehmen. Die sonst schwerfällig wirkenden Flussriesen im Schilf bemerkten unsere Annäherung sehr bald und liefen mit unglaublicher Geschwindigkeit ins tiefere Wasser. Das war so geplant, denn die Harpunen waren nur im tiefen Fluss anzuwenden. Im seichten Uferwasser hätten Jäger mit Harpune keine Chance gehabt und wären in Gefahr geraten, von einem aufgebrachten Hippo umgerannt und zertrampelt zu werden. Die gesamte Herde schwamm jetzt weiter draußen, dort wo der Fluss tief ist.
Dort zogen die Jagdboote hinaus und versuchten, ein besonders großes Exemplar einzukreisen. Die Jäger verständigten sich laut rufend und gestikulierend untereinander, jedes Boot nahm seine ihm zugedachte strategische Position ein. Die ersten Harpunen flogen, das getroffene Tier wehrte sich und der gewaltige Körper schoss zur Hälfte aus dem Fluss, sodass die hohen Wellen einige Boote beinahe zum Kentern brachten. Die Ruderer waren gezwungen ihre gesamte Kraft und Geschicklichkeit anzuwenden, damit die Boote, die durch die Stricke mit dem Tobenden fest verbunden waren, nicht umstürzten. Ein ins Wasser gefallener Mensch wäre in Lebensgefahr gewesen, denn die riesigen Kiefern eines Hippopotamus können ein Krokodil in der Mitte durchbeißen.
Auch unser Boot, obwohl etwas entfernt vom Geschehen, schaukelte gewaltig. Kopezky, er war bleich unter der sonnengebräunten Haut, hatte seinen Fotoapparat im Lederetui um den Hals hängen und hielt sich krampfhaft an den Bootsrändern fest. Obwohl ich mir einer unausweichlichen Retourkutsche bewusst war, konnte ich mich des Ratschlags nicht enthalten, dass man im Boot stehend sicher bessere Bilder von der Jagd schießen könne.
Nach längerer Zeit aufrecht in den Piroggen balancierend waren die Sorkos erfolgreich. Durchbohrt von einer Anzahl Harpunen verendete der Bulle endlich. Die tonnenschwere Beute wurde an Land gerollt und mit beachtenswerter Geschicklichkeit zerteilt.
Es ergab eine große Menge Fleisch, von dem die Jäger einen Teil an Ort und Stelle an die Interessenten verkauften. Der Großteil wurde auf den Markt und dort unter die Leute gebracht. Kein Stückchen blieb von dem gewaltigen Tier am Skelett. Wir verbrachten die Nacht im Dorf und bekamen jeder ein Stück Nilpferdfleisch ab, dessen Zubereitung wir leider nicht so einwandfrei schafften und uns fast die Zähne daran ausbissen. In Form von Faschiertem hätten wir sicher mehr Freude an dem fleischlichen Segen gehabt, aber wo soll man im afrikanischen Busch einen Fleischwolf finden? Etwas entfernt vom Lagerfeuer saß Kopezky an ein Rad des Pére Ubu gelehnt und nuckelte böse zu mir herüberblickend an einer frisch geöffneten Dose Nestlé-Kondensmilch. Das war seine Rache für meinen Ratschlag, denn wir liebten beide gleichermaßen diesen überaus gezuckerten, dickflüssigen Saft, der die Glückshormone jubeln lässt. Leider war der Vorrat davon enden wollend.
Die Stadt Niamey, die zu erreichen über Monate unser gesamtes Streben gewidmet war, lag bloß wenige Kilometer entfernt vor uns! Doch davor mussten ein paar steile Strecken der Piste bewältigt werden. Gewohnt, mit kaum funktionierenden Bremsen zu fahren, meisterten wir bravourös diese Gefälle knapp vor dem Ziel. Nach ewig langer Zeit hatten unsere Autos wieder Asphalt unter den Rädern und waren nicht mehr zu halten. Nur wenige asphaltierte Straßenzüge durchzogen wie Adern die Hauptstadt mit dem Regierungssitz von Niger. Die einzige stadteigene Ampel regelte nicht vorhandenen Verkehr. Der Hauptplatz war in kurzer Zeit erreicht und wir genehmigten uns in einem Bistró pro Mann zwei Limonaden. Etwas überrascht waren wir über die Größe der Flaschen, weil sie beinhalteten jeweils einen ganzen Liter! Kleinere Gebinde gab es nicht. Wir waren zutiefst zufrieden und verständlicherweise ein bisschen stolz, denn wir hatten unser geografisches Ziel trotz widrigster Umstände erreicht. Die fünf Expeditionsteilnehmer unterschiedlichster Charaktere waren inzwischen eine fest zusammengeschweißte Truppe geworden, in die sich sogar der professionelle Fotograf fast nahtlos einfügte.
Österreichs Außenamt hatte die Ankunft der Expedition vorangekündigt. Der französische Kommandant empfing uns freundlich. Als wir ihm unsere Sorgen um ein Quartier für einige Wochen mitteilten, gab er uns einen schwarzen Polizisten zum Geleit. Der führte uns in eine Art Villenviertel und zeigte uns ein Gebäude, das wir auf unbegrenzte Zeit bewohnen durften. Er übergab uns den Schlüssel und wir verabschiedeten ihn dankbar. Mit afrikanischen Maßstäben gemessen war das kein Haus, sondern ein kleiner Palast mit einem prominenten Eingang:
Wir öffneten die Türe und begannen zu inspizieren. Eine gewölbte und kühle Halle empfing uns. Dazu gab es vier große Räume, eine Küche, Wasch- und Toilettenräume und einen Weinkeller. Dem aufgelassenen „Club européen“, hatte das Gebäude als Clubhaus gedient und war nahezu vollständig eingerichtet. Obwohl das Dach an einem Ende eingefallen, waren da zwei Kühlschränke, etwas morsche Schränke mit Tafelgeschirr, Besteck und Gläsern verschiedenster Art. Metalltische und Stühle stapelten sich in den Ecken. Ein verwahrloster, ausgetrockneter Garten und eine zwanzig Meter im Geviert messende Terrasse, mit bunten Steinfliesen gepflastert. Dazwischen waren zwei Schatten spendende Akazienbäume gepflanzt. Im gesamten Haus gab es Anschlüsse für elektrischen Strom. Eine dicke Schicht Sandstaub überzog alles.
Ein Paradies für die fünf von Anstrengung und Entbehrungen gezeichneten Expeditionsteilnehmer. Der Weinkeller war leer, wie wir annahmen. Schani aber nahm nicht an, sondern suchte im Lichte einer Taschenlampe. Er brachte beim Graben mit einer Machete eine ausreichende Menge Flaschen Burgunder und andere französische Weinspezialitäten älteren Datums ans Tageslicht. Einstimmig beschlossen wir, den Wein seinem Eigentümer zu bezahlen, sobald er sich melden würde.
Vorerst teilten wir die gegen Regen geschützten Räumlichkeiten unter uns auf. Jeder bezog sein Büro, ich richtete mein „Tonstudio“ ein. In einer Ecke der kühlen Halle entstand der Schlafraum für uns fünf. Da es nicht regnete oder stürmte, übernachteten wir auf der Terrasse. Was keine gute Idee für die erste Nacht war. Blutrünstige Moskitos raubten uns den wohlverdienten Schlaf. Anfangs waren es nur einige wenige Exemplare. Doch schien die Kommunikation unter den Quälgeistern bestens zu funktionieren, denn im Laufe der Nacht kamen Myriaden Stechmücken. Vermutlich aus dem ganzen Land herbeigerufen, um vier Österreichern und einem Belgier Blut abzuzapfen. Da wir zum Abendmahl eine Reihe von Flaschen von dem gefundenen Wein geleert hatten, dürften diese promillehaltigen Blutproben für die Insekten, die muselmanische Enthaltsamkeit gewohnt waren, sensationell berauschend gewirkt haben. Dieser massive Überfall ergab bei den übernächtigen Europäern den gesamten nächsten Tag jucken und kratzen ohne Ende. Dessen ungeachtet säuberten Walter, Kopezky und ich Haus und Terrasse von Mist und Sand, während Mackie und Schani in die Stadt zur Polizei und zum Büro der Air France fuhren. Diese hatte die ersten entwickelten Farbdiapositive aus Wien eingeflogen, auf die wir uns voller Neugier stürzten.
Der Chef du Cabinet der nigrischen Regierung hatte sich zu einem Besuch angesagt. Da sich die zufällig gleichzeitig in Niamey aufhaltenden Reporter von Paris Match verabschieden wollten, drückten sich meine Kollegen vor den anstehenden Aufräumarbeiten und fuhren zum Flugplatz für eine Fotoreportage. Somit blieb ich zurück und versuchte, das Haus bestmöglich auf Hochglanz zu bringen. Am Vormittag wurde elektrischer Strom eingeleitet, was uns dazu brachte, zumindest einen der Kühlschränke in Betrieb zu nehmen. In Afrika kommt man ohne Kühlung nicht aus. Bier und Trinkwasser erhalten damit belebende Temperaturen und, na ja, auch Lebensmittel halten länger. Der Besuch des schwarzen Ministers wurde durch die dargereichten kühlen Getränke zu einem Erfolg. Das war vorteilhaft, weil sein Wohlwollen sollten wir bald benötigen. Denn eines Tages erschien ein Beamter der Sureté, der Staatssicherheit, hörte die Tonbänder ab und notierte die Nummern aller technischen Geräte und Jagdwaffen. Wir sollten für irgendetwas Strafe zahlen. Unser gesamter Reichtum bestand aus knapp zweitausend CFA. Allein die Erlaubnis für die Gewehre betrug sechstausend Francs. Wir mussten die Bezahlung der Gebühren auf irgendeine Art so lange hinauszögern, bis das seit ein paar Wochen angekündigte Geld aus Wien ankommen würde. Das ließ sich aber Zeit. Es war unausbleiblich, dass nach einigen Tagen wieder Beamte der Sureté mit dem Verdikt erschienen, wegen dieser Schulden und Spionage müssten wir umgehend das Land verlassen. Das hätte ein unrühmliches Ende dieses Unternehmens der Feldforschung bedeutet, ehe es eigentlich angefangen hatte. Unausgesprochen hatten wir das Gefühl, dass uns der Chef de la Sureté womöglich nicht positiv gesinnt sein könnte. Unsere Nervosität wurde greifbar. Wir erbaten uns ein paar Stunden Zeit. Die wurde gewährt und genützt, um den französischen Commandant cercle und den Chef de cabinet zu mobilisierten. Diese zwei Herren übernahmen die Verantwortung für uns und wir konnten ab da ungestört unserer eigentlichen Arbeit weiter nachgehen.
Gemeinsam mit Walter nahmen wir für den österreichischen Rundfunk Features auf. Da waren Erzählungen von Märchen aus der Umgebung, eine Radioreportage über die Stadt und eine ebensolche für die Air France aus dem Flughafen von Niamey.
Wir recherchierten fleißig, sowohl in der Stadt, und in deren Umgebung. Dabei entstanden einige der eindrucksvollsten Tonaufnahmen, wo lebensfrohe Eingeborene immer wieder irgendwelche Feste mit Musik, Trommeln und Tanz veranstalteten.
Wir lernten dabei interessante Menschen kennen, deren Einladungen zu Abendessen wir gerne annahmen, denn die ewigen angebrannten Palatschinken aus Walters Haute Cuisine nervten uns gewaltig. Wir befürchteten, alle an Skorbut zu erkranken. Aus diesem Grund wurde mir die Aufgabe übertragen, am Grand Marché Gemüse einzukaufen. Dieser großflächige Markt war von frühmorgens bis spät in die Nacht geöffnet und man fand dort alles, was das Land produzierte. Inklusive Käfer und anderes Kleingetier. Gelegentlich begleitete mich unser schwarzer Boy Kindo, ein vierzehnjähriger aufgeweckter Junge vom Stamme der Songhai. Das erleichterte mir das Feilschen. Wegen der kühleren Temperaturen war ich häufig am Abend einkaufen. Selbst bei Dunkelheit gab es in den stillen Gassen keine Sicherheitsrisiken für einen Weißhäutigen.
Für Ausländer und gut bezahlte Beamte fanden sich im Zentrum von Niamey zwei saubere und von Franzosen hygienisch betriebene Geschäfte, die Waren und Lebensmittel aus Europa anboten. Aber zu derart hohen Preisen, dass wir davon Abstand nahmen, dort einzukaufen. Unter den faszinierendsten Menschen der Stadt befand sich der Apotheker, dem die einzige Pharmacie nach europäischem Standard im Land gehörte. Louis Mouren war ein Hüne von Gestalt und sah John Wayne zum Verwechseln ähnlich. Das wissend hatte er vollkommen den Habitus dieses Filmhelden angenommen. Da er den Markt mit Medikamenten für das gesamte riesige Land beherrschte, war er dementsprechend wohlhabend.
Bis die Versicherungssumme von IFA bei uns eintraf, mussten wir Möglichkeiten finden, unseren Lebensunterhalt zu verdienen. Mouren hatte neben der Apotheke einen Fotoladen mit Labor, das für Kopezkys technische Begabung bestens geeignet war. Dorthin brachten Leute nicht nur ihre Filme zum Entwickeln, sondern sogar ihre defekten Fotoapparate zur Reparatur. Hans untersuchte die Kameras und stellte mit sorgenvoller Miene größeren Schaden fest. Die Fehlerbehebung würde sicher einige Tage in Anspruch nehmen, oder man müsse die Kamera gar ins Werk einschicken, was logischerweise hohe Kosten verursache. Dann brachte er die Fotoapparate in die Werkstatt, nahm das winzige Stück Film, das den Transport blockiert hatte mit der Pinzette heraus und ließ eine geschmalzene Rechnung schreiben. Manchmal genügten wenige gezielte Strahlen Pressluft, um die Funktionsfähigkeit einer Kamera wiederherzustellen. Auch das musste entsprechend honoriert werden. So wurden auf kurze Zeit unsere sonst gefestigten Grundsätze von Ethik und Moral der Wissenschaft geopfert.
Damit kamen wir finanziell über die Runden. So lange bis der Chef der Sicherheit wieder eingriff und Mouren anwies, die Österreicher hinauszuschmeißen. Es wurde uns sogar verboten, die eigenen Filme zu bearbeiten. Das kam einer Ausweisung gleich. Sollten alle bisherigen Anstrengungen und Entbehrungen umsonst gewesen sein, unsere gesamten Pläne an einem missgünstigen Beamten scheitern? Trotz der sich offensichtlich anbahnenden Katastrophe blieb die Stimmung im Grunde optimistisch. Haben wir doch bisher schon einiges gemeistert.
Alle bisherigen und denkbaren zukünftigen Verzögerungen einrechnend, hatte ich eine Tafel „Österreichische Westafrikaexpedition 1955 – 57“ gemalt. Kaum war die Plakette am Haus angebracht, da erreichte uns die vernichtende Nachricht. Somit war dieses beachtenswerte Schild im Moment seiner Enthüllung obsolet geworden. Trotzdem fertigten wir davor ein unbekümmertes „Selfie“ an:
Es war kein guter Tag für uns. Max setzte sich daraufhin nur spärlich mit einem Tanga bekleidet auf einen glühend heißen Blechstuhl, der den ganzen Tag in der Sonne gestanden war, Schani verwechselte beim Mittagessen Salz mit Zucker und die Palatschinken wurden so schwarz und hart wie nie zuvor. Abends fuhren wir zu einer Krokodiljagd, um diese akustisch einzufangen. Hundegebell und ununterbrochenes Krähen dutzender Hähne ließen auch dieses Vorhaben platzen.
Am nächsten Tag erschien Mouren mit zwei erfreulichen Nachrichten. Die Versicherungssumme von 85.000 FF (französischen Francs) von der IFA-Versicherung war angekommen und die Ausweisung sei vom Commandant Cercle aufgehoben worden. Außerdem erzählte er uns von einem großen Fetischfest, das wir aufnehmen könnten. Es war das von uns lange gesuchte Yenendi, ein Fruchtbarkeitsritual.
Was müssen das für Erlebnisse gewesen sein – heute wäre diese Reise nicht mehr so einfach!
Herbert,
Du bist super. Ein verkanntes Autorengenie. Schade, dass Dich viele als ein solches nicht erkennen.
Siegi